Donald McCaig Roman

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Donald McCaig Roman
Donald McCaig
Rhett
Roman
Aus dem Amerikanischen
von Kathrin Razum
Kapitel 1
Ehrenhändel
ine Stunde vor Sonnenaufgang, zwölf Jahre vor dem Krieg,
fuhr eine Kutsche eilig durch das Tiefland von Carolina. Auf
der Straße entlang des Ashley River war es bis auf die Seitenlampen des Gespanns stockfinster, und durch die offenen Fenster wirbelte Nebel herein, der sich feucht auf Wangen und Handrücken
der Passagiere legte.
»Rhett Butler, du bist ein verfluchter Querkopf !« John Haynes
sackte auf seinem Sitz in sich zusammen.
»Ganz wie du meinst, John.« Butler öffnete die Klappe zum
Kutscher und fragte: »Sind wir bald da? Ich möchte die Herren
nicht gern warten lassen.«
»Wir sind gleich am Hauptdeich, Master Rhett.« Obwohl Hercules der Rennpferdetrainer von Rhetts Vater und Broughtons
höchstrangiger Diener war, hatte er darauf bestanden, die jungen
Männer selbst zu fahren.
Rhett hatte ihn gewarnt: »Langston wird zornig werden, wenn
er herausfindet, dass du mir geholfen hast.«
Hercules war steif und förmlich geworden. »Master Rhett, ich
hab Sie schon gekannt, wo Sie noch’n kleiner Junge warn. Ich,
Hercules, hab Sie auf Ihr erstes Pferd gesetzt. Binden Sie Ihre
Pferde hinten an, Sie und Mr Haynes. Heut Nacht kutschiere ich.«
John Haynes’ Apfelbäckchen standen im Widerspruch zu seiner
ungewöhnlich resolut wirkenden Kinnpartie. Er hatte den Mund
bekümmert zusammengekniffen.
Rhett sagte: »Ich liebe dieses Marschland. Herrgott, ich wollte
noch nie Reispflanzer werden. Wenn Langston sich über Reissor-
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ten oder die Führung der Neger verbreitete, habe ich immer vom
Fluss geträumt und kein Wort mitbekommen.« Mit funkelnden
Augen beugte er sich zu seinem Freund hinüber. »Ich ließ mich
durch den Nebel treiben, steuerte mit dem Ruder. Eines Morgens
überraschte ich eine Wasserschildkröte dabei, wie sie eine Otterrutsche herunterrutschte – einfach so, aus Spaß an der Freude.
Hast du je eine Wasserschildkröte lächeln sehen, John?
Ich weiß nicht, wie oft ich versucht habe, an einem schlafenden
Schlangenhalsvogel vorbeizufahren, ohne ihn zu wecken. Aber
jedes Mal schnellte dieser Schlangenkopf unter dem Flügel hervor, scharfäugig und kein bisschen benommen, und schwupp«,
Rhett schnalzte mit den Fingern, »schon war er untergetaucht.
Die Sumpfrallen waren lange nicht so wachsam. Wie viele Male
kam ich langsam um eine Flussbiegung getrieben, und dann stoben Hunderte von ihnen auf. Kannst du dir vorstellen, durch solchen Nebel wie jetzt zu fliegen?«
»Du hast eine zu lebhafte Fantasie«, sagte Rhetts Freund.
»Und ich habe mich schon oft gefragt: Warum nur bist du so
vorsichtig, John? Für welche hehren Ziele sparst du dich auf ?«
John Haynes wischte sich mit einem feuchten Taschentuch die
Brillengläser ab, verschmierte sie jedoch nur. »An jedem beliebigen anderen Tag würde mir deine Sorge schmeicheln.«
»Ach herrje, John, es tut mir leid. Meine Nerven. Ist unser Pulver trocken?«
Haynes berührte den glänzenden Mahagonikasten auf seinem
Schoß. »Ich habe die Pulverflasche selbst verschlossen.«
»Hörst du die Nachtschwalbe?«
Das Getrommel der Pferdehufe, das Quietschen des ledernen Zaumzeugs, Hercules’ Rufe: »Na los, ihr Halunken, los!«,
der dreitönige Ruf der Nachtschwalbe – hatte John nicht mal
eine Geschichte über Shad Watling und eine Nachtschwalbe gehört?
»Ich habe ein gutes Leben gehabt«, sagte Rhett Butler.
Da John Haynes fand, dass das Leben seines Freundes ein einziges Tohuwabohu gewesen war, biss er sich auf die Zunge.
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»Ein paar schöne Erlebnisse, ein paar gute Freunde, meine geliebte kleine Schwester Rosemary …«
»Denk doch an Rosemary, Rhett! Was soll aus ihr werden, wenn
du nicht mehr bist?«
»Das darfst du mich nicht fragen!« Rhett drehte sich zu dem leeren, schwarzen Fenster. »Herrgott, John. Was würdest du denn in
meiner Lage tun?«
Die Antwort, die dem stämmigen John Haynes durch den Kopf
ging, lautete: »Ich würde gar nicht erst in deine Lage geraten«,
doch er brachte sie nicht über die Lippen, obwohl seine Worte
nicht zutreffender hätten sein können.
Rhett trug sein dichtes schwarzes Haar zurückgekämmt, sein
Gehrock war mit rotem Seidenjacquard gefüttert, und sein Hut,
der neben ihm lag, war aus Biberfell. Johns Freund war so vital
wie nur irgendein Mann, den er kannte, so lebendig wie ein wildes Tier.
»Entehrt bin ich bereits, John«, sagte Rhett. »Was soll mir also
noch Schlimmeres passieren?« Sein plötzliches Grinsen glitzerte
im Dunkeln. »Da werden sich die alten Klatschweiber aber wieder
die Mäuler zerreißen.«
»Dafür hast du ja schon so manches Mal gesorgt.«
»Fürwahr. Ich habe den ehrbaren Leuten ausreichend Gelegenheit gegeben, sich zu empören. Wer hat Charlestons Moralaposteln bessere Dienste geleistet als ich? Wirklich, John – ich
bin doch längst zum Schreckgespenst geworden.« Er gab seiner
Stimme einen mahnenden Ton: »Kind, wenn du dich nicht endlich besserst, wirst du noch wie Rhett Butler enden!«
»Ich wünschte, du würdest mit deinen Scherzen aufhören«, sagte
John leise.
»John, John, John …«
»Darf ich ganz offen sein?«
Rhett hob eine dunkle Augenbraue. »Ich kann dich nicht davon
abhalten.«
»Du musst das nicht zu Ende führen. Sag Hercules, dass er umdrehen soll – wir machen eine gemütliche Morgenpartie in die
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Stadt und gönnen uns ein gutes Frühstück. Shad Watling ist kein
Ehrenmann, und du musst dich nicht mit ihm schlagen. Watling
konnte keinen von Charlestons Ehrenmännern als Sekundanten
gewinnen. Er hat irgendeinen unglückseligen Yankeetouristen in
seinen Dienst gepresst.«
»Belle Watlings Bruder hat ein Recht auf Satisfaktion.«
»Herrgott, Rhett – Shad ist der Sohn des Aufsehers deines Vaters. Sein Angestellter!« John Haynes machte eine abfällige Handbewegung. »Biete ihm eine finanzielle Entschädigung an …« Er
hielt bestürzt inne. »Du machst diese … diese ganze Geschichte ja
wohl nicht für das Mädchen?«
»Belle Watling ist ein besserer Mensch als viele, die sie verurteilen. Nichts für ungut, John, aber meine Motive darfst du nicht in
Zweifel ziehen. Der Ehre muss Genüge getan werden: Shad Watling hat Lügen über mich erzählt, und ich habe ihn gefordert.«
John wollte so viel sagen, dass er kaum ein Wort hervorbrachte.
»Rhett, wenn das mit West Point nicht gewesen wäre …«
»Meine Ausweisung, meinst du? Das ist doch nur meine jüngste,
extravaganteste Schande.« Rhett packte seinen Freund am Arm.
»Muss ich dir aufzählen, wie oft ich Schande über mich gebracht
habe? Mehr Schande und Versagen als …« Er schüttelte müde den
Kopf. »Ich bin die Schande wahrlich leid. John – hätte ich vielleicht einen anderen bitten sollen, mir zu sekundieren?«
»Verdammt!«, rief John Haynes. »Gottverdammt!«
John Haynes und Rhett Butler hatten sich in Cathecarte Puryears
Schule in Charleston kennengelernt. Als Rhett nach West Point
ging, war John Haynes bereits in der Reederei seines Vaters tätig.
Nach Rhetts Ausweisung von der Militärakademie und seiner
Rückkehr in die Stadt sah Haynes seinen alten Freund dann und
wann auf der Straße. Manchmal war Rhett nüchtern, häufiger jedoch nicht. Es bekümmerte John, einen Mann von Rhetts natürlichem Charme in solch liederlichem, übel riechendem Zustand
zu erleben.
John Haynes war einer jener jungen Südstaatler aus guter Fami-
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lie, die sich das Geschirr der bürgerlichen Tugenden anlegen, als
wären sie dafür geboren. John war Kirchenältester von St. Michael
und der jüngste Ballmeister der St. Cecilia Society. Obwohl er
Rhett um seinen Esprit beneidete, begleitete er ihn und seine
Freunde – »Colonel Ravanels Korona« – nie auf deren nächtlichen
Zügen durch die Freudenhäuser, Spielhöllen und Saloons von
Charleston.
Dementsprechend erstaunt war John gewesen, als Butler in das
Hafenbüro von Haynes & Son gekommen war, um Johns Unterstützung bei einem Ehrenhandel zu erbitten.
»Aber Rhett, was ist mit deinen Freunden? Andrew Ravanel?
Henry Kershaw? Edgar Puryear?«
»Ach, John – du wirst wenigstens nüchtern sein.«
Nur wenige Männer und Frauen konnten Rhetts unbekümmertem Grinsen widerstehen, und John Haynes zählte nicht zu
ihnen.
Vielleicht war John etwas langsam. Von amüsanten Skandalen
erfuhr er immer erst dann, wenn die Gesellschaft von Charleston
ihrer bereits überdrüssig wurde. Wenn John die witzige Bemerkung eines geistreichen Mannes wiedergeben wollte, verhedderte
er sich unweigerlich. Mochten Charlestons Mütter ihn für einen
»guten Fang« halten, die Mädchen hinter ihren Fächern kicherten
über ihn. Doch John Haynes hatte zweimal bei Ehrenhändeln sekundiert. Wenn die Pflicht an seine Tür klopfte, war John Haynes
immer zu Hause.
Der Hauptdeich der Plantage Broughton war ein breiter, aus
Erde aufgeschütteter Damm, der die Reisfelder vom Ashley River
trennte. Die Kutsche schlingerte, als sie vom Deich ins Inland abbog.
John Haynes hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Diese ganze
Sache – diese scheußliche, tödliche Sache – würde ihren Lauf
nehmen, was immer er auch tat. Der Ehre musste Genüge getan
werden. Es war nicht Hercules, der das Gespann lenkte – die knochigen Hände der Ehre hielten die Zügel. Es waren keine Happoldt-Pistolen Kaliber .40, die in dem Mahagonikasten lagen – es
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Donald McCaig
Rhett
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640 Seiten
1. Auflage 2007
Rhett Butler’s People. Copyright © 2008 by
The Sun Trust Bank, as Trustee of Trusts created by Stephens Mitchell
under certain instruments dated November 5, 1975,
and under the will of Stephens Mitchell.
All rights reserved.
Für die deutschsprachige Ausgabe
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Satz: Dörlemann Satz, Lemförde
Druck und Bindung: GGP Media GmbH, Pößneck
Printed in Germany
ISBN 978-3-455-40100-4