ARCHIE SHEPP als PDF

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ARCHIE SHEPP als PDF
A m eri c a n Ja z z H ero es II
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B
Archie Shepp
I n d e n U S A h at m a n
m i c h fas t v e r g e ss e n .
Ve rn o n , g en a n n t A r c hie , S he p p
(* 24 Mai 1937 in Fort Lauderdale, Florida)
ist ein US-amerikanischer Saxofonist,
Komponist, Dichter und Autor.
„Bonjour, Monsieur!” Monette Berthomier,
die Frau von Archie Shepp, bittet herein.
Seit über 20 Jahren wohnt sie mit Archie Shepp in Ivrysur-Seine, sieben Kilometer südlich von Paris, in ei­nem
weißen Reihenhaus, in dem sie den größten Teil des Jahres
verbringen. „Entré!“ ruft auch Shepp, der fließend Französisch spricht, aus dem Wohnzimmer. Er sitzt im hel­­­len
Jackett und mit dunklem Hut auf seinem roten Sofa. „Ich
bin in dieser Tradition aufgewachsen, wo man sich gut ge­
kleidet hat. Leute wie Ellington, Earl Hines, Miles Davis,
Roy Haynes, Max Roach waren meine Vorbilder. Sie haben
nicht nur schöne Musik gemacht, sondern sahen dabei
auch noch sehr gut aus! Das gehörte zum Ambiente der Mu­
­­sik.“ An den Wänden hängen Bilder des Illustrators Wo­z­
niak, die auch als Cover von Shepps CDs benutzt wur­­
den, die seit 2004 bei seinem eigenen Label „Archie­ball“
erscheinen. Auch jüngeren, afroamerikani­schen Nachwuchsmusikern gibt er auf diesem Label eine Chance.
Shepp zieht an seiner Pfeife. Ivry-sur-Seine hat sich im
Laufe der Jahre zu seinem ersten Wohnsitz entwickelt.
„Wir haben zwar noch ein kleines Haus in Hadley, Massachusetts, weil ich 30 Jahre lang an der University of
Massachusetts in Amherst unterrichtet habe, aber über­
wiegend leben wir in Ivry. Hier in Europa hat mein Name
mehr Gewicht. In den USA hat man mich fast vergessen.
Ich werde dort kaum gebucht. Die USA und im Speziel­len
die Schwarzen haben ein geringes Bewusstsein für ihre
Tradition und ihre Geschichte. Die hinterlassenen Spuren der Sklaverei wurden mit Macht verwischt. Dabei ist
es doch unerlässlich, auf die Wurzeln unserer Kultur zu
schauen: Afrikaner wurden nach Amerika verschleppt.
Daher kommen Gospels, Spirituals, Blues und Jazz – das
alles ist verbunden mit Hip-Hop und Rap. Jazz ist heute
eigentlich tot – man findet ihn an der Universität, im
Museum oder im kommerziellen Bereich. Früher hätte
ich mich noch richtig darüber aufgeregt, da war ich noch
ein zorniger junger Mann. Jetzt bin ich ein zorniger alter Mann!“ Er lacht.
Archie Shepp hat in den 1960er- und 70er-Jahren mit seinen politischen und sozialen Statements immer das
neue schwarze Selbstbewusstsein in den USA betont
und bezeichnete sein Saxofon einst als „Maschinengewehr des Vietcong“. Er sah sich als Freiheitskämpfer, der
mit seiner Musik der afroamerikanischen Bevölkerung
eine Stimme geben wollte. Als Pionier des Free Jazz war
seine Musik jedoch weniger abstrakt als die seiner Avant­
garde-Kollegen aus jener Zeit. Stattdessen bezog sich
Shepp immer deutlich auf die Tradition des Blues und mit
seinem emotionalen Sound auf Swing-Legenden wie
Coleman Hawkins und Ben Webster.
„Der Trompeter Bill Dixon und ich gegründeten 1962 eine
Band, nachdem ich zwei Jahre bei Cecil Taylor gespielt
hatte. Unsere erste Aufnahme im Gulf Sound Studio in
New York verkauften wir an Herman Lubinsky von Savoy
Records. Bill war wie ein älterer Bruder für mich. Wir
hatten beide kein Geld und suchten nach Auftrittsmöglichkeiten. Während Bill und ich aufnahmen, hatte ich
verzweifelt nach meinem eigenen Sound geforscht. Ich
hat­te alle meine Vorbilder im Kopf: John Coltrane, Sonny Rollins, Lucky Thompson. Mir war mein Sound zu
dünn, er war einfach noch nicht da. Dann haben wir
den Song ,Somewhere‘ von Leonard Bernstein aufgenommen und ich entschied mich dazu, lockerzulassen
und einfach so zu spielen, wie ich mich fühlte. Ich dachte: ,Was soll’s – was ich hier versuche, gefällt mir nicht,
dann kann ich auch wie ich selbst klingen.‘ Als ich mir
danach die Aufnahmen anhörte, hatte ich auf meinem
Instrument einen klassischen Saxofon-Sound, ungefähr
so wie Ben Web­s­ter, aber mir gefiel dieser Sound und so
klinge ich heute noch.“
In einer Ecke des Wohnzimmers steht ein Klavier mit aufgeschlagenen Noten, darüber hängt ein Poster mit Jazzfotos von Jean-Pierre Leloir, gleich daneben ein Konzertfoto
von Archie Shepp. „Ich war musikalisch ein sehr kon­­
servativer Typ, der aus Philadelphia kam und brav Klavier
und Klarinette gelernt hatte. Cecil Taylor hat mich musi-
A m eri c a n Ja z z H ero es II — A rc hie shepp
kalisch radikalisiert. Ich hatte ihn 1960 in
Greenwich Village auf der Stra­ße getroffen und fing an, in seiner Band zu spielen.
Es war eine komplette Transformation
meiner musikalischen Iden­tität. Die ganze
musikalische Lehre, mit der ich aufgewachsen war, wurde aus dem Fens­ter geworfen. Ich habe viel von ihm gelernt.
Sein Sinn für Freiheit kannte keine Para-
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Literaturwissenschaften studierte, bin ich
1957 in den Semesterferien nach New York
gefah­ren und habe mir jeden Abend im
Five Spot Monk mit Coltrane angehört.
Ich hat­te die Idee, dass Trane mir etwas
auf dem Saxofon beibringen könnte, deshalb sprach ich ihn an, er schrieb mir seine Adresse auf und am nächsten Morgen
um zehn besuchte ich ihn in der Colum­
men. „Thiele war mir gegenüber am Anfang immer sehr
abweisend. Monatelang hatte ich versucht, ihn telefonisch zu erreichen, aber seine Sekretärin Lilian erzählte
mir immer, dass Bob entweder Mittagspause habe oder
für den Rest des Tages nicht mehr im Büro sei. Bob wollte
keinen Free Jazzer auf seinem Label, was ich aber gar
nicht war – ich kam doch vom Blues! Coltrane hat bei Bob
ein gutes Wort für mich eingelegt und siehe da: Lilian
sagte plötzlich, dass Bob mich in einer Stunde zurückrufen würde. Bob sagte mir ganz deutlich, dass er jemanden
suche, der die Musik von John Coltrane spielt. Daran hatte ich sowieso schon gearbeitet und ich sagte ihm: ,Kein
Problem, ich liebe Johns Musik!‘ Bis zuletzt war er sehr
skeptisch und gegen die Aufnahme.“
Jazz ist heute eigentlich tot –
man findet ihn an der Universität, im Museum
oder im kommerziellen Bereich.
meter oder Grenzen. Cecil hat mir wirk­
lich die Augen geöffnet für eine ande­re
Musik, von der ich noch nicht einmal geträumt hatte. Im Grunde genommen zeigte er mir Wege, mithilfe unterschied­licher
Skalen und Modi außerhalb von Akkordstrukturen zu spielen. Außerdem zeigte er
mir, dass Musik durchaus Verbindungen
zu unserer Gesellschaft haben kann und
es eine soziale Bedeutung gibt. Wir redeten in seinem Studio in der Day Street und
er gab mir einen Einblick in die Implikationen der ,Negro Music‘ – wie kraftvoll und
mächtig diese sind und wie wir, wenn wir
es richtig fördern, diese für uns nutzen
können.“
Vor Shepp auf einem Tisch häuft sich eine
ganze Pfeifensammlung, daneben Blätter
für sein Mundstück und ein Heft mit den
Noten zu „A Love Supreme“ von John
Col­trane, bei dessen ersten Aufnahme­
sitzun­gen er mitspielte, die aber nie auf
dem finalen Album landeten, sondern
erst 2002 auf einer CD mit unveröffentlichten Titeln erschienen. Während ihrer
Freundschaft engagierte Coltrane Archie
Shepp 1965 für die Einspielung von „Ascension“ und im selben Jahr erschienen
sie beide mit ihrer jeweiligen Gruppe auf
der Live-LP „New Thing at Newport“. Ken­
nengelernt hatten sie sich schon Jahre
vorher. „Während ich am Goddard College
bus Avenue. Dabei hatte ich nicht be­
rücksich­tigt, dass er sein Konzert im Five
Spot erst um fünf Uhr morgens beendet
hatte. Außerdem hatte er die Angewohnheit, noch zu üben, bevor er ins Bett ging.
Vermutlich war er erst um sieben eingeschlafen.“
Shepp zündet seine Pfeife an. „Seine Frau
Naima öffnete mir die Tür und ich wartete geduldig bis 13:30 Uhr, als John aufstand. Er trug ein T-Shirt und da sah ich
erst, wie stark er war. In einer Ecke des
Zim­mers lagen Gewichte, mit denen er
trainierte, weil er seinen Körper wieder in
Form bringen wollte, nachdem er mit den
Drogen aufgehört hatte. Sein Horn lag auf
dem Sofa, er hatte es nicht in den Koffer
gepackt. Er fing sofort an, zu spielen, ungefähr zehn Minuten. Dann frag­te er mich:
,Möchtest du mir etwas vorspielen?‘ Damals habe ich noch Altsaxofon gespielt. Er
zeigte mir verschiedene Dinge, zum Beispiel riet er mir, meine Finger näher an
den Klappen zu halten. Wir haben den
gan­zen Tag über Musik geredet und er
hat mir von seinem neuen musikalischen
Ansatz erzählt. Es war sehr inspirierend.“
Coltrane unterstützte Shepp und überzeugte den Produzenten Bob Thiele bei
Im­pulse!, 1964 mit dem jungen Saxofonis­
ten die Platte „Four for Trane“ aufzuneh-
Am nächsten Morgen um zehn besuchte ich
Coltrane in der Columbus Avenue.
Dabei hatte ich nicht berücksichtigt, dass er
sein Konzert im Five Spot erst um fünf Uhr
morgens beendet hatte. Außerdem hatte er die
Angewohnheit, noch zu üben, bevor er ins Bett ging.
Vermutlich war er erst um sieben eingeschlafen.
Die Pfeife ist ausgegangen, Shepp stopft nach und entzündet sie erneut. „Die Recording-Session begann relativ
spät im Studio von Rudy Van Gelder. Bob war am anderen
Ende des Studios, als wir das erste Stück aufnahmen,
und seine Pfeife qualmte wie ein Schornstein. Nach dem
drit­ten Stück sagte er plötzlich: ,Das klingt gar nicht so
schlecht!‘ Die Musik war nicht frei, nicht so wie die von
Ayler oder Coleman, stattdessen hatte ich eine ganz klare
Vorstellung davon, wie ich den sogenannten StandardJazz mit dem New Thing verbinden wollte. Beim vierten
Stück rief Bob bei John Coltrane an und sagte ihm begeistert, dass er unbedingt ins Studio kommen solle,
um sich die Musik anzuhören. Da war es ungefähr 23
Uhr und John lebte in Long Island und brauchte eine
Weile, bis er im Studio ankam. Auf dem Coverfoto der
Platte von Charles Stewart kann man sehen, dass John
keine Socken trug, weil er schon im Bett war, als ihn der
Anruf von Bob erreichte. Es waren vier Kompositionen
von John und eine von mir, die wir aufnahmen. Mein
Stück ist das einzige echte Avantgarde-Stück auf der
Platte. Bob Thiele sagte zu John: ,Ich mag alles außer diesem letzten Song, den Archie geschrieben hat. Meinst
du, wir soll­ten den rausnehmen?‘ John sagte: ,Nein Bob,
ich denke, wir sollten ihn behalten.‘ Ich hatte den Eindruck, John war zufrieden mit der gesamten Aufnahme.“
Shepps politische Prägung durch sein Elternhaus und
seine Haltung haben sich auch immer in den Titeln seiner Alben wiedergefunden: „Things Have Got To Change“
oder „The Cry Of My People“ oder „Attica Blues“, das er
nach einem Aufstand von Häftlingen benannte, die bessere Haftbedingungen forderten. „Titel sind sehr wichtig. Sie erklären die soziale Bedeutung der Musik für etwas, das außerhalb der Noten liegt. ,Attica Blues‘ ist ein
sehr literarisches Stück, das versucht, die Geschichte
der Menschen am Rande der Gesellschaft zu erzählen.
Als junger Mann war ich in den 1960er-Jahren Teil des
Civil Rights Movements, womit diese Platte sehr viel zu
tun hat. Es war mein erstes Album, bei dem ich für ein
großes Orchester arrangiert habe.“
Die Veränderung von Shepps Musik hatte Gründe: „Vom
musikalischen Standpunkt aus wollte ich für dieses Album Stücke schreiben, die sich am Blues und an Balladen orientieren. Der Hintergrund für diesen Wechsel
war unter anderem meine Mutter, die mich kurz vor ihrem frühen Tod fragte: ,Na, mein Sohn, spielst du immer
noch diese Songs, die keine Melodie haben?‘ Das hat­te
mir zu denken gegeben. Nach ihrer Beerdigung fragte
mich eine ihrer Freundinnen: ,Wann wirst du etwas aufnehmen, das ich verstehen kann?‘ Daher kam mir der
Gedanke, in meiner Musik die Erfahrung meiner Jugend
aufzunehmen, und das war nun mal der Blues – etwas,
was die Leute verstehen würden. Natürlich ging es auch
darum, mit meiner Musik ein größeres Publikum zu erreichen, aber dabei sollte sie trotzdem politisch bleiben.
Als ich aufwuchs, haben meine Eltern ständig über Politik diskutiert. Ich bin mitten in der Apartheid aufgewachsen – das waren harte Zeiten, was Rasse und Religion
betrifft. Toiletten, Parkbänke – alles war getrennt für
,colored‘ oder ,white people‘. Seitdem hat es viele Veränderungen gegeben, aber fundamental, denke ich, ist
Ameri­ka gleich geblieben. Wir haben noch einen langen
Weg vor uns.“
Di e w i c h t i g s t e n a l b e n
Fo u r f o r T r an e (Impulse!, 1964)
Ne w T hi n g at Ne w po r t (Impulse!, 1965)
Fi r e M u si c (Impulse!, 1965)
M am a T o o T i ght (Impulse!, 1966)
O n T hi s Ni ght (Impulse!, 1966)
B l ac k G y psy (America, 1969)
T he Way A he ad (Impulse!, 1969)
A tti c a B l u e s (Impulse!, 1972)
T he C r y O f M y Pe o pl e (Impulse!, 1973)
A r c hi e S he pp w i th D o l l ar B r an d   – D u e t
(Denon, 1978)
C hr i sti an B r o e c k i n g