XIV. Kunst und Identitätspolitik: Das Holocaust

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XIV. Kunst und Identitätspolitik: Das Holocaust
M. Nekula: Kulturvergleich Tschechien – Deutschland
XIV. Kunst und Identitätspolitik: Das Holocaust-Denkmal in Berlin
1. Einführung
In der VL 13 haben wir gezeigt, welche Aufgaben die Kunst und Architektur im
19. und 20. Jahrhundert übernahmen. Am prominenten Beispiel des
Nationaltheaters haben wir gesehen, dass die Erziehungs- und Repräsentationsaufgaben gegenüber dem nationalen Kollektiv im Vordergrund standen und dass
der ästhetische Auftrag der Kunst zugunsten des pädagogischen und politischen
Auftrags zurücktrat. Das Theater sollte zur Kanzel und Katheder des im
nationalen Sinne verstandenen Freiheits- und Autonomiegedanken werden.
Zeitpunkt und Ortswahl, Bau und Bauprozess, Raumgestaltung und Ausgestaltung sowie das Repertoire wurden zum Gegenstand des öffentlichen (und
auch des politischen) Diskurses und zum Mittel der symbolischen Politik: der
Demonstration des nationalen Fortbestehens (s. „Wiedergeburtsmythos“), der
Abgrenzung dem Wiener Zentrum, dem deutschen Raum und der deutschen
Kultur gegenüber (s. „königliche Loge“, „Raumvorstellungen“ bei der Grundsteinlegung und im Foyer u.a.m.). Die angestrebte kollektive Identitätsbildung
bestimmte die Artefakte samt ihrer Kodierungen, wobei diese zu einer solchen
nationalen Homogenisierung in der Tat auch beigetragen haben.
Auch wenn wir gesagt haben, dass das Nationaltheater nur ein Beispiel unter
vielen ist und auf die gesamte Kunst der Generation des Nationaltheaters
ausstrahlt, befindet sich die Kunst im Dienste der Identitätspolitik und wird zur
nationalen Kunst selbstverständlich am sichtbarsten da, wo es um die kollektive
(nationale) Repräsentation geht, d.h. in den Repräsentationsbauten, in denen das
Kollektiv sich und seine Werte an zentralen bzw. geschichtsträchtigen Orten
abbilden will (vgl. Nationaltheater, Museum, Pantheon, Rudolphinum u.a.). Für
die deutsche Kultur haben wir etwa die Alte Nationalgalerie in Berlin oder die
Walhalla bei Regensburg als Beispiel genommen. Dies trifft auch für Denkmäler
zu, wie z.B. Wenzelsdenkmal auf dem Wenzelsplatz, Jan-Hus-Denkmal auf dem
Altstädter Ring in Prag oder etwa Siegfried- oder Lutherdenkmäler auf den
deutschen Marktplätzen, in denen an zentralen öffentlichen Plätzen nationale
Ideale und Geschichtsvorstellungen abgebildet werden. Auch geschichtsträchtige Orte wie Vyšehrad oder Žižkov in Prag bzw. das Brandenburger Tor in
Berlin oder die Felder bei Leipzig mit dem Völkerschlachtdenkmal spielen dabei
eine wichtige Rolle, denn erst eine gemeinsame geschichtliche Erfahrung, die
sich etwa an solche Orte binden und an diesen Orten symbolisch erinnern lässt,
macht das nationale Kollektiv aus, schweißt es als Kollektiv durch Zirkulation
solcher Zeichen/Symbole (kultursemitisch gesagt „Texte“) ideell zusammen.
Auch daher sind die historischen Stoffe für die nationale Kunst bzw. für die
Kunst im Dienste der Identitätspolitik prototypisch. Typisch ist auch die
Platzierung solcher Artefakte an historisch oder anders prominenten Orten, wo
man einerseits die Geschichte symbolisch abrufen und so zur kollektiven
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Identitätsbildung nutzen, andererseits auch möglichst viele Zeichennutzer direkt
erreichen kann. Und während die Artefakte wie Denkmäler u.a. die
Aufmerksamkeit der (nationalen) Öffentlichkeit auf solche Orte lenken, ist der
geschichtsträchtige Ort selbst mit seiner Symbolik ein Teil der Kodierung der
Bauten und Artefakte; ähnlich wie auch der Zeitpunkt der Entscheidung dafür
oder der Zeitpunkt ihrer Einweihung ganz zentral für ihre Kodierung und
Wirkung ist (vgl. „Grundsteinlegung“ des Nationaltheaters 1868 als Protestmanifestation gegen den österreichisch-ungarischen Dualismus 1867, womit der
Bau und Bauprozess sich politisieren). Die zentrale Lage eines Baus oder eines
Artefaktes etwa in Form eines Denkmals ist wiederum Ausdruck ihrer Relevanz
für das (nationale) Kollektiv und weckt auch entsprechende Aufmerksamkeit,
wodurch der Artefakt auch indirekt – mittels Presse und anderen Medien – im
Mittelpunkt des öffentlichen Lebens und Diskurses stehen, darin als Text
„zirkuliert“ wird und durch den Bezug zum Ort, zu aktuellen politischen
Ereignissen (Zeit) sowie durch seine Botschaft (Bezeichnung, Ausgestaltung…)
zur kollektiven Identitätsbildung beitragen kann. Denn damit binden sich an
diese Artefakte Fragen und Diskurse, die für die kollektive Identität
entscheidend sind und die sie bestimmen: Soll der Regierungssitz und damit
auch Kanzleramt nach Berlin verlegt werden oder in Bonn bleiben und wenn ja
wo soll es in Berlin stehen? Ist der Repräsentationsbau wie das Kanzleramt
schlicht oder protzig? Technologisch und vom Design her modern und offen
oder traditionell und lokal? Soll der Bundestag in den Reichstag einziehen? Soll
der Palast der Republik aus der DDR-Zeit in Berlin abgerissen werden oder
bestehen bleiben? Soll das Kaiserschloss in Berlin wieder gebaut werden oder
lieber nicht entstehen? Soll die „Mauer“ – teilweise – erhalten bleiben oder soll
man stärker den Fall der Mauer und deren Überwindung und somit die
Wiedervereinigung und das Zusammenwachsen pointieren, wie es durch den
Erweiterungsbau des Bundestags symbolisch geschieht. Soll es ein zentrales
Holocaust-Denkmal geben, womit auch ein „deutsches“ Zentrum zementiert
wird, oder soll es lediglich lokale Holocaust-Denkmäler geben, die an die Orte
des Schreckens gebunden sind, die allerdings zum größten Teil außerhalb des
Gebiets der Bundesrepublik Deutschland liegen und sich somit für die
Deutschen dem unmittelbaren Zugriff entziehen? Und wenn es ein solches
Denkmal geben soll, wo soll es stehen? Usw.
2. Denkmäler im 19./20. und 20./21. Jahrhundert
Vielleicht machen einige der Fragen deutlich, dass Artefakte wie Repräsentationsbauten sowie auch Denkmäler durchaus auch in der modernen Zeit mit
den Fragen der kollektiven Identität verbunden werden und sind. Das
Verständnis der Denkmäler hat sich allerdings gegenüber dem 19. und 20.
Jahrhundert massiv verändert. Während früher die Denkmäler die ideologischen
(nationalen) und politischen Konzepte, die aus der spezifisch gedeuteten
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Geschichte (vgl. VL zu „Zeit“ bzw. zum Hussitismus und zur Reformation)
legitimiert wurden, in die Zukunft dauerhaft tradiert und das Kollektiv im Sinne
dieser Ideologie oder Herrschaftsordnung erzogen werden sollten, um so die
Herrschaftsordnung zu sichern, hat sich in Deutschland in den 1980er Jahren (im
Ostblock erst nach der Wende) ein modifiziertes Denkmalverständnis
durchgesetzt; auch die Kunst hat sich in der jeweiligen Kultur allmählich aus
dem Würgegriff der Ideologie (vgl. ideologische Prägung der Blu-Bo-Kunst, des
sozialistischen Realismus usw.) befreit. Gerade an den Denkmälern im
öffentlichen Auftrag und an zentralen öffentlichen und/oder geschichtsträchtigen
Orten, die mit der kollektiven geschichtlichen Erfahrung und damit auch mit der
kollektiven Identitätsbildung zu tun haben, zeigt sich der Mentalitätswandel:
Kollektive geschichtliche Erfahrung (Geschichtsdeutung) lässt sich nicht
vorschreiben, es muss ein Raum für eigene Erfahrung und Eigeninterpretation
bleiben. Dieser Wandel in der Auffassung der Denkmäler und der Gedenkstätten
(ihre traditionelle Auffassung treibt J. Topol in dem weißrussischen HolocaustDenkmal in seinem Roman Teufelswerkstatt ad absurdum) und damit auch der
kollektiven Identität, die nicht mehr auf Homogenisierung, sondern auf
Diversität und Vielfalt setzt (und selbst den transkulturellen Identitätsentwürfen
offen ist), macht sich auch in der Ausgestaltung der Denkmäler bemerkbar:
 monolithische Geschichtsdeutungen und kollektive Identitätsentwürfe sowie
scheinbare Nationalwerte der alten nationalen Denkmälern werden hinterfragt (Friedenslaserinschriften auf dem Völkerschlachtdenkmal, „Verpackung“ des Bundestags, der in das Gebäude des Reichstag eingezogen ist;
T-Shirt-Happening mit den Žižka-Denkmal, Pendel anstelle des Stalin-Denkmal, Černýs Installationen wie Rosapanzer, die variierte Wenzel-Statue auf
dem Wenzelsplatz oder der Feuerwehrmann auf dem Nationaltheater usw.)
 Aufgabe von Marmor, Granit und Bronze (dauerhafte, „ewige“ Materialien)
zugunsten temporärer Installationen (vgl. Mauer als Dominosteine bei der
Feier zum 20. Jahrestag des Mauerfalls oder das „Schlüsseldenkmal“ für die
Samtene Revolution von Jiří David auf dem Kafka-Platz in Prag usw.)
 Aufgabe von „Sockeldenkmälern“ (Kanzel und Katheder) zugunsten von
Denkmälern in lebensnaher Größe („anfassbare Denkmäler“) bzw. zugunsten
der „Stolpersteine“, bei denen die Rolle des passiven unbeteiligten Zuschauers in die eines beteiligten (und verantwortlichen) Akteurs verwandelt
wird (Jan Palach-Denkmal auf dem Wenzelsplatz, Hände-Denkmal für die
samtene Revolution auf der Národní Straße; „Stolpersteine“ für die jüdischen
Mitbürger in der Regensburger Pflasterung usw.)
 Auflösung des Abstandes zwischen der öffentlichen Hand bzw. dem
Auftraggeber des Denkmals, der „belehrt“ vs. Öffentlichkeit, die „belehrt
wird“, so etwa bei dem Holocaust-Mahnmal in Hamburg (1986-93, E. + J.
Gertst): Die durch die Öffentlichkeit beschriebenen Inschriftentafeln
versinken, sobald diese beschriftet sind (Beteiligung an der Sinngebung; „die
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Erinnerung kann nicht an das Denkmal delegiert werden“, sondern die
Erinnerung wird immer wieder erneuert)
 Zur bloßen Beobachtung (Zuschauer) tritt auch die körperliche Erfahrung
(Akteur): 1989 Euthanasie-Mahnmal in Berlin (R. Serra): Beklemmung zw.
den 3 m hohen Stahlwenden, ähnlich auch das Hände-Denkmal im der engen
Laube auf der
Národní Straße, in der die Studierenden bei der
Demonstration am 17.11.1989 maltretiert wurden
 Auflösung der Differenz zwischen Denkmal (mehr Info…) vs. Gedenkstätte
(mehr Kunst…, Subjektivierung)
In den 1990er und 2000er Jahren haben wir – gerade nach der Wende – gar mit
einer regelrechten neuen Welle der Denkmalkunst mit modifiziertem
Denkmalverständnis („Denk mal“) zu tun. Diese Denkmäler nehmen einerseits
Abstand von den monolithischen und homogenisierenden nationalen und
anderen (sozialistische…) Narrativen, hinterfragen diese, differenzieren und
subjektivieren sie. Andererseits nimmt aber auch die moderne konzeptuelle
Kunst durch solche Denkmäler Bezug auf nationale Gedenkorte, greift durch
ihren modifizierten Blick auf die Geschichte und Kollektiv bzw. durch ihre
„Konzeptualisierung“ (~ Vorstellung) von Geschichte und Kollektiv
(Differenzierung, Vielfalt, Subjektivierung) in den öffentlichen Diskurs und
damit auch in die kollektive Identitätsbildung ein; Denkmäler bzw. ihre
Entwürfe werden im öffentlichen Raum der Stadt bzw. im öffentlichen Raum
der Medien besprochen und als „Texte“ zirkuliert, wobei an ihnen die Grenzen
der eigenen kollektiven Identität formuliert werden. Die konzeptuelle Kunst
kann im Falle der Übernahme von öffentlichen Aufträgen zum politisch
relevanten Zeitpunkt und in Bezug auf einen zentralen oder geschichtsträchtigen
Ort, über dessen Zuweisung die öffentliche Hand entscheidet, was bei den
Denkmälern wie dem Holocaust-Denkmal in Berlin der Fall ist („Wende“ und
„Wiedervereinigung“; Gelände des Regierungsviertels des Dritten Reiches im
Zentrum der Stadt), gar zum Mittel der symbolischen Politik werden. Zeitpunkt
und Ortswahl sowie Bau und Raum- und Ausgestaltung werden zum
Gegenstand des öffentlichen (auch des politischen) Diskurses und teilweise auch
zum Mittel der symbolischen Politik…
Dies geschieht umso leichter, indem die konzeptuelle Kunst die Position vertritt,
dass die (subjektive) „politische“ Positionierung in der Öffentlichkeit in Sachen
Nation-Individuum, Gender, Kunst-Gegenstand usw., die die Aufmerksamkeit
der Öffentlichkeit erzeugt und die Öffentlichkeit zur Verhandlung und
Verwandlung dieser Konzepte drängt, der legitime Teil des ästhetischen
Auftrags ist, wenn nicht den ästhetischen Auftrag an sich darstellt. Um dem
Vorwurf der Lenkung durch die öffentliche Hand zu entgehen, übernehmen
dabei einige Künstlergruppen wie Ztohoven u.a. bewusst keine öffentlichen
Aufträge, sondern greifen zu Installationen, die teilweise als Beschädigung von
öffentlichen Gebäuden oder Kunstdenkmälern von der öffentlichen Hand
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polizeilich geahndet werden (so etwa die Installation am Hände-Denkmal für die
Studierenden des 17.11.1989 in der Národní Straße, vgl. Folien). Auch diese
Gruppierungen nehmen aber durch solche Installationen Bezug auf nationale
Denkmäler und tragen zur differenzierten Identitätsbildung bei. Selbst hier ist
spielt die Kunst eine wichtige Rolle bei der Identitätsbildung, wenn auch diese
nicht politisch bzw. vom Staat gelenkt wird.
3. Gedenken an Holocaust („Mahnmal“)
Das Gedenken an den Holocaust ist um die Jahrtausendwende an einem
wichtigen Scheideweg angelangt. Die mahnenden Holocaust-Denkmäler gab es
zwar schon vorher, bis Ende des Jahrtausends wurden sie aber massiv auch
durch die orale Erinnerung begleitet. Seitdem aber schwindet das kommunikative Gedächtnis der überlebenden Akteure massiv und an seine Stelle tritt das
kulturelle Gedächtnis in Form von neuen oder bereits bestehenden Denkmälern
und Gedenkstätten. Die „Zäsur der deutschen Kultur“ ist dabei immer weniger
ein Teil des Erlebten, sie wird immer mehr nur noch erzählt und symbolisch
weitergereicht, wie dies etwa auch Präsident Wulff mit seiner Tochter etwa bei
dem Staatsbesuch in Israel oder bei dem Besuch in Auschwitz vorlebt (vgl. die
Tradierung der geschichtlichen Ereignisse in der VL zur „Zeit“). Aus der
Vergangenheitsbewältigung wird die Vergangenheitsbewahrung, mit der sich in
Bezug auf den Holocaust auf unterschiedliche Art und Weise etwa auch J. Topol
und M. Platzová, die wir hören konnten und die nicht mehr der Erlebnisgeneration angehören, auseinandersetzen.
Angesichts des Bewusstseinswandels in Bezug auf den Holocaust wird der
Konzeption der neuen Holocaust-Denkmäler eine besondere Aufmerksamkeit
gewidmet. Denn für den Holocaust gilt in Deutschland das „VergessensVerbot“, das mit der grundsätzlichen Hinterfragung der nationalen Kultur
einhergeht: Die Erinnerung an den Holocaust ist im deutschen Kontext zentral,
kontinuierlich, hat mahnende Ausrichtung (Gedenken der Opfer der „eigenen“
nationalsozialistischen Verbrechen) und ist etwa in einer ganzen Reihe von
Denkmälern, Gedenktagen, Erinnerungsveranstaltungen, politischen Reden und
symbolischen Besuchen von KZ-Lagern omnipräsent.1 Das Holocaust-Denkmal
1
In der tschechischen Kultur ist die Erinnerung an den Holocaust peripher (vgl. die Aussagen
bei der Lesung von M. Platzová), lokal (weitgehend als Thema, die die betroffene Gruppe
selbst, nicht die tschechische Nation betrifft), diskontinuierlich (nach dem Kriege durch die
Erinnerung an die nationalen Opfer verdrängt, während des „Antizionismus“ in der Zeit der
Schauprozesse in den frühen 50. Jahren als Tabu, 1968-1989 öffentlich verdrängt),limitiert
(bis 1989 nur einige wenige, teilweise sogar geschlossene Denkmäler wie die Theresienstadt
oder Pinkas-Synagoge).
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soll daher die Geschichte und ihre Deutung auch in die Zukunft dauerhaft und
unverfälscht tradieren. So wird es zum Mittel der symbolischen Politik, die auch
im eigenen Interesse national wie international deutlich machen will, dass man
sich der historischen Verantwortung durchaus nach wie vor – auch für die
Zukunft – bewusst ist. Dabei stellte sich bereits bei der Erlebnisgeneration der
Zeitgenossen immer wieder die Frage, inwieweit authentisch konnte die Trauer
und wie nachhaltig konnte die Erinnerung sein, wenn es sich aus der Sicht der
Zeitgenossen um ein „fremdes Kollektiv“ handelte, der Tatort im weiten Osten
waren, so dass die Gräuel auf dem eigenen Gebiet nicht „anfassbar“ waren, ihr
Ausmaß und ihre Grausamkeit die Grenzen der Vorstellungswelt sprengten, das
Fehlen von Begräbnisstätten der verbrannten Toten die Vorstellung von den
Opfern verwischte und das Gedenken erschwerte.
Das großzügige und zentral platzierte Holocaust-Denkmal soll diesen Zweifeln
entgegentreten, einen solchen zentralen Bezugspunkt auf dem deutschen Boden
schaffen, durch die digitale Visualisierung der „Orte des Schreckens“
(Vernichtungslager…) und der Opfer im „Raum der Namen“ das Unvorstellbare
zumindest in seinem quantitativen Ausmaß abbilden. Die Planungen für das
zentrale Holocaust-Denkmal in Berlin spielen sich zudem vor dem Hintergrund
der „Wiedervereinigung“ der Deutschen bzw. Deutschlands ab, die einige
Zeithistoriker mit der Rückkehr des Nationalen verbinden: Nicht nur, dass die
„Wiedervereinigung“ nur unter der Vorausetzung des Nationalen („Wir sind ein
Volk!“ wird an die Transparente in der Prager Botschaft geschrieben, in Leipzig
skandiert und in Berlin beim Fall der Mauer ) einen Sinn ergibt und als etwas
Erstrebenswertes erscheint, auch die die Rückkehr zur altneuen Hauptstadt
(„Berliner“ statt „Bonner Republik“) und die Armeeeinsätze im Ausland u.a.
werten die nationale Frage neu. Die zeitgenössisch zentralen Themen werden
dabei immer wieder mit dem Holocaust-Diskurs verschränkt:
 Musealisierungsthese (Ch. S. Meier): Bonn als „Puffer“ zwischen dem
Dritten Reich und der „Berliner Republik“
 Nivelisierungsthese (K. Naumann): Holocaust in den
staatsnationale Frage in den Vordergrund
Hintergrund,
 Relativitätsthese: Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus wird
durch die Auseinandersetzung mit der SED verdrängt
…
4. Holocaust-Denkmal in Berlin
Gerade in den Debatten um das Holocaust-Denkmal sowie auch in der
Entstehungsgeschichte des Holocaust-Denkmals in Berlin spiegelt sich sehr gut
die Bedeutung des Holocausts in der deutschen Kultur wider. Und sie kann auch
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als Beispiel gelten, dass auch heute die Architektur und Kunst unter bestimmten
Umständen im Dienste der Identitätspolitik stehen. Dem ist sicher auch
deswegen so, weil der Holocaust quasi einen zentralen Bezugspunkt und eine
Art „Tabugrenze“ darstellt, der entlang die deutsche Kultur einschließlich ihrer
grausamen Zäsur („Unkultur“) gedacht wird.
Die Idee zum Holocaust-Denkmal in Berlin ist noch vor der Wende in den
Jahren 1987/1988 entstanden, bereits damals wurde es an das Gelände des
ehemaligen Regierungsviertels gedacht. Und auch wenn die damalige
Bürgerinitiative für das „Denkmal für die von den Deutschen ermordeten Juden
Europas im Land der Täter“ (bekannter unter dem weniger selbstgeißelnden
Namen „Denkmal für die ermordeten Juden Europas“, in dem die Opfer, nicht
aber die Täter explizit benannt werden) mit der offiziellen Unterstützung
rechnen konnte, zum zentralen öffentlichen Thema ist das Holocaust-Denkmal
in Berlin erst mit der Wende geworden, denn die Wende leitete die
„Wiedervereinigung“ Deutschlands und der Deutschen ein, die infolge des
Zweiten Weltkriegs geteilt wurden, führte zur Übertragung der Hauptstadt von
Bonn nach Berlin sowie zur Veränderung der außenpolitischen Grundsätze der
„Bonner Republik“, für die die ausländischen Kriegseinsätze waren, zugunsten
deren der „Berliner Republik“. Mit anderen Worten: Mit der Rückkehr des
Nationalen, die die „Wiedervereinigung“ (der Deutschen und Deutschlands)
markiert, muss das Nationale neu definiert und neu entdeckt werden. Dabei führt
kein Weg an dem Holocaust-Diskurs vorbei, der so eng mit dem Nationalen
verbunden ist. So wird der gesellschaftliche Konsens in Bezug auf den
Holocaust im Zusammenhang mit den Debatten um die Verortung und
Ausführung rejustiert und das nationale Selbstverständnis in der Nachwendezeit
in Bezug darauf verhandelt und verwandelt.
In den zehn Jahre lang andauernden Diskussionen um das Holocaust-Denkmal
in Berlin (1989-1999) verschränkte sich also der Denkmal-Diskurs mit den
Diskursen um das Selbstverständnis der „Berliner Republik“. Als diese
Diskussionen um das Denkmal 1999 beendet und die Frage der Verortung und
der Ausgestaltung des Denkmals entschieden wurden, wurde das HolocaustDenkmal in Berlin zum Mittel der symbolischen Politik und zwar weit über das
zentrale Thema des Holocausts hinaus. Die Verortung im Zentrum der Stadt, am
Ort des ehemaligen Regierungsviertels des Dritten Reiches und an der
„Nahtstelle der Wiedervereinigung“, d.h. an der einstigen Grenze von Ost- und
Westberlin und Ost- und Westdeutschland, symbolisiert die Unhinterfragbarkeit
der historischen Verantwortung für den Holocaust (vgl. auch die Bezeichnung
des Denkmals) und die Demut vor den Opfern (die wirtschaftlichen und
repräsentativen Interessen der Stadt und des Staats müssen der Erinnerung an
den Holocaust und die Opfer des Nationalsozialismus weichen, der von dieser
Stelle auch den Holocaust lenkte), das Denkmal wird symbolisch in die sich
schließende „Wunde“ der Teilung gelegt, damit sich diese durch die
Wiedervereinigung nicht spurlos schließt, sondern die Erinnerung an den
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Holocaust auch für die „Berliner Republik“ ein Teil ihres Selbstverständnisses
bleibt.
Die Zeit und der Ort und die Bezeichnungen, in dem die öffentliche
Konzeptualisierung des Denkmals und des Holocausts expliziert wird, sind also
offensichtlich ein Teil der Kodierungen, die sich mit dem modernen Artefakt des
Holocaust-Denkmals verbinden. Diese Bedeutungen werden in Bezug auf das
Denkmal und seine Verortung bei der Planung, Ausschreibung, Umsetzung, Bau
und Eröffnung des Denkmals expliziert, wobei der Zeitpunkt dieses Prozesses
(„Wiedervereinigung“) dabei eine wichtige Rolle spielt. Auch das Denkmal
selbst in seiner Ausgestaltung kodiert die Juden als Opfer. Die Betonstellen
erzeugen die körperliche Erfahrung der Ausweg- und Aussichtslosigkeit,
Isolation und Angst, stellen durch den ikonographischen Bezug auf den Prager
Altstädter Friedhof (so der Autor Peter Eismann) inmitten von Berlin eine
symbolische Grabstätte, einen symbolischen Friedhof für die ermordeten Juden
Europas, die im „Raum der Namen“ in der unterirdischen Gedenkstätte in
digitalen quasi Grabinschriften individuell verewigt und kollektiv erinnert
werden.
Die Bedeutung des Holocaust-Denkmals in Berlin und die Rolle des Holocausts
für die deutsche kollektive Identität und die symbolische Identitätspolitik der
Bonner wie der Berliner Republik treten besonders deutlich hervor, sobald man
über den Rand der deutschen Kultur hinausblickt . Etwa in der tschechischen
Kultur ist der Holocaust in einem solchen Vergleich ein peripheres, lokales,
zudem auch diskontinuierliches und limitiertes Thema. Auch gibt es kein
vergleichbar zentrales tschechisches Holocaust-Denkmal für die ermordeten
tschechischen Juden. Das Denkmal (bzw. die Gedenkstätte) wurde in Form von
„Grabsteininschriften“ für die 77.297 jüdischen Opfer in der an den Alten
jüdischen Friedhof anliegenden mittelalterlichen und zu diesem Zeitpunkt
bereits profanierten Pinkas-Synagoge als ein Teil des Jüdischen Museums 195459 von Jiří John und Václav Boštík umgesetzt (1968-1990 geschlossen, 19921996 erneuert). Das Denkmal wurde so mit einem Ort verbunden, der mit den
Juden selbst zusammenhängt (Judenviertel, Synagoge – ähnlich wie die
Gedenkstätte KZ Theresienstadt) und somit ausgeklammert bzw. an den Rand
gestellt. Ein prominenter und öffentlicher zugänglicher Platz für die HolocaustOpfer wurde jedenfalls nicht gefunden, was als ein Indiz der Bedeutung dieses
Diskurses für die kollektive Identität und die symbolische Identitätspolitik
markiert werden darf. Auch die Frage der eigenen Mit-/Verantwortung spielt
dabei in der Gedenkstätte sowie im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle. Diese
wird allein beim deutschen Nationalsozialismus abgeladen. Die Diskonuität in
der tschechischen Erinnerung an den Holocaust (vgl. Pinkas-Synagoge und
Gedenkstätte Theresienstadt), seine Verdrängung zugunsten der Erinnerung der
„eigenen“ nationalen Opfer („Denkmal des nationales Leidens“ in der kleinen
Festung in Theresienstadt 1945-48, Erinnerung der Juden in großen Festung
fehlte zu diesem Zeitpunkt), seine periphere Stellung im öffentlichen
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Bewusstsein zumindest bis 1989 u.a.m. könnte aber auch nachdenklich stimmen,
ähnlich wie der Abstand von der grundlegenden Ausarbeitung des
Antisemitismus in der tschechischen Kultur des 19. und 20. Jahrhunderts.
Mögliche Frage (auch für VL 13):
Welche Aufgaben hat die Kunst und Architektur im 19. Jahrhundert
übernommen und inwieweit ist die Bezeichnung nationale Kunst berechtigt?
Kann auch die moderne (konzeptuelle) Kunst und Architektur für die
Identitätspolitik genutzt werden? Führen Sie dies an einem deutschen
und/oder tschechischen Beispiel aus.
Literatur:
Kirsch, Jan-Holger (2003): Nationaler Mythos oder historische Trauer? Der
Streit um ein zentrales „Holocaust-Mahnmal“ für die Berliner Republik. Köln:
Böhlau-Verlag. (= Beiträge zur Geschichtskultur 25)
Stavginski, Hans-Georg (2002): Das Holocaust-Denkmal. Der Streit um das
„Denkmal für die ermordeten Juden Europas“ in Berlin (1988–1999).
Paderborn: Schöningh Verlag.
Till, Karen E. (2005): The New Berlin. Memory, Politics, Place.
Minneapolis/London: University of Minnesota Press.
Thünemann, Holger (2005): Holocaust-Rezeption und Geschichtskultur.
Zentrale Holocaust-Denkmäler in der Kontroverse. Ein deutsch-österreichischer
Vergleich. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag.
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