Internationales Verkehrswesen, 2_2015 - Toll Collect-Blog

Transcrição

Internationales Verkehrswesen, 2_2015 - Toll Collect-Blog
POLITIK Mautsysteme
Das Toll Collect Free-Flow System benötigt zur Maut-Erhebung keine straßenseitige Infrastruktur. Foto: Toll Collect
Nutzerfinanzierung – Moderne
Instrumente für einen
­nachhaltig fließenden Verkehr
Mauterhebung, Infrastrukturfinanzierung, Güterverkehr, Verkehrsinfrastruktur, Geschäftsmodelle
Zwölf Jahre nach Deutschland verabschiedet sich im kommenden Jahr mit Belgien ein weiteres TransitLand aus dem Eurovignettensystem für LKW. Längst stellen Mautsysteme komplexe Steuerungs- und
Anreizsysteme dar, die neben der Sicherung von Einnahmen eine ökologische Lenkungswirkung entfalten
und zu einer intelligenteren Verkehrssteuerung beitragen können. Neben der Differenzierung von Tarifmodellen nach Schadstoffklassen, Luftverschmutzung und Achsklassen werden zunehmend neue Nutzergruppen in die Mauterhebung integriert und mautpflichtige Strecken sukzessive auf nachgelagertes Netz
ausgeweitet.
Der Autor: Michael C. Blum
N
eben Deutschland haben bereits
Österreich, Polen, die Schweiz,
die Slowakei, Tschechien und
Ungarn den Übergang von der
LKW-Vignettenpflicht zum entfernungsabhängigen Mautsystem vollzogen. Weitere
Länder wie Belgien, Bulgarien und Slowenien planen derzeit einen Wechsel. Dabei
werden zunehmend technologisch hochentwickelte Erhebungsverfahren verwendet. So ermöglicht die Nutzung der GNSS1Technologie eine entfernungsabhängige
Mauterhebung ohne straßenseitige Erhebungsinfrastruktur.2 Sie behindert somit
18
Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015
nicht den freien Fluss des Güterverkehrs,
erlaubt vor allem aber eine schnellere Implementierung von zusätzlichen Netzteilen.
Auf langwierige Infrastrukturprojekte zur
Errichtung von Erhebungsbrücken oder
Mautstationen kann verzichtet werden.
Mautsysteme müssen Erweiterungen flexibel umsetzen
Ein wichtiger Meilenstein in der Entwicklung von Mautsystemen war die 2005 abgeschlossene Einführung des weltweit ersten
und größten satellitengestützten Mautsystems in Deutschland. Mittlerweile wurde
dieses Systemkonzept in der Slowakei übernommen und ist auch für den geplanten
Start der elektronischen Maut in Belgien ab
2016 vorgesehen. Das mautpflichtige Streckennetz in Belgien wird anfangs wenige
tausend Kilometer umfassen und kann
durch die drei Regionen um weitere wichtige Straßen ergänzt werden. Das Netz-Modell in der Slowakei3 wurde 2014 von rund
2500 km auf ungefähr 17 800 km erweitert.
Das deutsche Mautsystem beweist seine
systemisch vorgesehene Flexibilität dieses
Jahr erneut durch vier strukturelle Anpassungen:
Mautsysteme POLITIK
Eine erste Anpassung betraf die Internalisierung externer Kosten, die Deutschland
als erstes Land in der Europäischen Union
seit dem 1. Januar 2015 für Luftverschmutzung anlastet.4 Seit 2005 werden Mauttarife
außerdem nach Schadstoffklassen differenziert, um Anreize für Investitionen in
schadstoffärmere LKW zu begünstigen.
Dies hat dazu beigetragen, dass im Jahre
2015 über 90 % der Fahrleistung durch LKW
der umweltfreundlicheren Klassen 5–7 erfahren werden.
Durch eine weitere Anpassung soll das
mautpflichtige Netz zum 1. Juli 2015 um ca.
1100 km Bundesstraßen erweitert werden.
Während 2005 nur rund 12 800 km Bundesautobahnen der Mautpflicht unterlagen, kamen zwei Jahre später knapp 100 km Bundesstraßen hinzu, die bereits 2012 um
1135 km autobahnähnliche Bundesstraßen
ergänzt wurden. Schaut man in den Koali­
tionsvertrag der Bundesregierung für die
18. Legislaturperiode, so zeigt sich, dass der
Einbezug aller Bundesstraßen in die Mautpflicht (rund 38 000 zusätzliche km) Teil
des politischen Arbeitsauftrags ist.5
Auch beim Tarifierungsmerkmal Achsklasse wird es Veränderungen geben: Während derzeit zwischen zwei Achsklassen –
bis drei Achsen und vier und mehr Achsen
– differenziert wird, soll es zum 1. Oktober
2015 vier unterschiedliche Achsklassen mit
jeweils eigenen Tarifen geben. Diese Anpassung soll Anforderungen der Gebührengerechtigkeit umsetzen und stellt damit spe­
zielle Anforderungen an Erhebungs- und
Kontrolltechnologie, die Verstöße präzise
erkennen muss.
Schließlich sollen ebenfalls ab dem 1. Oktober 2015 LKW bereits ab einem zulässigen Gesamtgewicht (zGG) von 7,5 t – anstatt
wie bislang ab 12t – in die Mautpflicht einbezogen werden. Dadurch steigt die Anzahl
von Fahrzeugen mit verbautem Fahrzeuggerät um ca. 85 0006 von zwischenzeitlich
rund 830 000 auf dann über 900 000. Von
einer weiteren Absenkung der Tonnage auf
3,5t zGG7, wie sie einige Verkehrsexperten8
anregen, sieht man in Deutschland bislang
ab. Der Gesetzentwurf zur Absenkung der
Tonnagegrenze sieht jedoch einen Prüfauftrag9 vor.
Mauterweiterungen sichern Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur
Als vorrangiges Ziel von Mautsystemen gilt
zumeist die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur. Daher sind verlässliche Mauteinnahmen – im Jahr 2014 waren es knapp
4,5 Mrd. EUR – unabdingbar für den Erhalt
und Betrieb von Bundesfernstraßen.10 Maßgeblich für deren Höhe sind die Fahrleistung der LKW sowie die dazugehörigen
Mauttarife. Diese werden in Deutschland
vom Deutschen Bundestag auf Grundlage
des Wegekostengutachtens festgelegt. Das
aktuelle Gutachten11 ermittelt allerdings –
vor allem aufgrund gesunkener Infrastrukturkosten infolge eines niedrigeren Zinsansatzes – deutlich niedrigere Mauttarife im
Vergleich zum vorherigen Gutachten12. Den
drohenden Einnahmenausfall in Höhe von
2 Mrd. EUR für die laufende Legislaturperiode plant Bundesminister Alexander Dobrindt durch die oben angesprochene Internalisierung externer Kosten sowie die Ausdehnung der Mautpflicht auf zusätzliche ca.
1100 km Bundesstraßen und auf Fahrzeuge
ab einem zGG von 7,5 t bis unter 12 t zu
kompensieren (vgl. Tabelle 1). Dieser Schritt
war – basierend auf den Ergebnissen des
Gutachtens – erforderlich, um das Einnahmenniveau stabil zu halten. Mehreinnahmen für die ­Finanzierung der teilweise maroden Verkehrsinfrastruktur werden aber
voraussichtlich nicht erzielt.
Veränderte politische Rahmen­
bedingungen modifizieren
Geschäftsmodelle
Abhängig von politischen Rahmenbedingungen unterliegen auch die Geschäftsmodelle von Mautbetreibern einem Wandel.
Beispielsweise wurde in Österreich der
staatlichen Autobahnen- und Schnellstraßen-Finanzierungs-Aktiengesellschaft,
kurz ASFINAG, seit 1997 die Einhebung der
Mautgebühren übertragen, nachdem sie bereits seit 1982 für die Finanzierung, den
Ausbau, die Erhaltung und den Betrieb des
Autobahnen- und Schnellstraßennetzes zuständig ist. In Deutschland betreibt Toll
Collect das Mautsystem und ist darüber hinaus auch für weitere Aufgaben in der Kontrolle beliehen. Die Europäische Kommission sieht neben nationalen Mauterhebern
eine künftige Rollenverteilung zwischen
2015
Externe
„Toll Charger“ (Eigentümer der Infrastruktur) und „EETS-Anbieter“ (Schnittstelle
zum Kunden) vor.13 Erklärtes Ziel ist es,
Nutzern den Zugang zum mautpflichtigen
europäischen Straßennetz mit nur einem
Vertrag und nur einem Bordgerät zu ermöglichen.14
Wie diese Rollenverteilung zukünftige
Geschäftsmodelle beeinflussen wird, ist derzeit noch unklar. So stellt beispielsweise die
Anforderung der Anbindung aller Mautgebiete innerhalb von 24 Monaten weiterhin
eine große Einstiegshürde dar. Regionale
Ansätze erscheinen hier praktikabler. So ermöglicht Toll Collect bereits seit dem Jahr
2012 ihren Nutzern die Interoperabilität
mit dem österreichischen Mautsystem. Notwendige Aufgaben der o.g. Rolle „EETS-Anbieter“ liegen in den Bereichen Zahlungsverkehr, Nutzerbetreuung und der Distribution. Prozesse sowie Technologien, die nur
einmal für alle EETS-Anbieter geleistet
werden müssten und welche für die Erhebungsqualität in GNSS-Systemen ausschlaggebend sind, sollten beim nationalen
Mautbetreiber angesiedelt sein. Dabei muss
die Sicherstellung und Haftung für höchste
Qualitätsstandards in der Erhebung und
Kontrollfähigkeit auch für EETS gelten.
Neben Flexibilität ist Kosten­
effizienz der entscheidende Faktor
Um den oben aufgezeigten Anforderungen
gerecht zu werden, bedarf es einer flexiblen
Systemarchitektur, die zeit- und kosteneffiziente Umsetzungen erlaubt. Ein schierer
Vergleich von Systemen aufgrund der Kosten/Umsatz-Relationen greift zu kurz, da
die Unterschiedlichkeit der Leistungsbestandteile unberücksichtigt bleibt. Differenziertere und umfänglichere Analysen15 zeigen die Vorteilhaftigkeit des deutschen
Mautsystems (vgl. Tabelle 2). Und das, obwohl zwei volllastfähige Systeme – ein auto2016
2017
2015–2017
Kosten1
459
356
264
1079
1.100 km Bundesstraßen2
 40
 80
 80
 200
LKW ab 7,5t zGG11
 75
300
300
 675
Gesamt
574
736
644
1954
Tabelle 1: Einnahmeprognose der Bundesregierung für unterschiedliche Mauterweiterungen
(in Mio. EUR) Quelle: In Anlehnung an Deutscher Bundestag.
Schweiz
Deutschland
Slowakei
Polen
Gesamtinvestitionen/
Fahrleistung p.a. in EUR / km
0,21
0,04
0,28
0,12
Systemkosten/
Fahrleistung p.a. in EUR / km
0,03
0,02
0,09
0,03
4,8
10,0
46,2–58,2
40,9–48,5
Systemkosten/
Mauteinnahmen p.a. in %
Tabelle 2: Gegenüberstellung von Kostenzahlen ausgewählter LKW-Mautsysteme
(Bezugsjahr: 2011)
Quelle: Hegner/Klaas-Wissing/Stölzle 2013
Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015
19
POLITIK Mautsysteme
matisches und ein manuelles Verfahren –
von Toll Collect betrieben werden.
Fazit: Zwei übergeordnete
­Anforderungen muss ein modernes
Mautsystem erfüllen
Erstens müssen Mautsysteme flexibel veränderbar sein, um zusätzliche Strecken,
Nutzer und Tarifmodelle kosteneffizient zu
integrieren. Nach Vorstellung einiger Mitgliedsstaaten sollen Tarifmodelle nicht nur
nach Netzteilen, sondern z. B. auch nach
CO2-Ausstoß, der Relation von Gewicht und
Achsanzahl, teilweise sogar nach Fahrtrichtung, Ort und Uhrzeit differenziert werden.
In Deutschland könnten in Zukunft möglicherweise externe Kosten für Lärm angelastet werden. Berechnungen, welche die
Lärmkosten von LKW quantifizieren und
verursachergerecht den einzelnen Schadstoff- und Achsklassen zurechnen, werden
derzeit erstellt. Zweitens müssen moderne
Mautsysteme auf ein sich änderndes Nutzerverhalten reagieren können. Eine hohe
Usability mit zusätzlichen Kommunika­
tionskanälen und Zahlmitteln steht hierbei
im Vordergrund. Vor allem EinbuchungsMöglichkeiten auf mobilen Endgeräten erfreuen sich zunehmender Beliebtheit beim
Nutzer und werden daher in Zukunft abzubilden sein. Auf diese Weise kann die Nut-
20 Internationales Verkehrswesen (67) 2 | 2015
zerfreundlichkeit gesteigert werden, welche
maßgeblich zur Akzeptanz des Mautsystems beiträgt.
■
 1
 2
 3
 4
 5
 6
 7
 8
 9
GNSS: Global Navigation Satellite System
Die rund 300 auf Bundesautobahnen stehenden Kontrollbrücken der Toll Collect dienen ausschließlich der Mautkontrolle.
Vgl. Bobošík, Miroslav: GNSS-Based Road Charging in Slovakia, Skytoll-Präsentation auf der Road User Charging
Conference am 6. März 2014 in Brüssel.
Seit 2011 erlaubt die Europäische Union ausdrücklich die
Anlastung eines Anteils der anfallenden externen Kosten
für Luftverschmutzung und Lärmbelästigung, vgl. 2011/76/
EU.
Deutschlands Zukunft gestalten, Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD, 18. Legislaturperiode, S. 29.
Vgl. Deutscher Bundestag: Entwurf eines Dritten Gesetzes
zur Änderung der Bundesfernstraßenmautgesetzes
(Drucksache 18/3923), S.11.
Neben einzelnen Mitgliedstaaten war die Europäische Union durch den Erlass der Wegekostenrichtlinie ein wesentlicher Treiber der Mautpflicht für LKW ab 3,5t zGG. Vgl.
1993/89/EWG sowie 1999/62/EU, mittlerweile geändert
durch 2006/38/EU und 2011/76/EU. Siehe auch: Hartwig,
Karl-Hans / Baumgarten, Patrick / Huld, Tobias: Mautsysteme für Fernstraßen in Europa. Hintergründe – Anwendungen – Erfahrungen, WWU Münster April 2013.
Beispielsweise Eisenkkopf, Alexander: Staatsversagen in
der Verkehrsinfrastrukturpolitik? In: Wirtschaftsdienst
2013, S. 674-677; Rothengatter, Werner: Fonds für die Finanzierung der Verkehrsinfrastruktur, in: Wirtschaftsdienst
2013, S. 666-669.
Vgl. Deutscher Bundestag: Stenografischer Bericht, 62. Sitzung (18/62), Berlin, 5.11.2014, S. 5732 (D).
10
11
12
13
14
15
Dieses Ziel gewinnt nach jahrzehntelanger Unterfinanzierung und einem daraus entstandenen Finanzierungsbedarf von jährlich mindestens 7,2 Mrd. Euro (Nachholbedarf
berechnet auf 15 Jahre) sowie beschlossener Schuldenbremsen für Bund und Länder mehr Bedeutung denn je.
Vgl. Bericht der Kommission: Zukunft der Verkehrsinfrastrukturfinanzierung („Daehre-Kommission“), Dezember
2012; Bericht der Kommission „Nachhaltige Verkehrsinfrastrukturfinanzierung“ („Bodewig-Kommission“), September 2013.
Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur:
Berechnung der Wegekosten für das Bundesfernstraßennetz sowie der externen Kosten nach Maßgabe der Richtlinie 1999/62/EG für die Jahre 2013 bis 2017, März 2014.
Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung: Aktualisierung der Wegekosten für die Bundesfernstraßen in Deutschland, November 2007.
Vgl. Der elektronische europäische Mautdienst (EETS): Leitfaden für die Anwendung der Richtlinie 2004/52/EG des
Europäischen Parlaments und des Rates und der Entscheidung 2009/750/EG der Kommission.
Deutscher Bundestag: Entwurf eines Gesetzes zur Änderung mautrechtlicher Vorschriften hinsichtlich der Einführung des europäischen elektronischen Mautdienstes
(Drucksache 18/2656).
Hegner, Roy / Klaas-Wissing, Thorsten / Stölzle, Wolfgang
2013: St. Galler Mautstudie. Eine kennzahlengestützte Gegenüberstellung der LKW-Mautsysteme in der Schweiz,
Deutschland, der Slowakei und Polen.
Michael C. Blum, Dr.
Bereichsleiter Strategie & Unternehmensentwicklung, Toll Collect, Berlin
[email protected]