nat in New York verpfuscht und mich geweigert hatte

Transcrição

nat in New York verpfuscht und mich geweigert hatte
Wenn etwas sehr zart ist,
dann gibt das Kraft
——
Jens-Christian Rabe
Es ist der Sänger, nicht der Song. Wenn es für diese alte Weisheit aus dem Popmusik-Geschäft
auch noch für das Geschäft mit der Literatur eines Beweises bedurft hätte, dann wäre er jetzt
erbracht. JT LeRoy, das 25-jährige Wunderkind der amerikanischen Literatur der Jahrtausendwende, dessen Bücher in zwanzig Sprachen übersetzt wurden; der HIV-positive, ehemalige
Strichjunge, der Liebling, Vertrauter sogar von Hollywood-Legenden wie Diane Keaton und
Stars wie Madonna – diesen JT Leroy gibt es nicht. Er war die Erfindung der aus New York
stammenden Autorin Laura Albert, der es unter ihrem eigenen Namen nicht gelang, im US-Literaturbetrieb erfolgreich Fuss zu fassen. Nach James Frey ist dies jetzt innerhalb kürzester Zeit
der zweite Fall eines US-Erfolgsautors, dessen vermeintlich autobiografische Schilderungen sich
als alles andere als authentisch erweisen. Der Fall LeRoy ist bloss noch einmal ein gutes Stück
drastischer. Drei, vielleicht vier Menschen spielen tragende Rollen in einer mitunter traurigen,
vor allem aber lustigen und entlarvenden Geschichte. Einem grossen amerikanischen Literatur-Schwindel. Nebenrollen gibt es etliche mehr, darunter nicht wenige prominent besetzte.
Mittelpunkt ist San Francisco, die Hauptstadt des anderen, linken Amerika, an der US-Westküste gelegen, aber mit ausreichend Sicherheitsabstand zum etwas südlicheren EntertainmentMoloch Los Angeles.
In San Francisco also versucht die heute 40 Jahre alte Schriftstellerin Laura Albert
– nach eigenen Angaben aktiv auch als Sängerin und Telefonsex-Expertin – 1996 Kontakt aufzunehmen zu dem von ihr bewunderten, schwulen Autor Dennis Cooper. Weil sie jedoch überzeugt ist, Coopers Interesse nicht als 30-jährige Frau wecken zu können, beschliesst sie, sich am
Telefon als vom Leben schwer gezeichneter Strassenjunge im Teenager-Alter auszugeben. Spitzname: Terminator. Cooper bemerkt nichts, telefoniert regelmässig mit «Terminator» alias Laura Albert und empfiehlt den jungen Autor – dem Albert den vollen Namen JT, Jeremy Terminator, LeRoy gibt – bald einigen New Yorker Verlegern. Bekannte Autoren wie Dave Eggers geben
Ratschläge. Immer telefonisch.
LeRoys Debütroman erscheint schliesslich unter dem Titel «Sarah» im Jahr 2000.
Die Kritiker bejubeln ausnahmslos die distanzierte, kraftvolle Sprache und erschütternd rohe
Authentizität des Buchs. Das Interesse an dem vom Leben so sehr gebeutelten und trotzdem –
oder gerade deshalb – so begnadeten Erzähler wächst. Längst hat sich herumgesprochen, dass
grosse Teile des Romans, der von einem schönen zwölfjährigen Sohn einer Prostituierten handelt, den ein pädophiler Zuhälter in seinem Truckstop-Bordell als besondere Attraktion in einem goldenen Käfig präsentiert, autobiografisch sein sollen.«Good Will Hunting»-Regisseur
Gus van Sant kündigt an, «Sarah» zu verfilmen.
Als es soweit ist, dass sogar deutsche Fernsehsender um Interviews bitten, entscheiden Laura Albert gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Geoffrey Knoop, einem Rock-Musiker, als JT LeRoy in der Öffentlichkeit dessen Halbschwester Savannah Knoop auftreten zu
lassen. Zur Tarnung trägt die feingliedrige, hübsche, junge Frau eine blonde, fast weisse Perücke und eine grosse schwarze Sonnenbrille. Albert und Knoop geben sich als fürsorgliche
Ersatzeltern aus, die den einsamen, missbrauchten, drogensüchtigen Strichjungen LeRoy in
San Francisco von der Strasse geholt hätten. Die feminine Erscheinung LeRoys erklären sie
mit dessen Geschlechtsumwandlung.
2
Der Rest ist die Legende, die von Laura Albert und Geoffrey Knoop immer weiter ausgeschmückt wird. Irgendwann ist die Sozialarbeiterin Emily Frasier die Erste, die LeRoy in San
Francisco aufgenommen hat. Zum Schreiben aufgefordert hat den Jungstar bald der Psychologe Terrence Owens. Zur Beruhigung nach aufwühlenden Therapiestunden. Der schräge, androgyne Look wird zum Markenzeichen JT LeRoys. Die New York Times, US-Lifestyle-Magazine
wie Vanity Fair und Interview und Pop-Avantgarde-Zeitschriften wie die britische Face, aber
auch Magazine im deutschsprachigen Raum, drucken gierig LeRoys schmutzige Texte oder
stilisieren den scheuen Anti-Helden wenigstens zum Popstar mit Abgründen, in die noch nie
zuvor einer ihrer Leser geblickt hat – und es sich auch niemals trauen würde.
Auf der Liste der Stars, die gerührt von Telefonaten mit LeRoy erzählen und sich
gerne mit ihm fotografieren lassen, stehen Debbie Harry, Courtney Love, Tatum O’Neal, Liv
Tyler und Pink. Asia Argento – über die sogar erzählt wird, sie sei von JT LeRoy schwanger –
sagt, es sei seine Zerbrechlichkeit, die LeRoy so anziehend mache: «Wenn etwas sehr zart ist,
dann gibt das Kraft.» Die kurioseste Geschichte überliefert Winona Ryder. Sie habe JT LeRoy
eines Abends vor der Oper getroffen. Und weil sie sich gerade von Johnny Depp getrennt hatte,
habe sie eine Karte übrig gehabt. Gemeinsam hätten sie sich dann durch La Bohème geheult.
«Da habe ich mich in ihn verliebt, aber nicht auf diese romantische Art.» Sie könne mit ihm im
Bett liegen, kuscheln und sich dabei ganz sicher fühlen. «Er ist so wahr, er ist so ein Poet.»
2001 erscheint der Erzählungsband «The heart is deceitful above all things» (dt.
«Jeremiah»), 2005 das Buch «Harold’s End». Thema: die traurige Kindheit des Autors. Die
Honorare für LeRoys Zeitungs- und Magazinartikel gehen allesamt an Laura Alberts Schwester JoAnn, die Buchverträge wickelt eine Firma in Nevada ab, als deren Präsidentin Laura Alberts Mutter auftritt. Verdächtig wird die Sache im Oktober 2005, als der Journalist Stephen
Beachy in einer minutiös recherchierten Geschichte im New York Magazine nahelegt, dass JT
LeRoy von einer anderen Person gespielt werde. Vollends dubios gerät der Fall Mitte Januar
dieses Jahres, nachdem zufällig Fotos Savannah Knoops im Internet auftauchen. Übereinstimmend bestätigen LeRoys Agent, sein Manager und sein Filmproduzent auf den Bildern nicht
nur eine hübsche Frau Mitte zwanzig zu erkennen – sondern ihren jungen Starautor. Gelüftet
scheint das Geheimnis jetzt zu sein, weil in der New York Times kurz darauf Laura Alberts Lebensgefährte Geoffrey Knoop das eiserne Schweigen der Eingeweihten bricht. Ja, er habe gesehen, wie Albert die Bücher und Artikel JT LeRoys in ihrer gemeinsamen Wohnung geschrieben
habe. Und ja, er habe das Tagesgeschäft abgewickelt, Interviews vermittelt, Entscheidungen
getroffen. Seit dem Bericht im New York Magazine sei ihm der Betrug aber zu heikel geworden,
auch wegen des kleinen gemeinsamen Sohnes. Der Streit darüber endete im Dezember des selben Jahres mit der Trennung des Paares, das seit 16 Jahren zusammenlebte. JT LeRoys Agent
Ira Silverberg sagte in einer ersten Stellungnahme zerknirscht, man sei «grosszügig gewesen,
weil man dachte, man hilft einem aidsinfizierten Ex-Junkie und ehemaligen Stricher, der die
Härten seines Lebens zu Kunst verarbeitet». Laura Albert blieb bisher unauffindbar.
«Fast alles im Leben ist einfacher, wenn du ein hübsches Mädchen bist», sagt der
zwölfjährige Erzähler in LeRoys Debüt «Sarah», um sich fortan ebenso zu nennen. Laura Albert hat nichts weiter getan, als dieses Prinzip für den Literaturbetrieb konsequent zu Ende zu
denken. Dass sie es damit geschafft hat, uns hinters Licht zu führen, kann in einer Welt, in der
dieses Licht zu einem Gutteil von den Scheinwerfern Hollywoods erzeugt wird, ganz und gar
nur Gutes bedeuten. Der US-Kinostart von «The heart is deceitful above all things»ist für den
kommenden März angekündigt.
Dieser Text erschien am 9. Februar 2006 in der Süddeutschen Zeitung.
Die Verfilmung von «The heart is deceitful above all things» (Deutscher Titel «Das Herz ist eine hinterlistige Person»)
erschien im deutschsprachigen Raum im Winter 2007 auf DVD.
6
6
6
6
7
Des Wahnsinns beste Freunde
——
Adrian Schräder
Mit verschränkten Armen und leicht schiefem Kopf steht er auf der Bühne. Eine Haltung, die
dem Gegenüber - in diesem Fall das Publikum in der Miles Davis Hall in Montreux - besagt:
«Was auch immer kommen mag, ich bin bereit.» Der Mann, der sich hier so breitbeinig installiert hat, ist der amerikanische Rapper Doom. Gerade ist er von seinem New Yorker Berufskollegen Masta Ace auf die Bühne zurückgerufen worden, um sich einen weiteren Applaus abzuholen. Aber wem applaudiert die Menge da eigentlich? Daniel Dumile, geboren in London,
aufgewachsen in New York, wohnhaft in Atlanta, verbirgt sein Gesicht hinter einer glänzenden,
metallenen Maske. Und das seit bald 14 Jahren. Bilder ohne die Maske existieren nicht. Der
künstlerische Output des heute 40-jährigen Dumile teilt sich zwischen einem halben Dutzend
Übernamen auf, die zumeist Superhelden-Comics entlehnt sind. «MF Doom», kurz für «Metal
Face Doom», nannte er sich bis vor einer Weile noch hauptsächlich. Daneben sind aber auch
Platten unter King Geedorah, Victor Vaughn, Metal Fingers, Madvillain und Dangerdoom entstanden - die letzteren beiden in Zusammenarbeit mit den Produzenten Madlib, respektive
Dangermouse. Dumile ist nur einer von Dutzenden von Rappern, die ihre Künstlerpersönlichkeit aufsplitten und sich Alter Egos erschaffen haben. Aber bei ihm geschieht die Abspaltung
von der realen Person am Konsequentesten. Die Privatperson hat sich hinter einem Wald von
reimenden Superhelden verschanzt.
Der klassische Fall sieht anders aus, und heisst Slim Shady: Ein Künstler, in diesem
Fall Eminem, benutzt für die Auslebung seiner wilden, ungesitteten, unkonformen Seite einen
anderen Namen. Hat er diesen angekommen, geht ihm das verbale Rumfurzen, Stänkern und
Beleidigen von Stars wie Britney Spears oder Christina Aguilera leichter von der Hand. Sein
normales Künstler-Ich - dies die Selbstüberlistung - bleibt unbeschmutzt. Auch der Schweizer
Rapper Stress hat sich mit Billy Bear ein solches Alter Ego geschaffen. Ja, sogar Popgrösse
Beyoncé gab auf dem Doppelalbum «I am... Sasha Fierce» ihrer draufgängerischen Bühnenpersönlichkeit einen Namen und füllte eine ganze CD mit Uptempo-Songs. Das Ungesittete liess
sie allerdings weg.
Ganz generell scheint ein Alter Ego vielen Künstlern zu helfen, gewisse Seiten ihrer
Persönlichkeit isoliert ausleben zu können. Eine neue Künstleridentität steckt einen neuen,
meist engeren Rahmen ab. Wenn sich RZA vom vielköpfigen Wu-Tang Clan auf gewissen seiner Soloalben plötzlich Bobby Digital nennt, dann mimt er meist den Bacchus und frönt den
Genussmitteln und der Verführung des weiblichen Geschlechts. Hochenergetisches wie von
seiner bienenschwarmartig über die Beats herfallenden Kerngruppe ist dann nicht zu hören. In
der HipHop-Kultur, und damit meinen wir hier im Speziellen die Disziplin des Rap, kann die
Zulegung eines Alter Egos allerdings noch viel mehr verschiedene Gründe haben. Ein musikalischer Tausendsassa wie der kalifornische Produzent Madlib sucht sich pro Musikgenre mindestens einen neuen Übernamen. Im Falle des Yesterday‘s New Quintet sogar eine ganze Band
mit fiktiven Musikernamen ins Leben rief. Das heisst dann auf den ersten Blick so viel wie: Der
Mann im Hintergrund ist unwichtig - auf den zweiten dann aber vielleicht doch: Beschäftigt
euch eingehend mit der Materie und knüpft die Verbindungen selber. Wie der eingangs erwähnte Doom, der in Sachen Musikgeschäft ein gebranntes Kind ist und deshalb die Distanz suchte,
spielt bei Madlib aber auch der Faktor der Verschleierung eine Rolle.
Manchmal sind auch vertragliche Gründe für die Namens- und Persönlichkeitswechsel verantwortlich. Ist ein umtriebiger Künstler unter einem gewissen Namen an ein Label gebunden,
lässt sich die Zeit bis zum nächsten Albumvorschuss auch noch mit einem Nebenprojekt auf
einem anderen Label überbrücken. So sind wahrscheinlich einige der vielen Alter Egos des
hochtalentierten texanischen Beatproduzenten und Rappers Omar Jarel Gilyard zu erklären,
der unter Jneiro Jarel, Dr. WhoDat, Shape of Broad Minds oder - gemeinsam mit Khujo von
Goodie Mob - unter Willie Isz veröffentlicht. Musikalisch bewegen sich seine Projekte alle im
Rahmen der Future-Beat-Bewegung, die mit den swingenden, hinkenden Beats des enorm einflussreichen Detroiter Produzenten J Dilla ihren Anfang nahm, sind aber mal mehr, mal weniger wortreich und abstrakt umgesetzt. Sie aufzuspüren und zu verfolgen macht Spass, auch
wenn die Haken, die er durch das Musikgeschäft schlägt, finanziell wohl wenig erträglich sind
und jeden Manager – gäbe es denn einen – zur Verzweiflung treiben würden.
Nicht zu vergessen sind bei alledem die Humor- und Wahnsinns-Komponenten, und damit der
obskure Teil der kreativen Freiheit. Wie sich die Untergrund-Rapikone Kool Keith erst als Dr.
Octagon und Sinister 6000 durch düstere, von Rauchschwaden durchzogene, wabernde Klanglandschaften schneidet, um dann später als Black Elvis, Robbie Analog oder rappender Pornokönig wieder aufzutauchen, ist schlicht unnachahmlich. Mit seiner wandelbaren Künstlerpersönlichkeit und seinen kruden, fantasievollen Konzepten hat er sich seit den Achtziger Jahren
eine treue Fangemeinde geschaffen. Manche seiner Übernamen sind dabei eine Anspielung auf
die Konkurrenz, und damit Ausdruck des HipHop-immanenten Battle-Charakters: Mit Robbie
Analog persifliert er Bobby Digital, mit Dr.Doom nimmt er sich die gleiche Comicfigur wie MF
Doom zum Vorbild. Aber es gibt auch andere, die Referenzen herstellen: Der deutsche Rapper
Marteria hat mit seinem Marsimoto quasi ein Berliner Ebenbild zu Madlibs Quasimoto - einem ständig kiffenden Geschöpf mit Heliumstimme - geschaffen. Abwechselnd berichten sie
auf ihren Stücken von Kifferhunger, verpatzten Dates und der Bundesliga. Das kann ein Alter
Ego eben auch sein: Ein guter, treuer Freund.
8
9
Die Magie im Make-up
«Can you see I’m faking it?» singt Gwen Stefani in dem Song «Magic’s in the Makeup», es geht
darin um die vielen Gesichter, die sie hat, die von ihren verschiedenen Phasen abhängig sind,
und um die Frage, was, beziehungsweise wer bleibt, wenn das Make-up am Ende des Tages
entfern wird. «Who am I»?
In der Unterhaltungsindustrie treffen wir immer wieder auf Künstler, die ein Alter
Ego erschaffen haben, dass quasi anstatt ihrer selbst auf die Bühne geht. Kiss mit ihren geschminkten Masken-Alter Egos - The Starchild, The Demon, The Spaceman, The Catman, The
Fox und The Ankh Warrior - vorne weg. Das superheldenartige Konzept von den Plateauschuhen bis zu den Haarspitzen wurde eisern durchgezogen: Bis zur Veröffentlichung ihres Albums
«Lick it up» 1983 traten sie nie ungeschminkt in die Öffentlichkeit. Warum der ganze Aufwand? «Eigentlich nur, weil wir das spassig fanden. Natürlich schockierten wir die Leute mit
diesen wilden Farben im Gesicht. Aber wir lachten darüber. Und bekamen genau die Aufmerksamkeit, die wir wollten.» Aha. Katy Perrys Alter Ego Kathy Beth Terry ist sicher auch spassig
gemeint, es handelt sich um eine 13jährige Schülerin mit Brille und Zahnspange, die gern Sudokus löst und im Video zur Single «Friday Night» die Hauptrolle spielt, in dem eine Party in
ihrem Haus ausser Kontrolle gerät. Vielleicht war es ja auch Kathy und nicht Katy, die ein
Mädchen geküsst hat? Denn «It’s not what good girls do, not how they should behave» heisst
es im homophoben Text von «I Kissed A Girl», also wäre es ja praktisch für Katy, die Schuld
einfach ihrem Alter Ego in die Schuhe zu schieben... Bei Beyoncés Rampensau-Ego «Sasha
Fierce» geht es bei der Verwandlung genau um das: auf der Bühnenrampe tierisch abgehen zu
dürfen. Wo Beyoncé als braves Mädchen, als ehemaliges Destiny‘s Child, auf Rauchen, Trinken, Fluchen und nicht Disney-kompatible Sexyness zu verzichten hat(te), so kann Sasha Fierce
all das tun. Dieses Alter Ego hat sogar sein eigenes Album bekommen, oder zumindest ein
halbes, denn bei der Doppel-CD «I am ... Sasha Fierce» sind auf der einen Beyoncés Balladen
zu hören und Sasha darf auf der anderen richtig zur Sache gehen.
Vielleicht hätte sich Miley Cyrus überlegen sollen, ihr Popstar Alter Ego aus der
TV-Serie «Hannah Montana» auch nach der finalen Staffel beizubehalten? Dann würde sie
nicht mehr die Meinungen ihre Fans bzw. deren Eltern spalten müssen, oder sich im Nachhinein für das Annie Leibovitz-Shooting für das Vanity Fair Cover entschuldigen müssen, sondern
könnte getrost als Hannah ganz kundenfreundlich die Minderjährigen unterhalten, und als sie
selbst Nacktfotos twittern und dabei Pot rauchen. «It wasn’t me», könnte Hannah dann ohne
zu lügen sagen und Miley müsste kein Vorbild für die Jugend sein. Billige Kompromisse zwischen Promiskuität und Mickey-Mouse-Club, wie die poledanceartige Nummer an der Stange
eines Requisiten-Eiswagens bei den Teen Choice Awards, gehörten dann der Vergangenheit an.
Das wäre toll, denn: Ja, wir sehen, dass du es fakest! Entweder den Stripper-Hüftschwung, oder
die Unschuld vom Lande, beides gleichzeitig kaufen wir dir nicht ab. Es ist übrigens laut Beyoncé immer Sasha, die bei Konzerten oder bei Shootings anzutreffen ist, nicht sie. Sie sei lediglich privat sie selbst, sagte sie in einem Interview. Aber, Moment Mal, war sie in diesem Interview denn dann sie selbst, oder hat gar auch da Sasha gesprochen. Ein Interview ist keine
private Situation. Oder doch? Es ist verwirrend. Das Verhältnis zum dargestellten Ego ist ein
osmotisches: Bühnenschauspieler sind eine halbe Stunde vor und nach dem Auftritt in einer
grossen Rolle nicht belangbar, da unzurechnungsfähig, so lautet das Gerücht um einen mysteriösen Paragraphen 51. Und ist nicht der Popstar, der wiederum sein Show-Ego performt, auch
nur ein alter Ego? Eine wirklich private, unzensierte Beyoncé in Jeans und T-Shirt werden wir
nie zu Gesicht bekommen, ausser vielleicht in der Klatschpresse unter der Rubrik «Ungeschminkte Stars: Die nackte Wahrheit». Aber so verkauft man keine Platten. «L.A. told me,
you’ll be a popstar, all you have to change is everything you are» singt Pink in «Don’t Let Me
Get Me», und trifft damit wohl den Nagel auf den Kopf.
Das die Erschaffung eines Alter Egos für einen Künstler der Musikbranche noch
mehr sein kann als Spass, ein Schrei nach Aufmerksamkeit, oder die Anpassung an die übermenschlichen Anforderungen der Unterhaltungsindustrie, beweist das Beispiel von David Bowie. Zugegeben, sein Ziggy Stardust hat viel Aufmerksamkeit erregt und dadurch sicherlich
dem Plattenverkauf nicht geschadet, und es war auch kein Zufall, dass mit Ziggys Erscheinen
Bowies (angebliche?) Bisexualität bekannt wurde. Aber: Ziggy hat eine Geschichte, die etwas
erzählt. Er ist selbst zwar kein Marsianer (wie oft angenommen), kann aber in seinen Träumen Ausserirdische sehen und will den Menschen Frieden und Liebe bringen. Doch er ist auch
ein Rockstar mit ausschweifendem Lebensstil, den Drogen nicht abgeneigt, und das zerstört
ihn letztendlich. Die Parallelen zu Bowies Leben sind deutlich, aber in Ziggys Gestalt auf die
Spitze getrieben. Mit androgynem Make-up, rot gefärbten Haaren und glamouröser Bekleidung stellte er die herrschenden Konventionen auf den Kopf. Er setzte einen Meilenstein und
ebnete den Weg für alle folgenden Marilyn Mansons, Lady Gagas etc. Das Konzeptalbum
«The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars» ist ein Gesamtkunstwerk,
dessen Galionsfigur, der exzentrische Rock’n’roll-Messias, dessen Namensfindung wahrscheinlich durch Iggy Pop, Twiggy und den «Legendary Stardust Cowboy» inspiriert wurde,
einen wahren Kult auslöste.
«Offstage I‘m a robot. Onstage I achieve emotion. It‘s probably why I prefer dressing up as Ziggy to being David.» sagte Bowie, doch je länger Ziggy Stardust tourte, desto
schwerer wurde es für ihn, sich von Ziggy abzugrenzen, sich nicht in seiner eigenen Kreation
zu verlieren. So passiert es, das bei seinem letzten Konzert in dieser Rolle 1973 in London,
Bowie mit dem Ende der Show, und dem Ende Ziggys, prompt auch die Entlassung der gesamten Band verkündet. Konsequent, aber für die «Spiders from Mars» - Mick (Ronno) Ronson
(Band leader, guitar, piano and vocals), Mick (Woody) Woodmansey (drums) und Trevor Bolder (bass) - nicht so toll.
Verheerendere Konsequenzen brachte allerdings Bowies darauffolgendes Alter
Ego «The Thin White Duke» mit sich. Dieser Charakter war eine Art optische Weiterführung
von der Figur des Thomas Jerome Newton, die Bowie in dem Film «The Man Who Fell To
Earth» von Nicolas Roeg gespielt hatte, und trat mit dem Album «Station to Station» im Jahre
1976 in Erscheinung. Der Duke sah auf den ersten Blick harmloser aus als sein Vorgänger, er
trug ein weißes Hemd mit schwarzer Hose und Weste, die Haare waren streng zurückgekämmt,
war aber im Gegensatz zu Ziggy gefühllos und bösartig. Bowie ernährte sich zu jener Zeit laut
eigener Aussage nur von roter Paprika, Milch und Kokain. Es ist daher wahrscheinlich, das die
als faschistisch interpretierbaren Äusserungen, die Bowie damals in Interviews machte, dem
übermässigen Drogenkonsum (er hatte mehrere Überdosen in jenem Jahr) und der damit einhergehenden psychischen Labilität und Verschmelzung mit der Rolle des «emotionless Aryan
supermann» zuzuschreiben waren. Bowie distanziert sich heute von dieser Phase, altern tut das
«Chamäleon der Popgeschichte» nun in Würde und in Zivil.
«Makeup‘s all off
Who am I?»
10
11
——
Esther Becker
9
9
9
9
Wer in der Glasglocke sitzt muss
Alter Egos entwerfen
Das Amerika der fünfziger Jahre, das Silvia Plath erlebt, steht unter dem Zeichen der Doppelmoral und Illusion. Besonders das Rollenbild der Frau ist unerfüllbar. Das weibliche Ideal ist
Karrierefrau, Hausfrau, Mutter und verführerischer Geliebten in einem. Plaths Generation steht
vor einer scheinbar fatalen, scheinbar unendlichen Entscheidungsfreiheit für Lebensentwürfe
bei gleichzeitigem Festhalten an alten moralischen Werten. Plath erscheint als Kritikerin und
Opfer dieser unaufrichtigen Gesellschaft mit ihren nicht zu vereinbarenden und unerreichbaren
Ansprüchen; sie changiert zwischen Anpassung und Aufbegehren. Ihr einziger Roman «Die
Glasglocke» erscheint dabei als ironische Kritik dieser Gesellschaftsordnung und zugleich als
Beschreibung der Symptome einer «Krankheit», die diese Gesellschaft hervorbringt: einen Zustand von Nicht-Identität. Diese wird formal wie inhaltlich erfahrbar gemacht. In einer Rhetorik des ambivalenten Gegensatzes zeichnet sie ständig unaufgelöste Widersprüchlichkeiten in
Denken und Verhalten der Ich-Erzählerin, die sich gefangen fühlt wie unter einer «Glasglocke»
und sich aus kritischer Distanz selbst darunter beobachtet.
Besonders die Motivik der Verdopplung des Selbst vermag den Zustand der gefühlten Identitätslosigkeit so deutlich herausstellen. Fast alle Figuren in der «Glasglocke» fungieren
als Doubles der Ich Erzählerin. Diese ist gefangen in fiktionalen Selbstentwürfen, kreiert
Wunsch-Identitäten, Rollen-Vorbilder und Alter-Egos. Die Romanheldin «Esther Greenwood»,
die als Alter Ego von Plath zu verstehen ist, versucht einen Roman zu schreiben, in dem ein
Alter Ego namens «Elaine» Esthers Selbstentfremdung bezeugen soll. Esther erwägt zudem,
einige ihrer literarischen Texte unter Pseudonym zu veröffentlichen. Sylvia Plath selbst wählte
auch ein Pseudonym, unter dem sie «die Glasglocke» dann veröffentlichen wollte. Sylvia Plath
alias Victoria Lucas, alias Esther Greenwood, alias Elaine...
Wie russische Puppen bringt ein Ego ein anderes zum Vorschein, aber statt sich
einem vermeintlichen Kern zu nähern, rückt mit jeder Ego-Schicht, die abgelegt wird, ein integeres Subjekt weiter in die Ferne. Plaths Alter Ego Esther verzweifelt an der Unfähigkeit Entscheidungen für ihr Leben zu treffen, als sie feststellt dass manche Wahlmöglichkeiten andere
ausschliessen. Ihr «altes Selbst» fällt zusammen wie ein Kartenhaus und so versucht sie ihr
«neues Selbst» zu gestalten. Esther entwirft ihr Alter Ego fürs Leben - als sie in einer Cocktailbar ihre Unsicherheit mit Wodka bekämpft: «‚ Ich heisse Elly Higginbottom‘, sagte ich. ‚Ich
komme aus Chicago.‘ Dann fühlte ich mich sicherer. Ich wollte nicht, dass etwas von dem, was
ich an diesem Abend sagte oder tat, mit mir in Zusammenhang gebracht wurde und mit meinem richtigen Namen und damit, dass ich aus Boston kam.» «Elly» kommt aus Chicago und
wird – so stellt es sich Esther vor – wegen ihrer reizenden ruhigen Art geschätzt. Nicht nur Esthers Freundin bestätigt dieses Alter Ego, als sie im angetrunkenem Zustand «Elly» um Hilfe
bittet, sondern auch Esther benutzt «Elly» immer öfter; besonders dann, wenn sie mit Männern
Bekanntschaft macht. «Elly» verkörpert Esthers Wunsch danach nicht mit den Konsequenzen
ihrer eigenen Fehlentscheidungen zu leben, bzw. mit der gesellschaftlichen Kritik an diesen.
Schliesslich geht Esther soweit, eine Reise nach Boston zu planen, den Heimatort ihres Alter
Ego: «Elly» erscheint ihr als Fluchweg: «Ich dachte, wenn ich jemals nach Chicago kam, würde
ich meinen Name endgültig in Elly Higginbottom ändern. Dann würde niemand erfahren, dass
ich ein Stipendium an einem grossen ostamerikanischen Frauencollege versaut und einen Monat in New York verpfuscht und mich geweigert hatte, einen absolut soliden Medizinstudenten
zum Mann zu nehmen(...) In Chicago würden mich die Leute für das nehmen was ich war.»
Was sie ist kann Esther aber nicht wirklich benennen und erst recht nicht ausleben. Ihre Reise nach Chicago scheitert ebenso wie ihre darauffolgenden Selbstmordversuche.
Auch nach langer psychiatrischer Behandlung - inklusive Elektroschocktherapie- hat sie, als
vermeintlich «neues normales Selbst», das Gefühl, gar nichts mehr zu wissen und sieht «nur
Fragezeichen». Für Plath ist das Alter Ego Überlebensstrategie und künstlerische Form der
Gesellschaftskritik zugleich: Für die Autorin selbst und Ihrer Romanfigur dienen Alter Egos
manchmal als Schutzmantel für nicht ausgelebte, gesellschaftlich nicht anerkannte Wünsche
und Persönlichkeitsbestandteile. Sie sind Ausflüchte in die Fiktion, notwendige Illusionen zum
Überleben. Gleichzeitig aber sind sie Symptome der Künstlichkeit und Unaufrichtigkeit der
gesellschaftlichen Identitätsanforderungen. Sie machen die Selbstentfremdung erfahrbar, die
aus der Erkenntnis der Unmöglichkeit eines gesellschafts-kompatiblen und dennoch authentischen «wahren Selbst» resultiert.
13
14
——
Anna K. Becker
Die amerikanische Schriftstellerin Sylvia Plath veröffentlicht zu Lebzeiten in erster Linie Lyrik.
Im Alter von dreissig lässt sie ihren autobiographischen Roman «Die Glasglocke» unter Pseudonym publizieren und nimmt sich noch im selben Jahr (1963) das Leben.
Ihr Leben und Werk lesen sich als eine Fülle von Versuchen eine Identität zu finden,
sich selbst mit dem sozialen Image in Deckung zu bringen: abzugleichen, zu reflektieren. In ihrem Schreiben probiert sie zahlreichen Selbstentwürfe aus, kreiert Alter Egos. Jedoch siegt immer das Gefühl, unpassend zu sein; ein Fremdheitsgefühl, sich selbst Gegenüber. Plath beschreibt eine inneren Vielstimmigkeit und ein Hin- und Hergeworfensein zwischen unvereinbaren inneren und äusseren Ansprüchen und Identitätsvorstellungen. Ihre Texte lassen
sich als autobiographische Zeugnisse der Selbst-Suche lesen, in denen die Autorin verschiedene Schreibstile «ausprobiert», und damit zugleich verschiedene Identitäts- und Rollenangebote «anprobiert». Aber keines will passen.
Alter Ego:
Hezekina! Pollutina!
——
Cathérine Hug
subsumieren liesse. Ich habe infolgedessen mit einer der spannendsten und geheimnisvollsten
Künstlerinnen an der Schnittstelle zwischen Gesang, Performance und Film gesprochen, der man
zur Zeit in Wien begegnen kann: G.rizo aka Hezekina Pollutina. Sie ist zudem gegenwärtig als
eine der fünf Protagonistinnen in Pauline Boudrys und Renate Lorenz‘ Filminstallation «No
Past» /«„No Future» (14 Min., 16mm, 2011) – einem der pointiertesten und aussagereichsten
Beiträge der diesjährigen Biennale von Venedig – zu bewundern, wo sie als Sängerin und Schauspielerin in die Rolle von Joey Ramone (bürgerlicher Name Jeffrey Hyman) der Punkband Ramones geschlüpft ist.1
Alter Ego, das andere ich... wo anfangen? Wikipedia spuckt mir beim Ausdruck des deutschen
Eintrages der wichtigsten Pseudonyme 62 Seiten aus, die Überaktivität des Druckers bemerke ich
leider zu spät und erspare mir gerade mal zwei Dutzend Seiten. Nun, da ich vor diesem Berg an
bekannten und unbekannten Namen sitze, hat das zumindest den Vorteil, dass ich mich gezwungen sehe, bis zum Buchstaben P alle Namen einzeln sorgfältig durchzugehen. Es ist auffällig, dass
darin viele Namen aufscheinen, Pseudonyme prominenter Personen, von denen man das Pseudonym für so real hält, dass kein Verdacht auf Namenswechsel mehr besteht: zum Beispiel die
Schauspieler Woody Allen (mit bürgerlichem Namen Allen Stewart Konigsberg), Sophie Marceau
aka Sophie Danièle Sylvie Maupu, Bourvil aka André Zacharie Raimbourg, Chris Marker aka
Christian-François Bouche-Villeneuve, Yves Montand aka Ivo Livi, Karl Valentin aka Valentin
Ludwig Fey... Bei gewissen weiss man zwar vom Namenswechsel, aber vermutlich steht bei jenen
inzwischen sogar das Pseudonym im Pass oder auf dem Grabstein wie beim Maler Georg Baselitz
aka Hans-Georg Kern, David Bowie aka David Robert Jones, Andy Warhol aka Andrej Warhola,
Muhammad Ali aka Cassius Marcellus Clay, Tito aka Josip Broz, oder Leo Trotzki aka Lew Dawidowitsch Bronstein.
Eine Rückblende in die Filmgeschichte, wie steht es eigentlich dort mit den Alter
Egos? Psycho (1960) von Alfred Hitchock und Dressed to Kill (1980) von Brian De Palma drängen sich gleich auf, grandiose, genrebildende «Psycho»-Thriller mit fast genauso unerreicht guten
Soundtracks. Allerdings ist das Alter Ego in beiden Fällen keine freiwillige Wahl der Betroffenen,
sondern würde man klinisch mit «schizophren» apostrophieren und sind in unserem Zusammenhang darum keine guten Beispiele. Eine grosse Gruppe von Filmstreifen, die Geschichte geschrieben haben, dreht sich aber sehr wohl um bewusste Identitätsverschiebungen, -verdoppelungen
und wechsel, wie wir sie bei den so genannten Verstörten und Perversen finden wie bei Lucio
Fulcis A Lizard in a Woman’s Skin (1970), Michelangelo Antonionis Beruf: Reporter (1975),
Martin Scorseses The Taxidriver (1976), oder Dario Argentos The Stendhal Syndrom (1996).
Problematischer verhält es sich in der bildenden Kunst: Es gibt zwar vereinzelte
Künstlerinnen und Künstler, die sich zeitweise hinter einem Pseudonym verbergen oder verbargen
wie Martin Kippenbergers William Holden Company, Norma Jeane, Penny Arcade, oder Marina
Abramovics einstiger Performancepartner Ulay, sie bilden aber eher die Ausnahme. Künstlerinnen
wie Orlan, Hannah Wilke, Elke Krystufek oder Cindy Sherman wiederum stellen in ihrer Kunst
die verfremdete, verdoppelte oder vervielfachte Person zwar in den Mittelpunkt, aber dies in zum
Teil so stark abgewandelter, nahezu unter schmerzhaften Voraussetzungen herbeigeführter Form,
das man eher von der Auflösung des Egos oder Sublimierung einer bestimmten realen Gegebenheit in Bezug auf das Ich sprechen müsste.
Die Popmusik ist wohl am produktivsten in der lukrativen Produktion von Pseudonymen bzw. Künstlernamen: Lady Gaga, Madonna, Marilyn Manson, Pink, Prince, Sid Vicious,
Tina Turner, Aphex Twin, Bonnie Tyler, um mal nur diese zu nennen... diese Sparte hat heute wohl
am Meisten darüber zu sagen, warum sie in einer grossen Mehrheit der Fälle zur Strategie des
Alter Egos, der künstlerischen Selbstinszenierung greift, um der elusiven Natur von Musik auch
eine nachhaltige Bildsprache zu verleihen, die sich je nach dem auf einen Namen oder ein Wort
G.rizo: Since I never used my real name for any artistic endeavor so far, it would be awkward for
me now to suddenly use my real name - Ihu Anyanwu. I look forward to actually using it one day,
but for now I just feel too exposed under my real name. With these pseudonyms I can keep generate ideas wherever my interests are at the moment. I also enjoy the anonymity. Coming up with
pseudonym names is something I do for fun, because I like playing around with words – an affinity that maybe comes from being a song writer. The «Electro Hammams», for example, came to
my mind soon after making my first visit to a hammam, in this case an all women’s spa. I then used
this as a reference for the title of a series of women-only electronic music workshops which I produce. But obviously the fun of wordplay is also essential in finding the appropriate name. «G.rizo»
was actually my DJ-name at first - everybody comes up with an invented name as a DJ, it’s rather
unlikely you will ever find a DJ Michael Brown. What I love with electronic music is that you can
17
18
adopt several created names, each single one attributed to an individual style of music you would
potentially work with. I like this possibility not to be locked into one thing! It is almost like veins
coming through your body, each one having a different flow and artistic direction…
One thing I love in electronic music is that you could choose any name, and this allows as much
anonymity and freedom as possible – stylistic, gender and racial freedom. So we can all do really
creative things with this, a lot of the entertainment is also in the artist’s name. Why would I call
myself DJ Ihu Anyanwu or Lady something when I could be «Fish and Chips»?
Cathérine Hug: Could you tell us a little bit more about the interrelationship between G.rizo, Hezekina Pollutina, the idea of the alter ego, and your real name, and
what all these names have to do with one another?
So what does «G.rizo» stand for?
Does it make you suspicious?
I usually don’t tell the whole story, but what I can say is that for me G.rizo stands for a sort of
super-hero in the tradition of the blaxploitation-motive, such as Foxy Brown. «rizo» comes from
the Musical Grease (1971), the bad girl in that story. At the same time, this Rizzo – originally
written with two Z’s – is also the good girl because she will take care of justice. As for «rizo» with
one Z, I actually think it graphically looks better that way. So, I am intrigued by a Rizzo-like
character that lives on the edge, a provocative person in a complacent and benign world, who
does not pretend to be good. She does not «represent» good in a traditional way because her
flaws are exposed, but it is she who has the balls to do the right thing at the end of the day, to put
through fairness and justice.
Tell us about Hezekina Pollutina, where does the name come from, when did you
start using this alter ego?
This is a project I started a few years ago… I went to this exhibition at the New Museum in New
York in 2002, a tribute of contemporary artists to the musician Fela Kuti.2 It was a wonderful
show where different artists were invited to interpret what Fela Kuti meant to them. There was
an accompanying anthology of texts from different authors and periods, in which I came across
a text by the influential British music critique Vivien Goldman, an iconic post-punk figure from
London, who was for NME (New Musical Express). She related an anecdote about Fela Kuti: A
sort of a witch doctor called Professor Hindu, from Ghana, was the spiritual advisor of Fela Kuti.
As part of his entourage during a UK tour, Hindu made a performance at a social club – a supposed resurrection! And at the moment of the resurrection, Professor Hindu exclaimed «Pollutina,
Hezekina!» When I read this story I was skeptical of course, butwhen I read this expression, I had
to laugh loud! Anybody knowing a little bit of any African dialect would understand that this
expression doesn’t sound African…
So «Pollutina, Hezekina» is pure invention?
That is the big mystery. However, looking at it the «abracadabric» way, it sounds just so fantasmic and perfect! I just wanted to do something with this term, but I switched it backwards, because I kept worrying that might actually mean something and I did not want to catch an actual
spell! However, by now I think I actually have caught the spell and it’s a good thing.
I think it is just lazy, you could be much more free in that, our gender could be more anonymized.
If I had to choose another name it probably would be genderless.
Speaking about the construction of characters, how do you proceed in the interrelation between your name and the artwork of your vinyls? I understand that you design your own covers.
——
bigNOTWENDIGKEIT
Ich ist nur der imaginäre Zeitgenosse meiner eigenen Gegenwart
Ich ist nicht widersprüchlich, Ich ist verstreut
Ich ist sich selbst sein eigenes Symbol
Ich ist ein Ich aus Papier
Ich ist der, der mit Entsetzen wahrnimmt, dass Ich kein anderer ist.
Ich ist die Geschichte, die mir geschieht:
Ich ist Schreiben, um geliebt zu werden
Ich ist eine Romanperson
Ich ist ein Poser
Ich ist ein Wanderer
Ich ist ohne Wahrheitskörper
Ich ist ein japanischer Transvestit
Ich ist ein Lustkörper
Ich ist Ich als Kind
Ich ist ein Imaginarium
Ich ist meine Augen zu sehen, wenn sie dich ansehen
«Ich ist» ist Literatur
Ich ist Greta Garbos Gesicht
Ich ist ein lebhaftes Unbehagen
Ich ist Schmerz im Herzen der Liebe
Ich ist ein Verdauungskörper
Ich ist unerträglich
Ich ist wohin gehen?
Ich ist ein Widerhallraum
Ich ist kein Körper als Held
Ich ist seinen Banalitäten überlassen
Ich ist aus dem gemacht, was ich nicht kennt
Ich ist genötigt, «etwas» zu sagen
Ich ist ein schlechter Schauspieler
Ich ist auf der Suche nach der verlorenen Zeit
21
«If you want to know all about Andy Warhol, just look at the surface of my paintings and films and me, and there I am. There‘s nothing behind it.» Andy Warhol
Typisch Andy. Typisch, dass du einen Allgemeinplatz umdrehst. Für gewöhnlich betonen Menschen der Öffentlichkeit die Person HINTER dem Kunstwerk, dem Make-up, der Bühnenfigur.
Man behauptet immer einen Hintergrund, eine Tiefsinnigkeit, eine Bedeutungsebene hinter der
Oberfläche. Eine Art Abgleich zwischen Kunstwerk, Künstler und «dem, was dahintersteckt»
scheint für viele unabdingbar. Bei Künstlern ist also ihre Kunst in gewisser Weise ihr Alter Ego,
aber bei manchen Künstlern scheint es sich zu verselbständigen. Marilyn hat ja gerade gesagt, sie
habe Sorge NUR ein Kunstprodukt zu sein. Und jetzt sagst du: ICH ist meine Oberfläche und
dahinter ist nichts. Mich würde interessieren, ob dies deine reine Empfindung ist oder ob es eine
Entscheidung war, alles nach aussen zu tragen und ob das mit Arbeit verbunden ist. Für mich ist
es eine sehr traurige Vorstellung, wenn es nichts zu ergründen gäbe bei dir, keine Geheimnisse...
andererseits klingt es auch nach einer Konsequenz deiner Definition von Kunst... Hmm.
Since founding my own record label and being my own art director in collaboration with my
graphic designer, Max Salesse, I have been finding my own visual voice too. Before, the labels
took care of that. Now, I find that this is an important part of my artistic process, as I enjoy it and
it’s more authentic. In my 7inch cover I used my interest in astrology to convey certain aspects of
my character visually. You cannot see the astrology reference graphically but the metaphors and
symbols that we used were trying to convey certain aspects from my astro chart. On the second
release, the «Boys»-12inch, lyrically an overtly sexual song, we decided to go with an early 80ies
opulence, the combination of elegance and decadence, but also echoing a low-fi-attitude. The
tension here comes from the contrast between each single glowing letter of the word «boys» on
the one and all these high-class props and symbols on the other hand, such as fur, the Margaret
Thatcher-like hairstyle, the perfect make-up… Because I deal with these issues, it is important for
me to have a «conscious» irony in there, it can be «kitschy», or it can be serious but in any case:
the message just shouldn’t be literal but rather three-dimensional in order to stay longer.3
1. Das von Andrea Thal kuratierte Projekt “Chewing The Scenery”, neben Thomas Hirschhorn der zweite Schweizer Länderpavillonbeitrag zur 54. Biennale von Venedig, kann noch bis zum 2. Oktober 2011 im Teatro Fondamenta Nuove besichtigt werden. Weitere Infos unter www.chewingthescenery.net
2. Black President: The Art and Legacy of Fela Anikulapo-Kuti, New Museum of Contemporary Art, New York, July 11- September 28, 2003. Siehe auch
www.felaproject.net
Not at all. But a lot of people think that it sounds familiar, that they should know what it means,
but cannot contextualize it.
«Turn the page» heisst das neue Stück von bigNOTWENDGKEIT, in dem sie sich mit verschiedenen autobiographischen Spuren befassen. Die Recherchen führten sie zu den Grossen der Literatur, des Films, der Kunst und der Philosophie, aber auch zu Zeugnissen von ganz normalen
Menschen im Deutschen Tagebucharchiv Emmendingen und während ihres Autobiographie-Services «that‘s just what you are» für das Freischwimmer Festival Zürich, wo sie sich mit 35 Menschen über deren Lebensgeschichten und Vorbilder unterhielten. An dieser Stelle lassen bigNOTWENDIGKEIT ihre eigenen Helden sprechen und stehen ihnen Rede und Antwort.
«Both looking into mirrors and reading/writing are attempts to create a self without
another person literally present. In the reflection or in the book, there is another
presence. Once you objectify yourself into a mirror or onto a page, than the image
has a separate reality.» Sylvia Plath
Stimmt, immer wenn man sich «erkennen» will, muss man aus sich heraustreten, eine distanzierte Position einnehmen und ein Medium zu Hilfe nehmen. Egal ob Spiegel oder Schreibfeder. Und
ebenso richtig: Das Beschriebene ist «objektiviert», es ist draussen, für andere zugänglich, teilbar.
Damit ist es aber gleichzeitig auch nicht mehr ICH, sondern ein Bild, Zeichen, eine eigene Geschichte. Je mehr wir uns auf die Spuren verschiedenster autobiographischer Selbstbeschreibungen begeben, desto klarer wird uns, dass ein ICH immer dann, wenn es gesehen, gelesen oder ihm
nachgespürt werden kann, auch auf einer Bühne steht. Sprich: Selbst-Veräusserung ist immer
Selbst-Inszenierung, ist immer eine Kombination aus ICH-Aspekten, Identitäts-Fragmenten, aus
Teilen von SELBST. Wir sind immer mögliche Selbst oder EGOs, die im jeweiligen Augenblick
Gültigkeit haben. Ein stabiles, berechenbares verlässliches EGO lässt sich kaum ausmachen. Also
kreieren wir ständig Alter Egos, wenn wir uns selbst beschreiben?
«Insgeheim habe ich immer das Gefühl gehabt, nicht vollkommen echt zu sein. So
etwas wie eine gut gemachte Fälschung. Ich glaube, jeder Mensch fühlt das von Zeit
zu Zeit. Aber in meinem Fall geht das so weit, dass ich manchmal denke, ich sei nur
ein Kunstprodukt.» Marilyn Monroe
Naja, das stimmt schon, dass sich wahrscheinlich jeder immer wieder mal als eine Art Fälschung
wahrnimmt, als etwas Konstruiertes, Nachempfundenes, aber letztlich auch Unauthentisches.
Meistens wohl dann, wenn man in eine vermeintlich hermetische Gruppe eindringt bzw. Teil von
ihr ist (denn von aussen betrachtet passt man vielleicht sehr gut ins Bild). Aber wenn es uns selbst
nicht gelingt, uns ins Bild zu integrieren, wenn wir uns beim Versuch, uns passend zu machen
immer selbst zusehen, dann beginnen wir mit der Bewertung unserer Selbstinszenierung und dass
kann schon böse ausgehen. Deswegen ist’s doch schön, liebe Marilyn, wenn du von dir als gut
gemachte Fälschung sprechen kannst, immerhin.
Und um ehrlich zu sein: ich glaube auch, dass du nur ein Kunstprodukt bist, aber das
ist doch eigentlich nicht weiter schlimm. Ehrlich gesagt bestaune ich dich sogar darum, das zeugt
doch irgendwie von Biss und Willenskraft, auch wenn du sicherlich nicht für alles selbst verantwortlich bist. Und auch, wenn nicht alles gut ausgegangen ist. Natürlich kann man sagen: Aas du
nur hast mit dir machen lassen… Aber auch: Eindrucksvoll und der Bewunderung würdig, wie du
dich selbst geschaffen hast. Hättest du nur ein bisschen besser auf Norma Jean aufgepasst. Sie
wollte immer so sein wie du.
22
äusseren Unendlichen, und es ist mir unmöglich, mich zu definieren... Ich könnte
Sprüche erfinden, nette Anekdoten... für Salongespräche vielleicht... Ich könnte an
einen Satz von Elsa Morante über mich erinnern: Sie sagt, ich sei ein Narziss der
glücklich in sich selbst verliebt ist. Ich füge hinzu, dass ich auch unglücklich in die
Welt verliebt bin. Oder ich könnte auch sagen, ich bin ein echter Teufel (...)»
Pier Paolo Pasolini
Ja, natürlich wäre eine jede Selbstdefinition unvollständig, unzulänglich etc. Und ich mag sowohl
das Beharren auf einer Unendlichkeit des Selbst als auch diesen Wunsch des unendlichen Hinzufügens, Entgegenhaltens, und Weiterspinnens einer Identität. Es ist wie ein Spiel wie «Ich packe
meinen Koffer und ich nehme mit». Aber für mein Bild, das ich mir von P.P.P. mache, passt diese
Aussage wiederum hervorragend in meine Vorstellung von jemandem, der sich IMMER als unangepasst darstellt, stets verneint, stets den Kurs ändert, aus Prinzip nicht in einer fertigen Definition
verharren möchte. Ich definiere dich als ungern definierbaren, unendlich teuflischen Narziss, der
unglücklich in die Welt verliebt ist.
«Halt den Mund. Du hängst mir zum Hals raus. Ich werde mich nicht mehr hinter
dir verstecken. Wer bist du überhaupt? Du bist nicht ich. Du bist ‘diese wunderbare,
grosse, schöne Puppe‘. Du bist die glänzende Seite der Münze. Du wurdest zur richtigen Zeit geboren. Du hattest das richtige Aussehen. Du hattest die richtige Stimme.
Du hattest Glück. Du hast eingeschlagen und bist reich geworden. Gut. Ich freue
mich, dass es dir gut gegangen ist. Nun werde ich übernehmen» Katharine Hepburn
«Bedeutet es nicht eine ebenso tiefe Verwandlung, einen ebenso vollständigen Tod
des Ich, das man gewesen ist, die ebenso totale Verdrängung des alten durch das
neue Ich, wenn man sieht, dass ein von einer weissen Perücke gekröntes faltendurchzogenes Antlitz an die Stelle des früheren getreten ist?» Marcel Proust
Vielleicht. Und wahrscheinlich, oder? Ich hatte ja immer die Hoffnung, dass man sich später weisshaarig geworden - im Spiegel betrachtet und denkt: Das also ist aus dir geworden. Und dass
sich das dann gut anfühlt und richtig und so, also ob es so kommen musste. Diese kitschige Vorstellung von milder Altersweisheit. Die Hoffnung hab ich eigentlich noch immer, aber ich glaub
nicht mehr dran und will das auch gar nicht. Eigentlich lieber Rock ‘n Roll. Wenn ich jetzt an
mein noch recht kleines FRÜHER denke, dann hab ich ganz oft nichts mehr zu tun mit dem, was
ich da sehe. Nur manchmal mit dem Bild, das ich mir von mir selbst als Kind mache. Weit weg.
Und Erinnerung ist so trügerisch.
3. Für mehr Infos siehe www.hezekinapollutina.com
How do you experience people’s reaction to that name, do you people know about
this backstory and the link to Fela Kuti?
Wow, das klingt wie eine Szene in einem Gruselfilm. Und das Alter Ego ist hier mehr das unheimliche Double, der Doppelgänger, der «enemy within». Ein «unfriendly takeover» der realen Person in der Kunstfigur. Ein schönes Bild mit der Münze, und jetzt meldet sich die andere Seite der
Medaille zu Wort. Als habe das Image, das von dir kreiert wurde, einmal Überhand genommen
und nun willst du die erste? die echte? Hepburn zurück. Aber was eigentlich kannst du zurückbekommen? Der Körper ist ja mit Schönheit und Wiedererkennungswert besetzt, ebenso wie dein
Name. Wie kann also die Rückeroberung deiner Selbst aussehen? Vielleicht ähnlich wie bei deiner
Kollegin, der Garbo, die sich weigerte Autogramme zu geben, in einem offenen Brief ihren Fans
erklärte ihr Leben sei kein bisschen interessanter als das eines JEDEN anderen Menschen, die in
der Blüte ihres Lebens und ihrer Karriere einfach aufhörte Filme zu machen und in ein normales
Leben untertauchte.
bigNOTWENDIGKEIT wurde 2004 von Anna K. Becker und Katharina Bischoff gegründet. Das
Regieduo arbeitet vorwiegend in Zürich und Berlin. In Zürich waren ihre Arbeiten bisher am
Fabriktheater, der Gessnerallee und am Theater an der Sihl zu sehen.
Premiere von «turn the page» – dem neuen Stück, für das sie sich mit autobiographischen Texten
aller Art befassen – ist am 22. Oktober im Bundeshaus zu Wiedikon, weitere Vorstellungen am 23.
und 25. – 27. Oktober. www.bignotwendigkeit.com
«Eine Definition meiner selbst? Das ist wie die Frage einer Definition des Unendlichen. Es gibt ein inneres und ein äusseres Unendliches. Wenn ich an mich denke,
denke ich an etwas Unendliches. Unmöglich für mich, das zu definieren. Für Sie
bin ich etwas klar definiertes. Für mich bin ich unendlich... Ich bin der Spiegel des
How do you observe how other musicians and DJs are dealing with their identity
construction, and the choice of their alter ego-pseudonym in specific?
19
Ich ist ein Ich aus Papier
20
23
24