Die Möllemann
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Die Möllemann
Die MöllemannDebatte Der europäische Nationalpopulismus Claus Leggewie Wer ist der “deutsche Jörg Haider", lautete vor zehn Jahren schon die Frage, als die “Republikaner" und andere rechtspopulistische Parteien gescheitert waren, nicht zuletzt an der mangelnden Zugkraft ihres Führungspersonals (Franz Schönhuber, Gerhard Frey et alii). Ronald Barnabas Schill schien ein neuer Kandidat zu sein, doch sein Flair reichte nicht über die Hansestadt Hamburg hinaus, wo sein Ruf als furchtloser Herausforderer der großen Volksparteien auch stark gelitten hat. Der spektakuläre, auch in dieser Höhe nicht mehr so überraschende Wahlerfolg der Liste Pim Fortuyn (LPF) in den Niederlanden warf erneut die Frage auf, weshalb die Bundesrepublik Deutschland von solchen Erscheinungen verschont geblieben ist. Anhand einer Fallstudie zum sogenannten Antisemitismusstreit, alias Affäre Möllemann, im Frühsommer 2002 soll erörtert werden, inwieweit dieser vermeintliche Tabubruch dem Schnittmuster des europäischen Nationalpopulismus entspricht. Zwar dürfte der ehemalige FDP-Vize Jürgen W. Möllemann ebenso wenig der “deutsche Fortuyn" sein, doch zeigt sein Vorgehen, wie die Suche nach “Arbeit, Wohlstand, Wahrheit" (LPF) in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland ein Pendant finden könnte. Nationalpopulismus in Europa1 Ohne ausdrücklich an Vokabular und Rhetorik des Faschismus anzuschließen, ohne Rückgriff auf dessen neonazistisch erneuerte Straßenmilitanz sind nationalpopulistische Kräfte vielerorts in die Parlamente vorgedrungen, wo sie, als Sperrminorität oder Koalitionspartner, Situationen der “Schwerregierbarkeit" heraufbeschwören.2 Vor Pim Fortuyn hatte im November 2001 die Dänische Volkspartei zwölf Prozent der Stimmen errungen, nachdem es bereits die Wahlerfolge gleich dreier rechtspopulistischer Gruppierungen in Italien, der FPÖ in Österreich, der Schweizer Volkspartei, der Fortschrittspartei in Norwegen und des Vlaams Block in Belgien gegeben hatte. Wirkte die bislang stärkste nationalpopulistische Partei in Westeuropa, der Front National unter Jean-Marie Le Pen, durch innerparteilichen Zwist und Spaltung bereits erschöpft, schaffte auch er bei den französischen Präsidentschaftswahlen 2002 ein spektakuläres Comeback. Haider hat mittlerweile erkennen lassen, daß er sich als Führer der europäischen Nationalpopulisten 36 sieht und dazu bei den nächsten Europawahlen 2004 antreten wird – vielleicht sogar in Deutschland? Eine entsprechende Formation kam in der Bundesrepublik Deutschland allerdings nie recht auf die Beine. REPs und DVU blieben Zaungäste oder Eintagsfliegen in Landes- und Kommunalparlamenten, von der NPD braucht man in diesem Zusammenhang gar nicht zu reden. Knapp zwanzig Prozent der Wählerstimmen errang die erstmals antretende, zuerst kurz nach ihrem Anführer Ronald Barnabas Schill genannte “Partei Rechtsstaatlicher Ordnung" (PRO) bei den Hamburger Senatswahlen im September 2001. Auch wenn dies nur ein regionaler Triumph in einem überschaubaren Stadtstaat über eine verkrustete Staatspartei war, läßt sich an dieser lokalen Miniatur das Erfolgsrezept der Rechtspopulisten neueren Typs wahlsoziologisch gut studieren. Durchgängig in fast allen europäischen Parteiensystemen setzt sich nämlich die Abkehr von soziologisch wie programmatisch konturierten Blockparteien der linken und rechten Mitte fort. Dies war bei der klassischen Linken und den Nationalkonservativen der Fall, zuvor schon bei den konfessionell und agrarisch gebundenen Parteien. Gewinnen können heute vor allem Populisten, die von vornherein auf eine “volatile" (flatterhafte) Wählerschaft eingestellt sind, die eigentlich niemanden mehr in ein Amt wählen mag, dafür aber möglichst viele Etablierte per Sanktionswahl aus dem Amt. Die PDS, die als Regionalpartei mit bundespolitischem Anspruch auch eine populistische Protestpartei ist, kultiviert antikapitalistische Motive, die auf der rechten Seite ebenso anzutreffen sind.3 Mehr noch herrscht dort aber Angst vor multikultureller “Überfremdung", und kulturprotektionistische Ideen werden neuerdings mit einem “neoliberalen” Wirtschaftsprogramm kombiniert und kulminieren im Verlangen nach einem starken Staat, der für die Sicherheit der Bürger sorgt und sich auch um die Werteordnung kümmert. Diese scheinbar widersprüchliche Orientierung kann man “autoritären Liberalismus" nennen, der vor allem im Programm und der praktischen Gegenreform Margaret Thatchers ausgebildet worden ist. Hätte Schills Amateurtruppe in den Bundestagswahlen reüssiert, wäre auch in Deutschland “die Situation da", die sich in Hamburg eingestellt hatte. Die Konstellation in der Hansestadt ist symptomatisch für Spaltungs- und Konfliktlinien “globalisierter" Metropolen wie auch der nachkommunistischen Gesellschaften, wo sich ein alteuropäisches Parteiengefüge gar nicht restaurieren oder festsetzen konnte. Auf diesen Böden ergab sich die neopopulistische Konfigu- ration, die den mutmaßlichen Willen des “ganzen (und einfachen) Volkes" gegen die “politische Klasse" (die da oben) bündelt und gegen etablierte Volksvertreter gleich welcher Couleur in Stellung bringt. Selbsternannte Volkstribune, die nicht selten selbst den begüterten und privilegierten Schichten entstammen, maßen sich an, die wahren Bedürfnisse der “kleinen Leute" zu verstehen und besser zur Geltung bringen zu können als die etablierte Politikelite. Dieser im Kern antipolitische Affekt bildet den Hauptantrieb der populistischen Mobilisierung, wobei sich der Vertretungsanspruch mittlerweile von den “classes populaires" – den nicht an die Arbeiterbewegung gebundenen “kleinen Leute" und dem von der Modernisierung bedrohten Mittelstand – auf alle dem bürokratischen Wohlfahrtsstaat abgeneigten Kreise ausgeweitet hat. “Das Volk als Ganzes gegen den bürokratischen Parteienstaat" lautet die Parole der populistischen Bewegungen. Auf der anderen Seite der Barrikade stehen nicht nur die “Bonzen", sondern auch ein großer Teil der öffentlichrechtlichen Medien, linksliberale Intellektuelle und “Kulturschaffende" – ihnen traut man zu, eine Art Schweigespirale aufzuziehen, welche die “wahren Auffassungen der Menschen draußen im Lande" unterdrückt. Solche Wahrnehmungen bleiben nicht auf das sprichwörtliche Bierzelt beschränkt, sie haben die Talkshows und das elektronische Politainment erreicht. Als Medienprominente (die keineswegs “beliebt" sein müssen) können Populisten auf Parteiapparate weitgehend verzichten; sie bekämpfen die intermediären Institutionen der repräsentativen Demokratie, nicht selten mit einer demagogischen Spielart direkter Demokratie. So inszenieren sie ein tägliches Plebiszit der sich mißachtet und ausgeschlossen fühlenden “kleinen Leute". Ähnlich wie früher die Grünen behaupten populistische Parteien die Überwindung des klassischen Rechts-Links-Gegensatzes zugunsten neuer Konfliktlinien. Damit kassieren sie Stimmen bei den großen Volksparteien; den größten Zuwachs hatten Rechtspopulisten zuletzt bei traditionell der Sozialdemokratie zuneigenden Wählern und bei Nichtwählern, die sich nur noch schwer an die Wahlurnen locken lassen. Damit ist die gewohnte Codierung des politischen Systems nicht überholt; man kann eine rechte Spielart des Populismus identifizieren, der treffend, auch in Abgrenzung zur vorherrschenden Wahrnehmung des Rechtsextremismus, als Nationalpopulismus bezeichnet wird. Auf der rechten Seite steht dieser, weil er ethnisch bzw. ethnozentrisch begründet ist. “America first" lautete ein alter Slogan der amerikanischen Populisten in den 1930er Jahren, den der republikanische Außenseiter Pat Buchanan und der texanische Milliardär Ross Perot während der 1990er Jahre wieder aufleben ließen. Auch in Europa kann man Nationalpopulisten als “Antiglobalisierungs-Partei" kennzeichnen, die Schutz vor fremden Waren, Menschen und Ideen suchen und auf dieser Linie auch gegen die Europäische Union votierten, wo immer sie die Möglichkeit dazu bekamen. Einen prominenten Platz nimmt dabei der Widerstand gegen kulturellen Pluralismus und Einwanderung ein; wo diese Haltung in akute Fremdenfeindlichkeit umschlägt, bestehen auch die engsten Berührungspunkte zu den Rechtsradikalen alter Schule. Nicht zufällig flirten nationalpopulistische Führungsfiguren und Intellektuelle mit dem “Geschichtsrevisionismus": Zwar leugnen sie nicht, wie hartgesottene Rechtsradikale, die Verbrechen des Nationalsozialismus und die Existenz der Vernichtungslager, aber sie fordern vehement einen Schlußstrich unter die Vergangenheit und kultivieren einen sekundären Antisemitismus. Franz Schönhuber machte einmal mit dem Satz Schlagzeilen, er müsse den Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland nicht lieben.4 Auch ein Buchanan hätte nachträglich lieber mit Hitler gegen Stalin gekämpft, Le Pen erklärte den Holocaust zu einer Bagatelle der Geschichte und Haider, der unübertroffene Meister des dreisten double speak, lobte die Errungenschaften der NS-Sozialpolitik und die Tapferkeit der Waffen-SS, an deren flämische Kombattanten der Vlaams Blok heute noch fast bruchlos anknüpft. Nationalpopulisten wollen damit nicht zurück zum klassischen Faschismus. Sie nutzen aber die Frustrationen, welche die “Vergangenheitsbewältigung", also die geistige und institutionelle Distanzierung vom historischen “Faschismus an der Macht", in den vergangenen Jahrzehnten bei einigen hinterlassen hat. Damit wollen sie die nach 1945 verankerten Bedenken zerstreuen, rechts zu wählen, und auch die Sperre beseitigen, welche die gemäßigte Rechte bisher davon abhielt, mit den “Schmuddelkindern" von rechtsaußen Koalitionen zu bilden. In Österreich ist dieses Tabu gebrochen worden.5 Sonderlich erfolgreich waren sie mit dieser ambivalenten Haltung zu einer mittlerweile verblassenden Vergangenheit in Deutschland freilich nicht, und weil pauschale Verweigerung der Immigration aus demographischen und sozialpolitischen Gründen heute kaum noch zieht, werden diese am stärksten an den klassischen Rechtsradikalismus und Faschismus erinnernden Mobilisierungsstrategien schwächer. Unverblümte Deutschtümelei ist nicht mehr zeitgemäß. Auf diese Weise hat die populistische Rechte ideologischen Ballast abgeworfen und sich zu einer bedingten Befürwortung der wirtschaftlichen Globalisierung samt ihrer Folgen durchgerungen. Neoliberale Programmelemente finden sich jetzt bei fast allen Parteien, stets mit einem vermeintlich bürgerfreundlichen Autoritarismus gekreuzt. Daß dieses Potpourri der “neuen Staatsfreunde" (so Dirk Schümer in einer seltsamen Eloge6) nicht sonderlich konsistent wirkt, stellt für ihre Wählerschaft kein Problem dar. Denn als kleine Volksparteien sprechen die Nationalpopulisten Verlierer genau wie Gewinner der Globalisierung an; ein fröhlicher Eklektizismus bezieht viele kulturelle Milieus und politische Lager ein, und er läßt sich in inhaltsleerer Fernsehberichterstattung auch problemlos verkaufen. Fixpunkt ist die Frontstellung gegen den bürokratischen Staat, dem auch ehemals loyale Gruppen das Vertrauen entziehen und von dem vor allem Jüngere keine Segnungen und Posten mehr erwarten. Anhänger dieses autoritären Liberalismus sind von ihren alten Milieus und Tabus, auch von Vereinen, Kirchen und anderen Gesellungsformen entbundene Individualisten, die am wenigsten in Milieus, Vereinen und Organisationen verankert und am schwächsten kirchengebunden sind und pessimistischer als andere Wähler in die eigene und kollektive Zukunft schauen. In der heutigen “Weltrisikogesellschaft" (Ulrich Beck) treten sie offenbar die Flucht nach vorn an und nehmen dreiste “Durchstechereien" ihrer Idolfiguren ohne Bedenken hin, die sich, wie exemplarisch Berlusconi, den Staat wirklich zur Beute machen. Mehr als jede neofaschistische Partei tangieren solche Entwicklungen die Parteiendemokratie, “wie wir sie kannten". Projekt 18: Ein Zwerg möchte Riese sein Populistische Inszenierungen leben in unzähligen Varianten von einer Pointe: Daß es einen wunden, von der politischen Klasse verschwiegenen Punkt gibt, den auszusprechen sich bisher nur niemand traut. Es herrsche ein “Redeverbot", wird die als schweigende Mehrheit titulierte Gemeinde der Populisten instruiert, aber gegen Gesinnungskartelle aufzustehen, sei für einfache Leute riskant – sie drükken sich unbeholfen aus und werden von einem “Meinungskartell" lächerlich gemacht. Um dieses aufzubrechen, bedarf es starker Helden, die an ihrer Stelle handeln. Das können auch politisch Verfemte und Außenseiter sein, als welche sich Haider, Fortuyn und andere gerne stilisieren, aber auch die gelbe Presse, Talk-Radios und TV-Shows vom Stile “Jetzt red’ i" (Schönhuber) schreien das Unsagbare in Millionenauflage heraus. In der Medienschelte aktualisiert sich ein antisemitischer Topos, wonach eine jüdische oder zionistische Lobby die Übermacht des Weltjudentums allerorts zur Geltung bringt. Wie abrufbar diese Rhetorik ist, zeigt die jüngste, als “Antisemitismusstreit"7 apostrophierte Affäre um einen deutschen Politiker, der sich vom Zentralrat der Juden in Deutschland “nicht den Mund verbieten" lassen und vor dessen Vorstand nicht “kriechen" will. Auf derart verlogene Weise “die Wahrheit sagt" Jürgen W. Möllemann, der mittlerweile zurückgetretene stellvertretende Bundesvorsitzende der FDP, der sich als enfant terrible offenbar in den Rang eines Haider, Bossi oder Fortuyn hineinzuspielen bemüht. Die politische Biographie dieses Freien Demokraten prädestiniert ihn für diese Rolle des Tabubrechers. Sie ist von Beginn an geprägt durch Großmannssucht, publicity-förderliche Affären und kalkulierte Peinlichkeiten. Von 1982 bis 1993 brachte er es in den Koalitionskabinetten Helmut Kohls zunächst zum Staatsminister im Auswärtigen Amt, dann zum Bundesminister für Bildung und Wissenschaft und schließlich für Wirtschaft (und kurzzeitig Vizekanzler). Werbebriefe für das Produkt eines angeheirateten Cousins auf offiziellem Briefpapier zwangen ihn 1993 zum Rücktritt. Der “Staatsschauspieler" (Konrad Adam) schien erledigt, doch startete er Ende der neunziger Jahre ein Comeback als Landes- und Fraktionschef im Düsseldorfer Landtag, wohin er die FDP nach langer Durststrecke zurückgeführt hatte. Möllemann ist der klassische politische (und soziale) Parvenü, und ein Blick in die Nachbarländer zeigt, daß dieser Politikertypus derzeit größten Erfolg hat. Möllemann möchte sein, was den deutschen Rechtsparteien bisher gefehlt hat: eine Führungsfigur. Er soll über Mittelsleute in zweifelhafte Rüstungsgeschäfte verwickelt sein, auch in seiner Zeit als Wirtschaftsminister, als der Bundessicherheitsrat erstmals die Ausfuhr von 36 Panzern nach Saudi-Arabien genehmigte, wobei nach Erkenntnissen der bayerischen Ermittlungsbehörden erhebliche Bestechungsgelder geflossen sind.8 Beweisen kann dies niemand, aber die ungenierte Vermischung privater Einkommens- und Vermögensinteressen mit öffentlichen Ämtern ist, wie man vor allem am Fall Berlusconi zeigen kann, ein Hauptmerkmal populistischer Politik. Sichtbarer ist Möllemanns Tätigkeit im Aufsichtsrat des Bundesliga-Spitzenvereins Schalke 04, und noch weniger zu übersehen ist, wenn Möllemann, der in seiner Heimatstadt Münster einen Fallschirmspringerklub leitet, durch spektakulär inszenierte Sprünge aus großer Höhe auf sich aufmerksam macht, wobei am Landeplatz selten kein TV-Team postiert ist.9 Möllemann vermag schon beim Auslaufen mit festem Blick in eine Kamera zu schauen und in ein Mikrophon ein politisches Statement abzugeben, und er tut das mit einem ernsten Gesichtsausdruck, der sich von dem beständigen Lächeln oder Grinsen anderer “Staatsschauspieler" abhebt. 37 Die gewollte Überlappung von Sport und Politik im Entertainment zeigte sich auch im “Projekt 18", womit Möllemann im Juni 2000 in der Sprache des Fußballsports den Anspruch der meist nur knapp über die Fünfprozenthürde schrammenden Partei (Bundestagswahl 1998: 6,3 Prozent; 2002: 7,4 Prozent) etikettierte, aus der alten Rolle der Mehrheitsbeschafferin herauszutreten: “Nach so vielen Jahren Politik habe ich einen großen Traum. Ich möchte, daß unsere, meine FDP nicht mehr gegen den Abstieg kämpft. Ich möchte, daß wir um die Meisterschaft kämpfen. Ich möchte, daß wir auf Sieg setzen, statt auf Platz. Ich möchte, daß wir das Tal der Tränen nie mehr sehen."10 Diese Ambition krönte Möllemann mit dem Vorschlag, die FDP solle einen eigenen Kanzlerkandidaten aufstellen. Das im Blick auf die Usancen der bundesdeutschen Kanzlerdemokratie außerirdisch anmutende Ansinnen wurde in der Partei, allen voran von deren langjährigem Generalsekretär Guido Westerwelle, zunächst abgelehnt und in der Öffentlichkeit als “Schwachsinn" oder “Albernheit" abgetan, im Frühjahr 2002 aber vom nunmehr zum Parteichef gewählten Westerwelle aufgegriffen und als Schlüsselkonzept des Bundestagswahlkampfes 2002 lanciert. Guido Westerwelle hat seine darauffolgende Allgegenwart in TV-Sendungen mit dem Satz kommentiert, er sei “doch nicht zum Schweigen gewählt worden". Politik heißt für ihn, sich beim Reden auch sehen zu lassen. Er will der ultimative Darstellungspolitiker sein, der auch Möllemann in den Schatten stellt. 1961 im Rheinland geboren, ist er schon eine politische und Medien-Generation weiter als Möllemann, den man in seinem provokanten Auftreten wie in seiner Blitzkarriere als Trittbrettfahrer der 68er identifizieren kann – eben jener Generation von “Rot-Grün", die Westerwelle aus dem politischen Machtzentrum zu entfernen angetreten ist.11 Westerwelle wendet sich an eine neue, unternehmerische Generation12, zu der er sich auch selbst rechnet. Anders als mit dem verhinderten Grundschullehrer Möllemann war er als selbständiger Rechtsanwalt tätig, parallel zu seiner politischen Karriere, die er 1980 mit dem Eintritt in die FDP und in die Jungen Liberalen, dem Konkurrenzverband der eher linkslastigen “Jungdemokraten", mitgründete. 1983 bis 1988 war er deren Bundesvorsitzender und stieg über den Kreisvorsitz der Bonner FDP 1988 in den Bundesvorstand der FDP auf; von 1994 bis 2001 war er Generalsekretär der FDP und profilierte die Partei mit einer neoliberalen Programmatik13 noch in der Regierung als Opposition. 38 Westerwelle war der erste “Kanzlerkandidat", der sich für das höchste Regierungsamt allein dadurch qualifiziert hat, daß er eine Partei führt und nicht wenigstens auch einmal eine mittlere Stadt oder ein kleines Bundesland regiert hat. Darüber hinaus ist er ein Politiker zum Anfassen. Auf seiner Homepage liest man: “Die knapp bemessene Freizeit nutzt er bevorzugt für Konzertbesuche und Bücher, für sportliche Aktivität (Mountainbiking, Segeln und Beachvolleyball) oder Reisen nach Italien und Spanien"; in kurzen Hosen ist er auf einem Reitpferd und seiner “Lieblingsinsel Mallorca" abgebildet. Auch diese privaten Marotten sind Teil einer politischen Dauerkampagne, die Westerwelle als ersten Politiker auch in das seinerzeit “hippeste" Live-Inszenierungsformat des Fernsehens versetzte, in den Big-Brother-Container. Westerwelle begründet solche Aktionen mit der Pflicht des Politikers zu Volksnähe, der die Bürger (und gerade solche, die dem herkömmlichen politischen Betrieb fernstehen) dort abholt, wo sie fernsehen. Im “Guidomobil" hat Westerwelle dann während der Sommermonate Campingplätze und andere touristische Zentren angesteuert. Westerwelle, der wenig mehr hat als Medienpräsenz und Frechheit, nutzt inszenierte Fernsehbilder bis an die Grenze des Klamauks und über sie hinaus: Projekt 18 auf Pappbrillen und eingeritzt in Schuhsohlen, wobei die magische Zahl mittlerweile genauso groß ist wie das Parteilogo. Bis zum Frühjahr 2002 hatte er einen Pakt mit dem Fernsehen geschlossen, er war ein immer gern gesehener Talkshowgast, der sich bei den Redaktionen vor allem durch zwei unterhaltsame Eigenschaften auszeichnete: eine durch nichts zu schmälernde gute Laune, die auf Kommando seriöse oder ernste Miene machen konnte, wo dies vom Thema her erforderlich schien und diesem die übliche Griesgrämigkeit zu nehmen verstand, und eine Polarisierungs- und Provokationslust, die sich vor allem an der besonders ins Visier genommenen 68erGeneration aufbaute, beispielsweise gegen “Altachtundsechziger-Kuschelpädagogen". Er agierte durchaus in deren Tradition und Manier, aber in stets adretter Kleidung und mit dem artigen Benehmen eines nur etwas vorlaut geratenen Musterschülers. Westerwelles quirliger Habitus ist selbst die Botschaft, wie er in einer Talkshow freimütig kundtat: Nach einer gewonnenen Landtagswahl oben auf (erstmals hatte die FDP die angestrebte zweistellige Prozentzahl erreicht und damit nach Hamburg, an der Seite des Rechtspopulisten Schill, erneut Aussicht mitzuregieren), begründete Westerwelle bei Sabine Christiansen, “bei allem Respekt", warum der bisherige Amtsinhaber Reinhold Höppner die Wahl verloren habe: Wer mit einer derart “verbrauchten Körperhaltung" Wahlkampf mache, dürfe sich über eine Niederlage nicht wundern. Die von Westerwelle und bei einem Teil des Publikums angesagte Körperhaltung und Geistesverfassung ist frische Gegenwärtigkeit, die von allen ermüdenden Vergangenheiten, Problemen und Ideologien absieht und sich ganz auf das konzentrieren kann, was gerade ankommt. Hier ist, ähnlich unbemerkt wie bei den “jüdischen Vermächtnissen", welche die hessische CDU einmal zur Rechtfertigung illegaler Parteispenden ins Feld führte, ein zweites Mal der Rubikon überschritten, nicht zum offen artikulierten Rassismus, sondern zu einer Art ästhetisch-habituellem Casting, welches der Zuschauerdemokratie adäquat ist: Ob jemand ankommt und per Quote und Stimmkarte akklamiert wird, hängt nicht entfernt vom Inhalt des Gesagten ab, sondern davon, wie er oder sie aussieht, gekleidet ist, den Körper zur Schau stellt, zu reden und zu formulieren in der Lage ist, also von einem Darstellungsregister, das sich von jedem Herstellungsbeweis in der Vergangenheit oder einem Politikversprechen für die Zukunft unabhängig machen kann. In diesem geistigen Vakuum hat Westerwelle über Monate hinweg seine Show abgezogen, animiert durch Moderatoren, deren einziger Qualitätsmaßstab die jeweils erreichte Zuschauermenge und die Anschlußkommunikation ist, und durch ein Publikum, das diese Einschaltquoten gewährt, weil es sich durch Spektakelpolitik gut unterhalten fühlt. Diese Art von Politainment ist die ideale Bühne für Möllemann und Westerwelle. Man kann sie als Politiker identifizieren, die notorisch “die Wahrheit sagen" und damit über Wochen hinweg Aufmerksamkeit auf sich ziehen, was der tiefere Beweggrund der angemaßten Aufrichtigkeit ist. Der Parteivorsitzende erblickte “eine riesige Konjunktur für Wahrheit in der deutschen Politik" (FAS 28.4.2002). Gemeint ist die Wirtschaftsund Sozialpolitik, für deren Revolutionierung das Programm der FDP mehr oder weniger originelle Vorschläge unterbreitet hat, bei denen einzig eine realistische Finanzierungsperspektive fehlt – für Steuerausfälle, die um die 170 Milliarden Euro liegen dürften. Dieses Programm, dem politische Gegner “soziale Kälte" vorwerfen, hat in Deutschland nie sonderlich verfangen; marktradikale Parolen verschrecken eher, und das halbwegs korrekte Bekenntnis zur “Partei der Besserverdienenden" erwies sich vor Jahren als echter Rohrkrepierer. Deshalb wendet man sich nun auch an die Taxifahrer und Hafenarbeiter, und für diese hat die FDP einiges in petto: Westerwelle erklärte sie am Ende einer aufsehenerregenden Selbstverständnisdebatte zur Protestpartei. Der inszenierte Tabubruch14 Auslöser dieser Debatte war die Aufnahme von Jamal Karsli in die FDP-Fraktion des Düsseldorfer Landtages durch Möllemann. Karsli ist ein im Oktober 2000 für die Grünen nachgerückter Abgeordneter syrischer Abstammung; man darf ihn wohl als “Quoten-Ausländer" bezeichnen, jedenfalls wollten die Grünen mit ihm ein “Zeichen für die Migranten" setzen. Die in Düsseldorf wie Berlin mitregierende Partei verlor jedoch bald die Freude an diesem Zugewinn; der Abgeordnete leistete einer Einladung ausgerechnet nach Bagdad Folge, womöglich auf Anregung von Alfred Mechtersheimer, des nach rechtsaußen abgewanderten Ex-Grünen. Wegen der knappen Mehrheit im Landtag wurde Karsli noch eine Zeitlang gehalten, dann jedoch zur Niederlegung seines Mandats gedrängt. Möllemann umwarb ihn in vollständiger Kenntnis seiner Position, die mit der Zuspitzung des Nahostkonfliktes immer polemischer gegenüber Israel wurde. Am 14.12.2001 erklärte der damals noch grüne Abgeordnete, Israels Politik halte “jedem Vergleich mit anderen Terrorregimen der jüngeren Geschichte stand", was ja wohl das Dritte Reich beinhaltet; eine Presseerklärung vom 15.3.2002 stand unter der Überschrift “Israelische Armee wendet Nazi-Methoden an!" Es kam zu einem heftigen Streit mit dem Fraktionsvorstand, woraufhin Karsli die Partei verließ und der FDP-Fraktion beitrat. Mit deren Vorsitzenden Möllemann wußte sich der Konvertit völlig einig. Auch der FDP-Politiker war nicht nur mit scharfer Kritik an der Politik des israelischen Premierministers Ariel Scharon aufgefallen, sondern auch mit Bemerkungen wie der, wenn er angegriffen würde wie die Palästinenser, würde er sich genauso wie diese verteidigen, auch außerhalb des eigenen Territoriums. Dies war eine kaum verklausulierte Solidarisierung mit den auf israelische Zivilisten verübten Selbstmordattentaten, die über alles hinausgeht, was innerhalb der Europäischen Union in den letzten Monaten an Zweifeln oder Sanktionsdrohungen gegenüber einer ganz überwiegend als falsch und kontraproduktiv bewerteten Siedlungs- und Repressionspolitik in den besetzten Gebieten geäußert wurde. Von nun an spielten sich Möllemann und Karsli die Bälle zu wie ein eingeübtes Fußballteam und verlagerten ihre Angriffe von einer “antizionistischen" Kritik an der Politik Israels auf eine Kritik an der “zionistischen Lobby" in Deutschland. Im Interview mit der rechtsintellektuellen Postille Junge Freiheit klassifizierte Karsli seine Äußerungen über die “Nazi-Methoden (Israels)" als “emotionalen Ausrutscher", legte aber nach, beim Thema Israel werde den Menschen in Deutschland “mit der Erinnerung an die Epoche des Nationalsozia- lismus schlicht und ergreifend Angst einzujagen versucht, damit sie den Mund nicht aufmachen". Mit anderen Worten: Die Deutschen seien durch den Holocaust moralisch gelähmt. Dies ist der klassische Topos des Antisemitismus nach Auschwitz, der nicht mehr die Juden als Religionsgemeinschaft oder Rasse herabsetzt oder sie in einer radikalen, exterministischen Variante zu mißhandeln, zu vertreiben oder zu vernichten auffordert. Dieser Antisemitismus will auch nicht, wie der Revisionismus einer marginalen Zeitgeschichtsschreibung, den Tatbestand der Judenvernichtung leugnen oder abmildernd beschönigen. Sehr wohl aber werden damit die moralisch-politischen Schlußfolgerungen der “Aufarbeitung der Vergangenheit" als Belastung für die deutsche Gesellschaft und Politik angeprangert und wird die Entschädigung als ein Geschäft beziehungsweise die Instrumentalisierung der überlebenden und nachlebenden Juden in Deutschland und in der Welt für schnöde materielle Zwecke insinuiert. Diese Unterstellung ist in rechtsradikalen Kreisen Legion, das Neue besteht darin, daß ein maßgeblicher Politiker der im Bundestag vertretenen Parteien diese geäußert hat. Selten hat sich ein Mitglied der politischen Eliten nach 1945 dazu aufgerufen gefühlt, die israelische Politik derart grundsätzlich anzugreifen und im Nahostkonflikt so einseitig Stellung zu beziehen. Darauf angesprochen, verwies Möllemann lakonisch auf die Flut zustimmender Post und Mails, die er bekommen habe; eine Zeitlang konnte man diese Zusendungen im Gästebuch auf Möllemanns Webseite studieren. Möllemann hält sich also zugute, ein Tabu gebrochen zu haben – wobei eine Kritik an der israelischen Militärpolitik niemand verboten oder verhindert hat, sie füllte über Wochen die Spalten der politischen Berichterstattung wie des Feuilletons. Gleichwohl wurde der angebliche Tabubruch in einem Leitartikel der FAZ fast emphatisch begrüßt: “Dieses Tabu, unausweichlich und heilsam, hatte eine Kehrseite: Es war, genau besehen, unsinnig, denn es vertrug sich nicht mit den Spielregeln einer freien Gesellschaft. Es mußte der Zeitpunkt kommen, an dem es fallen würde." (Thomas Schmid, FAZ 23.5.2002) Der Autor fände es auch nur konsequent, wenn sich die FDP im Sinne Möllemanns bemühte, “gewissermaßen die Partei der Historisierung des Nationalsozialismus zu werden. In ihr soll sich der Selbstbehauptungswille einer Generation artikulieren, die geschichtspolitisch für sich den Zustand der Unschuld reklamieren möchte und die denen immer selbstbewußter entgegentritt, die die Entscheidungen der Gegenwart mit den Verbrechen und Menetekeln der Vergangenheit begründen". Schmid, der sich gern in der Pose des 68er-Renegaten gefällt, plädiert für eine “Parteinahme auf dem Boden der Gegenwart", die auch selbstverständlich Kritik einschließt – als sei daran jemals jemand wirklich gehindert worden. Die außerparlamentarische Opposition der 1960er, die sozialen Bewegungen der 1970er und die Friedensbewegungen der 1980er und 1990er waren im Gegenteil ganz überwiegend “antizionistisch" eingestellt.15 Genau wie damals allerdings geriet die sich “antizionistisch" oder “israelkritisch" gebende Kritik in den Verdacht, mehr oder weniger scharfe antijüdische Untertöne zu enthalten und nach oben zu bringen. Dieser sekundäre Antisemitismus braucht starke, vermeintlich übermächtige Juden, die das Fernsehen nunmehr allabendlich ins Haus bringt: Juden, die Menschenrechte verletzen, Unschuldige töten, auf Kirchen schießen, Moscheen dem Erdboden gleichmachen. Juden, die – wie es Karsli unter Rückgriff auf die arabische Opferlegenden und Verschwörungstheorien behauptet – Palästinenser nach Nazi-Manier in Konzentrationslager stecken und sie wie Lagerinsassen tätowieren. So werden aus den Nachkommen der jüdischen Opfer wieder Täter, die man jetzt – als sei tatsächlich ein Tabu gebrochen und eine lästige Hemmung gefallen – ungeniert und in keinem Verhältnis zur wechselseitigen Verstrickung im Nahostkonflikt kritisieren darf. Es war absehbar, daß dies eine Erwiderung seitens der jüdischen Organisationen wie der anderen Parteien hervorrufen mußte und Karsli bald als eine Belastung für die FDP wirken ließ. Darüber entzündete sich ein innerparteilicher Konflikt, der, in mediendemokratischer Manier, zum Showdown zwischen Westerwelle und Möllemann stilisiert wurde. Karsli verzichtete auf die Parteimitgliedschaft, die ihm ein Ortsverein im Ruhrgebiet verliehen hatte, durfte aber auf Drängen Möllemanns mit Einverständnis der Landtagsfraktion deren Mitglied bleiben. Möllemann zitierte bei der Verkündung dieses “Kompromisses" zustimmend aus einem Brief Karslis, der sich als Opfer einer Hexenjagd fühlte und im übrigen unterstrich, “natürlich (...) völlig auf seiten der Palästinenser" zu stehen; auch der damalige FDP-Vize erneuerte seine Kritik an der Regierung Scharon, “denn sie tritt unablässig dem internationalen Recht ins Gesicht". Eine neue Eskalationsstufe erreichte der nur scheinbar beigelegte Konflikt durch Möllemanns barsche Antwort auf Vorhaltungen seitens jüdischer Organisationen in und außerhalb Deutschlands: Ariel Scharon und Michel Friedman hätten mehr zum Antisemitismus beigetragen als alle nicht-jüdischen Kritiker Israels. Auch dies ist ein alter Topos aus 39 dem Repertoire des sekundären Antisemitismus, der nicht (mehr) behauptet, die Juden seien “unser Unglück" und schuld an allen nur erdenklichen Übeln, sondern in scheinbar defensiver Haltung zum besten gibt, erst die Art und Weise, wie sich Juden verhielten, nämlich anmaßend und erpresserisch, bringe die Leute zwangsläufig dazu, sie nicht so sympathisch zu finden. Mit anderen Worten: Die Juden sind nicht schuld an unserem, aber an ihrem Unglück und daran, daß manche sie nicht leiden können und ablehnen. So hatte schon Martin Walser den damaligen Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Ignatz Bubis, angeblafft: Wer “die unaufhörliche Präsentation unserer Schande" betreibe, müsse sich nicht wundern, “wenn die Leute sich wehren". Henryk M. Broder hat auf satirische Weise ausgedrückt, was dahintersteckt: Auschwitz würden die Deutschen den Juden nie verzeihen. Die Botschaft des Duos Karsli/Möllemann lautete, daß es in Deutschland eine “zionistische Lobby" gebe, die deutsche Schuldgefühle ausnutze und die bedingungslose Unterstützung der Politik Israels (und in Verbindung damit der Vereinigten Staaten) erzwingen könne. Karsli bezeichnete sich als jemanden, an dem diese Lobby ein “Exempel statuiert" habe; gemeint war neben dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden, Paul Spiegel, vor allem dessen Stellvertreter, der Wirtschaftsanwalt und als Moderator zweier Talkshows tätige Friedman. “Wer sich mit ihm im Fernsehen anlegt", behauptete Möllemann (und drehte so den Spieß um), “wird zum Antisemiten erklärt", wofür er, auf sich selbst bezogen, eine Entschuldigung Friedmans verlangte. Innerhalb des FDP-Vorstandes wuchs die Furcht, die Partei könne als antisemitische und, schlimmer noch in Wahlkampfzeiten, als zerstrittene erscheinen und das könnte ihre eben gewonnenen Wahlaussichten schmälern. Auf klare Distanz gingen nur einige wenig einflußreiche Mitglieder des linken Parteiflügels und der langjährige Gegner Walter Döring (Baden-Württemberg); die Hausmacht Möllemanns, der NRWLandesverband, hielt zu ihm, Unterstützung kam auch durch den nationalliberalen Wolfgang Kubicki (Schleswig-Holstein). Stets bestand die Gefahr, daß der als nicht domestizierbar geltende Möllemann die Partei verlassen und eine eigene Plattform gründen könnte, wie er es 1997 in einem Interview schon einmal hypothetisch erwogen hatte. Zunächst jedoch ruderte Möllemann ein Stück zurück – und blieb damit im Gespräch: “Ich hätte das so nicht sagen und das Ganze bedenken sollen", räumte er in einem Rundfunkgespräch ein. “Ich war 40 zornig und bin dann aus der Haut gefahren. Ich bin eben auch nur ein Mensch." Dem Zentralrat bot er “Gespräche" an, weigerte sich aber, sich bei Friedman zu entschuldigen, und beharrte trotzig darauf, vor diesem nicht “kriechen" zu wollen, sich also von der “mächtigen Lobby” nicht unterkriegen zu lassen. Ganz offensichtlich behielt der Stellvertreter das Heft in der FDP in der Hand, während der Vorsitzende Westerwelle in Israel (als “designierter Außenminister und Vizekanzler") mit schweren Vorwürfen zu kämpfen hatte, ohne freilich auf ein freundliches Gespräch mit Yassir Arafat in Ramallah zu verzichten. Westerwelle machte sogar den von kompletter Selbstüberschätzung zeugenden Vorschlag, einen “israelischen Vermittler" zwischen Möllemann und Friedman einzuschalten. Erst als die Sturheit des Vize Westerwelles Reputation ganz zu unterminieren drohte, stellte er sich mit einem Ultimatum offen gegen Möllemann. Die Präpotenz des Kanzlerkandidaten (“Politik in der Demokratie heißt nicht nur moderieren, sondern auch führen", FAS 28.4.2002) fällt auf ihn zurück: “Westerwelle redet, andere handeln" (taz 5.6.2002) – wenn es nicht so ein schlechter Kalauer wäre, konnte man Westerwelle nun seine “verbrauchte Körperhaltung" vorwerfen. Fazit: FDP wohin? Was war der tiefere Sinn dieser Aktion, die die FDP an den Rand der Spaltung führte und damit ähnliche Risiken in sich barg wie der Koalitionswechsel 1982/83? Verschiedene Hypothesen sind hier von “politischen Beobachtern" ins Feld geführt worden. Einige argwöhnten, die von Möllemann nicht nur beiläufig erwähnten 800.000 wahlberechtigten Muslime seien für die Freien Demokraten als Klientel zu gewinnen. Sollte dieses Kalkül bestanden haben, dürfte es nicht aufgehen; höchstens einige Araber, nicht aber die türkischstämmige Mehrheit der Muslime in Deutschland dürfte einer Übertragung des Nahostkonfliktes in die deutsche Innenpolitik gegenüber aufgeschlossen sein. Ging es also darum, die FDP in eine klassische Rechtspartei oder Protestpartei mit antisemitischer Tendenz umzuwandeln? Westerwelle hat in einem Interview mit dem Gedanken der Protestpartei gespielt und dabei auch explizit um Wähler der Republikaner (wie der PDS) geworben. Er lud alle in die FDP ein, die sich mit den etablierten Parteien (als sei die FDP selber keine...) und mit dem politischen Betrieb generell nicht mehr zu identifizieren vermögen. Eine direkte Anknüpfung an die nationalliberale, zum Teil ultra-nationalistische Vergangenheit einiger FDP-Landesverbände zu Beginn der 1950er Jahre dürfte sich jedoch verbieten. Und die FDP als ganze ist gewiß keine antisemitische Partei – würde sie dieser Tendenz mehr Raum geben, wäre das vermutlich ihr Ende. Einem diffusen Potential von etwa 15 Prozent oder mehr antisemitisch eingestellten Wählern eine parteipolitische Form zu geben, ist ausgesprochen schwer, und das Vorpreschen Möllemanns hat nicht nur entsprechende Ressentiments freigesetzt, sondern auch die Sperre gegen den Antisemitismus bestärkt. Einer direkten Beerbung der maroden Republikaner, die Möllemann für seinen “Tabubruch" dankten und sich davon einen “zweiten Atem" erhofften, oder der direkten Imitation Haiders (der Möllemann ebenfalls belobigte) geben Meinungsforscher keine Chance (taz 29.5.2002): Die Botschaft ist zu ambivalent, Möllemann gilt als unseriös, und die FDP wird nicht als Protestpartei, sondern als fester Teil des politischen und sozialen Establishments wahrgenommen. Im übrigen dürfte sich der gerade “rechte Rand" des Elektorats an der einwanderungsfreundlichen Linie der FDP stoßen, zu der sich Westerwelle wie Möllemann weiterhin bekennen, während jemand wie Schill eindeutig in die xenophobe Kerbe haut. Die Freien Demokraten sind offenbar dabei, sich neu zu erfinden. Sind sie dabei, sich in eine “weichere" rechtspopulistische Formation umzuwandeln, nach dem Muster der Niederlande oder von Österreich? Die FDP war stets eine Partei der zweiten Wahl, als Korrektiv der beiden Großparteien und für die Mehrheitsbeschaffung zuständig, dafür im Zweifel aber auch immer wieder abgestraft, wie erhebliche Mitglieder- und Substanzverluste nach den Machtwechseln von 1969 und 1982/83 gezeigt haben. Nur Zweitstimmenkampagnen haben die Partei in den letzten Jahren vor dem (mangels Stammwählerschaft weiterhin möglichen) Unterschreiten der Fünfprozenthürde bewahrt, wobei nun noch andere Mehrheitsbeschaffer, vor allem die grüne Konkurrenz, abzuwehren sind. Eine Milieuverankerung hat die FDP nicht mehr aufzuweisen, auch keine regionalen Bastionen mehr, und die sozialliberale Option, für die Möllemann historisch steht und die Westerwelle noch vor kurzem favorisiert hat, verblaßt, auch wenn sie aus mehrheitsarithmetischen Gründen natürlich jederzeit (und ohne die frühere Emphase) wiederbelebt werden kann – von Gerhard Schröder zum Beispiel. Als Alternative bleibt ein Parteienbündnis der rechten Mitte nach Hamburger Vorbild, wie es in ganz Europa erfolgreich ist, und hier zeigt sich, wohin das Projekt 18 wohl führen soll: nicht in die klassische Rechtspartei, schon gar nicht in eine rechtsextreme, sondern in eine postmoderne, programmatisch leere und gerade deshalb erfolgreiche Partei. Dafür hatte die FDP die besten Voraus- setzungen: Sie hat kaum noch Mitglieder (65.000), einen schlanken Apparat, ist offen für “Quereinsteiger" und reagiert sensibel auf Stimmungen, die sie (siehe oben) medial zu verstärken weiß. Ende der neunziger Jahre schienen die Freidemokraten erledigt zu sein, bei Landtagswahlen lagen sie vielfach unter fünf Prozent und in Kommunalparlamenten waren sie kaum noch vertreten, das heißt: Es gibt kaum noch freidemokratische Bürgermeister, Landräte oder Stadtdirektoren. Parteichef Westerwelle versuchte es folglich mit einem Milieu- und Generationenprojekt, sprach die “postalternativen Jahrgänge (...) der technikbejahenden, leistungsorientierten, optimistischen bürgerlichen Jugend"16 an und hoffte, die modernste Partei Deutschlands zu führen, die dem Zerfall der sozialmoralischen Milieus, der Individualisierung und natürlich auch der Säkularisierung (von schwarzen wie roten Glaubensbekenntnissen) am ehesten gerecht werden könnte. Die “neue FDP" hoffte damit auch das Image abstreifen zu können, als bloße Funktionspartei und Mehrheitsbeschafferin für die Union (und ausnahmsweise, als “Umfallerpartei", auch für die SPD) tätig zu sein, also in der Rolle, auf die Möllemanns “Ziehvater" Genscher die FDP mit Scheel und Weyer seit 1956 festgelegt hatte. Mit diesem explizit postideologischen Rezept versuchte Westerwelle auch, das Image der kalten, neoliberalen “Partei der Besserverdienenden" loszuwerden, an dem er selbst mitgestrickt hatte. Möllemann hat, ähnlich wie mit seinem Vorschlag, einen eigenen Kanzlerkandidaten zu küren, das Rad noch weiter gedreht. Sein Fall widerlegt das in der Kommunikationswissenschaft vertretene Argument, ein Politiker könne als “unsympathischer" Zeitgenosse nicht wirksam werden. Daß die FDP bei den auf die Affäre Möllemann folgenden Sonntagsfragen Einbußen hinzunehmen hatte, ist vermutlich eher dem generellen Trend zurück zu den Großparteien zuzuschreiben, wäre aber auch kein wirklicher Beweis für die Resistenz der Wählerschaft gegen den von Möllemann und Westerwelle gemeinsam inszenierten Tabubruch. Denn auch die Zustimmung zur DVU und der Schill-Partei, erst recht die erdrutschartigen Erfolge der Rechtspopulisten in anderen Ländern kamen aus einem demoskopischen Nichts, das sich wiederum aus der geglaubten Marginalisierung des rechtspopulistischen Wählerpotentials speist, das es tunlichst vermeidet, sich bei Umfragen zu “outen". Daß die Freien Demokraten bei der Bundestagswahl 2002 nicht den von ihnen erhofften “Sprung nach vorn" gemacht, sondern mit mageren 7,4 Prozent das von ihnen erreichbare Niveau gehalten haben und vierte politische Kraft geblieben sind, dürfte weniger auf den Überraschungscoup Möllemanns kurz vor der Wahl zurückzuführen sein. Gescheitert war auch und vor allem Westerwelle. Daß die Liberalen überhaupt auf diese Kampagne verfallen sind, kann man am Ende als eine fast mechanische Konsequenz der Mediendemokratie in ihrem permanenten Ringen um Aufmerksamkeit kennzeichnen, die sich den stetigen Tabubruch als Manie und Marotte verordnet hat. Dieser ist in der modernen Kultur positiv besetzt und gilt in der Regel als Verdienst oder Beiprodukt von Aufklärung, die kaum ertragen kann, daß etwas verborgen oder ungesagt bleiben soll, und sich die Enthüllung und die dazugehörige Schaulust zum Prinzip erhoben hat. In dieser Linie haben sich angebliche Tabubrüche serialisiert und generalisiert; besonders die elektronischen Medien leben von der permanenten Enttabuisierung. Sie kennen angeblich keine Tabus und müssen gleichwohl ständig neue schaffen, damit es Stoff für einen zunehmend trivialen und künstlich aufgebauschten Enthüllungsjournalismus gibt, der sich Gehässigkeit zum Berufsethos und die Ridikülisierung der Politik zum Auftrag gemacht hat. Die Provokation ist kalkuliert, der Tabubruch inszeniert, wie man an Karslis und Möllemanns “Israelkritik" deutlich machen kann. So gesehen sind Tabubrecher ohne jedes Risiko; genauso wie die Verteidiger können Zertrümmerer von Tabus ganz ruhig weiterleben und sich in der dadurch gewonnenen Berühmtheit sonnen, nach dem bewährten Motto: Ist der Ruf erst ruiniert, lebt es sich ganz ungeniert. Im politischen Betrieb gelten Tabubrüche immer noch als Leistungen und Mutbeweis; sie dienen freilich dem Machterwerb und werden im übrigen eher von den Mächtigen verübt, die sich künstlich klein machen und ihre Macht genau dadurch zu steigern verstehen. Das ist die große Lüge, die obszöne Unwahrheit der heutigen politischen Kultur, die ständig Debatten über alles und jedes anstoßen zu müssen meint und der es am Ende nur darauf ankommt, daß über etwas geredet und etwas vorgezeigt wird. Das entspricht der zu Ende gedachten Logik der Talkshow und der mit ihr assoziierten Streitkultur, der wir Pärchenbildungen wie Möllemann versus Friedman (und Scheininszenierungen wie Möllemann versus Westerwelle oder Westerwelle versus Fischer) zu verdanken haben. Ihre Apotheose besteht darin, daß diese Streithähne zu “Gesprächen" zusammenkommen, die möglichst fernsehöffentlich stattfinden und Millionen Zuschauer erreichen. Im aktuellen Showdown läßt sich eine durchaus kongeniale Beziehung, eine antagonistische Kooperation erkennen: “Möllemann braucht Friedman wie ein Junkie die frische Nadel" (FAS 26.5.2002), und auch Friedman hat Möllemann nach dessen Worten angeblich “einundzwanzigmal eingeladen" (in seine TV-Show). Man darf eine, unsere politische Kultur nur bedauern, die ihre Probleme in solchen Pseudo-Konflikten abarbeiten muß. Anmerkungen 1 Hans-Georg Betz, Radikaler Rechtspopulismus im Spannungsfeld zwischen neoliberalistischen Wirtschaftskonzepten und antiliberaler autoritärer Ideologie, in: Dietmar Loch / Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.), Schattenseiten der Globalisierung, Frankfurt/Main 2001, S. 167-185; Frank Decker, Parteien unter Druck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Opladen 2000; Paul Hainsworth (Hrsg.), The Politics of the Extreme Right. From the Margins to the Mainstream, London/New York 2000 2 Jüngster Beleg ist die von der FPÖ provozierte österreichische Regierungskrise im September 2002. 3 Richard Stöss (FU Berlin) hat dazu neue Umfrageergebnisse ausgewertet, vgl. die "Ergebnisse des Berlin-Brandenburg-BUS 2002 (Demokratie,Traditionalistischer Sozialismus, Rechtsextremismus)” unter http://www.polwiss.fu-berlin.de/osz/dokumente/PDF/Einst02.pdf. 4 Claus Leggewie, Die Republikaner. Ein Phantom nimmt Gestalt an, Berlin 1990 5 Zu erwähnen ist, daß ausgerechnet die schwarzblaue Koalition die Entschädigung der Zwangsarbeiter auf den Weg gebracht hat, wozu alle vorherigen (großen und kleinen) Koalitionen nicht fähig waren, vermutlich auch, um die EU-"Sanktionen" zu beschwichtigen. Die "Freiheitlichen" haben allerdings umso nachdrücklicher die Aufhebung der Benes-Dekrete gefordert. 6 Dirk Schümer, Die neuen Staatsfreunde, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.9.2001 7 Die Formel erinnert an den durch den nationalliberalen Historiker Heinrich von Treitschke ausgelösten "Berliner Antisemitismusstreit" der 1880er Jahre, den Walter Boehlich in der gleichnamigen Edition (Frankfurt/Main 1965 und 1988) dokumentiert hat. 8 Spiegel 23/2002 (3.6.2002) 9 Satirisch dazu Benjamin von Stuckrad-Barre in der Süddeutschen Zeitung, 22.8.2002. 10 http://www.juergenwmoellemann.de 11 Guido Westerwelle, Die 68er sind die "herrschende Klasse", in: Chatzimarkakis/Otto (Hrsg.), Die 98er – Generation im Aufbruch, Oberursel 2000 12 Eine neue Unternehmergeneration – die New Economy belebt den Wirtschaftsstandort Deutschland, in: Lothar Späth (Hrsg.), Die New EconomyRevolution, München 2001 13 Vgl. Guido Westerwelle (Hrsg.), Von der Gefälligkeitspolitik zur Verantwortungsgesellschaft, München 1997 sowie: Neuland. Die Zukunft des deutschen Liberalismus, München 1999 14 Die folgenden wörtlichen Zitate der freidemokratischen Akteure sind der Tagespresse (SZ, FAZ, FR, Welt, Taz, Spiegel) im Zeitraum April bis Mai 2002 entnommen und an Agenturmaterial überprüft worden. 15 Dazu Martin Kloke, Zwischen Scham und Wahn. Israel und die deutsche Linke 1945-2000 (http://a6laden.coolfreepages.com/projekte/asag/ kloke.html) und Thomas Haury, Zur Logik des bundesdeutschen Antizionismus (http://www.stud.unihannover.de/gruppen/Fs-sowi/hauryneu.htm), beide 10.9.2002. 16 Franz Walter/Tobias Dürr, Die Heimatlosigkeit der Macht, Berlin 2000, S. 24 Claus Leggewie ist Professor für Politikwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen und Direktor des dortigen Zentrums für Medien und Interaktivität. Mit Horst Meier hat er den aktuellen Band “Verbot der NPD oder: Mit Rechtsradikalen leben?” herausgegeben (edition suhrkamp, Frankfurt/Main 2002). 41