Rassismus - Hochschule Fulda

Transcrição

Rassismus - Hochschule Fulda
Sprache – Macht – Rassismus
Herausgegeben von
Gudrun Hentges
Kristina Nottbohm
Mechtild M. Jansen
Jamila Adamou
Inhalt
Einleitung
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Rassismus und Wissen(schaften)
Susan Arndt
Rassismus und Wissen
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Julia Reuter · Henrike Terhart
Wissenschaftliches Sprechen und Sehen
aus Sicht einer postkolonialen Soziologie
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . María do Mar Castro Varela
Lazy politics
Antisemitismus, Rassismus und die Notwendigkeit politischer Arbeit
17
35
. . . 52
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69
Kolonialismus und Rassismus
Malte Hinrichsen · Wulf D. Hund
Metamorphosen des ‚Mohren‘
Rassistische Sprache und historischer Wandel
Felix Lösing
Nachrichten aus dem ‚Herz der Finsternis‘
Rassismus im ‚Spiegel‘ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
Justyna Staszczak
Kolonial geführt
Kontinuitäten kolonialer Denkmuster
in aktuellen Reiseführern zu Tansania
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Peer Zickgraf
Völkerschau und Rassismus, oder:
„Die tausendfachen Späße der Macht“
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
151
Rassismus der Eliten
Gudrun Hentges
Zwischen „Rasse“ und Klasse
Rassismus der Eliten im heutigen Deutschland
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
193
Christoph Butterwegge
Salonrassismus – eine ideologische Reaktion auf die Angst
vor dem sozialen Abstieg. Betrachtungen zum Sarrazin-Syndrom
als Krisensymptom des Finanzmarktkapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
Agnieszka Satola · Joachim Spanger
Die Achse des Guten –
die Sprache(n) des antimuslimischen Rassismus im Netz
. . . . . . . . . . . . . . . .
243
Luis Manuel Hernández Aguilar
Rassifizierte Subjekte und die Sprache der Toleranz. Die Deutsche Islam
Konferenz und die Institutionalisierung des Islam in Deutschland . . . . . . . . 265
Magdalena Marsovszky
Antiziganismus in Ungarn
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
286
Alltagsrassismus
Arzu Çiçek · Alisha Heinemann · Paul Mecheril
Warum Rede, die direkt oder indirekt
rassistische Unterscheidungen aufruft, verletzen kann
. . . . . . . . . . . . . . . . . . .
309
Gürcan Kökgiran · Kristina Nottbohm
Semiologische Guerilla von rechts? Diskursive Aneignungs- und
Umdeutungsstrategien der Identitären Bewegung Deutschland . . . . . . . . . . . 327
Mechthild Nagel · Seth N. Asumah
Diversity Studies and Managing Diversity Differences –
Unpacking SUNY Cortland’s Case and National Trends
Literaturtipps
. . . . . . . . . . . . . . . . .
349
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
367
Die Autorinnen und Autoren
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
371
Einleitung
Dieser Band geht zurück auf die Tagung „Sprache – Macht – Rassismus“, die im
Mai 2013 an der Hochschule Fulda stattfand und von der AG Antidiskriminierung initiiert wurde. Veranstaltet wurde sie vom wissenschaftlichen Zentrum
CINTEUS (Centre for Intercultural and European Studies) und der Hessischen
Landeszentrale für politische Bildung (Wiesbaden). Auf der Konferenz referierten u. a. Paul Mecheril, María do Mar Castro Varela und Mechthild Nagel, deren
Beiträge im vorliegenden Band dokumentiert sind. Zudem konnten weitere Autorinnen und Autoren für die Publikation gewonnen werden.
Der Sammelband greift ein gleichermaßen altbekanntes wie aktuelles theo­
retisches und gesellschaftspolitisches Thema auf. Die Auseinandersetzung mit
rassistischer Sprache und rassistischem Wissen, wie sie anlässlich der jüngsten
Debatten um rassistische Begriffe beispielsweise in Kinderbüchern stattfand,
bestätigt dies. Im gleichen Kontext gewannen Themen erneut an Relevanz, die
bereits seit geraumer Zeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften sowie den
Sprachwissenschaften diskutiert werden: die Frage, ob und unter welchen Bedingungen Sprache bzw. Sprechen als kommunikative Handlung diskriminierend
und verletzend sein kann. Dies setzt voraus, dass Sprechen zugleich Handeln
bedeutet, das bestimmte Effekte hervorruft. Diese performative Dimension
des Sprechens hat der Sprachphilosoph John L. Austin1 bereits in den 1960erJahren in seiner Sprechakttheorie hervorgehoben. Judith Butler, aufbauend auf
Austin, hat in Excitable Speech. A Politics of the Performative (1997) gezeigt, wie
Sprache verletzend sein kann, aber auch, welche Möglichkeiten sich hieraus für
Um­deutungsprozesse ergeben (Resignifizierung).2
Sprache wird also als soziale Praxis verstanden, die dazu dient, Menschen zu
beschreiben und zu klassifizieren, Dinge zu bezeichnen und zu ordnen, um Wirklichkeit kommunikativ zu konstruieren.3 Was wer wie bezeichnet und definiert –
und was nicht –, was als zu markieren gilt, was als Differenz zu kennzeichnen und
1
2
3
Vgl. John Langshaw Austin, How to do things with words, Cambridge 1962; ders., Zur
Theorie der Sprechakte (deutsche Bearbeitung: Eike von Savigny), Ditzingen 1972.
Vgl. Judith Butler, Haß spricht. Zur Politik des Performativen, Frankfurt a. M. 2006.
Vgl. Reiner Keller/Hubert Knoblauch/Jo Reichertz (Hrsg.), Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen
Ansatz, Wiesbaden 2012.
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Einleitung
als bedeutungsvoll hervorzuheben ist, ist ebenso Teil dieser sozialen Praxis. Der
Prozess des othering4 stellt dabei eine besonders wichtige Form der sprachlichen
Konstruktion des „Anderen“ dar.
Damit verbunden ist auch die Frage, wie über Sprache bzw. bestimmte
Sprechweisen Deutungshoheit erlangt und eine Machtposition aufrechterhalten
und legitimiert werden oder – mit den Worten Pierre Bourdieus – wie symbolische Macht bzw. Gewalt ausgeübt werden kann.5 Ferner ist von Interesse, wie ein
bestimmtes Wissen mittels Sprache transportiert und als gültig anerkannt wird
und, daraus folgend: wie Sprache, Wissen und Macht zusammenhängen.6
In welchem Verhältnis aber stehen Sprache und soziale Wirklichkeit zu­­
einander? Ist Sprache reines Abbild einer vorgefundenen Realität? Oder erschafft
und gestaltet Sprache nicht vielmehr ihren Gegenstand erst, bringt ihn immer
wieder aufs Neue hervor und verfestigt ihn somit?
Gleichzeitig eröffnet Sprache die Möglichkeit für semantische Verschiebungen. Wie verändert sich Sprachgebrauch, unter welchen Bedingungen ist Bedeutungswandel möglich und wie vollzieht er sich? Kann mit ihm auch ein Wandel
der gesellschaftlichen Verhältnisse einhergehen? Welche sprachkritischen oder
gar subversiven Strategien stehen marginalisierten Akteurinnen und Akteuren
zur Verfügung? Wie kann sich eine Gruppe „Gehör“ verschaffen, um (stigmatisierende, verletzende und ausgrenzende) Fremdzuschreibungen abzuwehren und
die eigene Deutungsweise dagegen- bzw. durchzusetzen? In welchem Verhältnis
stehen also Sprache und Sprechen zu Wissen und Macht, und welche methodischen, theoretischen und methodologischen Herausforderungen ergeben sich für
die Rassismusforschung?
Alle gängigen Rassismusdefinitionen betonen ungeachtet ihrer unterschied­
lichen Ansätze und Ausrichtungen den allgegenwärtigen Charakter von Rassismus.
Und auch unabhängig davon, ob Rassismus auf struktureller und institutioneller,
auf medialer, alltäglicher und zwischenmenschlicher Ebene verortet, als Vorurteil,
Ideologie oder Diskriminierung aufgefasst oder in verschiedene Formen wie z. B.
biologistischen und kulturalistischen Rassismus unterteilt wird – die sprachliche
und symbolische Dimension spielt direkt oder indirekt immer eine zentrale Rolle.
So ist Sprache ein wesentlicher Bestandteil verschiedener Rassismen, ihre Analyse leistet einen wertvollen Beitrag zum tieferen Verständnis von Rassismus. Zen4
5
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Vgl. Gayatri Chakravorty Spivak, A Critique of Postcolonial Reason. Towards a History of
the Vanishing Present, Calcutta/New Dehli 1999, S. 113.
Vgl. Pierre Bourdieu, Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches,
Wien 2005.
Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt
a. M. 1976.
Einleitung
9
trale Fragen sind etwa: Wie werden Rassismen sprachlich reproduziert, verfestigt
und legitimiert? Welches Wissen wird transportiert (z. B. im Kolonialrassismus)?
Wer spricht und wer wird gehört? Wer definiert, was verletzend ist oder nicht?
Annita Kalpaka und Nora Räthzel plädierten in ihrem viel diskutierten Buch
Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein7 von 1986 dafür, den Begriff „Ausländer“ durch „Einwanderer“ zu ersetzen. Letzterer wiederum wurde in den 1990erJahren von den Bezeichnungen „Migrant/in“, „Person mit Migrationshintergrund“ bzw. „Person mit Migrationserfahrung“ abgelöst. Im politischen Kontext
setzte sich ab 2000 der Begriff des Zuwanderers durch. Heute wird zudem unterschieden zwischen den „Einwanderern“ und den „Zuwanderern“, d. h. zwischen
jenen, die dauerhaft einwandern und die Staatsbürgerschaft des Aufnahmelandes
annehmen, und jenen, die zwar dauerhaft zuwandern, jedoch die Staatsbürgerschaft des Aufnahmelandes nicht annehmen können oder wollen.
Die Vielfalt an Begriffen, die in diesem Zusammenhang kursieren, wird noch
um ein weiteres Begriffspaar vergrößert: Inspiriert durch die niederländische
Debatte findet sich im wissenschaftlichen Kontext mitunter auch die Unterscheidung zwischen „Autochthonen“ (aus dem Altgriechischen: eingeboren, ursprünglich) und Allochthonen („allochthon“, altgriechisch, bedeutet fremd bzw. wörtlich „von anderer Erde“). Hier wird zwischen jenen differenziert, deren Eltern im
Aufnahmeland geboren worden sind (autochthon), und jenen, deren Eltern (oder
Elternteil) selbst zugewandert sind.
Eine vergleichbare Kontroverse ist um den Begriff der Integration entstanden.
In Politik und Wissenschaft wurde seit Mitte/Ende der 1970er-Jahre die Forderung nach einer Integration von Menschen mit Migrationshintergrund erhoben.
Je nach Konzeption des Begriffs wurde beispielsweise unterschieden zwischen der
strukturellen, sozialen, kulturellen und identifikatorischen Dimension der Integration. Konsens besteht mittlerweile darin, dass Integration keine „Einbahnstraße“ ist, sondern dass es sich um ein Projekt handelt, das vor allem auch die
Mehrheitsgesellschaft – und nicht allein die Migrantinnen und Migranten – vor
neue Herausforderungen stellt. Mit der im Zuwanderungsgesetz von 2005 verankerten Einrichtung von Integrationskursen wurde ein politisches I­nstrument
geschaffen, um Migrantinnen und Migranten im Rahmen von Sprach- und
Orientierungskursen Kenntnisse der deutschen Sprache und landeskund­liche
Kenntnisse zu vermitteln.8
7
8
Vgl. Annita Kalpaka/Nora Räthzel (Hrsg.), Die Schwierigkeit, nicht rassistisch zu sein,
Berlin 1986.
Vgl. Gudrun Hentges, Integrations- und Orientierungskurse. Konzepte – Kontroversen –
Erfahrungen, in: dies./Volker Hinnenkamp/Almut Zwengel (Hrsg.), Migrations- und
10
Einleitung
Die Kehrseite der Medaille bestand jedoch darin, dass Integration – vor allem
im Kontext der Debatte um eine „deutsche Leitkultur“ – mit Beginn des neuen
Jahrtausends verknüpft wurde mit Integrationsforderungen und der Androhung,
dass Migranten, die nicht zur Integration bereit (oder in der Lage) seien, mit negativen Sanktionen zu rechnen hätten.9 In den letzten Jahren wurde das Integra­
tionsparadigma zudem kritisiert, weil es in der deutschen Migrationspolitik häufig auch als Exklusionsmechanismus fungiert habe (und weiter fungiere).10
An diesen Beispielen wird deutlich: Wir haben es mit zahlreichen Begrifflichkeiten zu tun, von denen jede einzelne je spezifisch mit (gesellschafts)politischen
und wissenschaftlichen Debatten, sozialen Auseinandersetzungen und Kämpfen
um Deutungshoheit verknüpft ist.
Die Beiträge des vorliegenden Sammelbands haben uns verschiedene
Umgangsweisen der Autorinnen und Autoren mit Begrifflichkeiten, gewaltvoller
Sprache und deren kritischer Analyse verdeutlicht. Für uns als Herausgeberinnen entstanden daraus Überlegungen, wie über rassistische Sprache gesprochen
bzw. geschrieben werden kann, ohne diese zu reproduzieren. Wie also könnte
in einem Sammelband zum Thema „Sprache – Macht – Rassismus“ eine „angemessene“ Sprache aussehen? Und welche Konsequenzen ergeben sich hieraus für
Autorinnen und Autoren hinsichtlich eines verantwortungsvollen und sensiblen
Umgangs mit Sprache? Einerseits kommt ein Text, der sich mit rassistischer Sprache beschäftigt, nicht umhin, seinen Untersuchungsgegenstand in irgendeiner
Weise auch abzubilden und zu benennen. Dies führt zwangsläufig dazu, dass auch
in Wissenschaftssprache Gewalt sprachlich reproduziert wird. Zugleich sollten
sprachsensible Eingriffe weder eine Verharmlosung noch eine Mystifizierung des
Untersuchungsgegenstandes zur Folge haben. Ohne eine vermeintlich „einzig
gültige“ Richtung vorgeben zu wollen, sind wir davon überzeugt, dass es auch in
wissenschaftlichen Darstellungen unerlässlich ist, stets aufs Neue einen kreativen
Umgang mit Sprache zu suchen. Dies kann in Form von Abkürzungen, Synonymen, Umschreibungen oder einfach in der Dosierung rassistischer Begriffe und
Integrationsforschung in der Diskussion. Biografie, Sprache und Bildung als zentrale
Bezugspunkte­, 2. Aufl., Wiesbaden 2010, S. 23–76.
9 Vgl. Gudrun Hentges, Das Plädoyer für eine „deutsche Leitkultur“ – Steilvorlage für die
extreme Rechte?, in: Christoph Butterwegge u. a., Themen der Rechten – Themen der
Mitte­. Zuwanderung, demographischer Wandel und Nationalbewusstsein, Opladen 2002,
S. 95–121.
10 Vgl. Sabine Hess/Jana Binder/Johannes Moser (Hrsg.), No integration?! Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Integrationsdebatte in Europa, Bielefeld 2009; Peter Rieker/Sven
Huber/Anna Schnitzer/Simone Brauchli (Hrsg.), Hilfe! Strafe! Reflexionen zu einem
Spannungsverhältnis professionellen Handelns, Weinheim/München 2013.
Einleitung
11
Zitate erfolgen, jedoch ohne dass die Analyse an Aussagekraft verliert. Welchen
Weg eine Autorin/ ein Autor im Einzelnen einschlägt, hängt auch vom jeweiligen
Untersuchungsgegenstand ab.
Der vorliegende Band gliedert sich in vier Themenschwerpunkte. Im ersten
werden Ansätze der postkolonialen (Sozial)wissenschaften vorgestellt. Susan
Arndt, Anglistin und Afrikawissenschaftlerin, wirft in ihrem einleitenden Beitrag Rassismus und Wissen die Frage auf, wer von Rassismus privilegiert wird –
und wer nicht. Sie zeichnet nach, in welcher Weise Rassismus die weiße westliche
Wissensgesellschaft geprägt hat, und plädiert dafür, Rassismus als „komplexes
Netzwerk“ anzuerkennen, das Strukturen und Wissen produziert hat und somit
Menschen sozialisiert und prägt. Das „Nicht-Wahrnehmen“ von Rassismus
begreift Arndt als aktiven Prozess des Verleugnens. Dieser sei, so Arndt, nur deshalb möglich, weil ein weißes Privileg existiere, das es nicht erforderlich mache,
sich mit Rassismus auseinanderzusetzen. Man müsse sich diesem „kollektiven
Erbe“ stellen, denn: „Wissen ist Macht – und Nicht-Wissen schützt jede Form von
Macht.“
Die Soziologin Julia Reuter und die Erziehungswissenschaftlerin Henrike
Terhart befassen sich in ihrem Beitrag Wissenschaftliches Sprechen und Sehen
aus Sicht einer postkolonialen Soziologie mit „rassistischen Fallstricken“ und
er­örtern Möglichkeiten und Wege einer „kreativen Reflexion in der Erforschung“
der so­genannten Migrationsanderen (Paul Mecheril). Ausgehend von produktiven Ansätzen einer postkolonialen Soziologie diskutieren sie deren Konsequenzen für ein Selbstverständnis von Wissenschaft. Daran anknüpfend stellen sie
ein konkretes Forschungsprojekt vor, vor allem mit Blick auf „das Sprechen und
Sehen“ derjenigen, die am Forschungsprozess beteiligt sind. Ihre eigenen Erfahrungen mit wissenschaftlichem Sprechen und Schreiben reflektierend, resümieren die beiden Autorinnen, dass das Überdenken der eigenen Arbeit durch eine
Berücksichtigung der postkolonialen Perspektive geschärft werden kann.
María do Mar Castro Varela (Psychologin, Pädagogin und Politologin)
erläutert in ihrem Beitrag Lazy politics. Antisemitismus, Rassismus und die Notwendigkeit politischer Arbeit ihren Untersuchungsgegenstand als eine Politik,
die geprägt sei durch dogmatisches Reden, einen vehementen Antiintellektualismus, durch Verbote und Zensur. „Lazy politics“ bringe jene Machtformationen hervor, denen sie eigentlich entgegenwirken wolle. Um ihr Thema zu präzisieren, unternimmt sie einen Streifzug durch die marxistische und die Kritische
Theorie, durch die Existenzphilosophie, die Dekonstruktion, den Poststrukturalismus, die postkoloniale Theorie und den Feminismus. Dabei arbeitet sie
widersprüchliche Argumentationen heraus und lotet deren Bedeutung für die
heutige Debatte aus.
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Einleitung
Den zweiten Themenschwerpunkt Kolonialismus und Rassismus eröffnen die
Soziologen Malte Hinrichsen und Wulf D. Hund. Sie befassen sich in ihrem Beitrag Metamorphosen des ‚Mohren‘. Rassistische Sprache und historischer Wandel
mit einem scheinbar antiquierten Begriff, dessen Bedeutungswandel in den letzten Jahrhunderten sie nachzeichnen. Dabei betrachten sie die Sprache in ihrer
Funktion, die Natur von Objekten und Ereignissen zu konstruieren, sowie Strategien der Benennung, der Zuschreibung spezifischer Eigenschaften, der Argumentation und Legitimation.
Der Soziologe Felix Lösing analysiert in Nachrichten aus dem Herz der
F­insternis die Kongoberichterstattung im Wochenmagazin Der Spiegel für den
Zeitraum von 1947 bis 2012. Sein Textkorpus umfasst 502 Artikel, die er mit dem
Ansatz der Kritischen Diskursanalyse (Siegfried Jäger) interpretiert und kontextualisiert und auf rassistische Inhalte und Strategien hin befragt.
Justyna Staszczak greift das Thema Kontinuitäten kolonialer Denkmuster
auf. Am Beispiel eines aktuellen Reiseführers zu Tansania betrachtet sie – unter
Berücksichtigung der Rassismusanalyse und Kolonialismuskritik – die Repräsentation der Bevölkerung Tansanias. Im Zentrum ihrer Textanalyse steht die Frage,
welche Rolle dem Tourismus bzw. den Reisenden vor Ort zugeschrieben und wie
die Beziehung zwischen den Touristen und der lokalen Bevölkerung konzipiert
wird.
Der Sozialwissenschaftler Peer Zickgraf widmet sich in seinem Beitrag der
„Verschränkung rassistischer und kannibalischer Diskurse“ im Rahmen von Völkerschauen. Ausgehend von der ersten deutschen Völkerschau 1874 in Hamburg,
die der Zoodirektor und Unternehmer Carl Hagenbeck inszeniert hatte, befasst
sich Zickgraf mit Machtbeziehungen und Diskursen, die im Kontext der Völkerschauen entstanden. Er vertritt die These, dass „die Fremden auf ‚kannibalische‘
Art und Weise einverleibt werden sollten […], um sie schließlich aus der weißen
Dominanzgesellschaft auszusondern“. Dabei entdeckt er auch aktuelle Kontinuitäten der vermeintlich der Vergangenheit angehörenden Völkerschauen: Noch im
Jahr 2005 wurde im Augsburger Zoo ein „African Village“ inszeniert.
Im Mittelpunkt des dritten Themenschwerpunkts steht der Rassismus der
E­liten. Gudrun Hentges rekapituliert in ihrem Beitrag Zwischen „Rasse“ und
Klasse. Rassismus der Eliten im heutigen Deutschland die von Thilo Sarrazin
verbreiteten Ideologien. Ausgehend von Albert Memmis Rassismusbegriff prüft
sie, ob die von Sarrazin verbreitete Ideologie als rassistisch zu kategorisieren ist.
Im zweiten Teil ihres Beitrags untersucht die Politikwissenschaftlerin, anknüpfend an Robert Miles, die ideologischen Verzahnungen zwischen Rassismus und
Sexismus, Rassismus und Nationalismus sowie die Verschränkung von Rasseund Klassediskurse im heutigen Rassismus.
Einleitung
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Christoph Butterwegge argumentiert in Salonrassismus – eine ideologische
Reaktion auf die Angst vor dem sozialen Abstieg, dass Sarrazin die Unterschiede
zwischen biologistischem und kulturalistischem Rassismus verwische. Insofern
könne man von einem doppelten, dualen oder hybriden Rassismus sprechen.
Der Politikwissenschaftler analysiert den von Sarrazin neu erfundenen hybriden
R­assismus in seiner Ambivalenz und Widersprüchlichkeit.
In Rassifizierte Subjekte und die Sprache der Toleranz untersucht Luis Manuel
Hernández Aguilar, wie der Begriff der „Toleranz“ im Kontext der Deutschen
Islam Konferenz gebraucht und instrumentalisiert wird. Aguilar befasst sich
am Beispiel der Gruppe der „Muslime/Muslima“ und der „Deutschen“ mit der
Frage, wie mittels Metaphern und sprachlichen Bildern Differenzierungen zwischen Gruppen erzeugt und als konträr und unvereinbar konstruiert werden. Der
Soziologe arbeitet heraus, dass Begriff und Konzept der Integration implizit von
der Existenz einer homogenen, monokulturellen Gesellschaft ausgehen, deren
imaginäre Einheit und Sicherheit als durch Parallelgesellschaften bedroht vorgestellt würden, die es daher zu bekämpfen gelte.
Auch der folgende Beitrag widmet sich der Islamfeindschaft. Am Beispiel
eines besonders pointierten Artikels des Weblogs Die Achse des Guten, der im
September 2004 u. a. von Henryk M. Broder gegründet wurde, analysieren die
Soziologin Agnieszka Satola und der Sozialwissenschaftler Joachim Spanger die
Sprache(n) des antimuslimischen Rassismus im Netz. Ausgewählt haben sie den
Artikel von Akif Pirincci Das Schlachten hat begonnen vom März 2013. Pirincci
fantasiert das Szenario eines „schleichenden Genozids“ an deutschen Männern
und bedient sich dabei neben islamfeindlichen Behauptungen zahlloser völkischsozialdarwinistischer und martialisch-vulgärer Formulierungen.
Die Kulturwissenschaftlerin Magdalena Marsovszky richtet ihren Blick auf
den Antiziganismus in Ungarn. Die völkische Ideologie erlebt in Ungarn derzeit
eine extrem starke Konjunktur, die nur vor dem Hintergrund der langen Tradition einer völkischen Ideologie, einer positiven Bezugnahme auf die Magyaren
und auf Großungarn in den Grenzen vor dem Vertrag von Trianon (1920) zu
verstehen ist. Marsovszky zeichnet damit einhergehende antiziganistische Denkstrukturen nach, die sich nicht nur gegen Sinti und Roma richten, sondern ebenso
gegen Arme und Obdachlose. In Anlehnung an den Begriff des strukturellen
Antisemitismus prägt sie den Begriff des strukturellen Antiziganismus.
Im vierten Themenschwerpunkt werden unterschiedliche Phänomene des
Alltagsrassismus analysiert. Arzu Çiçek, Alisha Heinemann und Paul Mecheril
diskutieren die Frage, Warum Rede, die direkt oder indirekt rassistische Unterscheidungen aufruft, verletzen kann. Dabei unterscheiden Çiçek/Heinemann/
Mecheril zwischen primären und sekundären rassistischen Botschaften­ bzw.
14
Einleitung
primären­ und sekundären Rassismuserfahrungen. Die Schwierigkeit, über Rassismuserfahrungen zu sprechen, sei im bundesdeutschen Kontext vor allem damit
zu erklären, dass die hiesige Debatte von einer „Engführung von Rassismus auf
den Nationalsozialismus“ gekennzeichnet sei und in der Folge implizite rassistische Botschaften nicht problematisiert würden.
Mit einem höchst aktuellen Phänomen – der Identitären Bewegung Deutschland – befasst sich der Beitrag von Gürcan Kökgiran und Kristina Nottbohm.
Sie zeichnen nach, dass diese „Bewegung“ von Frankreich ausgehend auch in
Deutschland Wirkungsmacht erlangen konnte. Die Identitären nutzen zum einen
umfassend Social Media, entfalten aber auch nicht virtuelle Aktivitäten, die sich
stark an den Aktionsformen der (radikalen) Linken orientieren (Besetzungen,
Flashmobs etc.). Zur Interpretation dieser „Kommunikations- bzw. Medien­
guerilla“ machen Kökgiran/Nottbohm die Theorie der Sprechakte nutzbar.
Bezugnehmend auf das Konzept der Resignifikation (Judith Butler) und das der
Retorsion (Pierre-André Taguieff) untersuchen sie die diskursiven Aneignungsund Umdeutungsstrategien der Identitären.
Derzeit gewinnt die Frage an Bedeutung, wie Bildungseinrichtungen, insbesondere Hochschulen, mit der interkulturellen Öffnung ihrer Institution und
mit Diversität umgehen. Am Beispiel der State University New York zeichnen die
Philosophin Mechthild Nagel und der Politikwissenschaftler Seth N. Asumah in
ihrem Beitrag Diversity Studies and Managing Differences nach, wie die US-amerikanische Diversity-Debatte verlaufen ist und welche praktischen Konsequenzen
diese Debatte für die universitäre Bildung hat.
Der Sammelband wäre ohne die tatkräftige Unterstützung von Kolleginnen
und Kollegen, Freundinnen und Freunden nicht zustande gekommen. Ganz herzlich bedanken wir uns bei unserem Verleger Friedrich Veitl für sein lebhaftes Interesse an der Tagung und dafür, dass er uns ermutigt hat, einen begleitenden Band
herauszugeben. Unser Dank gilt insbesondere Nicole Warmbold vom Metro­pol
Verlag, die das Projekt als fachkundige Lektorin von Beginn an begleitet und mit
überaus großem Engagement vorangetrieben hat. Vielen Dank auch an Volker
Hinnenkamp, Amata Schneider-Ludorff und Sabrina Freyer für ihre aufmerksame Lektüre einzelner Texte und ihre wertvollen Rückmeldungen. Nicht zuletzt
danken wir allen Autorinnen und Autoren herzlich für ihre Beiträge.
Dezember 2013
Gudrun Hentges, Kristina Nottbohm, Mechtild M. Jansen, Jamila Adamou