Character-Ausgabe 5

Transcrição

Character-Ausgabe 5
eCHtes. priVate. banKing.
ausgabe 5 — DEZEMBER 2014
Character im Porträt
Ali Güngörmüs
Vom türkischen Dorf in die
Sterneküche
6 —17
Für morgen
Biomimikry-Boom
Die Natur: Die älteste Forschungsabteilung der Welt
26 — 31
Charactere im Dialog
Alexander Brenninkmeijer und Clemens Schick
Kings of Cool
60 — 69
Gegenwart
2
Editorial
der optimist
hat nicht weniger oft
Unrecht als der Pessimist,
aber er lebt froher.
Charlie Rivel, 1896 – 1983,
spanischer Clown
Character
3
Dezember 2014
Liebe Leserin, lieber Leser,
unser tägliches Geschäft ist geprägt von Persönlichkeit
und Persönlichkeiten. Jeder von uns hat seine eigenen
Lebensziele. Und jeder von uns wählt seinen ganz
­persönlichen Weg dorthin. Ein Standard-Rezept gibt
es nicht. Wohl aber Eigenschaften, die diese Aufgabe
erleichtern. Selbstvertrauen, der Wille zu gestalten,
sich nicht mit dem Erreichten zufriedengeben und auch
die Bereitschaft, mit Konventionen zu brechen – solche
­Eigenschaften machen letztlich den Unterschied.
Den eigenen Weg zu
­finden, erfordert
­Selbstbewusstsein und
auch die Bereitschaft,
mit Konventionen zu
brechen – in der privaten
Welt genauso wie in der
Geschäftswelt.
Ali Güngörmüs besitzt sie. Und er hat sie auf ganz persönliche Weise kombiniert.
Der „Character“ unserer aktuellen Ausgabe strahlt eine immense Vitalität und
Lebensfreude aus. Es scheint, dass er seinen Lebensweg stets mit einem Lachen
bewältigt. Güngörmüs stammt aus einem kleinen türkischen Dorf und kam als Kind
mit seinen Eltern nach Deutschland. Er machte eine Lehre als Koch und merkte
sehr schnell, dass es noch eine weitere Welt jenseits der „normalen“ Küche gab: Die
Sterne-Küche. Heute ist er der einzige mit einem Stern ausgezeichnete Küchenchef
türkischer Herkunft und Inhaber von zwei Restaurants in Hamburg und München.
Güngörmüs hat sich nicht mit dem Erreichten zufriedengegeben, sondern sich sehr
früh ein neues, ein größeres Ziel gesucht. Er wollte gestalten, und zwar nicht nur
in der Küche, sondern auch als Unternehmer. Er musste dazu mit Konventionen
brechen und seinen ganz eigenen Weg finden. Und er hat sich dabei Leichtigkeit und
Fröhlichkeit bewahrt.
Mit Konventionen haben auch zwei weitere Charaktere dieser Ausgabe gebrochen.
Wir haben ein Experiment gewagt und zwei Persönlichkeiten zusammen­
gebracht, die nicht zwingend Gemeinsamkeiten aufweisen: den Modeunternehmer
­Alexander Brenninkmeijer und den Schauspieler Clemens Schick. Brenninkmeijer
stammt aus der großen Familie, die hinter dem Modekonzern C & A steht. Doch er
wählte seinen eigenen Weg und gründete ein Label für Premium-Mode. Clemens
Schick wiederum kommt aus einer Juristenfamilie, schlug jedoch ebenfalls einen
riskanteren Weg ein und wurde Schauspieler. Die beiden haben trotz unterschiedlicher ­Professionen zahlreiche Gemeinsamkeiten entdeckt.
Seine Ziele fest vor Augen zu behalten und dabei den Mut zu haben, einen ganz
­persönlichen Weg zu beschreiten – dies ist in der privaten Welt genauso wichtig wie
im Geschäftsalltag, bei Ihnen wie auch bei uns in der Bank. Wir freuen uns, Ihnen in
dieser Ausgabe gleich mehrere echte Charaktere zu präsentieren. Vielleicht g­ ewähren
sie Ihnen einige neue Perspektiven.
Bleiben wir im Dialog!
Aus dem Bethmannhof
grüßt Sie herzlich
horst schmidt
Vorstandsvorsitzender
der Bethmann Bank
4
Inhalt
24 — 2 5
34 — 3 5
58 — 5 9
Character
12 Dinge, die man tun sollte
Character
12 ausgewählte Zitate
Character
Einplanen
Gegenwart
6 — 17
Character im Porträt
Unternehmer und
Sternekoch
Ali Güngörmüs
www.bethmannbank.de
Character
tradition
5
gegenwart
Dezember 2014
Zukunft
6 — 17
Character im Porträt
— Ali Güngörmüs —
Unternehmer und Sternekoch
18 — 2 1
Werte im Wandel
— Zeit? Not! —
Von der Zeitersparnis zum Alltagsstress
22 — 23
24 — 2 5
Zahlen, bitte!
— Der deutsche Wald —
Mythos und Sehnsuchtsort
12 Dinge, die man tun sollte
— Viel lachen —
und das Leben genießen
26 — 3 1
Für morgen
— Biomimikry-Boom —
Die älteste Forschungsabteilung der Welt
32 — 3 3
Unterbewertet
— Aachen —
Hightech im Schatten von Printen und Dom
34 — 3 5
36 — 3 9
12 ausgewählte Zitate
— von Ali Güngörmüs —
Unternehmen der Zukunft
— Vollgas mit Carsharing —
Invers: Weltmarktführer aus der Provinz
40 — 4 3
Zwischen kommerziell und karitativ
— Informieren, inspirieren, aktivieren! —
Der Social Publish Verlag
44 — 5 1
52 — 5 3
Unternehmen mit Tradition
— Messerscharf und prosperierend —
­Windmühlenmesser aus Solingen
Perspektivenwechsel
— Verbraucherschutz —
Echter Schutz oder Entmündigung?
54 — 5 7
58 — 5 9
Hello / Goodbye
— Selbstgemachtes —
Möbel kontra Massenmail
Einplanen
— Durch das Jahr —
mit Ali Güngörmüs
60 — 6 9
Im Dialog
— Doppelgespräch: Kings of Cool —
A. Brenninkmeijer und C. Schick
70
Impressum
Gegenwart
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Porträt
Unternehmer und Sternekoch
Ali Güngörmüs
Interview: Petra Schäfer Fotos: Marc Krause
Der Sternekoch nutzt seinen freien Tag für das Gespräch –
sonst bliebe zwischen der Zubereitung von Lammkarree mit
Ziegenkäse-Feigen-Taschen und „Alis ­Schokokuchen“ keine Zeit.
Der Inhaber des Restaurants „Le Canard nouveau“
an der malerischen Hamburger ­Elbchaussee ist hierzulande der
­einzige mit einem Stern ausgezeichnete Küchenchef
­türkischer ­Herkunft. Sein Weg an die Spitze begann in
dem kleinen Dorf Pageou in der Türkei. Sein neues Restaurant in
München hat Güngörmüs nach seinem Heimatort benannt.
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Character
7
Ausgezeichnete Küche: Die Vereinigung
„Chaine des Rotisseurs“ zur Förderung
der gepflegten Tischkultur war bereits mit
­einem ihrer Diner Amical bei Ali Güngörmüs
zu Gast – eine besondere Ehre.
Dezember 2014
Gegenwart
8
Vergangenheit und Gegenwart:
Ali ­Güngörmüs in seinem Münchner
­Restaurant „Pageou“, benannt nach
seinem türkischen Heimatort. Dort hängt
ein Foto seines Großvaters Hasan.
Porträt
Character
9
Herr Güngörmüs, verraten Sie uns das
Aufregendste, das Sie in den vergan­
genen Tagen gekocht haben?
Zufällig war das ein Auberginengericht.
Ich habe es gleich in unserem neuen
Menü als Hauptkomponente eingebaut.
vertiefen: Einen Teil wickele ich in Teig ein,
den anderen püriere ich. Macht gleich drei
Komponenten: Ragout, Püree und einen
Strudel. Dazu Rucolablätter mit Minze und
Granatapfelessig vermischen und
garnieren – was will man noch mehr!
Warum ausgerechnet Aubergine?
(Lacht) Das ist ein eher langweiliges
Gemüse, nicht wahr? Ein Gast fragte nach
Aubergine – also habe ich sie kleingehackt
und mit Schalotten und einer nord­
afrikanischen Gewürzmischung geschmort.
Dazu ein paar Oliven, Kapern und als
süße Komponente getrocknete Trauben.
Schon war das ein schmackhaftes Gemüsegericht. Das ist das Tolle am Kochen: Das
Einfache schmeckt meistens viel besser
als komplizierte Kreationen. Ich war sehr
angetan, solche Gerichte spontan entwickeln zu können – und dazu noch vegan.
In der Türkei sind Sie mit einer anderen
Küche groß geworden als später in
Ihrer zweiten Heimat Bayern. Welche
Lieblingsgerichte hatten Sie als
kleiner Junge?
Das mag hart klingen: Ich hatte kein Leib­
gericht, ich habe gegessen, was auf den
Tisch kam. Ehrlich. Wir haben damals in
der Türkei als Familie mit sechs Kindern
in einem Bauernhaus inmitten einer Obst­
plantage gewohnt. Uns ging es gut im
­Gegensatz zu vielen anderen, weil mein
Vater in Deutschland arbeitete und die
Familie ernährte. Aber wir durften nicht
aussuchen, was wir essen wollten. Mal
gab es nur Rote Beete oder Kartoffelstampf
mit Brot. Alles, was wir aßen, war frisch.
Wir haben selber angebaut, gepflückt,
getrocknet, in Konserven eingeweckt für den
Winter. Tiefkühlprodukte gab es nicht, denn
wir hatten sowieso keinen Kühlschrank.
Sie gehen mit dem Trend, vegetarisch
und vegan zu kochen?
Die Gäste fragen heute deutlich mehr
nach vegetarischen Gerichten als noch
vor einigen Jahren. Vegane Küche wird in
den nächsten fünf bis zehn Jahren weiter
zulegen. Wir Profi-Köche müssen uns
­umstellen: Vegane Gäste möchten nicht
nur ein oder zwei Gänge essen, sondern
sie ­wollen fünf bis sieben Gänge genießen.
Das ist für uns eine Herausforderung.
­Letztendlich hat das Restaurant einen
Namen, ich gelte als kreativer Koch – also
muss ich Gerichte zaubern, die auch den
Veganer begeistern. Einen gemischten Salat
gibt es schließlich überall.
Gibt es denn schon vegane Sterneküche?
Nein, das glaube ich nicht. Aber nur weil
wir ein Sternerestaurant sind, müssen
nicht alle Gerichte mit Fisch oder Fleisch
zubereitet sein. Wir gehen auf den Gast
ein, denn er weiß heute sehr genau, was er
will. Er informiert sich über die Produkte,
kocht s­ elber viel. Wir müssen also für
Trends offen sein – wie für das Auberginen­
gericht. Das lässt sich übrigens noch
Welchen Einfluss hat die türkische
Küche auf Ihre Kreationen heute?
Im Restaurant „Pageou“ in München koche
ich mit den Aromen meines Geburtsorts
mediterran-orientalisch – als neue Interpretation der Küche, wie ich sie als Kind
kennengelernt habe. Das ist anders als im
„Le Canard“, eher zwischen Klassik und
Moderne, ohne den Anspruch, ein Sterne­
restaurant zu sein.
Was denken Sie heute – hier von der
Hamburger Elbchaussee oder der
Münchener Innenstadt aus – über
Ihre Kindheit?
Ich finde es gut, so aufgewachsen zu sein.
Wenn ich es anders kennengelernt hätte,
wäre ich wahrscheinlich nicht da, wo ich
heute bin. Bis zum zehnten Lebensjahr
habe ich zum Beispiel keine Schokolade,
Dezember 2014
keine Süßigkeiten gegessen. Einmal im Jahr
allerdings hat Papa aus Deutschland dann
Milka-Schokolade mit Nüssen mitgebracht,
das war göttlich.
Engagieren Sie sich deshalb heute
für soziale Projekte mit Kindern?
Ich setze mich für die Ehlerding-Stiftung
ein, die einen Hof mit Öko-Landbau
betreibt und Patenschaften für Kinder hier
in Deutschland vermittelt. Das ist mir sehr
wichtig, denn das erinnert mich daran, wie
ich aufgewachsen bin. Als ich damals nach
Deutschland kam, hätte ich so gerne jemanden gehabt, der mich beispielsweise bei den
Hausaufgaben unterstützt.
Als 14-Jähriger haben Sie sich dazu
entschieden, in einem bayrischen
Gasthaus kochen zu lernen. Warum?
Ich bin mit zehn Jahren nach Deutschland
gekommen, habe die Sprache erlernt,
bin in die fünfte Klasse einer Hauptschule
­gegangen und hatte vier Jahre später
­meinen Abschluss in der Tasche. Ich musste
ja irgendetwas machen. Mein Vater hat
mir freie Hand gelassen. Ich habe mich
als ­Einzelhandelskaufmann beworben,
bekam aber eine Absage. Das Gasthaus am
Rosengarten in München hat mich dann
genommen.
Waren Ihre türkischen Wurzeln für
Sie damals ein Problem in der Schule
oder bei der Suche nach einem
Ausbildungsplatz?
In der Klasse hatten fast alle meine Mitschüler Migrationshintergrund, das war
normal. Nach meinem Schulabschluss
waren Auszubildende sehr gesucht, da hat
meine Herkunft auch keine Rolle gespielt.
Lediglich in der Ausbildung gab es dann
schon einmal Kollegen, die mich deswegen
provozieren wollten. Aber ich bin der
­Meinung, man darf sich nicht verrückt
machen lassen.
Gegenwart
10
Ich hatte kein
Leibgericht, ich
habe gegessen,
was auf den
Tisch kam.
Hell und freundlich: Das „Pageou“
bietet den Gästen viel Raum zum
Genießen. Auf der Speisekarte stehen
­mediterran-orientalische Gerichte.
Porträt
11
Wie aus dem Lehrbuch: Eine
Mandel-Knoblauch-Suppe. Das Rezept
findet sich in Güngörmüs´ neuem Buch
„Mediterran – 100 kreative Rezepte rund
ums Mittelmeer“.
Dezember 2014
© Dorling Kindersley Verlag / Foto: Maike Jessen
Character
Gegenwart
Konnten Sie vorher schon kochen?
Während der Schulzeit habe ich Kochen im
Hauswirtschaftskurs gelernt, es hat Spaß
gemacht, mit verschiedenen Produkten
und Zutaten zu arbeiten. Damals hatte ich
offen­bar schon einen Bezug dazu. Aber mehr
wusste ich nicht über den Beruf Koch.
Es ist also dem Zufall zu verdanken,
dass Sie Koch geworden sind. Wann
hat es Sie richtig gepackt, zur Spitze in
Deutschland dazugehören zu wollen?
Während meiner Ausbildung haben die Kollegen häufiger über Sterneköche g­ esprochen.
Damals war Eckart Witzigmann mit seinem
Restaurant „Aubergine“ in M
­ ünchen der
Gourmetpapst mit drei S
­ ternen. Da ist mir
zum ersten Mal bewusst geworden, dass
wir das Normale kochten, aber dass es eine
andere Welt gab, in der die Millionäre verkehrten. Das war damals so. Eine Seezunge
kostete im Sternelokal 70 D-Mark. Zum
Vergleich: Ich verdiente 400 D-Mark im
Monat. Das konnte ich mir also nicht leisten.
Aber ich habe damals begonnen, mich dafür
zu interessieren, Zeitschriften zu kaufen und
Restaurant-Kritiken zu lesen. Niemals hätte
ich gedacht, dass ich in diese Welt hineinrutschen kann.
Aber dann ist es doch passiert.
Es war damals nicht einfach, von einem
einfachen Restaurant in die Spitzengastronomie zu wechseln – von der Bezirksliga in
die Champions League. Eines Tages habe ich
in der Nachtausgabe der Münchener Abendzeitung eine Anzeige entdeckt: „Sterne­
restaurant sucht Jungkoch.“ Das war m
­ eine
Chance. Ich habe sofort angerufen und wurde
zum Vorstellungsgespräch ein­geladen – ich
weiß noch, wie ich gezittert habe. Ich wollte
unbedingt genommen werden, wollte die
Barriere brechen. Zwar habe ich dann
deutlich weniger verdient als vorher, aber ich
habe es trotzdem gemacht.
Was hat denn Ihre Familie dazu gesagt?
Mein Bruder hat mich ausgelacht, denn er
verdiente als Elektriker das Doppelte. Aber
12
ich hatte meine Ziele: Mit 14 in die Lehre zu
gehen, mit 17 ausgelernt zu haben, mit 25
Küchenchef zu sein und mit 30 ein eigenes
Restaurant zu eröffnen. Das hat bis jetzt
ganz gut geklappt.
Sie sind ein Turbo-Gründer: Mit 27
waren Sie schon Ihr eigener Chef im ­
„Le Canard nouveau“ in Hamburg. War
die frühe Selbstständigkeit auch eine
große Bürde?
Ich bin ehrlich gesagt recht blauäugig an
die Sache herangegangen. Vielleicht hat es
deshalb gut funktioniert. Ich musste keine
größeren Kredite bei der Bank aufnehmen,
weil mir meine Eltern geholfen haben und
ich vorher als Küchenchef etwas angespart
hatte. Das Geld reichte für drei Monate.
Drei Tage vor der Eröffnung wurde ich dann
nervös, konnte nicht mehr schlafen. Aber
zum Glück waren die Gäste gespannt auf
dieses Restaurant hoch über der Elbe, das
vor einigen Jahren schon einen sehr guten
Ruf hatte. Das war unser Pluspunkt.
Heute sind Sie gleichzeitig Topmanager
und Küchenchef. Wie bringen Sie die
beiden anspruchsvollen Aufgaben unter
einen Hut?
Ich habe einfach die Gabe dazu. Das mag
überheblich klingen, aber egal wo ich gearbeitet habe, habe ich mich verhalten wie in
meinem eigenen Restaurant. Von Jahr zu Jahr
habe ich dazugelernt, wie ein Betrieb wirtschaftlich funktionieren muss. Das Wichtigste ist letztlich der Zuspruch der Gäste. Was
wir kochen, auch für Veranstaltungen, muss
draußen gut ankommen. Mein Team und ich,
wir haben ein klares Konzept, wir lassen uns
nicht verbiegen und wir glauben an uns.
Wie schwierig war es, einen Stern der
Restauranttester des „Guide Michelin“
zu bekommen?
Ich hatte ja vorher in der Sternegastronomie
gearbeitet und wusste, worauf es ankommt.
Abgesehen von dem Stern war mein Hauptziel eigentlich, mit diesem Restaurant nicht
Pleite zu gehen wie mein Vorgänger. Woche
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Porträt
für Woche wurden wir besser, steigerten das
Niveau – und dann kam auch der Stern. Die
Auszeichnung brachte uns ein Umsatzplus
von 20 bis 30 Prozent und auch Akzeptanz
unter den Kollegen und Journalisten. Der
Stern steht für gute Qualität und gewährt
Anerkennung.
Wächst mit dem Stern der Druck?
Druck hat man doch immer: Besonders
wenn es mal laue Tage gibt, an denen nur
wenig Gäste kommen. Der Stern verpflichtet
und erhöht damit die Erwartungshaltung
der Gäste. Als Koch muss man sich immer
weiter motivieren und kreativ sein. Der
Stillstand wäre dann ein Rückschritt. Aber
ein zweiter Stern wäre nicht mein Ziel,
schließlich schreckt das auch viele Gäste ab.
Das, was ich mir aufgebaut habe, möchte
ich halten und verbessern – aber nicht in
Form eines Sterns, sondern ich möchte mehr
in den Gast investieren und den Erfolg
genießen.
War für Sie die Selbstständigkeit die
beste Entscheidung Ihres Lebens?
Natürlich! Obwohl es sehr hart ist und viel
Zeit in Anspruch nimmt, selbstständig zu
sein. Auch die Entscheidung, nach Hamburg
zu gehen, war die Richtige. Ich lebe mit
meiner Familie in Hamburg und fühle mich
hier sehr wohl und angenommen, dafür
bin ich dankbar. Und mit meinem zweiten
Restaurant, das ich im Oktober in München
eröffnet habe, bin ich nun in den zwei
schönsten Städten Deutschlands vertreten.
In beiden Restaurants habe ich sehr gute
Teams und pendle zwischen den Städten hin
und her.
Sie sind weltweit der einzige türkischstämmige Koch mit einem Stern. Nervt
Sie diese Sonderstellung?
Manchmal wird über meine türkische
Herkunft zweideutig gesprochen. Das ärgert
mich. Als ich damals das Restaurant eröffnete, schrieb eine große Tageszeitung:
Character
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Barbecue auf Türkisch: Das „Köz Ocakbasi“
in Hamburg bietet zwar keine Sterneküche,
dafür aber Authentisches vom Grill. Es zählt
zu Güngörmüs´ Lieblingsrestaurants.
Dezember 2014
Gegenwart
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Handarbeit: Höchstpersönlich entwirft
Restaurantchef Güngörmüs das Lunchmenü (oben) und prüft die Ware auf dem
­Hamburger Fischmarkt (unten).
Porträt
Character
15
Bis zum zehnten
Lebensjahr
habe ich keine
Schoko­lade, keine
SüSSigkeiten
gegessen.
Arbeit ist nicht alles: Güngörmüs
genießt den Spaziergang mit Mops Didi
an den Hamburger Elbterrassen.
Dezember 2014
Gegenwart
„Gibt es bald Edel-Döner im Le Canard?“
Mit dem Michelin-Stern haben wir alle
eines Besseren belehrt.
Vielleicht sind Sie ja bald nicht mehr
der Exot …
Ich habe jetzt einen Auszubildenden eingestellt, der erst 14 Jahre alt ist und dessen
Eltern aus der Türkei kommen. Er hat
Talent – in ihm sehe ich vieles, was mich an
meine eigenen Anfänge erinnert. Wenn er es
durch­zieht, wird aus ihm auch ein sehr guter
Koch. Ich werde ihn hier im Sterne­restaurant
fördern.
Hat er es heute schwerer oder leichter
als Sie damals?
Insgesamt erwartet die Gesellschaft heute
mehr von den Jugendlichen, auch von denen
mit Migrationshintergrund. Da kommt zum
Beispiel häufiger die Frage, warum man denn
„nur“ einen Hauptschulabschluss gemacht
hat. Der Druck steigt.
Bilden Sie regelmäßig junge Leute aus?
Ja, aber nur wenige. Wir möchten uns Zeit
nehmen, uns um die Auszubildenden zu
kümmern, damit sie es von der Pike auf
lernen. Im Moment haben wir noch einen
weiteren Azubi im Service. Das ist uns
wichtig. Die Gastronomie in Deutschland
jammert, weil ihr der Nachwuchs fehlt.
Das ist ein ernstes Problem. Wir müssen
ausbilden, obwohl es anstrengend ist, Zeit
und Energie kostet. Wenn wir wollen, dass
die gute Gastronomie in Deutschland auch
in den nächsten 20 Jahren eine Zukunft hat,
müssen wir jetzt investieren. Wir haben ein
wahnsinniges Nachwuchsproblem. Die Abbruchrate unter den auszubildenden Köchen
liegt bei 70 Prozent.
Dabei haben die zahlreichen Kochshows
im Fernsehen doch schon viel Werbung
für den Beruf gemacht.
Kochen und Essen ist etwas Schönes und
gehört zu unserer Kultur. Jeder weiß, dass
Köche auch abends und an Feiertagen
arbeiten, so wie Krankenschwestern und
Ärzte. Trotzdem müssen wir dahin kommen,
Köchen flexiblere Schichten zu ermöglichen.
16
Porträt
Vom türkischen Dorf in die Sterneküche
Ali Güngörmüs, 38, ist einer, der es aus eigener Kraft an die Spitze geschafft hat. Erst
mit zehn Jahren kam Güngörmüs als Kind eines Gastarbeiters aus einem ostanatolischen Dorf nach München. Er hat sich vom Lehrling in einem bayrischen Gasthaus
bis in die erste Liga der deutschen Gastronomie gekocht. Das Durchsetzungsver­
mögen schätzt er auch im Fußball, seiner großen Leidenschaft. Seit 2005 ist er Inhaber
des Restaurants „Le Canard nouveau“ in Hamburg, ausgezeichnet mit 16 Punkten im
Gault & Millau Restaurantführer und einem Stern im „Guide Michelin“.
Die Ins­pektoren der Bibel der Spitzen­gastronomie schreiben über Ali Güngörmüs:
„Wer bei diesem Namen orientalische Speisen vermutet, liegt zwar nicht falsch,
doch bringt der Küchenchef die Einflüsse seiner türkischen Heimat angenehm zurückhaltend zum Einsatz, um das Aroma der Produkte optimal hervorzuheben.“ Im
vergangenen Oktober ­eröffnete Güngörmüs sein zweites Restaurant, das ­„Pageou“ in
München. Dort möchte er bewusst auf eine Sterneklassifizierung verzichten.
Umgekehrt muss aber auch der Wille da sein,
den Beruf anständig zu erlernen und auch
einmal neun oder zehn Stunden zu arbeiten.
Haben Sie Vorbilder unter den Spitzenköchen in Deutschland?
Ich schätze manche Köche sehr, weil sie viel
für unseren Berufsstand getan haben: ­Eckart
Witzigmann zum Beispiel oder H
­ arald
Wohlfahrt.
Was machen Sie eigentlich, wenn Sie
nicht in Ihrem Restaurant stehen?
­Denken Sie dann an Ihren Job?
Meine Arbeit treibt mich eigentlich immer
um, ich habe sogar Block und Stift neben
meinem Bett liegen, falls mir Ideen kommen.
Manchmal träume ich sogar vom Essen. Ich
habe sehr wenig Freizeit. Auch an meinen
freien Tagen wartet häufig Arbeit, wie zum
Beispiel die Aufzeichnungen für verschie­dene
Fernsehsendungen.
Aber Fußballspielen haben Sie nie aufgegeben.
Einmal pro Woche gehe ich abends zum
Fußball. Die Stunde brauche ich, um abzuschalten. So wie ich prima im Fußballstadion
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abschalten kann. Da bin ich einfach für mich
und denke an nichts anderes.
Wofür schlägt Ihr Herz – für den HSV
oder den 1. FC Bayern?
Weder noch! Ich mag Underdogs: St. Pauli,
Bremen, Schalke oder Freiburg – alles Vereine, die es aus eigener Kraft geschafft haben.
Das schätze ich sehr.
Was ist Ihnen im Leben am wichtigsten?
Die Gesundheit und das Glücklichsein – sie
werden oft unterschätzt. Ich habe einmal eine
schwierige Phase durchlebt. Deshalb habe ich
meine Ernährung umgestellt und meine Philosophie geändert. Wenn man nicht gesund
ist, hat man weder Zeit für Familie noch
für Freunde. Eine Zeit lang habe ich sogar
vergessen zu lachen, weil ich nur konzentriert
gearbeitet habe. Dabei kostet Lachen nichts
und bringt so viel. Ich möchte mehr Zeit
für meine Familie haben – deshalb habe ich
zusätzliches Personal eingestellt, damit mir
mehr Luft bleibt.
Character
17
Es war damals nicht
einfach, von einem
einfachen Restaurant in die Spitzengastronomie zu
wechseln – von der
Bezirksliga in die
Champions League.
Dezember 2014
Gegenwart
Werte im Wandel
18
Werte im Wandel
Zeit? Not!
Von der Zeitersparnis
zum Alltagsstress
Kein Wert unterliegt heute dem Wandel so stark wie die
Zeit und unser Umgang mit ihr. Der Zeitdruck nimmt zu,
der Entscheidungsstress unter Terminzwängen wächst.
Paradox dabei: Technischer Fortschritt, Arbeitszeitverkürzung und ­Telekommunikation steigern unsere Zeitnot bis zur
Panik. Jede Sekunde muss genutzt werden. Wirklich jede?
Jetzt, genau in diesem Moment müssen Sie
sich entscheiden. Sie müssen wissen, was Sie
mit Ihrer Zeit machen. Sie können diesen Text
lesen – oder es bleiben lassen. Ihn zu lesen,
kostet Zeit. Ihre Zeit. Ob sich die zu investieren am Ende gelohnt hat? Schließlich muss
sich heute alles lohnen, muss einen Nutzen
bringen, besonders wenn es Zeit kostet. Das
aber wissen Sie erst nach dem Lesen, nach der
„Lese“-Zeit. Jetzt sind Sie mitten im Thema.
Sie verbringen Zeit mit einem Text über Zeit.
Termine, Termine! Dazwischen eine FünfMinuten-Terrine? Ein Kaffee „to go“, ein
Essen als „take away“ oder „drive in“.
Schnell, schnell: Termine, Termine! Alles ist
‚durchgetaktet’, alles. Immer laufen mehrere
Countdowns gleichzeitig. Immer Deadlines:
Zeitfenster, die sich öffnen und wieder
schließen. Dates, die eingehalten werden
müssen … Ach, seufzt der moderne, unter
Zeitdruck stehende Mensch: Hätte ich nur
mehr Zeit! – Für mich, für die Kinder, den
Partner, den Hund, das Hobby …
Doch die Uhr tickt gnadenlos, auch wenn
ihr Ticken längst zum Blinken auf einem
Display wurde: Die Zeit läuft. „Eins, zwei,
drei, im Sauseschritt, eilt die Zeit, wir eilen
mit“, schreibt Wilhelm Busch so banal wie
richtig. Das Problem für uns ist nur: wie
wir das tun, dieses Miteilen?
Entschleunigung als
Ausweg
Mehr Zeit zu haben, gehört zu unseren
sehnsüchtigsten Wünschen. Kein Wunder,
dass von der Verheißung, man könne Zeit
sparen oder sogar gewinnen, inzwischen
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ganze Geschäftszweige florieren, die Zeitmanagement-Ratgeber oder Seminare anbieten,
die Time-Management für Eilige empfehlen
oder uns zur Entdeckung der Langsamkeit,
der „Entschleunigung“ als Ausweg aus
unserer Zeitnot raten.
Zwar „verliert man die meiste Zeit damit,
dass man sie gewinnen will“, wie der
amerikanische Schriftsteller John Steinbeck
erkannte. Aber wir versuchen trotzdem Zeit
zu gewinnen. Warum? Weil wir fühlen, dass
Zeit endlich ist, wir aber nicht wissen, wann
sie wirklich mit unserem Tod endet. Und wir
müssen uns beeilen mit dem Zeitgewinn.
Denn dass hinter der Geschwindigkeit des
technischen Fortschritts unsere biologische
Anpassungsfähigkeit deutlich zurückgeblieben ist, das zu wissen erfordert nur ein klein
wenig Ehrlichkeit.
Character
GO! GO!
19
GO!
Go! Go! Go! Tempo! Tempo!
Ich trage
nie eine Uhr.
Uhrzeiger sind
Peitschen für all
jene, die sich als
Rennpferde
missbrauchen
lassen.
François Mitterrand
Dezember 2014
Kein Wert unterliegt so dem Wandel wie
die Zeit. Schließlich hat der Grad der
­Beschleunigung stetig zugenommen, um
heute an eine Grenze zu stoßen. Schneller
als mit Lichtgeschwindigkeit und in Echtzeit lässt sich nicht mehr posten, bloggen,
twittern, mailen, um Informationen als
Daten zu übertragen. Aber hat diese totale
„Mobilmachung“ uns postmodernen Individuen auch eine größere Verfügungsmacht
über zeitliche Prozesse gebracht?
Das Gegenteil ist der Fall: Der Zeitdruck
nimmt zu, der Entscheidungsstress unter
Terminzwängen wächst. Paradox ist es
schon, dass technischer Fortschritt, Arbeitszeitverkürzung und Telekommunikation
unsere Zeitnot in der Gegenwart bis zur
Panik steigern. Jede Sekunde muss genutzt
werden. Spart das wirklich Zeit für Angenehmeres? Nein! Je schneller man alte
Aufgaben erledigen kann, desto schneller
kommen auch neue hinzu. Zeitsparen ist
eine Illusion. Wer sich in früheren Jahrhunderten über eine Stunde der Muße freute,
hat heute zehn Tage Freizeitstress – gerade
in der westlichen Welt, wo die Zeit ihr
„Seelenfresser-Werk“ besonders effizient
vollbringt.
Wer wenig Zeit hat, gilt als
wichtig
Mit Benjamin Franklins Diktum „Zeit ist
Geld“ kam es zu ihrer ungeahnten Ökonomisierung, und Zeit wurde als Währung zu
Gegenwart
­einem
­immer
­knapperen Gut.
­Übrigens lässt sich mit
Zeitnot auch clever kokettieren.
Gerade unter den Managern wissen das
nicht wenige. Schließlich scheint heute derjenige ganz besonders wichtig zu sein, der
wenig Zeit hat. Solche Zeitge­nossen sollten
sich an Georg Christoph Lichtenbergs Ausspruch erinnern: „Die Leute, die niemals
Zeit haben, tun am wenigsten.“
Doch es ist nicht allein unser gesellschaftlicher Umgang mit Zeit, der ihren
Wert immer wieder neu bestimmt. Wie
individuell Zeit „er“-lebt wird, ist auch eine
Frage, wo Zeit „ge“-lebt wird. Verschiedene
Kulturen haben ein völlig unterschiedliches
Lebenstempo und Zeitgefühl. Im Jahr
1999 – für uns also schon vor langer, langer
Zeit – erschien das Buch: „Eine Landkarte
der Zeit. Wie Kulturen mit Zeit umgehen“.
Der amerikanische Psychologieprofessor
Robert Levine bewies, was wir bereits
ahnten: Die schnelllebigsten, am stärksten
an der Uhr orientierten Länder sind unter
den Industrienationen zu finden. Von 31
untersuchten Ländern kamen die Schweiz,
Irland und Deutschland auf die ersten Plätze, dicht gefolgt von Japan.
20
­Andere
­Kulturen,
anderes
Zeitgefühl
Nicht einmal in den USA konnte
sich ein einziges Zeitgefühl flächendeckend etablieren. Dort gilt das Stereotyp
der gemächlichen „colored people’s time“
(CPT) im Gegensatz zur hektischen „white
people’s time“. Der Wert der Zeit und ihr
steter Wandel sind eben nicht nur eine
Frage der Strukturierung des Tagesablaufs,
sondern vielmehr „zentrales Element eines
jeden Sozialgefüges“.
Zudem wird der Umgang mit Zeit durch
das kulturelle Umfeld geprägt: Kulturen,
die sich nicht nach abstrakter Uhrzeit
richten, orientieren sich an Ereignissen,
fand Robert Levine heraus. So kennen
Einwohner von Burundi kein „frühmorgens
um sechs Uhr“, sondern das Ereignis „wenn
die Kühe auf die Weide gehen.“ Noch ein
Beispiel für das Zwillingspaar Uhrzeit
und Ereigniszeit? Ein idealtypischer
­Amerikaner und ein ­Afrikaner auf
­Europareise: Der Amerikaner geht von der
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Werte im Wandel
­abstrakten
Zeitordnung
aus: „Heute ist
Dienstag, also bin ich
in Paris!“ Beim Afrikaner
dagegen bestimme, so Levine,
das Ereignis den Zeittakt: „Ich bin in
Paris, also ist heute Dienstag.“
Um die Zeit als Rohstoff des Lebens, als
die uns zugemessene Lebensdauer zwischen
Geburt und Tod in den Griff zu bekommen,
mühten sich Astronomen, Mathematiker
und Ingenieure – und das zum ersten Mal
vor gar nicht (sehr) langer Zeit. „Vor 800
Jahren“, spottet der Wiener ­Theologe Adolf
Holl, „begannen die Menschen in einigen
europäischen Städten einen eigenartigen
und bislang unerhörten Wunsch zu verspüren. Sie wollten wissen, wie spät es ist.“
Tatsächlich begann die Erfindung der Uhr
im 13. Jahrhundert „die Zeit der Kirche“
zu verdrängen und „die Zeit der Kaufleute“
einzuläuten. Der ­Handel hatte damals eine
ungeheure Mobilität erreicht. Kein Wunder
also, dass die ersten ö­ ffentlichen Uhren
in den Handelszentren der damaligen
Zeit schlugen: 1336 in Mailand, 1353 in
­Florenz, 1356 in Regensburg.
Character
Dezember 2014
21
­
Renaissance
der ­Mechanik
So wie der Wert der Zeit
stets im Wandel ist, weil
der Mensch selbst stets im
Wandel ist, so ist auch der
Wert jenes Instrumentariums
zur Zeitmessung immer im
Wandel. Deren Basiseinheit hat
sich vom Glockenschlag der Kirchturmuhr zur Schwingungsfrequenz
des Cäsium-Atoms verkürzt. Zwar
verzichten jüngere Leute gerne auf
eine Armbanduhr. Doch wenn es sich
der digitalisierte Mensch leisten kann,
widmet er sich gerade heute wieder der
Uhr als rein mechanischem Wunderwerk.
In Zeiten der günstigen Quarzuhren und
Mikrochips fasziniert ausgerechnet ein
mechanischer Chronometer von IWC mit
dem programmatischen Namen Da Vinci.
Handwerkliche Besonderheit des teuren
Stücks:
ein
ewiger
Kalender. Soll
heißen: Diese Uhr
misst nicht nur auf die
Achtelsekunde genau und
zeigt Mondstand, Datum
und Wochentag. Vielmehr wird
sich der Jahrhundertschieber dieser
Ticktack pünktlich am 31. Dezember
2100 um genau 24 Uhr um 1,2 Millimeter
weiterbewegen, um das nächste Jahrhundert anzuzeigen. Niemand von uns wird
diesen Moment erleben – aber er könnte
es, hätte er, was grausam wäre, das ewige
Leben. Übrigens perfektioniert der Uhrenhersteller die Pedanterie noch, indem er
auch den
Jahrhundertschieber für die Jahre 2200
bis 2499 zu jeder Da Vinci mitliefert.
Gewiss, eine Spielerei, denn selbst der
gestresste Manager verlässt sich im
Zweifelsfall nicht auf die mechanische
Luxusuhr, sondern auf die Zeitfunktion
seines Smartphones. Den Umgang mit
Zeit entscheidet am Ende ohnehin jeder
für sich. Nur: „Denkt an das fünfte Gebot:
Schlagt eure Zeit nicht tot!“ Das zumindest
rät Erich Kästner.
Text: Pascal Morché
Tradition
22
ZAHLEN, BITTE!
Der deutsche Wald
Mythos und
Sehnsuchtsort
Der deutsche Wald ist Mythos und Sehnsuchtsort
­zugleich. Er wird in unzähligen Liedern besungen. Er
ist aber auch ein entscheidender Wirtschaftsfaktor, der
mehr Arbeitsplätze bringt als die Automobilindustrie.
Und: Er wächst.
www.bethmannbank.de
Zahlen, bitte!
Character
23
Mit 42
Prozent Anteil an der Gesamtfläche
sind Hessen und Rheinland-Pfalz die
waldreichsten Bundesländer, gefolgt
vom Saarland und Baden-Württemberg
mit jeweils 38 Prozent. Das Bundesland
mit dem ­niedrigsten Anteil Wald ist
­Schleswig-Holstein. Dort beträgt der
­Waldanteil nur 10 Prozent. Übrigens
gibt es innerhalb sämtlicher deutscher
­L andkreise hohe Schwankungen, was
die Waldfläche angeht. So verfügt
­D ithmarschen in Schleswig-Holstein mit
3 Prozent über den geringsten Waldbestand, während der Landkreis Regen
in Bayern mit 64 Prozent den höchsten
­Waldanteil hat.
23
Prozent aller Bäume Deutschlands waren
2013 deutlich geschädigt. Im Jahr zuvor
waren es noch 25 Prozent. Trotzdem gibt es
keine Entwarnung: „Deutlich geschädigt“
heißt, dass ein Baum mehr als ein Viertel
seiner Nadeln oder Blätter verloren hat.
Die deutsche Eiche hat mit 42 Prozent am
­Gesamtbestand den höchsten Anteil deutlicher Schädigungen. Ursache sind Stickoxide
in der Luft, Schädlinge, aber auch das Absinken des Grundwassers.
90
Baumarten und 1.215 Pflanzenarten
­wachsen in Deutschlands Wäldern. Mit
26 Prozent hat die Fichte in deutschen
­Wäldern die Nase vorn, auf Platz 2 folgt
die Kiefer mit 23 Prozent. Bei den
­Laubbäumen ist mit 16 Prozent die
Buche die häufigste Art und liegt damit
bezogen auf alle Baumarten auf Platz 3.
Derzeit besteht der deutsche Wald zu
57 Prozent aus Nadel- und zu 43 Prozent
aus ­Laubbäumen.
110.000.000
Kubikmeter beträgt der Holzzuwachs pro
Jahr. Dagegen steht ein jährlicher Holz­
verbrauch von etwa 94 Mio. Kubikmetern.
5.000
Quadratmeter muss eine Fläche mit
Bäumen bedeckt sein, damit sie gemäß
­Definition der Vereinten Nationen als Wald
bezeichnet werden darf. Diese Fläche muss
aber – von oben betrachtet – nur zu einem
Zehntel mit Baumkronen bedeckt sein.
8.000.000.000
Bäume gibt es schätzungsweise in
Deutschland.
44
Prozent des deutschen Waldes befinden sich in
Privateigentum. 29,6 Prozent der Waldfläche
gehören den Ländern. 20 Prozent des Waldes
zählen zum sogenannten Körperschaftswald,
gehören also Gemeinden oder Kirchen, nur
3,5 Prozent des deutschen Waldes gehören
dem Bund.
Zwischen 600 und 1.500
Jahre alt sind die vermutlich drei ältesten
Bäume Deutschlands. Es sind die ­„Femeiche“
in Erle im nordrhein-­westfälischen Kreis
Borken (etwa 600 bis ­850 Jahre), die
„Alte Eibe“ von Balderschwang im Allgäu
(geschätzt 800 bis 1.500 Jahre) und die
­„ Methusalinde“ im osthessischen Schenklengsfeld (über 1.000 Jahre). Der älteste
Baum der Welt steht übrigens in Schweden: Es ist eine 9.550 Jahre alte Fichte in
der Provinz Dalarna.
Auf 1.800
Metern liegt die Baumgrenze in den deutschen Alpen. Die Baumgrenze ­bezeichnet
die maximale Höhe, in der noch Bäume
Dezember 2014
wachsen. Die Waldgrenze bezeichnet
­dagegen die Höhe, in denen Bäume noch
zusammenhängende Bestände bilden. In den
Schweizer ­Alpen liegt sie mit 2.100 Metern
etwas höher, in Lappland mit 750 Metern
deutlich tiefer.
63,3
Meter hoch ist der höchste Baum
­Deutschlands. Dabei handelt es sich um
eine ­Douglasie mit dem Namen „Waltraut
vom Mühlenwald“. Sie steht im Freiburger
Stadtwald.
Knapp ein Drittel
Deutschlands wird von Wald bedeckt:
11,1 Mio. Hektar. Das Verhältnis entspricht
ziemlich genau dem weltweiten Durchschnitt. Innerhalb der vergangenen 40
Jahre hat der Waldbestand in Deutschland
sogar um 1 Mio. Hektar zugenommen.
Allerdings liegt Deutschland bezogen auf die
Europäische Union unter dem Durchschnitt:
42 Prozent der Fläche aller 27 EU-Länder
besteht aus Wald.
1.200.000
Menschen arbeiten in 185.000 ­deutschen
Betrieben des Holz- und Forstsektors.
Dieser erzielt einen Jahresumsatz von
170 Mrd. Euro. Damit beschäftigt der
deutsche Wald mehr Menschen als die
Automobilindustrie (700.000 Beschäftigte). Allein der Anbau und Verkauf von
­deutschen Weihnachtsbäumen bringt
700 Mio. Euro Umsatz und beschäftigt
100.000 Dauer- und Saisonarbeitsplätze.
Mehr Infos über den deutschen Wald auch
unter www.sdw.de
Text: Geraldine Friedrich
Zukunft
12 Dinge,
die man tun sollte
24
12 dinge, die man tun sollte
Viel Lachen
und das Leben genieSSen
Für den Sternekoch Ali Güngörmüs spielt gutes Essen auch abseits des
eigenen Restaurants eine große Rolle. Dabei empfiehlt er auch eine vegetarische
Ernährung. Doch auch soziales Engagement für Kinder ist ihm wichtig. Denn
als er als Kind nach Deutschland kam, hätte er selbst gerne einen Helfer gehabt,
der ihm zur Seite steht.
12 Dinge, die man tun sollte
1.
Sport treiben
5.
ökonomisch denken
9.
sich Auszeiten
nehmen
6.
das Auto öfter
2.sich gesund ernähren
stehen lassen
3.öfter mal vegetarisch
essen
7. Freundschaften
4.sich sozial engagieren,
z.B. bei der Ehlerding
Stiftung mitKids-Pate
werden
8.viel lachen
pflegen
10.das Leben genieSSen!
11. r
egelmäSSig
Urlaub machen
12.einmal im Jahr
einen Männer-Trip
unternehmen
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Character
25
Dezember 2014
Zukunft
26
Für morgen
FÜR MORGEN
BIOMIMIKRY-BOOM
DIE ÄLTESTE FORSCHUNGS­
ABTEILUNG DER WELT
Ein Vogelschnabel inspiriert die Form einer Lokomotive.
Ein Termitenbau eine Shopping-Mall. Eine Windhose einen
­Ventilator. In den Labors von Unis, Start-ups und ­Konzernen
entstehen immer mehr Bio-Technologien. Die Schatzkiste
der Schöpfung verspricht Entwicklungs­sprünge und hohe
­Energieeinsparungen. Wird die Nachahmung der Natur die
zweite industrielle Revolution?
Archimedes hat es getan, Leonardo hat es
getan und ebenso George de Mestral, der
Erfinder des Klettverschlusses. Sie alle
haben sich für ihre Erfindungen inspirieren
lassen von der ältesten Forschungs- und
Entwicklungsabteilung der Welt: Die Natur
verfeinert und verbessert ihre Produkte seit
Jahrmillionen – in einem ewigen Spiel von
Versuch und Irrtum.
„Biomimikry“, die Nachahmung der Natur,
ist so alt wie die menschliche Kulturgeschichte. Archimedes’ Schraubenpumpe ähnelt
einer Schnecke, und Leonardo da Vinci
formte seine Flugapparate nach dem Vorbild von Vogelflügeln. Dank Fortschritten in
Bio-Technologie und der wachsenden Rechenleistung von Computern haben sich die
Möglichkeiten, von der Natur zu lernen, in
den letzten Jahren vervielfacht: Biomimetische Forscher abstrahieren das Verhalten
von Insektenschwärmen, um Verkehrs- und
Energieströme zu perfektionieren; Wissenschaftler schaffen neue Biomaterialien
nach dem Vorbild von Spinnweben oder
Haifischhäuten; und bionische Ingenieure
bauen die Lösungen der Natur mit modernsten Werkstoffen nach – vom Winglet
am Ende eines Flugzeugflügels bis zum
hydraulischen, spinnenförmigen Roboter
für Gefahreneinsätze. Dabei liegt der Reiz
auch darin, dass natürliche Systeme wie
der Wald von Grund auf nachhaltig sind:
Sie nutzen lokal erhältliche Grundstoffe,
verschwenden keine Rohstoffe, und produzieren nur nontoxische Chemikalien.
Als eigene Disziplin gilt das vielseitige Feld
spätestens seit 1997. Damals prägte die
­amerikanische Autorin Jane Benyus den Begriff mit ihrem Buch „Biomimicry – Innovation inspired by Nature“. Fachleute sehen ein
enormes Entwicklungspotenzial. So schätzt
der Biomimetik-Professor Julian Vincent
von der englischen University of Bath, dass
es „bei den heute genutzten Mechanismen
nur eine zwölfprozentige Überschneidung
zwischen Biologie und ­Technik gibt“. Der
www.bethmannbank.de
Erfinder und Unternehmer Jay Harman
zitiert in seiner Biomimikry-Bibel „The
Shark’s Paintbrush“ Studien, die den BioBoom in den USA belegen: Die Zahl der
wissenschaftlichen Artikel zum Thema hat
sich in zehn Jahren verfünffacht, die Zahl
der Patente vervierzehnfacht. Wirtschaftswissenschaftler der christlichen Point Loma
Nazarene University in San Diego rechnen
damit, dass biomimetische Lösungen bis
zum Jahr 2025 eine große Anzahl von
­Sektoren beeinflussen werden: Darunter
15 Prozent der chemischen Produktion
und im Müllmanagement, 10 Prozent in
Architektur, Maschinenbau, Textil und
Transport. Das weltweite Marktpotenzial für biomimetische Lösungen schätzt
­Harman auf mehr als 100 Mrd. Dollar. Für
den Bio-Visionär steht fest: Biomimikry ist
„das Business des 21. Jahrhunderts“.
Character
27
Von einem Vogel lernen, heißt fliegen
lernen: Die Natur kennt weitaus effizientere
Methoden, durch die Luft zu fliegen, als mit
Flugzeugen und starren Tragflächen.
Dezember 2014
Zukunft
Für morgen
28
Die Achillessehne als Energiespeicher.
Und es hüpft, und hüpft, und hüpft …
www.festo.com
Es klackt und zischt, hoppelt und wiegt. Am Anfang stand
die Frage, wie man die Energiespartricks der Natur nachahmen könnte. Am Ende stand bei der Hannover-Messe
ein pneumatisches Känguru auf dem Teppich. Das gerade
mal hüfthohe bionische Beuteltier kann auf Gesten reagieren, die mit einem Bluetooth-Armband gemacht werden.
Winkt man es heran, vollführt es kleine Sprünge, knapp
einen Meter weit und einen halben Meter hoch. Wie sein
australisches Vorbild ist es „in der Lage, einen Großteil
der Energie in den nächsten Sprung mitzunehmen“, erläutert Elias Maria Knubben, Projektleiter beim Esslinger
Automations-Unternehmen Festo. Einmal im Jahr stellen
die Schwaben einen bionischen Prototyp her, um so ganz
handfest von Mutter Natur zu lernen. Wie sein Vorbild
aus Fleisch und Blut speichert das elektrisch-pneumatische
Tier seine Bewegungsenergie in der Achillessehne – nur
dass sie beim Automaten aus Gummi ist.
Bionischer Wundervogel:
Auf Silberschwingen in die Zukunft
www.festo.com
Von Weitem wirkt sie ganz schön echt. Anders als das
bionische Känguru bewegt sich die maschinelle Möwe
fast schon anmutig. Mit dem „Smart Bird“ ist es den
Ingenieuren gelungen, den Vogelflug zu entschlüsseln.
Die Leichtbau-Silbermöwe kann selbst starten und
­landen, wobei sich ihre Flügel gezielt verdrehen können.
Das Know-how ist bereits in eine Kleinwindkraftanlage eingeflossen, die anstelle von Rotorblättern zwei
gegenläufige Flügelpaare nutzt. Dahinter stehen auch
hier wieder Festo und das „Bionic Learning Network“,
ein V
­ erbund aus Hochschulen, Entwicklungsfirmen und
privaten Erfindern.
www.bethmannbank.de
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Dezember 2014
29
Und der Haifisch, der hat Zähne,
und die trägt er auf der Haut …
www.ifam.fraunhofer.de
Es klingt widersinnig: Die Außenhaut von Schiffen und Flugzeugen sollte lieber aufgeraut sein als glatt. Weniger Widerstand durch gröbere Strukturen? Haie beweisen seit Jahrmillionen, dass eine raue Haut sie leichter durchs Wasser gleiten
lässt. Da sie keine Kiemen haben, müssen sie sich konstant
bewegen, um Sauerstoff aufzunehmen. Um dabei Energie zu
sparen, weisen ihre Schuppen sowohl sogenannte „Hautzähnchen“ als auch mikroskopisch kleine Rillen in Längsrichtung
auf. Sie sorgen dafür, dass weniger Wasser am Fisch hängen
bleibt, wenn er schnell schwimmt. So rau ist das Ganze,
dass es früher als Schmirgelpapier diente. Lacktechniker am
„Fraunhofer-Institut für Fertigungstechnik und Angewandte
Materialforschung“ haben sich diesen Trick der Natur zunutze
gemacht. Sie entwickelten ein Haifischhaut-Lacksystem, das
Treibstoffverbrauch und Emissionen von Schiffen senkt. Die
Farbe aus Nanopartikeln wird auf Flugzeuge und Schiffsrümpfe gesprüht. Ein großes Containerschiff könnte so im Jahr
rund 2.000 Tonnen Schwer- und Dieselöl einsparen.
Nichts haftet wie ein Gecko-FuSS:
Kopfüber in die neue Klebewelt
http://geckskin.umass.edu
Die Möglichkeiten sind endlos: Ein an der „University of
Massachusetts“ in Amherst entwickeltes Klebeband ist so
stark, dass es Fernseher an die Wand heften und das Nähen von Verletzungen ersetzen kann. Vermutlich wäre sogar ein echtes Spiderman-Kostüm möglich, mit dem man
kopfüber an der Decke krabbeln kann. Letzteres ist noch
nicht erwiesen, scheint jedoch machbar. Denn „Geckskin“
funktioniert so wie der Fuß eines Geckos: Ein Streifen von
der Größe einer Karteikarte kann ein Gewicht von 300
Kilogramm tragen. Umso leichter ist es, den Streifen in
Gegenrichtung abzureißen. Dabei hinterlässt er keinerlei
Spuren – genau wie eine Echse. Oder so wie Spiderman.
Zukunft
Für morgen
30
Jay Harman, 65, ist Erfinder, Unternehmer und Buchautor.
Unter dem Dach seiner Unternehmensgruppe Pax Scientific
hat er acht Unternehmen gegründet und hält 30 Patente.
Harman lebt in Kalifornien und Honolulu.
„Die globalen Energiekosten um die Hälfte senken“
Der Erfinder und Unternehmer Jay Harman setzt auf die Nach­
ahmung der Natur, um eine ökologische Revolution zu starten
Mr. Harman, hat eine Hummel wirklich eine bessere
Aerodynamik als eine Boeing 747?
Kein Wissenschaftler kann erklären, warum eine Hummel
überhaupt fliegen kann. Fluiddynamik ist so etwas wie eine
schwarze Kunst. Die Wissenschaft taugt zwar dazu, Flugzeuge zu bauen, die in der Luft bleiben. Aber folgt man ihren
Formeln, müsste eine Hummel wie ein Stein zu Boden fallen.
Mit unserer Wissenschaft stimmt also irgendetwas nicht.
Biomimikry soll das ändern. Sie sehen hier große
ökologische Potenziale?
Wir könnten die globalen Energiekosten um mehr als die
Hälfte senken, wenn wir uns radikal an der Natur orientieren. Warum können wir keine Flugzeuge bauen, die mit der
geringstmöglichen Menge Energie auskommen? Die Natur
hat einen Kolibri geschaffen, der mit drei Gramm Brennstoff
den Golf von Mexiko überquert.
Energieeffizienz ist die Stärke Ihrer eigenen Erfindungen, vom Kühlschrankventilator bis zum
Trinkwassermischer. Warum setzen Sie dabei auf die
natürliche Form des Strudels?
Denken Sie an den Strudel am Ausfluss Ihrer Badewanne.
Flüssigkeiten und Gase bewegen sich spiralförmig: Die
DNA, der Blutfluss die Form von Galaxien. Ich habe diese
Form dreidimensional nachgebaut. So können Turbinen,
Propeller, Pumpen viel effizienter gestaltet werden.
Ihre Strudelpropeller sollen Luft auch so leicht bewegen, dass sie Smog aus den Städten wirbeln können …
Ja, über eine Art kontrollierten Wirbelsturm. Ein kleines
Gerät kann die Luft aus dem Gebiet einer Megacity bis auf
7.000 Meter Höhe pumpen. In Peking planen wir schon die
ersten Versuche.
MEHR ZUM THEMA
Das Standardwerk:
Mit ihrem 1997 erstmals erschienenen Buch definierte die amerikanische Wissenschaftsautorin Janine M. Benyus das Feld.
„Biomimicry – Innovation Inspired by Nature“, Janine M. ­Benyus,
Harper Collins 2003.
Das Porträt:
Dokumentarfilm über drei Umwelt­aktivisten. Eine der drei Storys
ist die Geschichte von Jay Harmans Kampf gegen die Erderwärmung.
„Elemental“, Emmanuel Vaughan-Lee & Gayatri Roshan, ­Cinema Guild 2013,
erhältlich auf iTunes.
Das Update:
Erfinder und Bio-Unternehmer Jay Harman bringt ein Kaleidoskop
aktueller Beispiele und berichtet nebenbei von seinem eigenen Weg.
„The Shark’s Paintbrush: Biomimicry, and how Nature is inspiring Innovation“,
Jay Harman, White Cloud 2013.
Die Datenbank:
Die von Janine Benyus‘ Biomimicry Institute betriebene Website erklärt mehr als 1.800 Naturphänomene und Hunderte b
­ iomimetischer
­D esignlösungen.
www.asknature.org / www.biomimicry.org
www.bethmannbank.de
Character
Dezember 2014
31
Dieses Haus steht in Afrika. Kühl bleibt
es immer. Auch ohne Klimaanlagen.
www.mickpearce.com
Sieht aus wie aus Fischertechnik, atmet wie ein Termiten­
bau – ist aber eigentlich ein Bürogebäude. Das „Eastgate“ in
Harare, der Hauptstadt von Simbabwe, ist eins der ersten
großen Passivhäuser der Welt. 1996 erbaut, basiert das
Eastgate Centre auf dem Belüftungs­system von Termiten.
Deren bis zu acht Meter hohe „Kathedralen“ stehen überall
im afrikanischen Busch. Sie nutzen Temperaturunterschiede,
um kühlende oder wärmende Luftflüsse zu generieren.
Im Vergleich zu herkömmlichen Gebäuden mit Klimaanlagen
kostet die natürliche Klimatisierung des Eastgate-Komplexes
nur ein Zehntel. Außerdem verbraucht das Haus ein D
­ rittel
weniger Energie als vergleichbare Zentren in Harare. Die
Temperaturen im Haus liegen konstant um 24 Grad. Wahrscheinlich würden sich da sogar Termiten wohlfühlen.
Texte: Hilmar Poganatz
Gegenwart
32
Unterbewertet
unterbewertet
Aachen
Hightech im Schatten von
Printen und Dom
Im westlichsten Zipfel der Republik liegt Aachen. Randlage? Ach was, sagen die ­Menschen in
der Stadt und beschwören die Zeit, als sie Mittelpunkt der europäischen Geschichte waren.
„Tief im Westen“ hat Herbert Grönemeyer
einst gesungen – und meinte Bochum.
­Aachener können über diese geografische
Sicht nur schmunzeln. Denn bis zum tatsächlich westlichsten Zipfel der Republik ist es von
Bochum noch weit: Aachen besetzt den Platz
„ganz links auf der Deutschlandkarte“. Mehr
Randlage geht nicht. Fast scheint es, als hätten
die Grenz-­Zeichner einen Halbkreis um die
Stadt gezogen, damit sie nicht auf niederländisches oder bel­gisches Territorium fällt. Außenseiter aber wollen die Aachener nicht sein,
deshalb weiten sie gerne den Blick, wechseln
den Maßstab – und sehen ihre Stadt im „Herzen Europas“ gelegen. Das hört sich gut an.
Das klingt nach Mittelpunkt, nach Takt­geber.
So wie früher, zur Zeit Karls des Großen. Da
war Aachen Zentrum eines Reiches, das von
der Nordsee bis nach Mittelitalien und von
den Pyrenäen bis an die Elbe reichte.
Ganz schön selbstbewusst die Aachener!
Neuerdings, muss man sagen. Denn wer
sich umschaut in der Stadt, wer mit Leuten
spricht, gewinnt den Eindruck, dass Aachen
eine Zeitlang zu wenig aus seinen Pfründen
www.bethmannbank.de
gemacht hat, zu bescheiden war, zu wenig
getrommelt hat im Wettstreit um die Gunst
von Investoren, Touristen und Öffentlichkeit.
Natürlich gab es schwere Zeiten. Der Bergbau, der Mitte der 1980er-Jahre noch mehr
als 14.000 Menschen in der Region Arbeit gegeben hatte, beschäftigt schon lange niemanden mehr. Auch Tuch- und Nadelhersteller,
die viele Generationen in Aachen beheimatet
waren, haben bis auf wenige Ausnahmen ihre
Produktion eingestellt. An solchen Umbrüchen
sind viele Städte gescheitert.
Character
Dezember 2014
33
Bundesland:
Nordrhein-Westfalen
Höhe: 173 m. ü. NHN
Fläche: 160,8 km²
Einwohner: 241.683
(31.12.2013)
Bevölkerungsdichte:
1.503 Einwohner je km²
Kfz-Kennzeichen: aC
Printen- und
Schokoladenfabrik
Henry Lambertz
Borcherstraße 18, 52072 Aachen
Telefon 0241 / 8 90 50
www.lambertz.de
Centre
Charlemagne
Am Katschhof 2, 52062 Aachen
Telefon 0241 / 4 32 49 94
www.route-charlemagne.eu
CHIO Weltfest
des Pferdesports
In Aachen haben Stadtväter und Wirtschaftsförderer rechtzeitig erkannt, dass
der ruhmreiche Dom und die weit über
die ­Region hinaus bekannten Printen
auf Dauer zu ­wenig sein würden, um die
Stadt am Leben zu halten. So kamen sie
auf die Idee, ­Aachen den Stempel einer
Technologie-­Region aufzu­drücken. Sie zu
einer „Stadt des Wissens“ zu machen, mit
der Rheinisch-Westfälischen Technischen
Hochschule (RWTH) als Herzstück. Das
ist gelungen – und wie! Nach Zahlen des
­Instituts der Deutschen Wirtschaft kommen
in Aachen und Umgebung auf 1.000 erwerbstätige ­Ingenieure 171 neue ingenieurwissenschaftliche Studienabschlüsse. Damit
ist die Ausbildungsquote hier fast viermal
so hoch wie im Bundesdurchschnitt.
Beschäftigung finden die Absolventen
häufig gleich vor Ort: Im Speckgürtel der
Stadt sind in den vergangenen Jahren viele
Technologie- und Servicezentren entstanden. Für sie ist die geografische Lage von
Vorteil: Aus den Niederlanden und B
­ elgien
pendeln täglich viele Mitarbeiter, und mit
den Hochgeschwindigkeitszügen Thalys und
ICE lassen sich Metropolen wie Brüssel,
Paris und London rasch erreichen.
Bei allem wissenschaftlichen Ruhm ist
­Aachen jedoch immer noch in erster
Linie eine historische Stadt. Die Brücke
zwischen Einst und Jetzt schlägt die „Route
­Charlemagne“, ein Rundgang durch die Altstadt mit acht Stationen. Jeder Halte­punkt
ist ein herausragendes Bauwerk und behandelt ein Thema, das die aktuelle Zeit ebenso
prägt wie die Karls des Großen. Der Dom
beispielsweise, das erste deutsche Denkmal,
das die UNESCO 1978 zum Weltkulturerbe
erklärte, repräsentiert das Thema Religion.
Und der nur ein paar Schritte entfernte klassizistische Elisenbrunnen symbolisiert den
Ausgangspunkt der Aachener G
­ eschichte:
die heißen Thermalquellen. Die Gruppe
chinesischer Studenten, die am E
­ lisengarten
nach dem Weg fragt, hat freilich ein Ziel abseits der Route Charlemagne: die Pont­straße,
die in Anlehnung an das Pariser Studentenviertel „Quartier Latin“ genannt wird.
Hier reihen sich Gaststätten, Restaurants,
Cocktailbars und Diskotheken aneinander.
„Aachens schönste Straße“, sagt einer der
jungen Leute. Er ist seit vier Wochen für
ein Gastsemester an der RWTH. Ein paar
Monate bleiben ihm noch, andere Schätze
der Stadt aufzuspüren.
Text: Stefan Weber
Albert-Servais-Allee 50
52070 Aachen
Telefon 0241 / 9 17 11 89
www.chioaachen.de
RWTH Aachen
Templergraben 55, 52062 Aachen
Telefon 0241 / 8 01
www.rwth-aachen.de
Internationaler
Karlspreis zu Aachen
Ältester und bekanntester Preis, mit dem
Persönlichkeiten aus­gezeichnet werden,
die sich um Europa und die europäische
Einigung verdient gemacht haben.
www.karlspreis.de
Orden wider den
tierischen Ernst
Die einzige Auszeichnung, die alljährlich
nicht für, sondern gegen etwas vergeben
wird. Preisträger sind nationale und
­internationale Persönlichkeiten. Initiiert
vom ­Aachener Karnevalsverein.
www.akv.de
Gegenwart
12 ausgewählte Zitate*
34
Carl Sandburg,
US-amerikanischer Dichter,
Journalist und Historiker, 1878 – 1967
Bertold Brecht,
deutscher Dramatiker und Lyriker, 1898 – 1956
Platon,
antiker griechischer Philosoph,
428 / 427 – 348 / 347 v. Chr.
Quelle unbekannt
∞
Heinrich Heine,
deutscher Dichter, Schriftsteller und
Journalist, 1797 – 1856
Konfuzius,
chinesischer Philosoph,
551 v. Chr. bis 479 v. Chr.
www.bethmannbank.de
Character
Dezember 2014
35
Ali Güngörmüs
Quelle unbekannt
Mark Twain
US-amerikanischer
Schriftsteller,
1835 – 1910
Oscar Wilde,
irischer Schriftsteller, 1854 – 1900
Loriot,
deutscher Humorist, 1923 – 2011
* von Ali Güngörmüs
Quelle unbekannt
Zukunft
36
Unternehmen der
Zukunft
UNTERNEHMEN DER ZUKUNFT
VOLLGAS MIT
CARSHARING
Invers: Weltmarktführer
aus der Provinz
Wenn irgendwo in der Welt Autos gemeinsam genutzt werden, steckt meistens
Technologie von Invers drin. Der westfälische 50-Mitarbeiter-Betrieb erkannte
schon vor 20 Jahren das Potenzial im Carsharing – und stattet heute auch große
Fuhrparks mit Funktechnik aus.
Die Heimat der Carsharing-Technologie
hat einiges zu bieten – außer klassischem
Carsharing. Siegen, die alte Industriestadt
in Westfalen, hat zwei Schlösser, drei
Autobahnanschlüsse, wenig Arbeitslose
und viele mittelständische Unternehmen.
Ein besonders innovatives hat eine Technologie erfunden, mit der Autos von verschiedenen Leuten genutzt werden können,
ohne eine mühselige Schlüsselübergabe zu
organisieren: Carsharing. Die Produkte der
Invers GmbH sind an vielen Orten dieser
Welt im Einsatz. Nur dort, wo sie erfunden
wurden, wartet man noch vergebens auf
Flinkster, Drive Now oder Car2go.
Der kleine VW Up auf dem Dach des
Siegener Parkdecks ist deshalb nur ein
Demo-Auto. Dafür aber ein besonderes:
ein Prototyp mit einem neuen CarsharingSystem. Alexander Kirn, Geschäftsführer
von Invers, zückt sein Smartphone und geht
auf das weiß-blaue Auto zu, auf dem die
Worte „Cloud Boxx“ stehen. Natürlich kennt
Kirns Handy den Standort des Wagens, das
ist heute Standard. Es kann aber noch mehr:
„Mit der Cloud-Boxx-Technologie wird das
Telefon zum alleinigen Bedienelement, per
Server und über Bluetooth“, sagt Kirn und
tippt aufs Display. Klack! Das Auto öffnet
sich und das Smartphone meldet: Türen
offen, Fenster zu, Handbremse gezogen,
Lichter aus. Dann setzt sich der lange, junge
Mann in den Kleinwagen und arretiert das
Handy unter dem Autoradio. Dort e­ rsetzt es
alle elektronischen Bedien­elemente, die man
sonst im Carsharing findet, zum Beispiel
berechnet es die gefahrenen Kilometer.
„Einen Teil der Intelligenz, die man sonst im
Auto verbauen muss, trägt man dann in der
Hosentasche“, sagt der Chef von Invers.
man es einfacher machen, sich Autos zu
teilen? Carsharing war damals noch eine
ganz kleine Nummer. Was auch daran lag,
dass die Schlüssel noch physisch übergeben
werden mussten. Nun aber machte sich
der Ingenieursstudent Latsch daran, einen
Bordcomputer zu entwickeln. Aus seiner ersten Lösung, einer Art Telefonkartensystem
mit Guthaben zum Abfahren, entstand in
den folgenden zwei Jahrzehnten ein Unternehmen, dessen Technologie heute in mehr
als 40.000 Autos in 18 Ländern verbaut ist.
Damit ist das Unternehmen aus der südwestfälischen Provinzstadt Weltmarktführer.
AUS DER UNI-KANTINE AUF
DEN WELTMARKT
Alexander Kirn war damals noch nicht
dabei, als Uwe Latsch seine Doktorarbeit
sausen ließ, um Invers zu gründen. Der
heute 31 Jahre alte Kirn wurde auf die kleine Goldgrube im Siegerland aufmerksam,
als er nach einem Wirtschaftsabschluss in
­Harvard damit begann, sich ein Unternehmen zu suchen. Nicht als Bewerber, sondern
als Käufer. Als künftiger Chef.
Wenn es darum geht, das Teilen von
Autos zu vereinfachen, lag Invers schon
immer weit vorn. Bereits 1993, an einem
verregneten Tag im November, kam Kirns
Kompagnon Uwe Latsch die Idee: Wie so
häufig hatte er sich auf dem Fahrrad durchs
bergige Siegerland gequält, um zur Fakultät
für Elektrotechnik zu gelangen. So kam in
der Cafeteria die Frage auf: Wie könnte
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Mobilität im Kleinformat:
Alexander Kirn mit Smartphone in einem
Carsharing-Auto. Die Software seiner Firma
Invers steuert Fahrzeuge weltweit.
Dezember 2014
Zukunft
DER GRÜNDER HOLT SICH
EINEN NEUEN CHEF INS BOOT
Mithilfe von zwölf privaten Investoren
legte Kirn einen sogenannten Suchfonds
an. Ziel der Suche: „Ein profitables und
nichtproduzierendes Unternehmen mit
einem Umsatz zwischen 5 und 15 Mio.
Euro zum mehrheitlichen Erwerb.“ Der
bestens ausgebildete Kirn würde die Geschäfte übernehmen. Mehr als 150 Firmen
inspizierte Kirn für sein Vorhaben, bis er
endlich Uwe Latsch kennenlernte. „Wir haben uns von Anfang an gut verstanden und
ergänzt“, erinnert sich Latsch. Der Gründer
kommt in Jeans und Polohemd zum Treffen
in der Firmenzentrale, einem unprätentiösen ehemaligen Telekom-Gebäude in einem
Siegener Vorort. Neben dem in Karohemd
und Cordjacket gewandeten BusinessMann Kirn erfüllt der 51-jährige Latsch
auch optisch die Rolle des technischen
Geschäftsführers.
Die Auftragslage scheint bestens. Und der
Umsatz liegt heute bei mehr als 6 Mio.
Euro, genaue Zahlen nennt das Unternehmen nicht. Nur so viel: „Die Nutzerzahlen
im Carsharing steigen jährlich um rund
ein Drittel, und auch wir wachsen weiter
deutlich zweistellig“, freut sich Kirn. Als
die Stiftung Warentest im vergangenen Jahr
neun Carsharing-Anbieter unter die Lupe
nahm, nutzten davon sieben die Technik
von Invers. Der Testsieger Greenwheels ist
darunter, aber auch Flinkster oder citeecar.
„Das System ist leicht, simpel in der Bedienung und amortisiert sich schnell, weil
die gefahrenen Kilometer direkt ins System
eingespeist werden und wir dadurch keine
Ausfälle mehr haben“, berichtet der Fuhrparkmanager bei Stadtmobil Karlsruhe,
André Putzker.
Beliebt sind die Bordcomputer von Invers
auch bei den Fuhrparks großer Firmen wie
Daimler, der Deutschen Bahn oder Maschinenbauer MTU Friedrichshafen. Bei MTU
gelang es dem Fuhrparkmanager, mithilfe
des Invers-Systems die Zahl der Pkw um
ein Fünftel zu reduzieren, berichtet Kirn.
„Früher ordnete man die Fahrzeuge dort den
Unternehmen der
Zukunft
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Dienstwagen. Sie sind dazu verpflichtet, die
Fahrerlaubnis ihrer Mitarbeiter halbjährlich zu prüfen. „Diese Sichtkontrolle durch
den Fuhrparkleiter kann der Fahrer nun
selbst erledigen mit unserem Chip“, sagt
Kirn, „und zwar an allen Shell-Tankstellen,
bei der Dekra und bei Volkswagen.“ Damit
schlägt sich LapID gut in einem Markt, auf
dem auch andere ähnliche Kontrollsysteme
anbieten. In Deutschland haben mehr als
120.000 Fahrer die Aufkleber von LapID
auf dem Führerschein.
DIE VERNETZUNG DES ALLTAGS
Mobil mobil: Die Software von Invers
­erlaubt den Nutzern, jederzeit ein
­Carsharing-Auto zu nutzen.
einzelnen Abteilungen zu, ohne dass es zum
Austausch untereinander kam.“ Nun gebe
es bei MTU eine abteilungsunabhängig im
Intranet buchbare Flotte mit 100 Autos. Die
Schlüssel hängen in Schließkästen, die sich
mit einem Funk-Chip öffnen lassen, der auf
den Führerschein aufgeklebt wird.
Diese Lösung namens „LapID“ ist ein weiteres Wachstumsfeld für Kirn und Latsch.
Hauptsächlich dient sie zur Führerscheinkontrolle. Zielgruppe sind Unternehmen mit
CarsharingTechnologie ist
so etwas wie die
KönigsdiSziplin
des InternetS
der Dinge.
Alexander Kirn
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„Beim Carsharing ist der Markt noch überschaubar“, sagt Kirn am Ende des Tages auf
dem Weg nach Hause. Sein Audi aus dem
firmeneigenen Fahrzeugpool steckt gerade
mal wieder im Stau auf der A45. Noch
immer setzen zu viele Deutsche aufs eigene
Auto. Invers hat sich deshalb früh global
aufgestellt und bereits neue Geschäftsfelder
im Blick: „Unsere Technologie ist ideal
geeignet für das sogenannte Internet der
Dinge“, nennt Kirn ein mögliches Beispiel
mit Blick auf die zunehmende drahtlose
Kommunikation zwischen physischen
Dingen. Weiter ins Detail möchte er aber
noch nicht gehen. „Internet der Dinge“ bedeutet aber zum Beispiel, dass Autos lernen,
miteinander zu kommunizieren, um Verkehrsflüsse besser zu regeln. „CarsharingTechnologie ist aus meiner Sicht so etwas
wie die Königsdisziplin dieses Internets der
Dinge“, glaubt Kirn. Tatsächlich gelten moderne Autos als Vorläufer der zunehmenden
Vernetzung aller Geräte.
So ist es kein Zufall, dass bei Invers von 50
Mitarbeitern 35 mit dem Bereich Forschung
und Entwicklung zu tun haben. „Wir wissen, was wir können. Und wir wissen, wo
wir hin wollen“, sagt Alexander Kirn. Dann
hat der Stau sich endlich aufgelöst. Jetzt
kann er Gas geben.
Text: Hilmar Poganatz
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Dezember 2014
Ingenieure, Erfinder, Unternehmer:
Alexander Kirn (l.) und Uwe Latsch.
ZUKUNFTSMARKT CARSHARING
Nutzen statt besitzen:
Sixt und BMW sind dabei mit Drive Now, Daimler und Europcar mit Car2go, Citroën versucht es mit Multicity und die Bahn
mischt mit Flinkster mit – Carsharing ist längst raus aus der Öko-Nische und zu einem vielversprechenden Geschäft geworden.
1988 ging in Berlin mit StattAuto (heute „Greenwheels“) die erste deutsche Organisation zum Autoteilen an den Start, später
folgten weitere Vereine und Anbieter wie Stadtmobil. Der Start verlief zäh: So gab es vor zehn Jahren erst knapp 70.000 registrierte
Nutzer. Anfang dieses Jahres meldete der Bundesverband Carsharing dann schon zehn Mal so viele Teilnehmer, jüngst stockte
der Verband diese Zahl sogar auf eine Million Nutzer auf, die bei 150 Unternehmen, Vereinen und Autoherstellern angemeldet sind.
Der rasante Zuwachs kommt allerdings auch dadurch zustande, dass sich viele Fahrer bei mehreren Anbietern einschreiben. Das
Potenzial ist groß: Für den e­ uropäischen Markt erwarten zum Beispiel die Wirtschaftsberater von Frost & Sullivan bis 2020 rund
15 Millionen Nutzer.
Gegenwart
40
Zwischen kommerziell
und karitativ
Zwischen Kommerziell und karitativ
Informieren,
inspirieren,
aktivieren
Der Social Publish
Verlag will Einzel­k ämpfer
vereinen
David Diallo wurde durch ein Internet-Start-up zum Millionär. Doch Sinn
in seinen Aktivitäten fand er erst durch sein Engagement als sozialer
Unternehmer – ein G
­ espräch mit dem Gründer der Noah Foundation und
des Social Publish Verlags.
David Diallo war noch nicht mal 30,
da hieß es „mission completed“, Auftrag
erfüllt. Nach dem Verkauf seines Start-ups
myphotobook.de war der Deutsch-Malier
mehrfacher Millionär. Gegründet hatte er
die Firma, die das bequeme Er- und Bestellen von Abzügen und Fotobüchern ermöglichte, 2004 zusammen mit einem Freund
am heimischen Küchentisch. Als er sie drei
Jahre später an den Holtzbrinck-Verlag
verkaufte, hatte sie über 110 Mitarbeiter in
15 Ländern.
„Meine Mutter war stolz, ich soweit zufrieden – damit tat sich die Frage auf, was als
Nächstes kommen soll“, erinnert sich Diallo
und lacht. Diallo, der an der ESCP Europe
Business School studiert hatte, merkte schnell,
dass ihm wirtschaftlicher Erfolg alleine zu
wenig war. „Ich hatte keine Lust, das Klischee
vom Start-up-Gründer zu bedienen, und
keinen Drang, unbedingt gleich das nächste
Projekt anzufangen und gierig wilde Bewertungen um zweitklassige Geschäftsmodelle zu
zaubern“, sagt er. „Mein vorrangiges Ziel war
es, zur Lösung eines wirklich relevanten Problems beizutragen und in diesem Kontext ein
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möglichst sinnvolles Projekt zu identifizieren,
das neben den wirtschaftlichen auch maximal
gesellschaftlichen Herausforderungen gerecht
wird.“
Solarenergie und Kirchenmusik
Also gründete er im Jahr 2008 die gemeinnützige Stiftung Noah Foundation mit Sitz
in Potsdam. Gänzlich überzeugt hat ihn das
Stiftungsprinzip jedoch nicht (siehe Interview) – zu wenig Handlungsspielraum.
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41
Gemeinsam stark: David Diallo hat
eine Stiftung gegründet, um soziale Projekte
zu fördern. Doch überzeugend fand er
das Modell nicht. Also setzt er auf
­Netzwerke und will soziale Einzelkämpfer
in Kontakt bringen.
Dezember 2014
Zukunft
Zwischen kommerziell
und karitativ
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Zu viele Dinge sind nicht machbar
Vier Fragen an David Diallo
David Diallo hat einen differenzierten Blick auf das
Sie halten Stiftungen also nicht für sinnvoll?
klassische Stiftungsmodell. Er bezweifelt, dass es wirklich
Doch, natürlich. Stiftungen sind mit ihrer Arbeit unverzichtbar. Aber
effiziente Arbeit erlaubt.
wirksam wirtschaften können sie erst ab einer Größe von 20 bis 30
Mio. Euro. In Deutschland haben allerdings 60 Prozent der Stiftun-
Warum haben Sie die Noah Foundation gegründet?
gen ein Kapital von weniger als 500.000 Euro.
Ich bin jemand, der gerne hands-on lernt, anstatt sich etwas nur
theoretisch zu erschließen. Im konkreten Fall wollte ich zu diesem
Was wäre Ihrer Meinung nach eine effiziente Alternative
Zeitpunkt das Modell und den vermeintlichen Hebel einer Stiftung
dieser finanziellen Größenordnung?
kennen und verstehen lernen. Ich wollte sehen, welches Potenzial die-
Direkte Investition in Sozialunternehmen. Diese Unternehmen gene-
ses Modell hat und wo die Grenzen liegen. Leider ist aus meiner Sicht
rieren zunehmend gesellschaftliche und wirtschaftliche Renditen. Für
der Hebel schlecht und viele Dinge sind nicht machbar.
interessante Optionen steht der Bonventure Fonts in München zur
Verfügung oder der Sozial-Unternehmerwettbewerb vom Wirtschafs-
Woran liegt das?
magazin „enorm“, das ich 2010 gegründet habe – darüber lassen
Die Regulierungen für Stiftungen sind sehr eng. Das ist in vielen Fäl-
sich auch kleinere Summen sehr effizient investieren. Interessierte
len sicherlich sinnvoll, um Missbrauch zu verhindern. Die starke Re-
Personen können sich jederzeit an mich wenden.
gulierung sorgt aber auch dafür, dass das Kapital nur sehr ineffizient
eingesetzt werden kann. Der Großteil des Vermögens einer Stiftung
ist am Kapitalmarkt investiert und hat dort zumindest keine direkte
gesellschaftliche Mission. Als Unternehmer finde ich das schwierig.
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Heute benutzt er die Noah Foundation in
erster Linie, um talentierte junge Menschen
durch Stipendien zu fördern. „Unser thematischer Schwerpunkt ist die Zukunft der
Stadt. 50 Prozent der Weltbevölkerung leben
in Städten und die meisten davon unter
erschwerten Bedingungen – daraus leitet
sich ein gewisser Innovationsdruck rund um
Fragen wie Bildung, Energie- und sanitäre
Versorgung, Abfallmanagement, Infrastruktur und so weiter ab.“
Stipendiaten werden für ein bis zwei Jahre
finanziell unterstützt. Sie profitieren aber
auch stark von Diallos gutem Netzwerk in
der deutschen Gründer- und Technologieszene. Wie zum Beispiel der junge Mann aus
Madagaskar, den Diallo nach Deutschland
holte, ihn mit den richtigen Leuten vernetzte
und der später nach Madagaskar zurückkehrte und dort eine dezentrale Energieversorgung über sogenannte Solarkioske in
umgerüsteten Schiffscontainern aufbaut. Ein
anderer Stipendiat studierte in Deutschland
Kirchenmusik und kehrte danach in seine
afrikanische Heimat zurück, um dort ein
Konservatorium zu gründen.
Eine Zeitlang startete Diallo auch eigene Projekte in Madagaskar und betrieb Fundraising
für vielversprechende Entwicklungsprojekte.
Doch nach einer Weile machte sich Ernüchterung breit: „Oft arbeiten gute Initiativen
an den gleichen Problemen und wissen nicht
voneinander – obwohl sie gerade mal 500
Meter voneinander entfernt arbeiten“, sagt
Diallo. „Und nicht selten ist ein großes Ego
im Spiel, das dafür sorgt, dass das eigene Projekt wichtiger ist als jede Zusammenarbeit.“
Nicht noch ein StraSSenkinderprojekt
Diallo will Gutes tun. Aber sein Blick ist auch
stets der eines Geschäftsmanns, der auf Effizienz und Tragfähigkeit achtet. Statt sich in die
Riege der vielen Einzelkämpfer einzureihen,
versucht er, diese miteinander bekannt zu
machen. Sein Werkzeug dabei: Social Publish,
ein Verlag, in dem er unter anderem das Wirtschaftsmagazin „enorm“ herausbringt. „Statt
Klinken zu putzen und 100.000 Euro für ein
Dezember 2014
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weiteres Straßenkinderprojekt einzusammeln,
die nach einem Jahr ausgegeben sind, finde
ich es wirksamer, über bereits existierende
Engagements zu berichten“, sagt Diallo. „Aufmerksamkeit auf besonders gute Ideen und
Ansätze zu lenken sowie Vernetzung untereinander zu ermöglichen. Das ist mir wichtiger,
als mich und meine Vision in den Mittelpunkt
zu stellen.“ Nach einer Pause fügt der ansonsten so selbstbewusste Unternehmer hinzu:
„Ich habe doch selbst nicht alle Antworten.“
Oft arbeiten
gute Initiativen
an den gleichen
­Problemen und
wissen nicht voneinander – obwohl
sie gerade mal 500
Meter voneinander
entfernt arbeiten.
Seit 2010 gibt Diallo also das Magazin
„enorm“ heraus: Die Redaktion des hochwertigen Titels sitzt in Hamburg, grafisch
gestaltet wird es in Berlin, unter anderem
von Diallos Bruder. „Ich bin ein Mann für
die ersten drei bis fünf Jahre einer Idee“,
sagt Diallo über sich selbst und seinen
Gründergeist. „Ich glaube, gut darin zu
sein, ein Kernteam zusammenzustellen und
durch das Chaos der Anfangstage zu führen,
bis erste Strukturen eingeführt sind und
das Projekt ins Laufen gekommen ist. 100
Mitarbeiter Tag für Tag zu führen – das ist
aktuell nicht mein Ding.“
Die ersten fünf Jahre für den Social
Publish Verlag sind noch nicht ganz um,
und Diallo und sein Team haben bereits
viel erreicht. Neben dem unabhängigen
Magazin „enorm“ produziert der Verlag
auch Auftragsarbeiten für die Stiftung Wald
oder die Firma Weleda. Als Nächstes ist ein
Ausbau der Online-Aktivitäten des Verlags
geplant. Sozialer Wandel braucht mediale
Begleitung, davon ist Diallo überzeugt. „Ob
Bildung, Gesundheit, Mobilität, Umwelt
oder Migration – die einzelnen Szenen
sind untereinander selten gut vernetzt und
wissen meist zu wenig voneinander“, sagt
er. „Dabei könnten sie oft vom Austausch
profitieren.“
Es soll cool sein, sich für die
Gesellschaft einzusetzen
Mit dem Social Publish Verlag will er diesen
Austausch fördern. Informieren, inspirieren,
aktivieren – das ist der Dreischritt, mit
dem er aus gelangweilten Konsumenten
nach und nach engagierte Aktivisten für die
gute Sache machen will. „Ich will es cool
und sexy machen, sich für die Gesellschaft
einzusetzen“, sagt Diallo. „Ich will mit dem
Mythos aufräumen, dass man im Bereich
Soziales oder Nachhaltigkeit kein Geld
­verdienen kann.“ Informieren, inspirieren,
aktivieren: Das bedeutet für David Diallo
auch, deutlich zu machen, dass es mit
Spenden alleine nicht getan ist. „Einmal im
Monat 50 Euro zu spenden, löst die Probleme nicht wirklich“, sagt er.
„Die meiste Zeit unseres Lebens verbringen
wir mit unserer Arbeit. Das größte Potenzial
sehe ich daher darin, möglichst unmittelbar
durch die tägliche Arbeit aus der richtigen
Haltung heraus zu agieren. Einer gegebenenfalls neuen Tätigkeit nachzugehen, die
einen mit Sinn erfüllt, mit der man einen
positiven Beitrag zum Wandel in unserer
Gesellschaft leistet, anstatt lediglich sein
Auskommen zu verdienen – das ist ein
großer Gewinn für alle Beteiligten.“
Dass einen das glücklich machen kann, hat
Diallo am eigenen Leib erfahren. Hat er als
frischgebackener 29-jähriger Internetmillionär geahnt, dass sein Weg ihn dahin führen
würde, wo er heute ist? „Nicht mal ansatzweise“, sagt Diallo und grinst. „Aber ich bin
sehr dankbar dafür, wie es gelaufen ist. “
Text: Christoph Koch
Tradition
Unternehmen mit
Tradition
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UNTERNEHMEN MIT TRADITION
Messerscharf und
prosperierend
wie vor 142 Jahren:
Windmühlenmesser
aus Solingen
Sie haben Namen wie Buckelklinge und Vogelschnabel, Große Kulle oder
Rückenspitz. Bei der Solinger Manufaktur Robert Herder sind Messer mehr
als ein Allerweltsprodukt.
„Immer noch scharf“, sagt Giselheid Herder.
Die zierliche Frau blickt voller Stolz auf ein
Ding, das auf den ersten Blick nicht mehr
ohne Weiteres als Messer erkennbar ist. Die
Klinge ist mehr als 80 Jahre alt und so oft
geschliffen worden, dass es in der Form eher
an eine gebogene Nadel erinnert. Ein Kunde
hat es der Solinger Manufaktur zurückgeschickt, die heute in der fünften Generation
Klingen der Marke Windmühlenmesser
fertigt, um den Griff erneuern zu lassen.
Windmühlenmesser wirft man nicht einfach
weg, wenn schon die eigene Großmutter
damit Gemüse geschnitten hat.
Die Stadt hat allerdings schon bessere Zeiten
gesehen. Mehr als 300 Betriebe haben dort
in der Spitze einmal Schneidewerkzeuge aller
Art hergestellt. Heute sind es noch rund 20
solcher Firmen, und manchen davon geht es
nicht gut. Es gibt aber Leuchttürme wie das
Familienunternehmen Robert Herder. „Wir
sind prosperierend“, freut sich die Geschäftsführerin. Die 53-Jährige sitzt entspannt im
messerstarrenden Showroom der 1872 von
ihrem Urgroßvater gegründeten Manufaktur.
Er ist voller Messer aller Art und Größe mit
handschmeichelnden Holzgriffen, alle in der
eigenen Manufaktur hergestellt.
„Unsere Messer entwickeln eine eigene
Geschichte“, sagt die Managerin, die den
Betrieb in vierter Generation führt. Sie öffnet
eine Schublade und zieht daraus Briefe
hervor sowie zugehörige Uraltmesser, die
für ihre Besitzer offenbar mehr als nur ein
Gebrauchsgegenstand waren. Messer haben
Solingen zur „Klingenstadt“ gemacht und ihr
ein einzigartiges Image verliehen.
Windmühlenmesser als
unerwarteter Exporterfolg
Exakt 67 Handgriffe sind durchschnittlich
nötig, um binnen zwei Stunden eine Klinge
der Marke Windmühlenmesser zu fertigen.
Geschliffen werden sie im Backsteinbau
des Gründungsstandorts an der Solinger
Ellerstraße im Prinzip noch wie vor 1­ 42
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Jahren. Auf jeder Klinge prangt die einer
holländischen Windmühle nachempfundene
Bildmarke.
1899 sei ihr Großvater Paul Herder nach
Belgien und in die Niederlande gereist, um
Exportchancen auszuloten und ein dafür
geeignetes Warenzeichen zu finden, erklärt
die zierliche Chefin. Weil Mühlen damals oft
auch die großen Schleifsteine zum Schärfen
von Messern angetrieben haben, lag der Name
Windmühlenmesser nahe. Das Exportgeschäft
ist dann so erfolgreich gewesen, dass die
Zweitmarke 1905 das vierblättrige Kleeblatt
als deutsches Markenzeichen abgelöst hat.
Heute treibt elektrischer Strom die Schleifscheiben an, aber sonst hat sich in der
Herstellung seit den Gründerzeiten wenig
verändert. Davon kann sich jeder überzeugen, der sich ins Herz des Betriebs wagt, in
die Messerschleiferei.
Character
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Unsere Messer
entwickeln eine
eigene Geschichte.
Giselheid Herder,
Geschäftsführerin der
Manufaktur Robert Herder
Messerscharfe Geschichte:
Klassische Windmühlenmesser aus
den Jahren 1920 bis 2005.
Dezember 2014
Tradition
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Unternehmen mit
Tradition
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Im Jahr 2000
haben wir eine
Existenzkrise
gehabt.
Giselheid Herder,
Geschäftsführerin der
Manufaktur Robert Herder
Runde Sache: Giselheid Herder vor einer
Wand mit sogenannten Kontaktscheiben. Sie
werden zum Schleifen benutzt – nicht der
Messerklingen, sondern der Griffe aus Holz.
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Tradition
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Laut geht es dort zu und Wasser spritzt, wenn
ein Handwerker dem Karbonstahl mithilfe
einer rund 90 Jahre alten, um einen Schleifstein herum konstruierten Apparatur den
berühmten Solinger Dünnschliff verleiht.
Diesen speziellen Schliff beherrscht keine
Maschine. Er macht Messer vor allem in
Verbindung mit Karbonstahl extrem und
besonders lange anhaltend scharf. Im Gegensatz zu Edelstahl, den es seit 1923 gibt, rostet
Karbonstahl aber, indem er dunkel wird.
Das verträgt sich nicht mit dem Empfinden
manches modernen Zeitgenossen, der immer
glänzende Massenware gewohnt ist. Deshalb
gibt es bei Herder auch Messer aus Edelstahl.
Kenner schätzen jedoch die Karbonvarianten.
Herder hat Krisen getrotzt
Herders Gesicht und Stimme spiegeln unverkennbar Stolz auf ihre Familiengeschichte
wider. Dabei ist es noch nicht so lange her,
dass auch die Windmühlenmesser um ihren
Fortbestand fürchten mussten. „Im Jahr 2000
haben wir eine Existenzkrise gehabt“, erinnert
sich die engagierte Frau und ihr Blick verdüstert sich. Gute Messer habe man zwar immer
gemacht, aber da­mals schlechtes Marketing
gepaart mit Vertriebsproblemen gehabt. Zudem wurden zeitgleich wichtige Fachkräfte rar.
1969 hatte die Messerstadt Solingen beschlossen, keine Fachberufe wie Messerschleifer mehr auszubilden. Nach und nach sind
alte Handwerkermeister gestor­ben oder in
Rente gegangen und um die Jahrtausendwende herum bekam das auch Herder zu spüren.
„Wir hatten keinen Nachwuchs mehr“, sagt
die Managerin. Sie räumt selbstkritisch ein,
auch persönlich Fehler gemacht zu haben.
Die Frau, die mit Fachbegriffen aus der
Messerbranche um sich werfen kann, war
nicht immer vom Fach. Eigentlich wollte
sie Hotelmanagerin werden, erzählt Herder.
Auf väterliches Drängen wurde sie Devisenhändlerin bei einer Bank. Nach einem
Einstieg in den elterlichen Betrieb sah es
lange nicht aus. Aber auch von den Geschwistern wollte sich niemand in die Pflicht
Traditionelle Produktion:
Die ­Rohklingen, in diesem Fall die Klingen
von späteren Gemüsemessern. (oben)
Natürlich darf auch das Feinschleifen
der Klingen nicht fehlen, das
sogenannte „Blaupließten“. (unten)
Unternehmen mit
Tradition
Character
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Traditioneller Standort: Die Windmühlenmesser entstehen auch heute noch im
Gründungsgebäude von 1872. (oben)
Beim sogenannten „Ausmachen“ werden
die Materialien und Oberflächen
angeglichen. (rechts)
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Tradition
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Lehrstücke und Inspiration: Die Regale
beherbergen Messer aus den Jahren
von 1820 bis 1970.
Unternehmen mit
Tradition
Character
nehmen lassen, bis schließlich 1985 Herders
Ehemann in die Bresche sprang. Als der
nur drei Jahre später überraschend starb,
musste die Finanz-Fachfrau unverhofft
doch noch umschulen. Sie stand fortan
ihrem Vater im Familienbetrieb zur Seite,
bis auch der 1993 starb.
Mehr als nur Gemüsemesser
Seitdem führt Giselheid Herder die Manufaktur zusammen mit Vetter Frank Daniel
Herder, der die fünfte Familiengeneration
repräsentiert. Das Duo hat Windmühlenmesser über alle Schicksalsschläge und
die Existenzkrise hinweggebracht und
internationaler gemacht. Vor allem Japan
kam als neuer Markt dazu. Die Produktpalette wurde ausgeweitet. „Wir waren
ein Gemüsemesserhersteller“, erinnert
sich die heutige Chefin an die Zeit um die
Jahrtausendwende. Heute gibt es runde
Frühstücksmesser und gebogene Pilzmes-
Dezember 2014
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ser, lange Brotmesser und edle Bestecke.
Das Preisspektrum rangiert von 10 Euro
für klassische Gemüsemesser bis 280 Euro
für große Schinkenmesser.
Schönes“, sagt Herder. Zierde sei aber
­keines der Messer. Alle seien für den Gebrauch gedacht und jedes einzelne werde
vor der Auslieferung kontrolliert.
Der Nachwuchs wird mittlerweile im
eigenen Haus ausgebildet. Das sichert
zusätzlich das Überleben der Manufaktur.
Nach vier Wachstumsjahren in Folge mit
je zweistelligen Zuwachsraten standen für
den Betrieb mit seinen 74 Beschäftigten
zuletzt 5,2 Mio. Euro Umsatz zu Buche.
Zeitweise konnte sogar die übergroße Nachfrage nicht mehr befriedigt werden.
Das soll auch in Zukunft so bleiben, sagt
die heutige Chefin. Wer einmal nach ihr
übernimmt, sei noch offen. Es gebe mehrere
Kandidaten in der Familie. „Alle kochen
gerne und sind messerbegeistert“, sagt sie
und lacht. Es gebe zwar in jüngster Zeit
vermehrt Kaufanfragen vor allem von
Finanz­investoren. Aber die Herders seien
sich einig: Die Marke Windmühlenmesser
bleibt in Familienhand.
Auch Messer müssen schön
sein
Text: Thomas Magenheim-Hörmann
Wer die bläulich schimmernden Klingen
mit ihren Griffen aus Oliven-, Birnen- oder
Kirschholz betrachtet, kann auch einen
ästhet­ischen Anspruch nicht verleugnen.
„Wir haben Kunden, die legen Wert auf
Nachhaltige Messer
In der Produktion fühlt sich Herder der Nachhaltigkeit verpflichtet. Rohstoffabfall wie Stahl- und Holzreste wird recycelt.
Die Schleiferei arbeitet mit nitritfreien Schleifkühlmitteln und einem geschlossenen Wasserkreislauf, der Stahlspänchen wie
den Abrieb der Schleifsteine herausfiltert. Die Holzgriffe der Messer werden weder mit Lack behandelt noch gebeizt, sondern
mit natürlichen Ölen offenporig versiegelt.
Windmühlenmesser dürfen als handwerkliche Produkte mit Holzgriff nicht wie Massenware behandelt werden. Sie gehören
zum Beispiel nicht in die Spülmaschine und sollten mit warmem Wasser von Hand gesäubert werden. Die Varianten aus
Karbonstahl sind am schärfsten, aber sie rosten auch, indem die Klinge dunkel wird. Scheuermilch oder ein Rostradierer
hellen die Klinge wieder auf.
Karbonstahl reagiert auch mit Obst- und Milchsäure. Das Schnittgut kann einen metallischen Geschmack annehmen.
Schneidet man Äpfel, Tomaten oder Käse, ist eine Klinge aus Edelstahl die bessere Wahl. Alles, was später gekocht wird,
kann man bedenkenlos mit Karbonstahlklingen schnippeln, weil die Geschmacksirritation durch das Kochen verloren geht.
Insgesamt verlassen jedes Jahr rund 1,2 Millionen Windmühlenmesser in rund 600 verschiedenen Varianten die Solinger
Manufaktur. Sie werden je zur Hälfte im In- und Ausland verkauft und zwar an Normalverbraucher wie Profiköche.
Gegenwart
52
Perspektivenwechsel
PERSPEKTIVENWECHSEL
Verbraucherschutz –
Echter Schutz
Der Verbraucherschutz hat eine wichtige Aufgabe: Er soll die Verbraucher vor
­Gefahren schützen und ihnen bei Konflikten mit Unternehmen zur Seite stehen.
Doch geht der Verbraucherschutz heute zu weit? Und vielmehr noch: Gibt der
­Verbraucher damit allzu gerne die Verantwortung für seine eigenen Handlungen ab?
Verbraucherschutz ist
ein Qualitätsmotor
Verbraucherschützer gelten in den Augen
mancher Unternehmen als Nörgler vom
Dienst. Dabei übersehen sie, dass Kritik
kein Selbstzweck ist, sondern ein Beitrag,
Kundenwünsche zu erkennen, schwarze
Schafe unter den Anbietern zu identifizieren
und für Augenhöhe zwischen sehr unterschiedlichen Marktbeteiligten zu sorgen.
Ein transparenter und fairer Wettbewerb
kommt leider allzu oft nicht von alleine
zustande. Er braucht Regeln und Akteure,
die auf ihre Einhaltung achten.
Klaus Müller, 43
Vorstand des Verbraucherzentrale
Bundesverbands (vbzv)
Immer wieder wird die Frage gestellt, ob
der mündige Verbraucher nicht seine Verantwortung abgeben würde, wenn es starke
Verbraucherschützer gibt. Natürlich gibt es
einzelne Verbraucher, die sich als „Homo
Oeconomicus“ vor jedem Kauf, vor jedem
Vertragsabschluss umfassend informieren
und rein rationale Kaufentscheidungen
treffen. Die Regel ist, dass viele Verbraucher
dafür keine Zeit haben, vor der Informationsflut kapitulieren, von gut gemachter
Werbung vor allem emotional angesprochen
werden oder Geschäftsbedingungen ohne
Alternativen akzeptieren müssen, wenn sie
sie überhaupt gelesen haben.
Die Verbraucherzentralen erleben tagtäglich
den Frust und Ärger, den Verbraucher mit
Produkten und Anbietern erleben. Wer
schon mal seinen Telefonanbieter gewechselt
hat und wochenlang auf das Freizeichen
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warten musste, wer als Eltern von Kindern
mit Allergien vor Supermarktregalen ohne
verständliche Hinweise gestanden hat oder
wer Finanzprodukte verkauft bekommen
hat, die durch ihre Provision mehr dem
Verkäufer als dem Käufer genutzt haben,
der wird den Nutzen des Verbraucher­
schutzes nicht bezweifeln.
Informationsflut und Informationsmangel
sind häufig zwei Seiten einer Medaille –
beides hilft den Verbrauchern nicht bei
einer selbstbewussten und informierten
Entscheidung. Eine gute Verbraucherinformation, zielgruppengerechte Verbraucherbildungsangebote und notfalls auch eine
Musterklage vor Gericht sind das Gebot
der Stunde. Die Masse an Entscheidungen,
mit denen Verbraucher konfrontiert sind,
sind die Kehrseite unserer Wahlfreiheit und
Produktvielfalt. Niemand will sie missen,
aber viele Menschen wünschen sich einen
einfacheren Konsumalltag, in dem sie nicht
jedes Kleingedruckte selber überprüfen
müssen.
Verbraucherschützer stärken mit ihrem
Engagement nicht nur Verbraucher, sondern
auch die Wirtschaft. Mit dem Start der
Marktwächter für den Finanzmarkt und
den digitalen Markt können wir Missstände in den Märkten schneller erkennen und
besser informieren. Das schafft Vertrauen
und stärkt damit auch die weißen Schafe
auf der Anbieterseite. Qualifizierter Verbraucherschutz ist in unser aller Interesse.
Character
Dezember 2014
53
oder Entmündigung?
Politisches Diktat statt
Eigenverantwortung
Wir leben in einer Welt, in der freie Märkte
eine große Bedeutung haben. Regulierungen
werden deshalb mit großer Skepsis betrachtet.
Zwar nutzt grenzenlose Freiheit meist nur
den Stärksten, doch im Gegenzug wirkt
ein Übermaß an Verboten und Vorgaben
nur bremsend auf einen sinnvollen und
notwendigen Fortschritt. So ist es auch in der
Verbraucherpolitik.
Unstrittig ist, dass Verbraucher vor gesundheitlichen und finanziellen Gefahren
geschützt werden müssen. Staatliche Geund Verbote sind deshalb dort richtig, wo
es um die Abwehr solcher Gefahren geht.
Die Verbraucherpolitik auf nationaler und
europäischer Ebene zielt jedoch zunehmend
auf eine Steuerung des Konsums nach politisch gesetzten ethischen und ökologischen
Kriterien. Ein angeblich vorhandenes, aber
nicht befriedigtes Informationsbedürfnis des
Verbrauchers muss häufig als Legitimation
für gesetzliche Regulierung herhalten.
Dieter Schweer, 61
Mitglied der Hauptgeschäfts­
führung des Bundesverbands der
Deutschen Industrie (BDI)
Es sei aber die Frage erlaubt: Wer trifft dort
eigentlich die Entscheidungen? Nach welchen
„demokratischen“ Regeln und Prinzipien?
„Wo Verbraucher sich nicht selbst schützen
können oder überfordert sind, muss der Staat
Schutz und Vorsorge bieten“, heißt es im Koalitionsvertrag der Bundesregierung. Doch wer
definiert Schutzbedürfnis und Überforderung?
Wer definiert und quantifiziert den Umfang
der vermeintlich Betroffenen?
Weder der Staat noch eine andere Stelle verfügen über die Legitimation, Entscheidungen
von Konsumenten als falsch zu bezeichnen.
Nur jeder Einzelne selbst kann doch letztendlich beurteilen, was ihm bestimmte Produkte
und deren Qualitäts- und Risikomerkmale
wert sind. Und er muss und sollte das Recht
haben, sich gegen besseres Wissen auch
unvernünftig zu verhalten. Ich meine, wir
sollten schon davon ausgehen, dass „der
Verbraucher“ seine Sinne benutzt: Augen,
Nase, Mund – und vor allem seinen gesunden
Menschenverstand.
Eine Steuerung des Konsumverhaltens durch
„wohlgemeintes” gesetzliches oder politisches
Diktat entlässt den Verbraucher scheinbar aus
seiner Eigenverantwortung, die er aber in der
sozialen Marktwirtschaft selbst wahrnehmen
muss – und offenbar auch will. Denn ohne
dieses Wollen wäre auf der Anbieterseite auch
gar kein Wettbewerb um beste Produkte und
Leistungen denkbar und möglich. Die Idee,
ein fürsorglicher Staat könne umfassenden
Schutz vor jeglichen Risiken bieten, ist eine
Illusion.
Verantwortungsbewusste Verbraucherpolitik
muss aus meiner Sicht bei der Vermittlung
von Kompetenzen und ökonomischer Bildung
ansetzen. Bildung und Wissen – dies sind
die Grundpfeiler für selbstbestimmtes,
verantwortungsbewusstes und nachhaltiges
Konsumentenverhalten.
Protokoll: Frank Paschen
Gegenwart
54
Hello / Goodbye
HELLO / GOODBYE
Selbstgemachtes
Möbel kontra
Massenmail
Mit traditionellen Handwerkskünsten gleichen Kopfarbeiter den Mangel an Bodenständigkeit im Job aus. Als Ergebnis lockt ein selbst gefertigtes Unikat – sei es ein selbst
gezimmerter Hocker oder ein zerlegtes Huhn. Quasi das Gegenteil des Selbstgemachten
sind Massenmails. Unpersönliche Weihnachtsgrüße zum Beispiel braucht heute
niemand mehr. Bei unsachgemäßem Gebrauch sind sie sogar indiskret.
Schmieden im Selbstversuch: Das
­ urszentrum Ballenberg in der Schweiz
K
vermittelt alte Handwerkskünste – vom
­Umgang mit dem Hammer bis zur
­Herstellung des eigenen Parfüms.
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Character
55
Dezember 2014
hello
Alte Handwerkskunst
Drechseln, schmieden, schreinern, weben:
Alte und teils fast vergessene Künste erleben
derzeit ein Hoch. „Es ist die Sehnsucht nach
Bodenständigem“, weiß Adrian Knüsel,
Leiter des Kurszentrums Ballenberg in der
Schweiz. Die Schweizer Schule wurde in
den 1940er-Jahren als „Heimatwerkschule“
gegründet, damit die Schweizer Landbevölkerung Fertigkeiten erlernen und so
ihren mageren Lebensunterhalt ergänzen
konnte. Heute belegen „Kopfarbeiter“ aus
der Schweiz, aber auch aus Deutschland
im Museumsdorf Ballenberg am Fuße des
Berner Oberlands mehrtägige Kurse, um
etwa das „Schlachten eines Kleintiers“ zu
erlernen oder in acht Tagen rahmengenähte
Schuhe herzustellen.
Das Kurszentrum gehört zum Freilichtmuseum Ballenberg, das auf seinem Gelände
mehr als 100 alte Gebäude vereint, die man
besichtigen kann. Aufgabe des Kurszentrums ist es, alte Handwerkskünste vor dem
Vergessen zu bewahren. Beim Schlachtkurs
habe es allerdings einen Aufschrei gegeben.
„Die Leute haben uns gefragt: Wie könnt
ihr so etwas machen? Ihr verführt zum
Töten von Tieren“, ­erinnert sich Knüsel. Je
mehr jedoch über diesen Kurs debattiert
wurde, desto populärer wurde er. Es gebe
viele Menschen, die sagen: Ich esse so
viel Fleisch, weiß aber gar nicht, wo es
herkommt. Knüsel: „Ich bin überzeugt,
wer diesen Kurs absolviert hat und sieht,
was dahintersteckt, isst danach weniger
Fleisch.“
Die Kurse dauern von einem bis zu acht
Tagen. 2014 betrage der Zuwachs der
Buchungen gegenüber dem Vorjahr erstmals
10 Prozent. Die Jahre davor sei das Angebot
vor sich hin „gedümpelt“. Mittlerweile
finden 150 von insgesamt 220 angebotenen
Kursen statt, die Gruppen sind mit im
Durchschnitt acht Teilnehmern klein.
­Knüsel, selbst gelernter Keramiker und seit
17 Jahren Leiter des Kurszentrums, erklärt
sich den plötzlichen Zulauf mit der zunehmenden Virtualisierung und Arbeitsteilung
in der Arbeitswelt. „Viele sitzen im Büro
und sind nur ein Rädchen im Getriebe. Bei
uns machen die Menschen vom Plan, über
das Muster bis zum fertigen Objekt alles.
Offenbar liegen wir damit im Moment
genau im Trend.“
So können Teilnehmer einen Hocker selbst
zimmern, Ledergürtel herstellen, Strohhüte
flechten, ihr eigenes Parfüm herstellen,
Schwemmholzskulpturen bearbeiten und
ihre Werke anschließend mit nach Hause
nehmen. Das Kurszentrum profitiert von
Trends wie Urban Gardening und dem
Revival der Schrebergärten. Knüsel: „Schrebergärten waren für mich stets der Inbegriff
an Spießigkeit, heute erlebe ich junge Leute,
die im Schrebergarten eigenes Gemüse und
Obst anpflanzen.“ Seit diesem Jahr bietet er
zudem auch Generationenkurse an, in denen
Eltern oder Großeltern mit Kindern ab etwa
zehn Jahren schmieden, buchbinden oder
polstern können.
Ende 2013 wagte sich Knüsel per Selbstversuch an die Kunst des Schuhmachens,
er hatte zuvor nie genäht. „Während des
Kurses hatte ich eine schlaflose Nacht und
Angst, dass ich die Schuhe verhunze.“
Vielen Teilnehmern kämen während der
Seminare unerfreuliche Erinnerungen an
den Handarbeitsunterricht in der Schule
hoch. Typische Demütigungen der heutigen
Großelterngeneration seien Schläge auf
die Finger gewesen, wenn sie die Nadeln
nicht richtig hielten. Andere bekamen
ihre schlechte Note für eine selbst genähte
Tasche vor der gesamten Klasse vorgelesen.
Knüsel: „Ich sage das auch immer zu den
Dozenten: Denkt daran, was die Leute für
Erfahrungen aus der Schule mitbringen.“
Am Ende schaffte es Knüsel übrigens doch,
seine e­ igenen rahmengenähten Schuhe zu
fabrizieren, ganz langsam, Stich für Stich.
Die fertigen Tangoschuhe trug er dann im
Sommer 2014 – auf seiner eigenen Hochzeit.
Gegenwart
56
Digitales Blabla: Die undurchsichtige
Zeichenfolge zeigt den Artikel der
­gegenüberliegenden Seite im
Ascii-Code, einer digitalen Zeichencodierung – in dieser Form genauso
aussagekräftig wie die Massenmails,
die darauf beruhen.
Hello / Goodbye
57
Character
Dezember 2014
GOOD
BYE
Massenmail
Es fällt kaum auf. Vermutlich weil es keiner
vermisst. Die Massenmail verschwindet
langsam aber sicher dahin, wohin sie gehört:
Ins Kommunikations-Nirwana. Vor etwa
15 Jahren erlebte sie ihr Hoch. Damals
­beglückten sich Bürokollegen gegenseitig täglich, stündlich, jedenfalls mehrfach pro Tag,
mit E-Mails, die vermeintlich witzige Witze
enthielten oder Links zu Artikeln auf Spiegel
Online à la „Drogenfund: Kokain im Auto
des Kardinals“. Privat bekam man damals
von rucksackreisenden Freunden Rundbriefe
aus Madagaskar, Indien oder Thailand, die
eigentlich nur eines demonstrieren sollten:
Lest, wo ich bin und was ich für ein toller
Hecht bin.
„Selbstbeweihräucherung“ fasst Kommunikationsexpertin Elisabeth Bonneau zusammen.
Die Freiburgerin hält Massenmails sowohl
privat als auch geschäftlich für selten geglückt.
Einmal bekam sie Weihnachtsgrüße von
einem Frisör, leider war diesem die Funktion
BCC (aus dem englischen „blind carbon copy“
= Blindkopie), die sämtliche E-Mail-Adressen
für die Empfänger verbirgt, nicht bekannt.
Somit waren für sämtliche Frisörkunden und
-kundinnen alle Adressen sichtbar. „Da habe
ich dann aufs Antwortknöpfchen geklickt und
mich bedankt mit den Worten: Schön, dass
ich Ihre komplette Kundendatei jetzt habe und
schön, dass 100 andere wissen, dass ich bei
Ihnen meine Haare schneiden lasse.“
Ein anderes Mal bekam sie eine Standardmail als Weihnachtsgruß von einem Kunden,
dem sie alljährlich eine handschriftlich
verfasste Postkarte schickte, die sie eigens
für jenes Jahr hat drucken lassen. Natürlich
sei sie bei ihren Kunden großzügiger, erklärt
Bonneau, aber auch da gebe es Grenzen.
„Wenn ich drei Jahre hintereinander auf
eine Postkarte mit individueller Ansprache
samt ein bis zwei kleinen Details aus dem
vergangenen Geschäftsjahr nur eine Mail
als Antwort erhalte, die offenbar an einen
großen Verteiler geht, dann bekommt dieser
Kunde im Folgejahr eben auch nur eine
Mail.“
Wenig Probleme habe sie dagegen damit,
wenn ein Freund ihr und 15 anderen eine
Massenmail an „Liebe alle“ schreibe, dass
er wohlbehalten von einem mehrwöchigen
Segeltörn zurück sei. Es wäre ein unnötiger
Aufwand, jeden einzeln anzuschreiben, es
gehe um eine schnelle Information mit dem
Inhalt: Hallo, ich bin gesund zu Hause angekommen. Die Nachricht ist einfach, direkt
und vor allem ehrlich.
Ehrlichkeit ist der 64-Jährigen insofern
wichtig, als sie sich auch an einem Zuviel
an persönlicher Ansprache stört. Typisches
Beispiel: Die Geburtstags-SMS vom Mobilfunkanbieter mit „Liebe Frau Bonneau,
wir gratulieren Ihnen herzlich zu Ihrem
­Geburtstag“. „Da wird eine Nähe suggeriert,
die nicht existiert. Dabei weiß ich genau,
dass diese Nachricht wortgleich an Millionen andere Kunden geht“, erklärt sie. Ähnlich verhält es sich, wenn jemand in ­einer
Boutique oder in einem Supermarkt mit
Kreditkarte bezahlt und die Verkäuferin nach
dem Bezahlen sagt: „Ich wünsche ­Ihnen noch
einen schönen Tag, Frau Bonneau.“ „Da wird
mir als Kunde etwas vorgegaukelt, dabei ist
der Zweck so durchschaubar. Dieses Verhalten wirkt auf mich unnatürlich. Allerdings
glaube ich auch, dass viele Kunden sich
gebauchpinselt fühlen“, meint die Kommunikationstrainerin.
Vor nicht allzu langer Zeit passierte es wieder, dass sie eine Massenmail mit sichtbaren
E-Mail-Adressen bekam. Diesmal vom
Inhaber eines Restaurants, in dem Bonneau
öfter essen geht. Der Inhaber bemerkte seinen Fauxpas schnell, entschuldigte sich und
bat die Empfänger in einer neuen Nachricht,
die alte zu löschen und die E-Mail-Adressen
nicht zu verwenden. Als Entschädigung
sendete er jedem einen Gutschein über eine
Dessertvariation – eine misslungene Mailaktion mit einem süßen Ende.
Texte: Geraldine Friedrich
Zukunft
Einplanen
58
EINPLANEN
Durch das Jahr mit
Ali Güngörmüs
Ali Güngörmüs pendelt zwischen Alster und Alpen. Der Sternekoch, der
­Restaurants in Hamburg und München führt, fühlt sich beim Alstereisvergnügen in der Hansestadt genauso wohl wie beim Nürnberger Christkindlesmarkt
oder dem Hahnenkamm-Rennen in Kitzbühel. Neben seinen empfohlenen
­Aktivitäten zum Ende des alten sowie zum Beginn des neuen Jahres kennt auch die
­Character-Redaktion einige Termine, die fest eingeplant werden sollten.
An kalten Januarwochenenden
Alstereisvergnügen
28.11. – 24.12.2014
Nürnberger
Christkindlesmarkt
Spazierengehen auf der zugefrorenen
­Hamburger Außenalster: Das Alstereis­
vergnügen ist ein Volksfest in Hamburg,
das auf dem zugefrorenen Alstersee stattfindet – vorausgesetzt, das Eis hat eine
dafür ausreichende Dicke erreicht. Auf der
164 Hektar großen Fläche der Außenalster
werden dabei etwa 150 Buden und Stände
aufgebaut.
Der Nürnberger Christkindlesmarkt findet jedes
Jahr in der Altstadt der zweitgrößten Stadt
­Bayerns statt. Er zählt mit rund 2 Mio. Besuchern
zu den größten Weihnachtsmärkten in Deutschland und den bekanntesten in der Welt. Die Ursprünge sind nicht mehr festgehalten, der älteste
Nachweis stammt aber aus dem Jahr 1628.
DEZEMBER
2015
JANUAR
20.01. – 25.01.2015
5. Hahnenkamm-Rennen Kitzbühel
Ab Mittwoch, 10.12.2014
Der Hobbit – Die Schlacht
der Fünf Heere
Das alpine Rennen wird seit 1931 am sogenannten H
­ ahnenkamm in
Kitzbühel ausgetragen. Dabei treten die Sportler in den Disziplinen
Abfahrt, Super-G, Slalom und neuerdings Super-Kombination an.
Die Hobbit-Trilogie von Regisseur
­Peter Jackson erzählt die Vor­ge­
schichte der beliebten FantasySaga "Der Herr der Ringe." „Die
Schlacht der Fünf Heere“ schließt
die Trilogie ab und dürfte – wie
auch die vorherigen Teile – ein
­immenser Erfolg an den Kino­
kassen werden.
Foto: Hahnenkamm-Rennen
2014
59
Character
Dezember 2014
27.03. – 06.04.2015
Osterfestspiele
Baden-Baden
Bernau im Schwarzwald ist seit mehr als
30 Jahren Austragungsort internationaler
Schlittenhunderennen mit internationaler
Beteiligung und zählt damit zu den
Pionieren dieser Sportart.
Die Berliner Philharmoniker feiern
bereits zum dritten Male Osterfestspiele im Festspielhaus Baden-Baden.
2015 steht die Neuinszenierung der
Oper „Der Rosenkavalier“ von
­Richard Strauss im Mittelpunkt.
FEBRUAR
Foto: manolo press / Rüdiger Beermann
Foto: Schwarzwald Tourismus / TI Bernau
20.02. – 22.02.2015
Internationales
Schlittenhunderennen Bernau
MÄRZ
APRIL
22.03.2014
Welt Wasser Tag
Der Weltwassertag findet seit 1993 jedes
Jahr am 22. März statt. Seit 2003 wird
er von ­UN-Water organisiert. Jedes Jahr
übernimmt eine der vielen U
­ N-Agenturen,
die mit dem Thema Wasser befasst
sind, die Leitung bei der Förderung und
­Koordinierung internationaler Aktionen
für den Weltwassertag.
Gegenwart
60
Im Dialog
KINGS
OF COOL
DOPPELGESPRÄCH
Der Modeunternehmer Alexander ­Brenninkmeijer und der
­Schauspieler C
­ lemens Schick über ­Risikobereitschaft und ­konsequentes Handeln,
Glaube und Demut, Mode und Filme, ­Familie und ­Männlichkeit und die
kleinen Glücksmomente des Alltags.
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Character
61
Dezember 2014
Gegenwart
62
Im Dialog
Es geht um ein Experiment. Zwei prominente Persönlichkeiten, die sich bereits kennen
oder sich im Gegenteil schon immer einmal kennenlernen wollten, sprechen über alles, was sie
­bewegt. Der Fotograf b­ egleitet sie mit der Kamera, die Moderatorin zeichnet die Dialoge auf.
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63
Dezember 2014
Gegenwart
Der Ort des Treffens ­ist ideal für die
­Premiere der „Im Dialog"-Gespräche:
das Perlon-Labor. 1938 wurde hier, in
einer ehemaligen Bauhaus-Fabrik in der
­Rummelsburger Bucht in Berlin-Lichtenberg,
jene ­revolutionäre Kunstfaser erfunden,
die Jagdfliegern des zweiten Weltkriegs das
Leben rettete und ­später unzähligen Frauenbeinen schmeichelte. Seit rund zwei Jahren
wird das Areal zum ­Künstlercampus umgebaut. Im dritten Stock liegt das hallengroße
Studio Up! mit hellen Holzeinbauten und
Grünpflanzen – perfekt für das Shooting.
Brenninkmeijer und Schick fahren in einem
weißen Carsharing-Wagen von ­„DriveNow“
vor. Die ganze Fahrt über haben sie sich
bereits nonstop unterhalten. Jetzt tut ein Espresso gut, dazu viel Wasser, ein Joghurt, und
schon werfen sie sich wieder nachdenklichvergnügte Themen- und Gedankenbälle zu.
Alexander Brenninkmeijer: Clemens, jetzt
kenne ich dich seit zwei Stunden und fühle
mich schon ziemlich vertraut mit dir!
Clemens Schick: Woran liegt das?
Alexander Brenninkmeijer: Unter den
deutschen Schauspielern hast du für mich
eine unverwechselbare Präsenz. Du bist ein
attraktiver Charakterdarsteller, aber vor
allem hast du etwas zu erzählen und du
bist authentisch. Beeindruckt hat mich zum
Beispiel deine Aktion an Weihnachten 2012,
als du nach Afghanistan gefahren bist, um
deutsche Soldaten zu besuchen und für sie
Theater zu spielen. Das machte Sinn für
mich. Was du tust, ist gestochen scharf.
Clemens Schick: Nach zwei Stunden Kennen glaube ich sagen zu können, dass das,
was uns verbindet, Risikobereitschaft ist.
Alexander Brenninkmeijer: Ja.
Clemens Schick: Als ich vor Jahren über
den Streit mit deiner Familie wegen deines
Markennamens las, dachte ich: Da kommt
jemand aus einer Unternehmerfamilie, beginnt im Konzern zu arbeiten, will neue Ideen
einbringen, die werden abgelehnt, und er ent-
64
scheidet sich zu gehen. Du hast dich also dem
Widerstand gestellt, der dir entgegengebracht
wurde. Das hat mich interessiert.
Alexander Brenninkmeijer: Was ist dein
familiärer Hintergrund?
Clemens Schick: Ich stamme aus einer Juristenfamilie. Ohne eine Parallele ziehen zu wollen: Ich weiß, was es heißt, eigene Vorstellungen
zu haben und sie gegen Ablehnung durchzusetzen. Risikobereitschaft zu behalten, ist für mich
wesentlich, um mich lebendig zu fühlen. Lieber
bekomme ich eins drauf, als kein Risiko mehr
einzugehen. Sicherheitsdenken macht einen am
Ende unvital. Wie ist das bei dir?
Die meisten
Männer, die ich kenne,
haben tatsächlich
ein zwiespältiges
Verhältnis zu Mode …
Alexander Brenninkmeijer
Alexander Brenninkmeijer: Ich bin in
einer sehr großen Familie geboren und
aufgewachsen, was viele positive Aspekte
hat. Aber was mich manchmal an dieser Familiendynamik – und nicht nur dort – stört,
ist, wenn alle aufspringen und in dieselbe
Richtung laufen. Da bin ich eher jemand,
der infrage stellt. Der innehält und erst mal
überlegt. Und oft zu einem anderen Schluss
kommt. Die Herausforderung anzunehmen
und gegen die allgemeine Meinung zu handeln, ist meine Art von Risikobereitschaft.
Aber das Risiko an sich suche ich nicht. Ich
mache etwas trotz des Risikos.
Clemens Schick: Wie ist das bei dir mit
Zuneigung? Wenn du sie jemandem schenkst,
dann auf Dauer?
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Im Dialog
Alexander Brenninkmeijer: Ja, eher so.
Wenn ich, wie gerade, mit einer neuen Kollektion von Clemens en August auf Tournee
bin, lade ich vor allem Leute ein, die sich
für die Marke interessieren oder sie bereits
kennen und schätzen. Lieber verzichte ich
auf bestimmte Medien oder Gäste, wenn ich
finde, sie passen nicht ganz. Ich muss nicht
durch jede neue Tür, die sich öffnet, auch
hindurchgehen. Aber glaube nicht, es gäbe
keine Veränderung bei mir!
Clemens Schick: Du arbeitest an einem
Projekt und ich arbeite an einem Projekt.
Dein Projekt heißt Clemens en August, meines Clemens Schick. Die Plattform unserer
Produkte ist die Öffentlichkeit. Ich muss mir
bei jedem Bühnenstück, jedem Film bewusst
sein, dass sie eine Konsequenz haben. Und
du bei jedem Kleidungsstück, jedem Schnitt.
Der kleinste Schritt, den wir machen, hat
eine Konsequenz. Aber was steht dahinter?
Unsere Lust zu tun, was wir tun!
Alexander Brenninkmeijer: Wird es so
leichter mit der Konsequenz?
Clemens Schick: Finde ich schon. Nachdem
ich aufgehört hatte, Theater zu spielen, und
nur noch Filme machte, merkte ich eines
Tages, dass ich zu kommerziell wurde. Das
habe ich dann in eine andere Richtung zu
lenken versucht, und jetzt, nach ungefähr drei
Jahren, sehe ich mich dort, wo ich sein möchte. Bist du nicht auch jemand, für den Konsequenz wichtig ist, in der Form, dass man
seinen Überzeugungen und Werten folgt?
Alexander Brenninkmeijer: Hm, es
würde mich sicher stören, wenn mir jemand
vorwerfen würde, nicht in sich schlüssig
zu handeln, falls du das mit Inkonsequenz
meinst. Aber mich selbst als eine durch
und durch konsequente Persönlichkeit zu
bezeichnen, finde ich anmaßend.
Clemens Schick: Die gibt es wahrscheinlich auch nicht. Man kann sich nur annähern. Konsequenz hat viel mit Neinsagen zu
tun. Character
Dezember 2014
65
Name: Alexander Brenninkmeijer
Beruf: Modeunternehmer
Stationen: Geboren 1968 in Hannover als Sohn eines der drei deutschen
Twist entstehen in einem kleinen Team; zwei Mal im Jahr präsentiert
Chefs des Textilunternehmens C & A, machte er in ­Amsterdam Abitur und
und ­verkauft er sie in europäischen ­Metropolen an exklusiven Orten wie
begann im Familienkonzern zu arbeiten. 1996 kündigte er, trampte ein
Museen und Galerien.
Jahr durch Asien und ­gründete nach einem sechsjährigen geschäftlichen
Privates: Lebt mit Frau und Sohn in München, wo sich auch der Sitz des
Intermezzo mit Kostas Murkudis 2004 die Marke Clemens en August.
Unternehmens befindet.
Seine minimalistisch-eleganten ­Kollektionen mit einem sportlichen
Gegenwart
Im Dialog
66
Name: Clemens Schick
Beruf: Schauspieler
Stationen: Geboren 1972, studierte er an der Berliner Schauspielschule
Drehorten. Aktuelle Produktionen: „Praia do Futuro“ und „Point Break“.
und war neben zahlreichen anderen Engagements von 2002 bis 2006 am
Privates: Sein Outing vor kurzer Zeit ging durch die Medien. Schick hat
Schauspielhaus Hannover verpflichtet. Mit einer Rolle in der James Bond-
­einen ­Zwillingsbruder und lebt in Berlin.
Neuverfilmung von „Casino Royale“ gelang ihm ein glänzender Einstieg
in das inter­nationale Filmgeschäft. Seitdem pendelt Schick als einer der
vielseitigsten deutschen Stars zwischen Hollywood und zahllosen anderen
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Character
Alexander Brenninkmeijer: Ist es eine
Charaktereigenschaft? Oder entwickelt man
eine gewisse zielgerichtete Haltung, wenn
man so wie wir eine Marke hat, die man
positionieren und zum Erfolg bringen will?
Clemens Schick: Das ist unsere Chance
und Verantwortung.
67
Alexander Brenninkmeijer: Ich versuche,
jeden Sonntag in die Kirche zu gehen,
zusammen mit meiner Frau und meinem
Sohn. Dieser Rhythmus ist mir ein Bedürfnis. Die Messe zu besuchen, ist eine Form,
mich zu besinnen, zu hoffen und meiner
Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen.
Clemens Schick: Demut?
Alexander Brenninkmeijer: Also eher erlernt oder doch angeboren? Ich denke gerade
an meine sechs Geschwister. Wir wurden
alle gleich erzogen, und doch geht jeder von
uns völlig unterschiedliche Wege.
Clemens Schick: An wievielter Stelle
stehst du?
Alexander Brenninkmeijer: Ich bin der
Zweitjüngste. Viele sagen mir, ich sähe meinem Bruder ähnlich, aber das ändert nichts
an unserer Verschiedenheit. Phänomenal,
nicht wahr?
Clemens Schick: Ich bin ebenfalls der
Zweitjüngste, wir sind fünf Kinder. Allerdings ist es mein Zwillingsbruder, der drei
Minuten jünger ist.
Alexander Brenninkmeijer: Hattet ihr
auch einen katholischen Hintergrund, so,
wie wir? Du warst sogar ein paar Monate
im Kloster und wolltest in den französischen
Männerorden Taizé eintreten …
Clemens Schick: Damals war ich 22 und
total entschlossen, in diese Gemeinschaft
aufgenommen zu werden und in kleinen
Bruderschaften in den Armenvierteln der
Welt zu leben. Als die Mönche mich nach
acht Monaten Probezeit ablehnten, war ich
sehr unglücklich. Gibt es in eurer Familie
nicht auch einige Schwestern und Brüder?
Alexander Brenninkmeijer: Nicht direkt
in meiner Familie, aber im größeren Kreis,
ja. Katholizismus prägt uns alle stark.
Clemens Schick: Heute spielt der Glaube
bei mir nicht mehr die Rolle, die er einst
hatte, nicht mehr in der Form von kirchlicher Autorität jedenfalls. Bei dir?
Alexander Brenninkmeijer: Auch meiner
Demut, ja.
Heute spielt der
Glaube bei mir nicht
mehr die Rolle,
die er einst hatte,
nicht mehr in der
Form von kirchlicher
Autorität jedenfalls.
Clemens Schick
Clemens Schick: In Klöstern habe ich sehr
interessante Schwestern und Brüder kennengelernt, die mir Vorbilder wurden. Leider gab es
da immer die Diskrepanz zwischen der Institution und dem, was gelebt wurde. Irgendwann
stellte ich fest, das brauche ich nicht mehr.
Alexander Brenninkmeijer: Was ich ein
wenig schade finde, ist, dass die Rituale und
die Symbolik der Kirche heute nur noch eine
untergeordnete Rolle spielen. Das gibt es
tatsächlich nur noch im Kloster, dieses strikte Regelwerk, diese große Stille. Meiner Frau
und mir ist wichtig, dass wir unserem Sohn
die Möglichkeit geben, mit einem Glauben
aufzuwachsen. Später kann er dann selbst
entscheiden.
Clemens Schick: Wie sind deine Arbeitsrituale, wie arbeitest du?
Dezember 2014
Alexander Brenninkmeijer: In einem
kleinen Team von rund einem halben Dutzend Mitarbeitern. Meine Frau Micheline
zählt dazu und eine Designerin, die Partnerin ist. Letztlich macht bei uns jeder alles,
vor allem wenn wir auf Tour sind. Jeweils
drei Tage lang verkaufen wir direkt in den
verschiedenen Städten. Wir schalten keine
Werbung, deshalb sind wir vergleichsweise
günstig, obwohl wir sehr hochwertig und in
kleinen Stückzahlen produzieren.
Clemens Schick: Von Mode habe ich wenig
Ahnung. Was ich mag, sind klassische Sachen. Deshalb gefällt mir auch dein Anzug,
den ich hier trage, sehr gut. Stil und Persönlichkeit interessieren mich mehr als Trends.
Alexander Brenninkmeijer: Mit denen
muss ich mich schon allein deshalb beschäftigen, weil wir über ein Jahr im Voraus
entwerfen. Obwohl unser Geschäftsmodell
ja eher trendresistent ist. Trotzdem gibt es
von Saison zu Saison besondere Akzente, ob
in den Farben oder Schnitten oder Stoffen.
Es sind minimalistische Eingriffe oder
kleine Brüche. Manchmal sind wir auch
zu früh mit einem Look … Wir haben zum
Beispiel vor zwei Jahren eine Damenjacke
auf den Markt gebracht, die von einem
Motorrad-Jacket inspiriert war. Damals
wollte sie fast keiner, jetzt laufen alle damit
herum. Es scheint, dass die meisten Leute
diesen Billboard-Effekt brauchen, sie wollen
einander gleichen.
Clemens Schick: Was ist Mode für dich?
Alexander Brenninkmeijer: Die Suche
nach etwas Neuem, ohne dabei zu weit
zu gehen. Die Beziehung zu Tradition und
Handwerk nicht zu verlieren, ist wichtig.
Clemens Schick: Ist es einfacher, Männermode zu entwerfen?
Alexander Brenninkmeijer: Nein, dabei
kommt es noch mehr auf Nuancen an. Die
Schnitte selbst ändern sich wenig. Männer
sind noch viel dankbarer, wenn sie etwas
Gegenwart
gefunden haben, das ihnen steht und in dem
sie sich wohlfühlen. Am liebsten würden sie
immer wieder das gleiche Modell kaufen.
Clemens Schick: Wie ich. Meine bevorzugte Farbe ist Blau, meine Garderobe besteht
zu neunzig Prozent aus T-Shirt, Pullover,
Jeans, Jacke, Mütze, Sneakers, that’s it.
Anzüge nur, wenn ich ausgehe.
Alexander Brenninkmeijer: Dein Vorteil ist, dass dir alles steht. Die meisten
Männer, die ich kenne, haben tatsächlich
ein zwiespältiges Verhältnis zu Mode –
vielleicht sogar eine typisch männliche
Eigenschaft.
Clemens Schick: Typisch männlich? Uns
beide nehme ich als männlich wahr. Vielleicht ist man am männlichsten, wenn es für
einen selbst keine Rolle spielt. Wenn du in
den Spiegel blickst und es dir egal ist, wie
du aussiehst.
Alexander Brenninkmeijer: Das würde
ich unterschreiben. Ein Selbstverständnis,
das selbstverständlich ist. Wenn mir
­allerdings jemand sagt, ich sei männlich,
finde ich das albern. Weil es scheint, als
würde da jemand eben irgendwelche
­Klischees auf mich projizieren. Es gibt
ja viele empfindsame, feinfühlige, nach­
denkliche, vorsichtige Männer. Sind sie weniger männlich, weil solche Attribute eher
Frauen zugeschrieben werden? Sicher nicht,
aber Medien und die Gesellschaft träufeln
uns allen, ob männlich oder weiblich, von
­Kindheit an solche stereotypen Verhaltensmuster ein, ob wir wollen oder nicht. Das
merke ich an meinem Sohn, wenn er sich
mit mir misst: dein Bizeps, mein Bizeps.
Aber das ist ein Spiel. Was ich dich die ganze Zeit fragen wollte, Clemens, wie wählst
du deine Filme aus?
Clemens Schick: Da gibt es einerseits
meinen künstlerischen Anspruch, aber den
kann ich mir andererseits nicht immer
leisten. Also gehe ich als freischaffender
Künstler auch Kompromisse ein, denn ich
muss mein Leben finanzieren. Kennst du
das auch?
68
Im Dialog
Alexander Brenninkmeijer: Kompromisse? Natürlich. Geld ist wichtig, um so
leben zu können, wie man es sich wünscht.
Wenn ich viel Umsatz mache, ist das ein
Gradmesser für Erfolg. Daneben realisiere
ich wie du Projekte, die kommerziell uninteressant sind, mich aber mit besonderem
Stolz erfüllen. Die meisten Zugeständnisse
müssen wir wegen der langen Vorausplanung machen, die wir haben. Wir denken
heute bereits über Sommer 2016 nach.
Clemens Schick: Wie reist du, einfach
oder luxuriös?
Clemens Schick: Das Filmgeschäft ist
dagegen sehr kurzfristig in der Planung, im
Gegensatz zum Theater, das viel langfristiger funktioniert. Trotzdem habe ich damals
meinen Vertrag am Schauspiel Hannover
gekündigt, weil ich mich als zu eingeengt
empfand. Eigentlich will ich genau das, was
ich gerade habe. Dieses Gefühl von Freiheit.
Alexander Brenninkmeijer: … hmmm …
22 Grad Wassertemperatur im Ammersee
… am Steg sitzen … mit einem Drink …
Und für dich?
… mich selbst
als eine durch und
durch konsequente
Persönlichkeit zu
bezeichnen, finde ich
anmaSSend.
Alexander Brenninkmeijer: Der läuft
doch gerade im Kino? Ich sehe ihn mir an!
Einer meiner Lieblingsfilme ist „The Royal
Tenenbaums“ von Wes Anderson, weil er so
melodramatisch-komisch und edel-lässig
im Stil ist. Er hat unsere vor­letzte Kollektion inspiriert. Aber lass uns lieber über die
Zukunft sprechen. Was sind deine nächsten
Projekte?
Alexander Brenninkmeijer
Alexander Brenninkmeijer: Das vermisse ich manchmal. Im Vergleich mit dir
bewege ich mich in einem Korsett aus festen
Terminen und Verpflichtungen. Aber mein
Team ist gleich­zeitig meine Familie, das
entschädigt mich.
Clemens Schick: Ich bin auch am
liebsten in Gemeinschaft. Reist ihr auch
zusammen?
Alexander Brenninkmeijer: Klar. Ich bin
ein fahrender Händler mit Anhang, wie
meine Vorfahren.
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Alexander Brenninkmeijer: Beides.
Wobei das Zweite schwieriger ist, weil die
Enttäuschung größer sein kann. Wenn man
merkt, dass man unter Luxus etwas ganz
anderes versteht als der Anbieter.
Clemens Schick: Was bedeutet Luxus für
dich?
Clemens Schick: Gegensätzliche Welten
kennenlernen, vielfältige Erfahrungen
machen. Reisen findet bei mir eigentlich
nur beruflich statt. Was aber schön ist –
für „Praia do Futuro“ war ich zuletzt zwei
Monate in Brasilien.
Clemens Schick: Aktuell drehe ich „Point
Break“, ein Remake von Kathryn Bigelows
Actionthriller „Gefährliche Brandung“. Ich
spiele einen Extremsportler. Nächstes Jahr
folgt der österreichisch-deutsche ScienceFiction-Film „Stille Reserven“, in dem
Valentin Hinz Regie führt.
Alexander Brenninkmeijer: Wovon
handelt er?
Clemens Schick: Er erzählt von einer
nicht allzu fernen Realität, in der Menschen
nicht mehr sterben können, sondern als
Bio-Reservate benutzt werden und Versicherungen abschließen müssen, um sterben zu
dürfen. Ich bin ein Versicherungsvertreter.
Character
Alexander Brenninkmeijer: Hast du
einen Lieblingsfilm?
Clemens Schick: Immer mein nächster.
Alexander Brenninkmeijer: Wie gehst du
an eine Rolle heran?
Clemens Schick: Da kommen viele
Elemente zusammen. Meine Fantasie, die
Ideen des Regisseurs, des Kameramanns, der
Kostümbildnerin, der anderen Schauspieler.
Dezember 2014
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Eines führt zum anderen. Bei mir entstehen
die meisten Fantasien in den Dämmermomenten zwischen Einschlafen und Aufwachen. Auf vieles habe ich jedoch keinen Einfluss. Angenommen, ich bin hervorragend
vorbereitet, aber am Tag des Drehbeginns
geschieht etwas in meinem Leben, das alles
verändert … Genauso wenig Einfluss habe
ich auf die Postproduktion, die Musik, die
über meine Szenen gelegt wird, den Schnitt,
das Colourgrading. Trotzdem macht es mich
glücklich, mich in ein Projekt hineinzuar-
beiten, es intensiv mit den Kollegen zu teilen
und es nach drei Monaten abzuschließen.
Danach kommt etwas Neues. Eine neue Geschichte. Geschichten erzählen, das ist das,
was mir am meisten Spaß macht.
Alexander Brenninkmeijer: Auch wir
präsentieren unsere Kollektionen immer
wieder als eine Art Geschichte. Wenn unsere
Kunden sie verstehen, bin ich glücklich.
Moderation: Dr. Eva Karcher
Gegenwart
HERAUSGEBER
Fotos
Bethmann Bank AG
Bethmannstraße 7 – 9
60311 Frankfurt am Main
www.bethmannbank.de
S. 6 – 17 Character im Porträt
Marc Krause
S. 11
Mediterran, 100 kreative Rezepte
rund ums Mittelmeer,
ISBN 978-3-8310-2580-0,
Dorling Kindersley Verlag / Foto: Maike Jessen
S. 22 – 23 Zahlen, bitte!
Shutterstock
S. 24 – 25 12 Dinge, die man tun sollte
Marc Krause
S. 26 – 31 Für morgen
S. 27
Getty Images
S. 28
©2006, Festo AG & Co. KG,
73726 Esslingen
iStock
S. 30
Porträt Jay Harmann
S. 31
Arup Architects
iStock
S. 32 – 33Unterbewertet
iStock
S. 36 – 39 Unternehmen der Zukunft
S. 37
Hilmar Poganatz
S. 39
DriveNow
S. 39
Porträt Tilman Schenk
S. 40 – 43 Zwischen kommerziell
und karitativ
S. 40 – 41 fotolia
S. 42
i-Stock
Porträt Noah Foundation
S. 44 – 51 Unternehmen mit Tradition
Marc Krause
S. 52 – 53Perspektivenwechsel
Klaus Müller:
vzbv / Marco Urban
Dieter Schwer: BDI
S. 54 – 57 Hello / Goodbye
Nina Mann, Zürich
S. 58 – 59Einplanen
Nachweise auf der Seite
S. 60 – 69 Im Dialog
Joachim Baldauf
Feedback zum Heft:
[email protected]
redaktion
Frank Elsner Kommunikation
für Unternehmen GmbH
Kirchstraße 15a
49492 Westerkappeln
[email protected]
Presserechtlich
verantwortlich
Jens Heinen
Bethmann Bank AG
Bethmannstraße 7 – 9
60311 Frankfurt am Main
www.bethmannbank.de
Design
Biedermann und Brandstift
Creative Services GmbH
Dreieichstraße 59
60594 Frankfurt am Main
www.biedermannundbrandstift.com
Impressum
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Autoren
Dieser Ausgabe
Rechtliche Hinweise
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Petra Schäfer, Pascal ­Morché, ­
Geraldine Friedrich, Hilmar Poganatz,
Stefan Weber, Christoph Koch,
Thomas Magenheim-Hörmann,
Frank Paschen, Dr. Eva Karcher
druck
Hinckel-Druck GmbH
Obere Grüben 14
97877 Wertheim am Main
www.hinckel.de
papier
Der Umschlag des Magazins Character
wurde auf Papier namens Crush gedruckt,
bei dessen Herstellung Mais verwendet
wird. Crush ist FSC-zertifiziert und GMOfrei, enthält 30 % Altpapier und wird mit
100 % „grüner Energie“ produziert. Die
CO2-Emission wird somit um rund 20 %
reduziert.
Die Inhaltsseiten sind auf Munken Print
White (FSC-zertifiziert) gedruckt.
Character
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Dezember 2014
Gehe nicht,
wohin der Weg
führen mag, sondern
dorthin, wo kein Weg
ist, und hinterlasse
eine spur.
Jean Paul, 1763 – 1825,
deutscher Schriftsteller
bleiben wir
im dialog!
Telefon: 069 2177 1712
www.bethmannbank.de

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