Lebenszeichen. Die Zehn Gebote
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Lebenszeichen. Die Zehn Gebote
„Du sollst frei sein! Die 10 Gebote“ www.dusollstfreisein.de „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber zum Auftakt des Themenjahres am 2. Februar 2011 in der Luther-Kirche in Solingen Seite: 1 von 10 Ich freue mich sehr, dass Sie heute Abend hier sind, um mit mir und den anderen Beteiligten dieser Auftaktveranstaltung einen genauen Blick auf die Zehn Gebote zu werfen. Ich danke dem Team, das uns die Zehn Gebote gerade in der Fassung des Heidelberger Katechismus zu Gehör gebracht hat. Diese Lesung ist ein erster wichtiger Hinweis dafür, wie die Zehn Gebote im Christentum überliefert worden sind: in den Katechismen, je nach Tradition in Luthers Großem und Kleinem Katechismus oder im Heidelberger Katechismus. Über Jahrhunderte sind sie so in Schulen und Familien, im Konfirmandenunterricht, im Firmunterricht und in der Taufunterweisung verbreitet worden. Ich bin mir sicher, auch hier werden viele Menschen sein, die die Zehn Gebote als Kinder oder Jugendliche auswendig gelernt haben. Die Überlieferung in den Kontexten von kirchlichem Unterricht oder christlicher Unterweisung in den Familien hat aber wirkungsgeschichtlich auch dazu beigetragen, dass die Zehn Gebote in unserer Gesellschaft durchaus umstritten sind. Luthers Auslegung des Gebots, die Eltern zu ehren als Gebot der Unterordnung unter jede Obrigkeit hat schwerwiegende Auswirkungen im deutschen Protestantismus gehabt, ebenso wie rigide Formen der Sexualmoral, die in Verbindung mit dem Verbot des Ehebrechens formuliert wurden. Von vielen Menschen, egal ob sie kirchlich geprägt aufgewachsen sind oder nicht, werden die Zehn Gebote als Symbol für eine moralinsaure christliche Weltsicht abgelehnt, als Verhinderung aufgeklärter Werte oder sogar als Teil einer „schwarzen Pädagogik“. Gerade die Befreiungsbewegungen der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts haben versucht, sich in kritischer Reflexion der Wirkungsgeschichte der Zehn Gebote von dem biblischen Text selbst abzugrenzen. In Folge dessen ist bis heute in Teilen unserer Bevölkerung der Generalverdacht haften geblieben, dass die Zehn Gebote Freiheit verhindern und behindern. Eine andere Ausprägung dieser Abgrenzungsbewegung ist die Nivellierung der Zehn Gebote. Das ist auch deutlich in unserer Gesellschaft zu beobachten. Der Spiegel-Autor Mathias Schreiber konstatiert in seinem jüngsten Buch über die Zehn Gebote: „Mittlerweile kennt in Europa nur eine Minderheit der erwachsenen Bevölkerung den Wortlaut der Zehn Gebote. Allenfalls die auf den Mitmenschen bezogenen Gebote des Dekalogs (haben) einen Ruf als ethisches Minimum – auch unter sogenannten Nicht-Gläubigen – bewahrt.“1 Die Diskussion um Moral und Werte ist seit mehreren Jahren in vollem Gange. Sie wurde begonnen nach dem Ende des Kalten Krieges, als das Denken im Zwei-Blöcke-Modell überholt war. Gerade in unserem Land wurde diskutiert, was uns als lange getrenntes, nun aber geeintes Volk wirklich verbindet und trägt. Es gibt aber noch weitere Faktoren, die in Deutschland wie in anderen europäischen Ländern dazu führen, dass die Frage nach verlässlichen Werten und allgemeingültigen Regeln neu gestellt wird. Dazu gehören die Migrationsbewegungen der letzten 40 Jahre und die dadurch entstehenden gegenseitigen Anforderungen an Integration und interkulturelles Lernen, die Strukturveränderungen in den Industrie- gesellschaften und die Verunsicherung durch den internationalen Terror. Wenn ich heute Abend mit Ihnen die Zehn Gebote in den Blick nehme, so tue ich das mit einer dezidiert christlichen Brille. Mein Interesse ist nicht die Frage, ob und inwiefern die Zehn 1 In: Mathias Schreiber: Die Zehn Gebote. Eine Ethik für heute, Hamburg ²2010, S. 11. „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 2 von 10 Gebote als objektiver, zeitloser, allgemein gültiger Gesetzestext Gültigkeit für alle Kulturen beanspruchen können und sollen. Mein Focus liegt auf der Rolle der Zehn Gebote in ihrem biblischen Kontext. Daraus leite ich ab, welche Kraft meiner Ansicht nach die Zehn Gebote für das Leben von Christinnen und Christen in unserer Gesellschaft entwickeln können. Meine These ist, dass die Gebote „Lebenszeichen“ sind – Zeichen des lebendigen Gottes für unser Leben. Ich lade Sie ein, mit mir die Zehn Gebote innerhalb ihres Zusammenhangs in der Hebräischen Bibel zu betrachten und dann die einzelnen Gebote in ihrer historischen Bedeutung und in ihrem Aussagegehalt für unsere heutige Situation zu beleuchten. Exegetische Verortung Die Zehn Gebote tauchen im Alten Testament zwei Mal auf: im 2. Buch Mose und mit nur wenigen Veränderungen im 5. Buch Mose. Schon dies deutet auf die Wichtigkeit hin, die diesem Text von den Autoren und Redaktionskreisen der fünf Bücher Mose beigemessen wurde. Es ist der alttestamentlichen Wissenschaft trotz eifrigster Bemühungen nicht gelungen, die Entstehung der Zehn Gebote zeitlich eindeutig zu klären. Es wird heute in der Regel davon ausgegangen, dass der Text, den wir heute vorfinden, das Endprodukt einer längeren erst mündlichen und dann schriftlichen Überlieferung ist. Die meisten von uns sind in der Regel vertrauter mit der Textversion aus dem 20. Kapitel des 2. Mosebuches. Diese wird unsere Textgrundlage sein. Die Fünf Bücher Mose werden in der jüdischen Tradition „Tora“ genannt, die gute Weisung Gottes. In der jüdischen Tradition werden die Zehn Gebote oft als das „Portal zur Tora“ bezeichnet2. Diese Bezeichnung nimmt an, dass der Gesetzestext bewusst in 2. Mose 20 positioniert wurde, um an dieser Stelle eine ganz besondere Rolle einzunehmen. Wenn die Zehn Gebote das „Portal zur Tora“ sind, dann führen sie uns in das Land der biblischen Erzählungen und Gesetzestexte. Wir treten ein und werden eingeladen, nicht nur beobachtend am Rand zu stehen, sondern uns einzulassen und aktiv teilzuhaben an der Geschichte, die sich dort entfaltet – die Geschichte des Bundes Gottes mit seinem Volk. Diese Geschichte reicht von der Schöpfung über die Sintflut, von den Erzeltern, den Stämmen Israels bis hin zu Moses. Auch die Erzählungen, die in den Schriften außerhalb der fünf Bücher Mose aufgeschrieben sind, schwingen mit: über die Könige wie Saul, David, Salomon, den Tempel, die Propheten und vieles mehr. Es ist eine Geschichte von Nähe und Distanz, von Gehorsam und Eigensinn, von Irrwegen und Rettung. Wenn die wechselhafte Beziehung zwischen Gott und seinem Volk Israel in einem Satz zusammen gefasst werden sollte, könnte der heißen: „Gott hält an seinem Bund fest – komme, was da wolle.“ Es ist heute klar zu sehen, dass die letzten großen Redaktionen der alttestamentlichen Schriften den Exodus, den Auszug aus Ägypten, als die zentrale theologische Aussage zum Verständnis der Geschichte Gottes mit seinem Volk bewerteten. Die Exodus-Tradition diente z.B. im 6. Jahrhundert vor Christus, zur Zeit des babylonischen Exils dazu, dass das Volk nicht vergaß, wo es herkam und zu wem es gehörte. Wenn die Menschen die Erzählungen vom Auszug aus Ägypten hörten, dann hörten sie die eine Botschaft: „Gott führte uns damals aus der Sklaverei, und Gott wird uns auch diesmal führen!“ Die Exodus-Erzählung hat zu vielen Zeiten die gesamte Hoffnung des Volkes Israel (und später auch anderer Gruppen und Völker) auf eine bessere Zukunft, auf Befreiung aus Sklaverei und Unterdrückung und auf ein freies Leben im gelobten Land symbolisch verdichtet und transportiert. 2 Vgl. Rainer Kessler: Die zehn Gebote ‐ das Eingangsportal in die Tora, in: Junge Kirche 3 / 2007, S. 64‐66. „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 3 von 10 Durch die besondere Stellung der Zehn Gebote innerhalb der Geschichte vom Auszug aus Ägypten wird deutlich, dass sie untrennbar mit dieser Hoffnungskraft verbunden sind. Sie sind damit fundamentaler Bestandteil des Befreiungshandelns Gottes. (Nicht umsonst nennt z.B. Fulbert Steffensky die Zehn Gebote „Anweisungen für das Land der Freiheit“3.) Bevor wir nun die einzelnen Gebote betrachten, noch ein Wort zur Zählung: Die Gebote werden im Judentum und in den christlichen Kirchen traditionell unterschiedlich nummeriert oder gezählt. Ich benutze für unseren Kontext die vielen von uns vertraute lutherische bzw. römischkatholische Zählung. Mir ist daran gelegen, jedes Gebot einzeln zu betrachten. Es würde aber natürlich den Rahmen dieses Vortrags sprengen, zu jedem Gebot alles zu sagen, was ich wissenschaftlich interessant und für die Deutung bedenkenswert finde. Manches wird eher angedeutet als ausgeführt werden. EINZELBETRACHTUNG DER GEBOTE Im 2. Buch Mose lesen wir zu Anfang des 20. Kapitels: „Ich bin der HERR, dein Gott, der dich befreit hat, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Dies ist die Grundlage dessen, worum es in den Zehn Geboten geht: die Verbindung zwischen Gott und seinen Menschen. Diese Verbindung wird an der Rettungsgeschichte des Exodus festgemacht, an der Befreiung aus dem Sklavenhaus. Wir als Christinnen und Christen fühlen uns von diesen Worten mit angesprochen, denn wir glauben, dass Gott die Zusagen an sein erwähltes Volk Israel auf diejenigen Nicht-Juden erweitert hat, die durch den Glauben an Jesus Christus mit in den Bund aufgenommen wurden. „Ich bin der HERR, dein Gott, der dich befreit hat, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Im Judentum gilt dieser Vers bereits als das erste Gebot, das Gottes Anspruch auf sein Volk verdeutlicht. In der christlichen Wahrnehmung wird dieser Vers oft wie die Präambel vor dem Grundgesetz gedeutet. Eigentlich könnte diese Präambel vor jedem Gebot erneut stehen oder verlesen werden. Sie steht wie eine Leuchtschrift vor jedem Gebot, denn jedes ist verwurzelt in der Rettungstat Gottes und in der Heilsgeschichte Gottes mit seinem Volk. In den Versen 3-6 finden wir nach lutherischer Zählung das erste Gebot: „Du sollst keine anderen Götter haben neben mir. Du sollst dir kein Bildnis noch irgendein Gleichnis machen, weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf Erden, noch von dem, was im Wasser unter der Erde ist: Bete sie nicht an und diene ihnen nicht! Denn ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen, aber Barmherzigkeit erweist an vielen tausenden, die mich lieben und meine Gebote halten.“ Das Verbot, andere Götter zu haben, ist aus Sicht der alttestamentlichen Wissenschaft sehr interessant, denn es ist ein Indiz dafür, dass der Monotheismus Israels das Ergebnis einer längeren Entwicklung war. 3 Fulbert Steffensky: Die Zehn Gebote. Anweisungen für das Land der Freiheit, Würzburg 2003. „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 4 von 10 In der Zeit, als dieses Gebot in seinem Wortlaut feste Gestalt gewann, waren die Grenzen offensichtlich noch fließend: Hier wird nicht die Existenz anderer Götter verneint, sondern ihre Verehrung verboten. Gott, der HERR hat schon den ausschließlichen Anspruch auf sein Volk. Vielleicht hat dieses Gebot seinen „Sitz im Leben“ im babylonischen Exil im 6. Jh. vor Christus, als die Exulierten sich in einer fremden Kultur mit einem großen Götterpantheon zu Recht finden mussten. Sie mussten sich täglich neu entscheiden, dennoch an der Religion ihrer Heimat, an dem Glauben an den einen Gott Israels festzuhalten. Das Verbot, sich ein Bild zu machen, ist laut Aussage vieler Alttestamentler als Übersetzung nicht eindeutig genug. Das Hebräische kennt viele verschiedene Wörter, die alle im Deutschen mit „Bild“ wiedergegeben werden könnten. Das, worum es in dem hebräischen Wort in diesem Vers geht, sind die Kultbilder, mit denen die Götter in anderen Kulturen verehrt wurden. Die Bilderstürme der christlichen Vergangenheit sind daher eigentlich nicht wirklich mit diesem Gebot zu rechtfertigen. Es geht vielmehr darum, Gottes Einzigartigkeit und Unverfügbarkeit zu achten. Nicht jedes Bild, das in der Grundschule oder in der Konfirmandenarbeit zum Thema „Gottesbilder“ gemalt wird, ist also ein Verstoß gegen das erste Verbot. Es wird erst dann dazu, könnte man überspitzt sagen, wenn neben das eine Bild von Gott z.B. als altem Mann mit Bart lebenslang kein anderes tritt, sondern wenn dieses Bild absolut gesetzt wird und für die einzige Wahrheit oder Unwahrheit über Gott gehalten wird. Das zweite Gebot, in Vers 7: „Du sollst den Namen der HERRN, deines Gottes nicht missbrauchen, denn der HERR wird den nicht ungestraft lassen, der seinen Namen missbraucht.“ Dieses Gebot hat einen juristischen Kontext, ähnlich wie das Gebot gegen die falsche Zeugnisrede. Im Alten Orient gab es nur zwei Formen der Beweisführung: die Zeugenaussage und den Eid unter Berufung auf einen Gott oder die Götter. Das Gebot wendet sich also gegen die Verwendung des Gottesnamens z.B. in einem Meineid und droht bei Zuwiderhandlung göttliche Strafe an. Damit verbunden ist aber die religiöse Dimension dieses Gebots: die Ehrfurcht vor Gott und seiner Heiligkeit. Wenn Gottes Präsenz als wahrhaft heilig erfahren wird, dann wird auch sein Name mit besonderer Vorsicht benutzt werden. In der jüdischen Tradition ist der Gottesname so heilig, dass die vier Buchstaben des Gottesnamens JHWH nicht ausgesprochen wurden und werden. Der Alttestamentler Christoph Dohmen übersetzt dieses Gebot: „Du sollst den Namen JHWHs, deines Gottes, nicht zu Nichtigem benutzen…“4 Die Anfrage an uns ist, wo wir Gottes Namen „zu Nichtigem“ benutzen, ihn seiner Bedeutung entleeren und uns damit bewusst oder unbewusst außerhalb von Gottes Machtbereich und Heiligkeit stellen. Als nächstes folgt das Sabbatgebot in Vers 8-12: „Gedenke des Sabbattages, dass du ihn heiligest. Sechs Tage sollst du arbeiten und alle deine Werke tun. Aber am siebenten Tage ist der Sabbat des HERRN, deines Gottes. Da sollst du keine Arbeit tun, auch nicht dein Sohn, deine Tochter, dein Knecht, deine Magd, dein Vieh, auch nicht dein Fremdling, der in deiner Stadt lebt. Denn in sechs Tagen hat der HERR Himmel und Erde gemacht und das Meer und alles, was darinnen ist, und ruhte am siebenten Tage. Darum segnete der HERR den Sabbattag und heiligte ihn.“ Das Sabbatgebot selbst ist kurz: „Gedenke des Sabbats, dass du ihn heiligst.“ Dies ist kein Verbot, keine äußere Grenze der gewährten Freiheit, sondern ein echtes Gebot, eine Ermöglichung. Die Ausführung zu dem Gebot ist recht lang. Vielleicht ist sie jünger als das 4 Vgl. Christoph Dohmen: Exodus 19‐40, HThKAT, Freiburg 2004, S. 113. „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 5 von 10 Gebot selbst. Die Erklärung ordnet das Sabbatgebot in Gottes Schöpfungshandeln ein und gibt ihm damit eine „universale Verortung“. Das Sabbatgebot legt den erstrebenswerten Lebensrhythmus für das Volk Israel fest: Nach sechs Tagen der Arbeit soll es einen Tag der Ruhe geben, denn Gott selbst hat am siebten Tag geruht. Hier ist mit der Sabbatheiligung noch kein bestimmtes Verhalten festgelegt, keine Verpflichtung zu einem religiösen Ritual oder das Verbot, bestimmte Tätigkeiten zu verrichten. Sondern: Ruhe ist geboten, und zwar für alle, für Reiche und Arme, für die Hausherrin und den Hausherren, für Knechte und Mägde, ja selbst für die Sklavinnen und für die Angehörigen anderer Kulturen, die zur Gemeinschaft in der Stadt gehören. Spannend für uns heute finde ich den Zusammenhang zwischen Arbeit und Ruhe im Lebensrhythmus der Gesellschaft: Arbeit erscheint hier als gottgegeben, als Grundvoraussetzung für das Leben. „Sechs Tage lang kannst du alle deine Werke tun.“ Schon in der Paradieserzählung gab es nicht nur Müßiggang, sondern auch die Arbeit. Arbeit ist notwendig zum Überleben, aber auch etwas, das zum Menschen gehört. Daneben tritt die Verpflichtung, eine Pause zu machen und von der Arbeit auszuruhen. Die Gemeinschaft als ganze profitiert davon. Im Umkehrschluss ist die Gemeinschaft als ganze auch gefährdet, wenn diese Grundordnung, der Grundrhythmus des Lebens von Arbeit und Ruhe außer Kraft gesetzt wird. Die Position der evangelischen Kirche in der Diskussion um den Sonntagsschutz basiert auf dieser Überzeugung. Das vierte Gebot steht in Vers 12: „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der HERR, dein Gott, geben wird.“ Wir hatten es ja schon zu Beginn des Vortrags: Dies ist eines der Gebote, dessen Verständnis in unserer Kultur durch eine besondere Traditionsgeschichte geprägt ist. In Luthers Katechismen ist das Gebot der Elternehrung damit verbunden worden, der Obrigkeit zu gehorchen. Was die Eltern für die Kinder waren, das war die Obrigkeit in Person des Pfarrers, des Dienstherren, des Polizisten oder des Fürsten für das sog. „einfache Volk“. Diese Gleichsetzung hatte in Deutschland große geistesgeschichtliche Folgen für den Umgang mit Autoritäten bis hin in den NS-Staat. Auch in Familien und Schulen wurde gerne mit Berufung auf dieses Gebot auf unbedingten Gehorsam der Kinder gegen Eltern und Lehrerinnen und Lehrer gedrungen. Wir hören die Auswirkungen dieser Auslegung noch bis heute immer wieder in den Berichten von Missbrauchsfällen in kirchlichen Institutionen. Wenn Menschen aus anderen Kulturen auf unsere Gesellschaft schauen, bemerken sie oft, dass der familiäre Kontakt nicht so eng geknüpft zu sein scheint wie in ihrer Kultur und dass die Kinder die Eltern und auch die Großeltern mit weniger Höflichkeit und Ehrerbietung behandeln. Ob diese Beobachtungen einen allgemeinen Trend beschreiben, und ob die deutschen Kommunikationsformen zwischen den Generationen nicht eher von mehr Freiheit und Partnerschaftlichkeit als von mangelndem Respekt zeugen, mag dahin gestellt bleiben. In unserer Gesellschaft gibt es jedoch viele Menschen, die aus schwer belasteten Familien kommen, in denen es eine dunkle NS-Vergangenheit oder Fälle von Gewalt und Missbrauch gegeben hat. Diese Menschen haben oft große Probleme mit diesem Gebot. „Wie soll ich jemanden ehren, der keine Ehre verdient? Wie soll ich jemandem Ehre erweisen, der selbst nicht ehrbar ist?“ steht oft hinter dem Aufbegehren gegen dieses Gebot. Wenn wir das Gebot der Elternehrung sozialgeschichtlich in seinem Kontext betrachten, wird eines schnell klar: Das Gebot richtet sich nicht an Kinder und Heranwachsende, sondern an die erwachsenen Kinder. Das hebräische Wort, das hier mit „ehren“ übersetzt wird, kann auch die Bedeutung „Gewicht verleihen“ haben. Es soll also den Eltern, den Älteren, den Alten Gewicht verliehen werden. „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 6 von 10 Wenn es besonders betont werden muss, dann bedeutet das wohl, dass die Alten im historischen Kontext der Zehn Gebote wenig Gewicht hatten.5 Dies ist ein Gebot, das nach Sicht der Forscherinnen und Forscher eine lange Geschichte hat und die Lebenswirklichkeit der umherziehenden Nomaden widerspiegelt. Im Leben dieser Großfamilien und Sippen waren alle Mitglieder täglich von Hunger, Dürre, Krankheiten und Tod bedroht. Die Versorgung und Absicherung der Gebrechlichen, Langsamen und Unproduktiven, der Kinder und Alten, waren schwer. Die gegenseitige Verpflichtung und Abhängigkeit der Familienmitglieder war in früheren Zeiten stärker als heute, aber dennoch fragil, je nach wirtschaftlicher Lage. Wir beobachten auch heute noch in vielen Ländern, die nicht unsere sozialen Sicherungssysteme haben, dass alte Menschen keinen Ruhestand kennen, sondern so lange arbeiten, zum Familieneinkommen beitragen und sich nützlich machen müssen, wie es irgend geht. In unserem Land haben wir seit den ersten staatlichen Absicherungs-gesetzen vom Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr von der Solidarität und Altersfürsorge aus dem engen Rahmen des Familiensystems in das kollektive Gesellschaftssystem übertragen.6 Wenn die Mechanismen der gegenseitigen Solidarität und Fürsorge aus dem Familiensystem in die Gesellschaft überführt wurden, dann bleibt festzuhalten, dass auch diese Solidarität durchaus fragil bleibt, je nach der wirtschaftlichen Lage in unserem Land. Daneben - das wissen viele von Ihnen aus eigener Erfahrung - geschieht in unserem Land ein Großteil nicht nur der finanziellen, sondern auch der unterstützenden und pflegerischen Fürsorge für alte Menschen in den Familien. Oftmals ist es so, dass erwachsene Kinder zwar nicht ohne Anstrengung, aber sehr gerne etwas von der Liebe und Aufmerksamkeit zurück geben, die sie selbst empfangen haben. Es gibt aber auch die Fälle, in denen Kinder – oft besonders Töchter und Schwiegertöchter – jeden Tag neu mit sich ringen müssen, alte Verletzungen zu vergessen und neue Angriffe zu verzeihen, wenn sie die Aufgabe erfüllen wollen, die sie sich gestellt haben, nämlich die Eltern zu ehren und ihr Leben im Alter zu unterstützen. Jetzt kommen wir zu der Reihe der sehr kurz formulierten Gebote: Vers 13: „Du sollst nicht töten.“ Dieses Gebot erscheint in seiner Kürze als besonders klar und eindeutig. Wir brauchen aber gar nicht lange nachzudenken, um zu erkennen, dass gerade dieses Gebot besonders offen ist für Interpretationen. Es gibt Menschen und ganze Religionsgemeinschaften, die dieses Gebot ganz wörtlich nehmen und darin jede Art von Tötung umfasst sehen. Die Mennoniten z.B. leiten daraus ihre Ablehnung des Kriegsdienstes und ihre Verpflichtung zu unbedingtem Pazifismus ab. In anderen christlichen Kreisen jedoch wurde und wird das Töten im Kriegsfall vom gemeinen Mord getrennt. Es wird immer wieder die wörtliche Bedeutung des hebräischen Wortes als Argument ins Feld geführt: Das hebräische Verb bedeute „morden“ und nicht „töten“. Die hebräische Wortbedeutung jedoch ist nicht wirklich eindeutig. Die Wortfelduntersuchungen grenzen das Verb auf eine Grundbedeutung ein, die „gewalttätiges, schuldhaftes Töten“ meint. Erst die Gemeinschaft legt die Definition dafür fest. Der Alttestamentler Christoph Dohmen formuliert: „Das biblische Mordverbot ist (...) ganz und gar der Lebenssicherung, also dem Schutz des menschlichen Lebens verschrieben, aber es erfordert von seiner Anlage her eine fortwährende Verständigung über das zu schützende Gut heraus.“7 5 Vgl. Frank Crüsemann: Der Dekalog ‐ eine historische Interpretation, in: Die Zehn Gebote. Eine Kunstausstellung des Deutschen Hygiene‐Museums, Ausstellungskatalog hg. von Klaus Biesenbach, Dresden 2004, S. 19. 6 Vgl. Ilona Ostner: Du sollst Vater und Mutter ehren, in: ebd., S. 134‐139. 7 Vgl. Christoph Dohmen, Exodus, S. 122f. „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 7 von 10 Das bedeutet, dass eine Gesellschaft sich immer wieder darüber verständigen muss, wie z.B. Kriegshandlungen zu bewerten sind. Seit mehreren Jahren befinden wir uns in so einem Verständigungsprozess angesichts des Einsatzes der Bundeswehr in Kriegs- und Krisengebieten wie dem Kosovo oder Afghanistan. Auch hier sind die Bewertungen und Interpretationen natürlich nicht eindeutig oder einfach. Die evangelischen Kirchen bieten mit dem Konzept des „Gerechten Friedens“ eine theologische Grundlegung, in der die Bedeutung des fünften Gebotes für unsere Gesellschaft weiter diskutiert werden kann. Das zweite sehr kurze Gebot lautet: „Du sollst nicht ehebrechen.“ (Vers 14) Dies ist ein Gebot, das seinen Adressatenkreis verrät, obwohl es nicht viele Worte macht. Die Zehn Gebote waren in ihrer ursprünglichen Bedeutung Lebensregeln für die freien israelitischen Männer. Noch deutlicher sehen wir es später bei den Geboten gegen das Begehren dessen, was einem nicht gehört: die Frau des anderen, sein Haus, Knecht, Magd, Rind, Esel, „noch alles, was dein Nächster hat“. Das Verbot des Ehebruchs bedeutete damals im Grundsatz keine Aussage über Sexualmoral, sondern über Sozialethik. Obwohl das spätere jüdische Recht auch Scheidungsgesetze kannte, die der Frau die Scheidung ermöglichten, bedeuteten Ehebruch und eventuelle Scheidung in der patriarchal strukturierten Gesellschaft der Israeliten eine große Bedrohung von Ehefrauen und Kindern. Dieses Gebot markiert die äußerste Grenze, bis zu der die Freiheit eines israelitischen Ehemannes und Vaters gehen durfte. Der Erhalt der familiären Strukturen war das Ziel und damit auch der Schutz von Kindern und Frauen, die im Falle von Scheidung oder Verstoßung schutzlos waren und sich kaum selbst versorgen konnten. In der Geschichte der Zehn Gebote, gerade in ihrer Geschichte im Christentum, hat sich die Interpretation dieses Gebots verändert. Oft wurde es zum Symbol für eine rigide Sexualethik und Doppelmoral, die die Unterdrückung von Frauen verstärkte. Erst im letzten Jahrhundert haben sich Frauen- und Männerrollen so sehr verändert, dass in unserem Land sich auch die Erwartungen an die Ehe verändert haben. Deshalb gibt es in Deutschland nun das Ideal der Liebesheirat und der gleichberechtigten Partnerschaft, das das alte Ideal der ökonomischen und politischen Verbindung zur Stärkung von Familie und Sippe abgelöst hat. Für viele Menschen bedeutet das Gebot „Du sollst nicht ehebrechen“ heute eine Infragestellung der eigenen Sexualmoral angesichts dessen, dass es eine größere Liberalität in Bezug auf Monogamie und eine florierende Sexindustrie gibt. Es bedeutet aber auch, dass wir uns darüber Rechenschaft geben müssen, was unsere tiefsten Beziehungen wertvoll und schützenswert macht und wie wir als Partnerinnen und Partner miteinander respektvoll und achtsam umgehen können. Interessanterweise tauchen auch die alten Bezüge von Ehe, finanzieller Stabilität und Schutz der Kinder wieder auf. In finanziell schwierigen Zeiten ist auch bei uns zum einen die Rückbesinnung auf die Familie als sicherstes solidarisches System zu beobachten. Zum anderen sind aber Trennung und Scheidung zum großen Armutsrisiko für Frauen, Männer und die betroffenen Kinder geworden. In Vers 15 lesen wir: „Du sollst nicht stehlen.“ Dieses Gebot ist neben dem Verbot des gewaltsamen Tötens das grundlegendste Gesetz für Frieden und Zusammenhalt in der Familie, in der Sippe oder im Dorf. Was für den Frieden im israelitischen Dorf galt, gilt auch für unsere Dörfer und Städte, in den Zeiten der Globalisierung aber auch für das „global village“, das sog. globale Dorf. Viele Theologinnen und Theologen aus den Ländern des Südens weisen uns seit Jahren darauf hin. Wir können es, wenn wir nur ein wenig mit offenen Augen und Ohren die Berichte in den Medien wahrnehmen, selbst nachvollziehen: Die Globalisierung, wie wir sie heute erleben, „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 8 von 10 macht uns zu Mittäterinnen und Mittätern in einem weltweiten System von Ausbeutung und Diebstahl. Es ist das, was Befreiungstheologen wie Leonardo Boff in Südamerika schon vor 40 Jahren als strukturelle Sünde und strukturelle Schuld bezeichnet haben. Ich weiß, dass es gerade im kirchlichen Kontext manchmal schon wie die Leier einer Gebetsmühle klingt, aber ich sage es hier dennoch: Wenn wir billige Güter wollen, Öl und Benzin, Kleidung, Lebensmittel, technische Gerätschaften, Sex… - wenn wir das alles so billig wie möglich haben wollen und in reichhaltigen Mengen, ja im Überfluss, dann beteiligen wir uns an einem weltweiten Diebstahl. Wir als „kleine“ Endverbraucherinnen und -verbraucher von Marken-Turnschuhen, Flachbildfernsehern, Plastikspielzeug und billigem Kaffee machen dabei nicht dieselben horrenden Gewinne wie viele der Zwischenhändler, Manager und Aktienspekulanten. Aber auch wir stehlen Geld, Lebenskraft, Freiheit, Bildungschancen und Gesundheit. Wir bestehlen die Millionen von Menschen, die unter Bedingungen und für Löhne arbeiten, für die wir in Deutschland nicht arbeiten würden. Millionen von Menschen, die keinen Arbeitsschutz kennen, keinen Urlaub, keine Krankenversicherung und keine Rente. Besonders extrem sind diese Bedingungen im Fall von Kinderarbeit und dem, was als „Neue Sklaverei“ bezeichnet wird, wenn Menschen ihre Arbeitskraft und ihre Freiheit verkaufen müssen. Was passiert, wenn ich als Christin Gottes Wort höre: „Du sollst nicht stehlen“ und ich weiß, ich tue genau das? Was passiert mit diesem Vorwurf in einer Zeit, in der auch in unserem Land viele Menschen am Rande der Armutsgrenze leben und jeden Euro dreimal umdrehen müssen? Ich habe kein Patentrezept, weder für mein eigenes Leben, geschweige denn für Ihr Leben. Aber ich weiß, dass es für mich wichtig ist, mir überhaupt der Verstrickung bewusst zu sein, mich nicht zu verstecken und für moralisch sauber zu halten, nur weil ich nicht im Kaufhaus klaue und keine Steuern hinterziehe. Das nächste Gebot hat noch einmal einen juristischen Bezug: „Du sollst nicht falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten“ (Vers 16). Wir haben schon die Verbindung zum Verbot, Gottes Namen zu missbrauchen, gesehen. Das falsche Zeugnis gegen einen Angeklagten gefährdet einen der zentralen alttestamentlichen Grundsätze von Recht und Gerechtigkeit. Es ist aber ausweitbar von der Rechtsprechung „im Stadttor“ auf weitere Situationen des menschlichen Miteinanders: „Du sollst nicht lügen, du sollst nicht lästern, du sollst keine Gerüchte verbreiten…“ Eine der eindrücklichsten Szenen in George Orwells Buch „1984“ ist, als die Hauptfigur Winston Smith nach wiederholter Folter und Gehirnwäsche auf die Frage „Wie viele Finger siehst du?“ wie gewünscht die falsche Anzahl nicht nur nennt, sondern wirklich sieht. Die Machthaber haben ihn gebrochen, er kann nicht mehr an seiner Wahrheit festhalten, sondern muss sich ihrer Wahrheit beugen. Wahrheit ist ein hohes Gut. Menschen sind darauf angewiesen, dass sie sich darauf verlassen können, was wahr ist. Es wirkt als seelische Folter, wenn die eigene Wahrheit verlacht wird oder das, was gestern als wahr galt, heute nicht mehr gilt. In Schulen und Büros gehört das zum Tatbestand des Mobbings, in den Medien leider manchmal zum Alltagsgeschäft und in Diktaturen zum autoritären Machterhalt. Die letzten zwei Gebote fasse ich, entgegen der lutherischen Zählung, aber getreu der reformierten und jüdischen Zählung zusammen. „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Haus.“ Und „Du sollst nicht begehren deines Nächsten Frau, Knecht, Magd, Rind, Esel noch alles, was dein Nächster hat.“ (Vers 17) Hier wird wieder deutlich, dass die ersten Adressaten dieses Gesetzeswerkes die freien besitzenden jüdischen Männer waren. „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 9 von 10 Das Haus eines Mannes war nicht nur das Gebäude, sondern vielmehr die Menschen, die zur Familie und zum Gesinde gehörten. Diese Menschen stellten im weitesten Sinne den Besitz, zumindest aber das finanzielle Gerüst der Familie oder Sippe dar. Dieses Gebot ist verbunden mit dem Verbot des Diebstahls, weitet es aber noch aus. Nicht nur der Diebstahl des Viehs oder das Abwerben der Knechte ist die Grenze der Freiheit, sondern schon das Begehren, Trachten und Planen. Hier ist eine Verbindung zu Jesu Radikalisierung der Gebote in der Bergpredigt zu sehen. Die Warnung vor dem zügellosen Begehren richtet sich gegen Verhaltensweisen, die innerlich und äußerlich die Stabilität der Gemeinschaft gefährden. Wenn wir uns unsere Gesellschaft anschauen, dann scheint es fast so, als würde im Gegensatz dazu heute unsere Begierde zur Stabilität der Gesellschaft beitragen. Die materielle Begierde ist Teil des kapitalistischen Systems. Begierden werden geweckt, Befriedigung gesucht. Das gehört zu unserem persönlichen Erfolg und garantiert uns, dass wir „dazu gehören“. Es geht hier nicht nur um die „Sklaverei des Marktes“, in der unser Geist der Sklave ist. Es geht auch um Identität, um das Dazugehören. Kinder aus armen Familien haben manchmal Markenschuhe oder ein Handy, obwohl ihre Eltern eigentlich nicht das Geld dafür haben können. Nicht unbedingt, weil sie die staatliche Unterstützung sinnlos ausgeben oder weil sie nicht mit Geld umgehen können. Nein, die Mütter sparen vielleicht lieber jede Woche beim Essen oder tragen selbst nur billigste Klamotten – aber ihre Kinder sollen das haben, was wichtiger ist als Essen: die Chance, dazu zu gehören und Teil der Gemeinschaft zu sein. Was ist, wenn die materiellen Begierden und das darüber hinaus gehende seelische Begehren nicht gestillt werden? Was bedeutet es für den Zusammenhalt einer Gemeinschaft und einer Gesellschaft, wenn viele Menschen, besonders Kinder und Jugendliche nicht teilhaben können an dem, was diese Gesellschaft ausmacht? Wenn das Begehren dessen, was meine Nächste und mein Nächster hat, die Grenze der Freiheit ist, die Gott in den Zehn Geboten verheißen hat – gibt es dann auch ein Begehren innerhalb der Freiheit? Ich glaube, dass es zutiefst menschlich ist, etwas zu begehren, was wir nicht schon kennen oder haben. Es gibt ein Begehren, das zerstörerisch wird, aber es gibt auch ein lebensorientiertes Begehren. Die Zehn Gebote geben uns in ihrer kurzen prägnanten Form einen klaren Hinweis darauf. Das letzte Gebot ist, genau wie die anderen, mit der Präambel verbunden: „Ich bin der HERR, dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Es verbindet damit den Exodus, den Auszug aus Ägypten mit einem lebensorientierten Begehren: mit der Sehnsucht nach Freiheit, nach einem anderen Leben, nach einem Weg mit Gott. „Ich bin der HERR, dein Gott“. Der Geist und das Herz werden aus der Sklaverei befreit und richten sich auf die Kraft aus, die Leben verheißt. Zusammenfassung Die Zehn Gebote stehen in der Hebräischen Bibel nicht allein. Sie sind der Basistext für Gottes Gebote, Rechtssätze und Normen. Sie sind weder deren alleinige Voraussetzung noch deren Zusammenfassung. Sie sind das „Portal in die Tora“, aber auch eine Verbindungsbrücke in das Neue Testament. Als Grundsätze für ein möglichst friedliches Zusammenleben waren sie nicht nur hilfreich für die nomadischen Familienverbände und die städtische Kultur der Israeliten im 1. Jahrtausend vor Christus. Sie haben auch heute noch Geltung - meiner Auffassung nach jedoch nicht so sehr weil sie „normatives Recht“ verkörpern, sondern weil sie uns vor Augen führen, was eine Gesellschaft zum Überleben braucht. Für mich sind die Zehn Gebote „Lebenszeichen“ – Zeichen Gottes im „Lande der Freiheit“. Sie markieren die Grenzpfosten, den Zaun, der uns zeigt: Bis hierher und nicht weiter. Hinter der „Lebenszeichen. Die Zehn Gebote“ Vortrag von Vizepräses Petra Bosse-Huber Seite: 10 von 10 Grenze kommt Wildnis, ein Abgrund, Gefahr für Leib und Leben, Anarchie, Verlassenheit – der Tod. Ich weiß, dass in den christlichen Interpretationen der Zehn Gebote die Grenzen oft unglaublich eng gezogen wurden. Das Land der Freiheit war dann relativ klein, zu eng für jede und jeden, der von der Norm abwich. Und auch damals hieß es: Hinter der Grenze ist Wildnis, hinter der Grenze lauert der Tod… In der Geistesgeschichte unserer Kultur waren es jedoch oft die Menschen, die die Grenzen heraus gefordert und überwunden haben, die uns zeigten, dass auch in der Wildnis Schönheit und Leben war. Dennoch glaube ich, dass in einer Gesellschaft wie der unseren der Raum der inneren und äußeren Freiheit mittlerweile sehr groß ist. Die Gefahr für unser Zusammenleben und Überleben liegt nicht im Mangel an Freiheit, sondern in der Unfähigkeit, von dieser Freiheit guten Gebrauch zu machen. Da, wo wir in unserem Freiheitsbedürfnis zügellos und egoistisch werden, verlieren wir uns selbst und den anderen. Ich hoffe, dass ich vermitteln konnte, dass die Zehn Gebote immer offen waren für Interpretationen, im Positiven wie im Negativen. Auch wenn sie auf den ersten Blick so eindeutig und klar wirken - oder gerade deshalb - werden sie in jeder Kultur und in jeder Zeit neu ausgelegt. Sie treten in Kommunikation mit den Lebenswelten, den Problemen und Fragen jeder Zeit. Sie fordern ihre Leserinnen und Hörer heraus zur Interpretation, zum Widerspruch und zur Auseinandersetzung. Ihre besondere Kraft gewinnen die Zehn Gebote nicht nur als Rechtsurkunde, sondern als religiöser, spiritueller Text. Die Erfahrung von Sklaverei und vom Auszug aus dem Sklavenhaus ist nicht spezifisch jüdisch. Die christliche Auslegung macht dies auch zu unserer Geschichte, den Gott Israels und Jakobs auch zu unserem Gott, der uns rettet und ein neues Leben in Freiheit eröffnet. Für mich als Christin kommt zu der Exodus-Erfahrung noch die Dimension von Gottes Heilshandeln in Jesus Christus dazu. Im Vokabular des Neuen Testaments gesprochen ist dies die Rettung aus der Sklaverei von Sünde und Tod, die Befreiung durch Gottes Gnade und die Auferstehung Jesus Christi. Es ist ein hohes Gut für mich, dass unser ethisches Handeln und unser Miteinander im Großen und Kleinen zurück geht auf Gottes gute Weisung, auf die Tora, die Freiheit eröffnet: ein großes Land der Freiheit mit Grenzen zu unserem Schutz. Sowohl die Freiheit als auch die Grenze sind Geschenke Gottes, der uns immer wieder daran erinnert: „Ich bin der HERR dein Gott, der ich dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt habe.“ Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!