Lesekompetenz und Lesekultur in der Klasse

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Lesekompetenz und Lesekultur in der Klasse
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Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
Strobl/Österreich 9.5.2011
Lesekompetenz und Lesekultur in der Klasse
Einführungs-Vortrag Strobl/Wolfgangsee 9.5.2011
Zentrale Bildungsaufgabe der Grundschule ist, dass Kinder „Leseinteresse und Lesebereitschaft, Lesefertigkeit und sinnverstehendes Lesen entwickeln“ (KMK 2005, 9).
Im Bestreben, die Lesekompetenzen der Schüler zu erhöhen, wird die Leseleistung in
Deutschland regelmäßig gemessen – auch in Österreich wird in der 4. Klasse die Einhaltung
der den letzten Jahren entwickelten outputbezogenen Bildungsstandards überprüft. Wie aber
kann das Lernen der Schüler, der Erwerb von Lesekompetenz im Unterricht bestmöglich
unterstützt werden, damit Grundschüler nicht nur gut, sondern auch gern lesen? In den
österreichischen Standards sind dafür Lernbedingungen angegeben:
Für den alltäglichen Unterricht werden seit den großen Vergleichsstudien zunehmend
Materialien, Lesehefte und andere, auch multimediale Möglichkeiten wie Antolin zur
strukturierten Übung des Lesens und Leseverstehens angeboten – auch in wohlmeinender
Vorbereitung auf Situationen der Leistungsmessung. Ich möchte zunächst am Beispiel eines
solchen Leseheftes exemplarisch zeigen, welcher Lesebegriff den Schülern damit nahe gelegt
und welches Leseverhalten unterstützt wird. Inwiefern werden damit Leseinteresse und
Lesebereitschaft, Lesefertigkeit und sinnverstehendes Lesen mit solchen Leseheften
ausgebildet?
Daran anknüpfend wende ich mich der Komplexität des Begriffs Lesekompetenz zu. Wir
wissen, dass Lesen je nach Format und Inhalt des Textes, je nach Situation und Interesse des
Lesers und je nach dem Medium, in dem gelesen wird, – um nur einige Faktoren zu nennen –,
unterschiedliche Fähigkeiten erfordert. Lesen stellt jedoch nicht nur Anforderungen an den
Leser, es wirkt zudem auch förderlich für das Denken und Sprechen. Diese Bedeutung des
Lesens, die Erfahrung mit vertexteter Sprache, ist gerade für die ersten Schuljahre relevant,
insbesondere für die Kinder, die vor- und außerhalb der Schule wenig Anregungen zum Lesen
erhalten, die eher schriftfern aufwachsen und immer wieder zu den schwächsten Lesern und
damit auch den Verlierern im Schulsystem zählen.
Gerade für sie ist nicht nur die Frage des Lesenlernens, sondern auch die Frage der
Nachhaltigkeit wichtig, d.h. die Frage: Wie kann das Lesen im Sinne einer Grundbildung im
Unterricht bestmöglich unterstützt werden, damit Kinder nicht nur gut, sondern auch gern
lesen? Denn ein Leser kann nicht werden, wer nur in der Schule liest. Hierzu werde ich keine
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strukturellen und organisatorischen, sondern didaktisch-methodische Aspekte zur Bedeutung
und Gestaltung einer Lesekultur im Schulalltag thematisieren, die Kinder zur Neugier auf
Texte und zur eigenständigen Lektüre anregen. Ich skizziere dazu abschließend drei
Bausteine oder Säulen des Leseunterrichts und führe dazu nur wenige Beispiele aus, die
speziell Gegenstand unserer Forschung in Hamburg und vielleicht für Sie von Neuigkeitswert
sind.
1 Bilderbuch und Lesematerial – ein Beispiel
Das exemplarisch betrachtete Leseheft zur Übung des Lesens basiert auf der Geschichte von
Maritgen Matter „Ein Schaf fürs Leben“. Diese Geschichte liegt als ansprechend gestaltetes
Bilderbuch vor und seit 2004 auch als von Friedhelm Ptok hervorragend gelesenes Hörbuch.
Es geht darin um einen hungrigen Wolf, der auf seiner Suche nach Nahrung auf ein lustiges
Schaf in einem Bauerhof trifft und es herauslockt. Die Spannung, ob der zunehmend
hungriger werdende Wolf das gutgelaunte Schaf fressen wird, das tatsächlich neugierig zu
ihm auf den Schlitten steigt, überschattet die Abenteuer der beiden Protagonisten auf ihrer
einsamen Schlittenfahrt.
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Zu dieser poetischen Geschichte wurde 2007 von Cornelsen ein „Leseprojekt“ zur
Leseförderung in der Grundschule veröffentlicht. In diesem Leseheft soll von den Schülern
wie üblich zunächst ein Textabschnitt der Geschichte gelesen und dann im selben Heft
Aufgaben dazu bearbeitet werden. Die Kinder machen also keine Erfahrungen mit dem
Bilderbuch als eigenem Medium – der Unterricht schafft keine „buchintensiven“
Lernbedingungen, wie sie die österreichischen Bildungsstandards beschreiben – und mit dem
für Bilderbücher konstitutiven literar-ästhetischen Zusammenspiel von Bild und Text.
Stattdessen ist der Text der Geschichte leicht gekürzt und didaktisch aufbereitet, z.B. durch
ein eher funktional-dekoratives Layout: z.B. Zeilennummerierung, Seitendekoration,
reduzierte und weniger ansprechende Bilder. Nach 2 Textseiten schließen sich drei Seiten mit
Aufgaben an: lange blaue Aufgabenstellungen, schwarze Antworten als multiple choice oder
zwei drei Leerzeilen zum Ausfüllen. Was können Schüler mit einem solchen Leseheft, in dem
sich Lesetext und Aufgaben abwechseln, für das Lesen lernen?
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Zunächst erfahren die Kinder, dass Lesen Einzelarbeit ist – das Gespräch über Gelesenes,
eine von Hurrelmann hervorgehobene sog. „Anschlusskommunikation“ über den literarischen
Text, findet in diesem Unterricht nicht statt. Zugleich sehen sie aufgrund der quantitativen
Verteilung von Text und Aufgaben, dass mehr Aufgaben als Text gelesen werden muss. Sie
erfahren, dass es beim Lesen in der Schule nicht um ihre eigenen Fragen und Gedanken zu
einem Text geht, sondern um vorgegebene Aufgaben und deren richtige Lösung. Weil ihr
eigenes Interesse nicht berücksichtigt wird, stehen solche Lesehefte in der Gefahr, die Fragen
der Schüler zu ersetzen und damit auch ihre Neugierde auf Texte und ihre Eigenaktivität beim
Lesen.
Was aber heben die Aufgaben zur Leseförderung in solchen Materialien als bedeutsam für
das Lesen hervor? Welche Ansprüche an die Lesefertigkeit und das Sinnverständnis stellen
sie an die lesenden Schüler? Hierzu möchte ich die ersten 10 Aufgaben zum gehörten Text
näher betrachten.
Die ersten 5 Aufgaben prüfen ab, ob einzelne Informationen entnommen wurden, hier in 1 die
Jahreszeit, in 3 die wörtliche Rede „Hunger“, in 4 die Armbanduhr und in 5 die heimische
Flasche Wein. Schülern wird mit solchen Aufgaben nahe gelegt, es gehe beim
Geschichtenlesen darum, wie bei Sachtexten Informationen – und zudem einzelne – zu
entnehmen. Dabei bleiben diese Informationen den Schülern in ihrer Relevanz für die
Geschichte unklar, der lebensbedrohliche Hunger liegt außerhalb des Verstehenshorizonts der
meisten Schüler. Das Verstehen der Figur, ihrer Situation und ihrer Gedanken wird auf gute
Laune – schlechte Laune und das Abschreiben seiner Äußerung „Hunger“ reduziert – ohne
dass das Problem des Wolfes in den Horizont des kindlichen Verstehens gerückt wird: er
findet im Winter schlecht Nahrung und ist deshalb vor Hunger körperlich geschwächt. Er zog
den Schlitten ächzend den Hügel hinauf, während er immer tiefer in Schnee einsank. Da hilft
ihm auch seine wertvolle goldene Armbanduhr nicht! Endlich sieht er sich beim Anblick eines
Bauernhofes erlöst. Allein aus dem Leseheft werden die Gedanken und Gefühle, die Sorgen
und Hoffnungen der anthropomorphisierten Hauptfigur für die meisten Schüler fremd bleiben.
Während in Aufgabe 1 die Jahreszeit unabhängig vom Lesen anhand der Illustrationen
angekreuzt werden kann, ist die Wortschatzabfrage in Aufgabe 2 nach „missmutig“ anhand
des Leseprojektes schlechter als aus dem Bilderbuch-Textkontext zu beantworten, denn die
unterstrichenen Satzteile wurden im Leseprojekt gestrichen: „Hunger, Hunger!“, murmelte er
im Takt seiner Schritte, um den Mut nicht zu verlieren. Statt innertextliche Hilfen nutzen zu
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können, sind Schüler hier also auf ihr Vorwissen angewiesen bzw. bekommen mit den
Antwortalternativen plakative Synonyme in Alltagssprache vorgegeben. Textimmanente
Verstehensleistungen werden durch die Textkürzung unterbunden.
Die vier Aufgaben 6, 8, 9 und 10 gelten nicht direkt dem Lesen und Verstehen der
Geschichte: Das Anmalen des Bauernhof-Bildes, das vorne bereits abgebildet war, hat ebenso
wenig mit dem Lesen des Textes zu tun wie Aufgabe 8 – das Schreiben und Aufmalen eines
eigenen Essenswunsches – oder Aufgabe 9 – das Verbinden von Wort und Bild oder Aufgabe
10 – die Imitation von Tierstimmen – die Tiere kommen im ganzen Buch nicht vor. Sie
schaffen einen direkten Bezug zur Realität, ohne Nutzen für das Textverstehen, und
beschäftigen die Schüler in der Art von Lese-Mal-Aufgaben mit vielleicht netten Tätigkeiten.
Sie bürden aber zugleich dem schwachen Leser das Lesen langer Aufgaben auf, deren
Bearbeitung eher vom Lesen und Verstehen des Bilderbuches abführt. Allein Aufgabe 7
verlangt ein gedankliches Eintauchen ins Bilderbuch: Was würde der Wolf im Bauernhof
wohl essen? Diese Antwort ist auf Weltwissen angewiesen oder auf schlussfolgerndes
Denken.
Diese Aufgaben werden dem Gehalt dieses Bilderbuches, dem literarischen Text als
Lerngegenstand nicht gerecht. Das Literarische des Textes, die hinter dem Text liegende
Bedeutung wird ignoriert. Mit dem Bilderbuch aber könnte man literarische Kompetenz
erwerbe, die zu Recht von Lesekompetenz als Informationsentnahme unterschieden wird.
Denn literarische Texte erfüllen keine pragmatischen Zwecke, sondern sind
„Erkenntnisquelle“ (Abraham 2010): mit ihrer Hilfe kann der Leser eine fiktive Welt
aufbauen und in ihr probehalber „leben“ und dadurch „den Blick für Alternativen und
Optionen auch in eigenen Leben“ schärfen (Abraham 2010, 84). Und dies ist ein wesentlicher
Antrieb für Kinder, die Mühen des Lesens auf sich zu nehmen.
Die für Kinder bedeutsamen Themen und menschlichen Elementarerfahrungen in diesem
Buch von Wolf und Schaf sind Freundschaft, Lüge und Wahrheit, Hunger, Mut und Angst,
Fiktion und Realität, … Für das Bilderbuch ist zudem die poetische Sprache konstitutiv,
insbesondere der Sprachwitz – s. „Restaurant“ –, und die Bild-Text-Ästhetik. Mit Fragen zum
Text können diese zentralen Dimensionen literarischer Texte nicht ausgeleuchtet und vertieft
werden. Dies trifft auch für weitere bedeutsame Textstellen zu:
•
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S. 31: So einen Freund hab ich mir schon immer gewünscht, denkt Schaf. Was tut
es dann? Male das richtige Bild aus!
Tipp: Lies dazu auf Seite 28 nach.
((„es legte den Kopf an Wolfs Rücken“ ist die Antwort))
•
Wie wünschst du dir einen Freund oder eine Freundin? Schreibe deine Gedanken
in dein Heft. Die Adjektive (Wiewörter) im Kasten helfen dir.
Gefragt wird auf S. 31 nach dem Wortlaut und dem Fortgang des Textes. Für Kinder ist
jedoch bedeutsam, was Schaf an Wolf so faszinierend findet, warum er ihn sich wohl als
Freund wünscht – ist der hungrige Wolf doch offenkundig eine ständige Bedrohung für Schaf.
Auch wird die Perspektive von Schaf als literarischer Figur nicht thematisiert, die nicht im
Text steht, sondern hinter den Zeilen, so dass ein Austausch über die Gedanken der Kinder zu
diesen Fragen hier sinnvoll wäre.
Auch die anschließende Frage im Leseheft, wie Schüler sich einen eigenen Freund wünschen,
kann die Besonderheit der Beziehung zwischen Wolf und Schaf nicht erhellen. Statt das
Verstehen zu vertiefen, führen solche Fragen eher vom Verstehen des Textes ab, fordern
persönliche Auskünfte über das eigene Leben auch von Kindern, die gerade Streit mit ihrem
Freund hatten oder die keinen Freund haben. Warum aber sollten Kinder dies in ein Leseheft
schreiben?
•
S. 47: Das Eis bricht und Wolf verschwindet im Eisloch. Schaf rutscht auf dem
Bauch zu dem dunklen Loch. Was sieht es nun auf dem dunklen Wasser? Male
es! Male auch das dunkelblaue Wasser.
•
S. 71: Wolf schickt Schaf weg. Welche Begründung hat er dafür? Kreuze an.
–
Wolf sagt, dass er seine Ruhe haben möchte. Deshalb soll Schaf am
Morgen gehen.
–
Wolf sagt, dass er eine ansteckende Krankheit hat. Und Schaf soll
weggehen, um sich nicht anzustecken. Denn sonst könnte es sterben.
Als Wolf und Schaf auf einem zugefrorenen See Seil springen – eigentlich wollte der Wolf
das sich müde stampfende Schaf dann fressen – bricht Wolf ins Eis ein. Diese für das Schaf
existentielle Entscheidungssituation wird im Leseheft S. 47 nicht thematisiert, sondern nur
die äußere Handlungsebene. Neugier auf die Entwicklung der Figuren und ihrer Beziehung
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zueinander kann nicht entstehen: gefordert ist das Malen der auf dem Wasser schwimmenden
Wolfsmütze – die Entnahme einer belanglosen Information.
Tatsächlich wird Wolf von Schaf gerettet, das erstaunliche Kräfte mobilisiert, um seinem
Freund zu helfen. Als der immer hungriger werdende Wolf später davon träumt, Schaf zu
fressen, schrickt er auf und warnt seinen Retter. Dabei entspinnt sich ein Dialog, der das
eigentliche Thema, seine Befürchtung, er könnte seinen Freund im drängenden Hunger
fressen, hinter dem Wort „krank“ versteckt. Die Aufgabe im Leseheft bleibt auch hier an der
Oberfläche, der im Buch vieldeutig gebrauchte Begriff „krank“ wird nicht entfaltet.
2 Begriff von Lesekompetenz
Selbst wenn man diese 10 betrachteten Aufgaben aus dem Leseheft nicht wie ich eben auf
Dimensionen literarischen Lernens, sondern auf die informationsbezogenen
Verstehensleistungen im bekannten Lesekompetenzmodell von IGLU und PISA bezieht
(vereinfacht s.u.), zeigen die ersten Fragen im Lesematerial eine starke Verengung des
Lesebegriffs auf einfachste Niveaus der Informationsentnahme. Kennzeichnend für diese
Dimension ist, dass das Textverstehen nicht tiefer in den Bilderbuchtext hinein führt;
stattdessen richten die Aufgaben oft sogar die Aufmerksamkeit auf Irrelevantes oder führen
vom Textverständnis weg.
Bereiche/Dimensionen Informationen ermitteln
Textbezogen Interpretieren Reflektieren und bewerten
Stufe I
Explizite Informationen
lokalisieren
Auffällige Hauptgedanken Verbindung zu
wiedergeben
Alltagswissen wiedergeben
Beziehungen erkennen
Textteile integrieren
Stufe II
Stufe III
Stufe IV
Stufe V
Versteckte Informationen Detailverstehen bei
erschließen
unvertrauten Themen
Textmerkmale bewerten
Kritisch zum Text Stellung
nehmen
Lesekompetenzmodell (vereinfacht)
Das Leseheft reduziert nicht nur die Mehrdeutigkeit und Tiefe des Dialogs, das multiplechoice-Format und die Einzelarbeit unterstützen Kinder auch nicht darin, solche Deutungen
selbst zu finden und sich damit die Literatur aktiv anzueignen. Statt die Leser zu
aktivieren und zu involvieren, verhindert das Leseheft also genau dies. Solche
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Aufgabensammlungen verstellen den besonderen Reiz literarisches Texte, deren
Identitätsstärkende Potentiale doch ein wesentlicher Motor der Lesemotivation sind. Zudem
wird vernachlässigt, dass Leser nicht die „enthaltene“ Information eines Textes empfängt,
sondern dass er ihm Bedeutung zuweist, er reichert ihn mit eigenen Erfahrungen an. Leser
bilden Hypothesen, sie konstruieren gedanklich eine innere Repräsentation des Textes, sie
entwickeln ein inneres Vorstellungsbild (Abraham 1999). Lesekompetenz ist deshalb nicht
„Sinn-Entnahme“, sondern „Sinn-Konstruktion“.
Die PISA- und IGLU-Lesekompetenzmodelle mit den verschiedenen kognitiven
Verstehensleistungen mögen für das Messen adäquat sein, aber reichen sie als didaktische
Grundlage für Unterricht zu Bilderbüchern? Reichen sie, damit Kinder sich den komplexen
Anforderungen unterschiedlicher Lesesituationen und Lesestoffe stellen und zu Lesern
werden?
„Ein Schaf fürs Leben“ wird mit dem Leseheft als Mittel zum Üben der
Informationsentnahme missbraucht (diese Vokabel verwendet Kruse). Das Literar-ästhetische
des Textes, die hinter dem Text liegende, individuell zu konstruierende Bedeutung wird
ignoriert. Dieses Leseheft verfehlt zugleich Ansprüche der österreichischen Standards, die mit
dem Bilderbuch sehr wohl zu stärken wären, nämlich: „Lesen bedeutet, Gedanken,
Vorstellungen und Wissen zu erweitern. Damit trägt es wesentlich zur Identitätsentwicklung
der Kinder bei.“ Oder an anderer Stelle: „Jedes Kind konstruiert sich, vor allem bei
literarischen Texten, seinen eigenen, von zahlreichen Faktoren abhängenden Sinn. Das macht
es notwendig, dass die Kinder ihr subjektives Textverständnis, auch kritisch, artikulieren
und darüber miteinander kommunizieren dürfen.“
Käufliche Lesematerialien wie das dargestellte Leseheft bergen die Gefahr, nicht nur die
Fragen der Schüler zu ersetzen, sondern auch das Gespräch in der Klasse und das Bemühen
um Verständigung und Literaturverstehen zugunsten der schriftlichen Erledigung von
Arbeitsblättern und der Reduzierung des Lesens auf Prozesse der Informationsentnahme zu
verdrängen. Warum sollten Schüler ohne Aufgabe, einfach freiwillig und außerhalb der
Schule noch Bücher lesen?
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Lesekompetenzmodell Hurrelmann 2002
Lesekompetenz ist aus deutschdidaktischer Sicht viel mehr als in IGLU und PISA getestet
wurde und wohl auch getestet werden kann, denn die kognitiven Dimensionen des Lesens und
die Entwicklung eines stabilen Leseverhaltens sind angewiesen auf die emotionale
Beteiligung, das Interesse und die kommunikative Einbettung: Das Lesemodell von
Hurrelmann war 2002 eines der ersten, das die Reduktion des Lesebegriffs von PISA auf den
hier blau eingezeichneten Bereich aufzeigte und einen deutlich erweiterten
Lesekompetenzbegriff vertrat, der Lesen grundsätzlich in Bezug zum Leser stellte und es in
den Sozialisationskontext einbettete.
Lesen braucht einen Antrieb, persönliche Leseziele und emotionale Beteiligung. Gerade die
Fähigkeit zur Empathie ist eine emotionale Teilkompetenz, welcher LeserInnen nach
Bertschi-Kaufmanns Untersuchungen einen wichtigen Teil der Gratifikation des Lesens
verdanken. Dies wirkt sich auf die Lesemotivation aus, die zu einem stabilen Leseverhalten
auch außerhalb der Schule beiträgt. Bertschi-Kaufmann ersetzt deshalb den Begriff
„Lesekompetenz“ durch „Lesekompetenzen“, nämlich die emotionale (Empathie), die
motivationale (Interesse), die verhaltensmäßige (Lesehäufigkeit, Habitus), die kommunikative
(Anschlusskommunikation) und die kognitive (Erlesen und Informationsentnahme) Seite der
Lesekompetenz.
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3 Mit den Texten die Sprache lernen
Viele Kinder wachsen bereits in ihrer Familie hinein in eine alltägliche Kultur des Lesens.
Bereits weit vor der Schulzeit begegnen Kinder Texten im mündlichen Sprachgebrauch und
im Umgang mit Medien. Besondere Bedeutung kommt hier nach Befunden von Wieler,
Hurrelmann u.a. dem Vorlesen zu – derzeitig wird in Deutschland nur noch 40% der Kinder
vorgelesen! (BAHN-Studie). Große Bedeutung haben auch Hörspielkassetten, Sprachspiele,
Lieder und Reime als Sprachkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Die
Annäherung an das Lesen, an den Umgang mit vertexteter Sprache ist dabei stets
eingebunden in soziale und emotionale Kontexte, die regelhaft erlebt und als bedeutsam
empfunden werden. Kinder, die diese Erfahrungen nicht machen konnten, brauchen in der
Schule solche persönlich bedeutsamen Gelegenheiten zur Teilhabe an Lesekultur, um dort
typische Formate des Lesens kennen zu lernen und auch in ihrem Alltag selbstverständliche
literale Praktiken zu entwickeln, um literarisch-ästhetische Kompetenzen zu erwerben und
allein durch Sprache angeregte innere Vorstellungsbilder entfalten zu lernen.
Was es bedeuten kann, kaum Lese-Erfahrungen gemacht zu haben, ersehen Sie an dem
folgenden Text.
Ich hatte kein
bein klein
Ich hatte keinen
beim Kleinen.
Sehr geehrte Frau x,
ich konnte leider
gestern nicht zum
Elternabend kommen,
da ich keinen Babysitter
für meinen kleinen
Sohn hatte.
Mit freundlichen Grüßen
XYZ
Konzeptionelle
Mündlichkeit
- Situation der Nähe .
.
.
.
.
.
.
.
.
Konzeptionelle
Schriftlichkeit
– Situation der Distanz –
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Vielleicht hilft es Ihnen zu wissen, dass ein Kind dieses von der Mutter gegebene Schreiben
seiner Lehrerin an einem Schulmorgen gegeben hat. – Auch wenn die Rechtschreibung
korrigiert ist, so dass Sie nicht mehr nur buchstabenweise synthetisieren oder wiederholt
dasselbe oder laut lesen können, wird der Text nicht sogleich verständlich. (Æ TEXT 2)
Erst wenn Sie wissen, dass am Tag zuvor Elternabend war, dass die Mutter nicht da war und
dass das Schulkind einen kleinen Bruder hat, verstehen Sie die Mitteilung als
Entschuldigungsbrief. Ohne diesen Handlungskontext bleibt der Text und seine Funktion
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unverständlich, im Text wird das Gemeinte nämlich mit sprachlichen Mitteln nicht
ausgedrückt.
Konzeptionell entspricht der geschriebene Text der Mündlichkeit: Würde die Mutter vor
Ihnen stehen und Ihnen sagen: „Ich hatte gestern kein beim Kleinen.“ könnten Sie denselben
Text sogleich verstehen Das Beispiel zeigt deutlich, dass geschriebene Sprache nicht die
Verschriftung gesprochener Sprache ist. Die Linguisten Koch/Oesterreicher haben die
unterschiedlichen Konzeptionen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit als ein Kontinuum
beschrieben. Die jeweiligen sprachlichen Mittel sind funktional für unterschiedliche
Kommunikationssituationen: Die alltagssprachliche Kommunikation ist dialogisch angelegt
und oft in den außersprachlichen Kontext eingebettet, die Verständigung durch diese Situation
der Nähe erleichtert. Konzeptionell schriftliche Sprache eröffnet zugleich neue Möglichkeiten
der Kommunikation, nämlich die Kommunikation auch in einer Situation der Distanz von
Sprachproduzent und –rezipient sowie der Distanz von begleitenden Handlungen und
Umgebungen.
Konzeptionell schriftliche Sprache aber stellt komplexe Anforderungen – sowohl an die
Sprachproduktion – das Schreiben und das Vortragen beispielsweise – als auch an die
Rezeption – das Lesen und auch das Zuhören von geschriebenen Texten – wie dieser Vortrag.
Damit ein aufgeschriebener Text zu einem beliebigen Zeitpunkt von einem beliebigen Leser
verstanden werden kann, muss er expliziter und präziser formuliert sein als ein mündlich
geäußerter Text (Æ 3. Text): weil man als Leser das Gemeinte selbständig, ohne weitere
Hilfsmittel allein aus dem Text gedanklich konstruieren können muss, da man den Schreiber
meist nicht mehr befragen kann, wenn man etwas nicht versteht. Das Briefformat erfüllt diese
Funktionen. Zum Glück kannte die Lehrerin bei dem Entschuldigungsschreiben die
Umstände.
Mit dem Erwerb von Literalität und mit dem Lesenlernen verändert das Kind durch
Erfahrungen mit geschriebener Sprache zugleich sein Denken und Sprechen.
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Lesen hören
Geschichten
verändert Denken und Sprechen
• Konzeptionelle Schriftlichkeit
– „schriftförmige Rede“ (Ong 1987)
– Schriftsprachlicher Wortschatz und Satzbau
(Koch/Oesterreicher)
– „Bildungssprache“ (Gogolin 2008)
• Abstand von der äußerlichen Situation
– Situationen und Bedeutungen allein mit
Sprache erzeugen
– Reflexion und Abstraktion
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Im Schriftspracherwerb lernen Kinder nicht nur die Buchstaben und die Schrift als ein neues
Medium für den Ausdruck von Gedanken kennen. Mit den Texten, die sie hören und lesen
und schreiben, erwerben sie zugleich auch ein neues sprachliches Register und auch die
kognitiven Möglichkeiten von Literalität. Kinder entwickeln durch Erfahrungen mit
schriftförmiger Rede zunächst im Mündlichen und dann auch im Schriftlichen –, d.h. zunächst
beim Zuhören, anfangs in dialogischen Kontexten, und dann auch beim Selberlesen –
Schriftsprachlichkeit kennen, u.a. einen schriftsprachlichen Wortschatz und Satzbau, so dass
sie sich rein sprachlich und unabhängig vom Kontext verständigen können. Kinder lernen also
mit den gehörten und gelesenen Texten zugleich neue sprachliche Mittel, nämlich das für
Bildungsprozesse relevante Register konzeptioneller Schriftlichkeit (Gogolin 2008).
Mit dem Lesen und Schreiben gelingt es ihnen, Abstand von der äußeren Situation zu
gewinnen und auch von ihrem eigenen Denken. Weil geschriebene Sprache fixiert und nicht
flüchtig ist wie die mündliche, weil sie deshalb immer wieder gelesen werden kann, erweitern
Leser und auch Zuhörer von Hörmedien und Vorlesern durch die damit verbundenen
Erfahrungen mit konzeptionell schriftlichen Texten ihre kognitiven Fähigkeiten zur Reflexion
und Abstraktion. Schrift verändert also grundsätzlich das Denken und Sprechen.
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Geschichten hören
entlastet vom Dekodieren
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Vorlesen – Hörbücher – Hörspiele
verbindet Mündlichkeit und Schriftlichkeit
befördert top-down-Prozesse
stärkt alle Dimensionen der
Lesekompetenz: Kognition, Emotion,
Motivation, Kommunikation
– alle Verstehensebenen
– Faszination von und Neugier auf Literatur
– Literarisches Lernen (Spinner)
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Manche Kinder haben jedoch – wie vermutlich die Mutter, die das Entschuldigungsschreiben
verfasste – Sprache im vor- oder außerschulischen Kontext nur in alltagssprachlichen
Situationen erfahren und erworben. Insofern hat Schule die Aufgabe, ihnen vielfältige
Erfahrungen mit konzeptionell schriftlichen Texten zu ermöglichen – nicht nur durch
selbständiges Lesen, das gerade anfangs noch sehr mühsam ist, so dass die Texte, die sie
entziffern können, ihren Interessen und Möglichkeiten kaum gerecht werden, sondern auch
durch Zuhören und die Verständigung über gehörte Texte. Das Vorlesen hat also große
Bedeutung nicht nur für die Lesesozialisation, das Hineinwachsen in eine alltägliche
Lesekultur. Vorlesen hat auch Bedeutung für die sprachliche Entwicklung, für das
Vertrautwerden mit einem konzeptionell schriftlichen Sprach-Register – ohne dass
Kinder mühsam die Zeichen dekodieren müssen.
Frühe Leseerfahrungen sind heute nicht mehr auf das Leitmedium Buch und das Vorlesen
angewiesen, sie können auch mit Hörmedien gemacht werden. Kinder können beim Zuhören
auch dann, wenn sie selbst noch nicht flüssig lesen können, faszinierende Erfahrungen mit
Literatur machen und zugleich mit vertexteter Sprache und mit allen Dimensionen der
Lesekompetenz vertraut werden. Weil auch hörende Erfahrungen mit geschriebenen Texten
den Erwerb von Wissen über das oder typische sprachliche Strukturen geschriebener Texte
anregen, befördern Vorlesesituationen semantisch und syntaktisch geleitete
Hypothesenbildungsprozesse beim Lesen, nicht nur auf Satz- sondern auch auf Textebene.
Und zugleich können in der mündlichen oder schriftlichen Kommunikation über gehörte
Texte alle Verstehensebenen angesprochen werden.
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4 Drei Bausteine
Aus diesen grundlegenden Überlegungen plädiere ich für drei Bausteine im Leseunterricht der
Volksschule:
4. Drei Bausteine für den Unterricht
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I. Lese-Schreib-Gesprächs-Kultur in der Klasse
Texte hören: Faszination des Lesens
(Vor)Lesegespräche, auch über Kindertexte (Spinner)
Schreiben als Textverstehen (Dehn, Hüttis-Graff)
Kommunikation über Gelesenes und Gehörtes: Buchvorstellungen,
Hörempfehlungen, … (Hurrelmann)
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II. Interessegeleitete Leseräume
Viellesen
Lesetagebuch (s. Bertschi-Kaufmann, Kruse)
Lese-Hör-Zeiten (s. Hüttis-Graff, Karla Müller)
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III. Begrenzte Übungssequenzen
Strategien gezielt stärken (s. Wedel-Wolff, Dehn)
Leseflüssigkeit: Lautleseverfahren (s. Rosebrock-Nix, Baumgartner)
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I. Lesekultur in der Klasse: Gerade im Blick auf buchferne Lebenswelten vieler Kinder
(Rosebrock/Pieper) und auf die besonderen Kommunikationsbedingungen in der Schule ist
eine schulische Hinführung zu faszinierenden und breiten Erfahrungen mit Texten und zu
bildungsrelevanten Anschlusskommunikationen von besonderer Bedeutung. Hier haben
Vorlesesituationen – als ein an Schriftlichkeit orientiertes kommunikatives Sprachformat
(Bruner), das sich von familiären Vorlesegesprächen unterscheidet – besondere Relevanz,
weil sie zugleich das Interesse für Geschichten und für andere Bücher wecken und so
Anregungen für außerschulisches Lesen geben können. „Gemeinsame Textlektüre und –
gestaltung ist der Mehrwert der Schul- gegenüber der Freizeitlektüre.“ (Abraham 2010, 86) –
gerade mit dem Vorlesen und dem Austausch über die Texte kann Heterogenität als Chance
für das Lesenlernen aller Kinder genutzt werden. Lerner brauchen im Kontext der gesamten
Klasse und von Anfang an faszinierende Erfahrungen mit Literatur und Anregungen zu
komplexen Verstehensprozessen – zu vorgelesener oder gehörter Literatur – damit ihre
Motivation zum Lesen, ihr Zugang zu Büchern als Medien und zu Schriftlichkeit als
neuem bildungsrelevantem Sprachregister und ihre vertiefte Auseinandersetzung mit
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fremden Welten und Lebensentwürfen gestärkt werden. Gerade weil manche Kinder auf
der Primarstufe noch mit dem Entziffern beschäftigt sind, sind sie auf Maßnahmen zur
Enkulturation in die Welt der Schrift angewiesen, auf die gemeinsame Lese-Kultur in der
Klasse.Auf der Folie sind einige Stichpunkte hierzu genannt.
Leseunterricht braucht II. interessegeleitete Leseräume, in denen Kinder selbständig Texte
auswählen, sie lesen und selbständig verarbeiten und auch mit anderen darüber
kommunizieren. Neue Befunde der Forschung sollen dargestellt werden, die für die
Gestaltung wichtig sind. Denn Interessegeleiteter freier Leseunterricht zeigt bei BertschiKaufmann im STOLPERwörter-Lesetest sogar negative Auswirkungen im Vergleich zu
herkömmlichem Leseunterricht (d.h. in Bezug auf das Dekodieren und Verstehen auf Wortund Satzebene): Offener Unterricht in der Primarstufe befördert Lesehäufigkeit und
kognitives Lesenkönnen, nicht aber die emotionale Beteiligung, die Lesemotivation und die
Anschlusskommunikation! Insofern reicht Viellesen allein nicht aus. Perspektiven bietet hier
die schriftliche Verarbeitung von Leseerfahrungen mit Lesetagebüchern – übrigens auch für
die Beobachtung – , die Öffnung für andere Medien, z.B. Hörmedien und die Kommunikation
über Leseerfahrungen in der Klasse: Buchvorstellungen etc..
III. begrenzte Übungssequenzen, die beobachtete Lernpotentiale ausbauen,
differenzieren und sichern. Obgleich es für Lehrkräfte wichtig ist, verschiedene TeilKompetenzen beim Lesen unterscheiden zu können, erscheint ein sukzessiver Aufbau von
(Teil)Kompetenzen des Lesens, wie es Niveaustufen nahe legen, oder eine Leseförderung mit
Leseheften wie dem vom Schaf fürs Leben nicht sinnvoll, auch angesichts der Heterogenität
von Schulklassen. Ich möchte kurz einige aktuelle Befunde zur Förderung der Lesestrategien
und der Leseflüssigkeit darstellen, die gezielt und nicht für alle eingesetzt werden sollten.
Wichtig für Lehrkräfte ist es in den gemeinsamen (Vor)Lesesituationen und den freien
Lesezeiten herauszufinden, welches individuelle Können gezielt zu vertiefen, zu erweitern
oder zu sichern ist? Gerade mit Lesetagebüchern werden Ansatzpunkte greifbar für eine
individuelle Förderung, die Lesen in seiner Komplexität und Individualität in den Blick
nimmt.
Ich thematisiere die drei Blöcke beginnend mit dem letzten:
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4.1 III. Begrenzte Übungssequenzen
Zur Leseförderung gehört viel mehr als die Vermittlung des Dekodierens: Gerade für Kinder
aus schriftfernen Elternhäusern geht es um die Enkulturation in die Welt der Schrift, um die
selbständige Lektüre als Ziel – Übungen sind also stets nur ein Hilfsmittel, damit Kinder
Leseinteresse und Lesebereitschaft, Lesefertigkeit und sinnverstehendes Lesen entwickeln
können. Mit dem Üben von Lesestrategien und dem Training der Leseflüssigkeit möchte ich
hier zwei Akzente setzen, die derzeitig besonders diskutiert werden.
Lesestrategien
Lesen ist kein rezeptiver Prozess der Sinn- oder Informationsentnahme. Dies gilt nicht nur
für das Verstehen literarischer Texte mit ihren Mehrdeutigkeiten und Leerstellen. Es
gilt grundsätzlich auch für den kognitiven Leseprozess selbst:
Lesen als Konstruktion von Sinn
Viele Lehramtsstudierende haben
Angst, dass sie nach dem
Studium und dem Referendariat
keine Anstellung bekommen.
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
17
Wie konnten Sie den Text lesen?
•
Das lange Wort mit Lehram- und -dierende segmentieren wir in Lehr- und -amt und
•
die Endung –dierende verstehen wir wegen viele als Plural und ergänzen das gesamte
Wort so zu Lehramtsstudierende.
•
„Viele Lehramtsstudierende“ führt uns zu HABEN und KOMMEN als Plural
•
..gst ist so selten am Wortende, dass wir schnell das richtige Wort ANGST auswählen
können (Wörter und Wortteile nutzen)
•
, ..ss führt uns zur Nebensatzkonstruktion mit dass (syntaktische Hilfen nutzen) Bzw.
•
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
17
Strobl/Österreich 9.5.2011
„Dass sie“ in Verbindung mit „Lehramtsstudierende“ führt uns zu kommen als
Pluralendung
•
„Lehramtsstudierende“ führt uns aufgrund einer semantischen Hypothese zu Studium,
die Wortlänge schließt hier Universität oder Tag oder anderes aus
•
Aus Erfahrung mit der Zeit nach dem Referendariat und dem Wortteil stell wissen wir,
dass die Anstellung das Problem nach dem Referendariat ist
Sie haben also folgende Strategien genutzt, um zum Ziel zu kommen.
•
Hypothesen bilden und überprüfen anhand von Graphem-Phonem-Beziehungen
•
Nutzen von Sinnstützen
•
Nutzen von semantischen und syntaktischen Begrenzungen
•
Nutzen von Wörtern und Wortteilen
Wir lesen weder jeden Buchstaben einzeln noch brauchen wir alle Informationen aus dem
Text, wie es das IGLU-Lesemodell nahe legt. Lesen ist kein rezeptiver Prozess der Sinn- oder
Informationsentnahme, sondern Sinnkonstruktion. Wir bilden aufgrund unserer Erfahrung und
Vertrautheit mit Texten, mit Sprache(n) und mit dem Thema eine Erwartung, die unsere
Wahrnehmung steuert und überprüfen sie an entscheidenden Merkmalen. Wir nehmen also
wahr, was wir erwarten (können). Wir nutzen zur Konstruktion des Sinns vorhandene
Sinnstützen und semantische und syntaktische Beschränkungen im Text und wir profitieren
von häufigen Wortstrukturen und häufigen linearen Buchstabenfolgen: von Silben, häufigen
Morpheme, Signalgruppen u.s.w.
Wir Erwachsenen wenden also automatisch verschiedene Strategien an – und wir überlesen
zum Glück auch mal Druckfehler. Während 12jährige Lerner Strategien bewusst erwerben
können, liegen die Potentiale von Erstlesern eher im impliziten Lernen, sie eignen sich die
Strategien eher im Vollzug an. Kompliziert ist die Entwicklung von solchen top-downProzessen der Hypothesenbildung und –prüfung sowie und der bottom-up-Prozesse des
sukzessiven Dekodierens in der 2. und 3. Klasse: Nach Befunden von Wedel-Wollf und
Crämer entwickeln sich Leseverstehen und Dekodierfähigkeit nicht parallel, sondern
wechseln sich halbjahresweise ab (Wedel-Wolff/Crämer 2007). Und wichtig zu wissen ist:
Anfänger können mit beiden Zugriffen zum Ziel kommen.
Leseanfängern in der Volksschule fällt das Lesen dann schwer, wenn sie keine Erfahrungen
mit Texten haben und wenn sie einzelne dieser Strategien nicht nutzen. Für die Beobachtung,
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
18
Strobl/Österreich 9.5.2011
welche Strategie gestärkt werden müsste, und für das gezielte Training jeder dieser vier
Strategien hat Wedel-Wolff anschauliches und praktikables Material entwickelt und auf CDRom und als DVD bereit gestellt, das ich Ihnen empfehlen möchte. Z.B.
•
Übungen zum genauen Lesen: Sätze und Bilder zuordnen
•
Übungen zur Nutzung von häufigen Wortbausteinen, hier Signalgruppen
•
Übungen zur Nutzung semantischer und syntaktischer Hinweise, zur
Hypothesenbildung und –prüfung.
Leseflüssigkeit
Studien in den USA haben für das Ende der Volksschulzeit und für die Sekundarstufe I die
Bedeutung der Leseflüssigkeit für die Lesekompetenz herausgestellt (Rosebrock/Nix 2008).
Das Training der Leseflüssigkeit, verstanden als Lesegeschwindigkeit und –genauigkeit,
Automatisierung und prosodische Sequenzierung, geht davon aus, dass durch die
Automatisierung der Teilprozesse Kapazitäten für Verstehensleistungen frei werden. In der
Untersuchung von Rosebrock (2010) lesen in sechsten Klassen ein starker Lesetrainer und ein
schwacher Lesesportler zunächst laut „im Chor“ zusammen. Wenn der Lesesportler sich
sicher fühlt, liest der allein; bei Bedarf korrigiert der mitlesende oder zuhörende Lesetrainer
und gibt Feedback.
Es konnten nach Rosebrock deutliche Erfolge in der Leseflüssigkeit und im Leseverstehen
erzielt werden. Diese Methode birgt jedoch einige Probleme:
•
Für den Lesetrainer stellt das laute Lesen dann eine Belastung des Verstehens dar,
wenn er nicht mehr wie ein Anfänger darauf angewiesen ist, den Text laut zu
artikulieren, um ihn verstehen zu können. Der erfahrenere Lesetrainer ist also im
Leseverständnis benachteiligt, es ist auf hierarchieniedrige Stufen reduziert.
•
Bei diesem stark strukturierten, stufenweisen Verfahren steht die Methode im
Vordergrund, das Lesen ist nicht funktional in einen Kontext des Lesens und der
Verständigung eingebunden(, wie es beim Vorlesen in der Klasse der Fall ist).
•
Zudem hat die Untersuchung von Rosebrock zwar eine Steigerung der Leseflüssigkeit
und des Textverstehens nachgewiesen, jedoch sank ein halbes Jahr nach Abschluss des
Trainings die Lesemotivation und das Selbstkonzepts Lesen.
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
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Strobl/Österreich 9.5.2011
Insofern sind Zweifel angebracht, ob durch ein solches Training das Ziel der selbständigen
Lektüre erreicht werden kann oder ob es nicht durch weitere Konzepte gestützt werden muss.
Oder ob nicht zumindest dem Interesse am Text und der Lesekommunikation oder auch der
Zusammenstellung der Leseteams mehr Beachtung geschenkt werden sollte.
Mit weniger strenger Methode wurden auch von Andreas Baumgartner/Österreich in
seinem Projekt „Lesepartner“ mit verschiedenen Leseteams in verschiedenen Klassenstufen
untersucht:
•
Erwachsener Lesetutor: Die besten Werte sowohl bei der Lesekompetenz als
auch bei der Lesemotivation nach der Durchführung des Projekts erreicht das
tägliche kurze, abwechselnde Vorlesen von Texten, die das Kind interessieren, mit
einem erwachsenen Lesetutor in der Schule, der ggf. hilft und mit dem Kind über den
Text spricht (1,0).
•
Elternprojekt: Die stärkste Verbesserung bei der Lesekompetenz hat das
Elternprojekt, d.h. die Verpflichtung der Eltern zu kurzem täglichem, abwechselndem
Vor- Lesen zu Hause, ebenfalls mit Korrektur und Gespräch (vorher-nachher: +1,1).
•
Lesepatenschaft: Die stärkste Verbesserung bei der Lesemotivation erreichten
feste Lesepatenschaften einer mit einer mind. 2 Jahre höheren/niedrigeren Klasse 1
Std. pro Woche, davon 15-30 Min abwechselndes Vorlesen bei gemeinsamer
Buchwahl, mit Gespräch, zeitlich flexiblem abwechselndem Vorlesen und
anschließendem Zusammensein (Buddyprojekt vorher-nachher: +1,0).
Die Teams unterscheiden nicht schwache und gute Leser in einer Klasse, sondern
Leseanfänger und Leseexperten – es findet also keine Statuszuweisung innerhalb einer
Lerngruppe statt und die Leseexperten sind – gerade bei erwachsenen Lesetutoren – wirkliche
Leseratten, die am gemeinsamen Lesen mit Kindern selbst Interesse haben, denen nicht nur
Üben verordnet oder methodisch eng vorstrukturiert wird. Konstitutiv für die Situierung des
Vorlesens sind zudem das abwechselnde Vorlesen und das Gespräch über den Text – alles
dies sind Hinweise auf die funktionale Einbindung des Lesens, die Dominanz der Lektüre
über die Übung. Lesen wird hier in einem lesekulturellen Umfeld BE-fördert und nicht GEfördert. Aus den Untersuchungen ziehe ich folgende Konsequenzen:
Begrenzte Übungssequenzen
Konsequenzen:
• Lesestrategien
– Systematische Beobachtung
– Gezielte Förderung mit reizvollen Texten
• Leseflüssigkeit: Lautleseverfahren
– Interesse für den Textinhalt
– Soziale Konstellation
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
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Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
Strobl/Österreich 9.5.2011
4.2 II. Interessegeleitete Leseräume
Viellesen in freien Lesezeiten bewirkt alleine keine Verbesserung der Lesekompetenz in 6.
Klassen (Rosebrock) – Rosebrock erklärt dieses auch in der amerikanischen Forschung
gefundenes Ergebnis damit, dass das Lesen hier auf Durchkommen und auf die Lesemenge
orientiert bleibt und dass eine Gratifikation durch den Inhalt des Gelesenen ausbleibt.
Ergänzend zu freien Lesezeiten sei ein dezidiert „buch- und lesefreundliches schulisches
Kommunikationsklima“ (Rosebrock 2010 S. 56) wichtig.
Freie Lesezeiten an Computer und in Büchern wirken sich in der Grundschule dann positiv
auf die Leseentwicklung aus, wenn Kinder ihre Leseerfahrungen in Lesetagebüchern
festhalten (Bertschi-Kaufmann; Kruse; Nix). Zugleich ermöglichen diese den Lehrkräften
wichtige Beobachtungen auch als Grundlage für gezielte Übungen (Andrea BertschiKaufmann). Durch die schriftliche Form werden die Leseerfahrungen der Schüler greifbar
und für die weitere Förderung aufgreifbar. So entwickelt bspw. Iris Kruse sekundäre
Anschlussaufgaben, in denen Kinder ihren in Lesetagebüchern formulierten Interessen am
Lesetext schreibend nachgehen.
Die komplexen Gedanken in den Lesetagebüchern mehrsprachiger Schüler zeigen, dass
gerade sie auf anspruchsvolle Literatur mit psychologisch komplexen Figuren angewiesen
sind, so dass sie für sie bedeutsame Themen in der Imagination bearbeiten, sie mit eigenen
Erfahrungen anreichern und sie damit für sich vorstellbar machen und sich so die Texte
aneignen können. Diese Möglichkeiten blieben verschlossen, wenn die Texte bloße
Handlungsfolgen enthielten, didaktisch reduziert oder sogar enge Aufgaben vorgegeben
würden wie im Leseprojekt zu „Ein Schaf fürs Leben“. Insofern ist für individuelle Lesezeiten
in der Klasse eine breite Auswahl von Texten (und Medien) mit anspruchsvollen
Figurenentwicklungen wichtig und ein Rahmen für die schriftliche Bearbeitung individueller
Leseerfahrungen – wichtiger als die didaktische Reduktion von Lesetexten und die
Beschäftigung der Schüler mit vorgegebenen Fragen zum Text.
In Hamburg haben wir in Kooperation mit der Bücherhalle und der Schulbehörde Lese-HörKisten entwickelt, also das Angebot zum mitlesenden Hören von Kinderliteratur – beginnend
in der Vorschulklasse, also im Jahr vor der Einschulung. Hören und Mitlesen findet in freien
Lese-Hör-Zeiten gerade in dialogischen Situationen statt, aber auch in gemeinsamen
Hörsituationen mit der Klasse. Die Hörerfahrungen werden durch das Aufschreiben vertieft,
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
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Strobl/Österreich 9.5.2011
Zugänge zu Schrift können mit Memories mit Schrift zu den Hörmedien erprobt werden. (s.
Hüttis-Graff 2010: Die Lese-Hör-Kiste; zum Diktieren s. Merklinger 2009 und 2011)
Die Lese-Hör-Kiste – Was ist das?
• Bilderbuch mit passendem
• Hörmedium/CD
– Lesung
– Hörspiel
• Materialien
– Geschichtenheft
– Memory mit Schrift
• Hör-Kontexte
– Hör-Gespräche in der
Klasse
– Selbständiges Hören und
Mitlesen, v.a. mehrere
Kinder zusammen
– Diktierendes Schreiben
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
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Bewährte Geschichten
für Klasse 1
Bekannte Bilderbuch-Geschichten, z.B.
•
Die kleine Raupe Nimmersatt
•
Felix bei den Kindern dieser Welt
•
Kleiner Eisbär, nimm mich mit
Geschichten aus audio-visuellen Medien, z.B.
•
Kinderfilm (z.B. Disney): Cars –Arielle - Dschungelbuch …
•
TV: SpongeBob
Sach-Geschichte, z.B.
•
Wir entdecken die Ritterburg – Der kleine Delfin entdeckt das Meer…
Besondere Hör-Geschichten, z.B.
•
Der Grüffelo
•
Die Geschichte vom Löwen, der nicht schreiben konnte
•
Die Königin der Farben
•
Frosch und Kröte
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
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Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
Strobl/Österreich 9.5.2011
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Kommunikative Rituale
• Geschichtenhefte als ritualisierter Schreibanlass
– Diktieren in VSK und Anfang Klasse 1: Lehrkraft als
‚Sekretärin‘: Du hast die Geschichte … gehört.
Schreibe auf, was du gehört hast und was du denkst!
Ich schreibe es für dich.
• Kommunikation über Texte
– Vorlesen der individuellen Lese- und Hörerfahrungen
– Bericht von Hörerfahrungen
– Planung gemeinsamer Hörsituationen
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
27
Dieser Baustein setzt also weder auf Viellesen als quantitativem Ansatz noch auf methodisch
kontrollierte Teams von guten und schwachen Lesern, um geringe Leseerfahrungen und
fehlende Leseroutinen (methodisch) zu kompensieren und durch eine hohe Lesemenge das
Leseselbstkonzept zu stabilisieren (Rosebrock; Graf; Möller/Schiefele). Vielmehr geht es mir
darum, den Kindern Lektüre als Ziel des Lesens in der Schule als bedeutsam und als machbar
erfahrbar zu machen – auch durch kommunikativ eingebettetes Vorlesen und das gemeinsame
Hören von Hörmedien –, damit eine Neugier auf Texte entsteht, die außerschulisches Lesen
anregt.
4.3 I. Lese-Schreib-Gesprächs-Kultur in der Klasse
Wie entsteht Neugier auf Texte, nachhaltige Motivation zum Lesen? Beides ist nicht
systematisch anleitbar, kann jedoch in der Schule in einer alltäglichen Lesekultur befördert
werden. Auch hier möchte ich einen Akzent herausgreifen: die vom Vorlesen ausgehende
Lese-Schreib-Gesprächs-Kultur.
Im Mittelpunkt dieses Bausteins stehen qualitative, emotional bedeutsame
Bucherfahrungen im sozialen Kontext der Klasse: einen Lesestoff (auch in seiner
erstmaligen Fremdheit) sich gemeinsam zu eigen zu machen, Lesekommunikation
auszubilden und zu sichern, Motivation durch individuelle Zugänge zu Literatur zu schaffen
und durch die Verständigung geteilte Bedeutungen zu konstruieren. Entscheidend ist also die
Art der Lesekommunikation – dafür sprechen Befunde von Wieler zu Vorlesesituationen mit
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
23
Strobl/Österreich 9.5.2011
Vierjährigen: entscheidend ist nicht die Tatsache, dass gemeinsam gelesen wird, sondern wie:
ob dabei geteilte Bedeutungen entstehen und jedes Kind in seiner Teilhabe an Lesekultur.
Unterstützt wird.
Die Lese-Schreib-Gesprächs-Kultur schafft mit allen Kindern gemeinsam individuell
bedeutsame Zugänge zu Lektüre als Grundlage für die Habitualisierung selbständiger Lektüre
innerhalb und außerhalb der Schule auch bei jenen Kindern, die sie bisher noch nicht
entwickelt haben. Es sind dann nicht „die anderen“ sozialen Schichten, die lesen und lesen
können (Rosebrock/Pieper), sondern jeder Schüler gehört dann selbst zu den Lesern. Schüler
sollen Interesse an Büchern finden, denn dann lohnt es sich für sie, die Anstrengung des
Lesenlernens und –übens zu überwinden, dann lesen sie auch selbst und auch außerhalb der
Schule – und das ist mehr Übung, als die Schule ihnen aufgeben kann.
Es geht bei diesem Baustein darum, auch zunächst fremde Texte in den Interessenshorizont
von Kindern zu rücken – ihnen Anknüpfungspunkte für identitätsbildende Prozesse zu bieten:
Wie sollten manche Schüler ohne solche faszinierenden Leseerfahrungen sie interessierende
Bücher selbst auswählen können? Unterricht sollte durch das Kennenlernen neuer Welten und
Sichtweisen im Buch ihr mentales Leseengagement, ihre Involvierung in das Lesen anstoßen.
Und es geht um die Teilhabe an ko-konstruktiven Formaten der Lesekommunikation, wie sie
für Zugänge zu Bildung grundlegend sind, nicht nur in der Schule.
Lesen kann nicht nur durch Selberlesen befördert werden, sondern auch dadurch, dass die
Lehrkraft in der Klasse vorliest. Dies belegte kürzlich besonders eindrücklich die Studie von
Jürgen Belgrad (2010), in der Achtklässlern ein halbes Jahr lang 3-4mal pro Woche 10-15
Minuten vorgelesen wurde. Vom regelmäßigen Vorlesen profitierten nicht nur für ihre
Lesemotivation, sondern auch für ihre Lesekompetenz.
Untersucht wurde in dieser Studie zusätzlich, ob sich die „Lesesteigerung“ durch folgende
Variablen verändert:
•
durch die kommunikative Form des Vorlesens: monologisch vs. dialogisch (= nur
Vorlesen vs. Vorlesen und über den Text reden)
•
durch die Gestaltung des Vorlesens: neutral vs. theatral (= gutes Betonen usw. vs.
eher wie Schauspieler Theater spielen)
•
durch die Textsorte: Jugendbuch vs. Kurzgeschichte
•
durch die Kompetenz des Vorlesers: geschult vs. ungeschult
•
durch die Aktivitätsform: bloßes Zuhören vs. Zuhören und Mitlesen.
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
24
Strobl/Österreich 9.5.2011
Der Erfolg in der Lesekompetenz erwies sich als größer, wenn das Vorlesen stimmlich gut
gestaltet war, so dass durch prosodische und paraverbale Mittel das Verstehen des Textes
unterstützt wurde. Und es erweis sich als förderlich, wenn über das Gelesene gesprochen
wurde.
Eine besondere Bedeutung haben also dialogische Zuhör- bzw. (Vor)Lesesituationen. Der
sozial und emotional bedeutsamen Interaktion mit dem kompetenten Anderen kommt eine
besondere Bedeutung nicht nur für das frühe sprachliche Lernen zu, sondern auch für die
Förderung der Lesekompetenz. Diese Bedeutung der Anschlusskomunikation für die
Lesesozialisation ist schon lange von Petra Wieler und Bettina Hurrelmann nachgewiesen.
Die neue Untersuchung von Belgrad erweitert die Bedeutung des kommunikativen Kontextes:
Sie gilt offenbar nicht nur für das selbständige Lesen, sondern auch für Vorlesesituationen,
also für das Hören geschriebener Sprache. Wie für die Achtklässler, hat erst Recht am Ende
der Grundschule die dialogische Vermittlung zwischen der literarischen Welt und der Welt
des Schülers eine hohe Bedeutung – nicht nur für die Entwicklung von Lesemotivation,
sondern auch von Lesekompetenz.
Lesekompetenz kann also nicht nur durch selbständiges Lesen unterstützt werden, sondern
auch durch regelmäßige, stimmlich und dialogisch gestaltete Vorlesesituationen. Dieses
didaktische Potenzial des Vorlesens im sozialen Kontext der Klasse wird jedoch im
Schulalltag oft nicht ausgeschöpft, wenn Leseförderung auf die solistische Bearbeitung von
Leseheften beschränkt wird oder das Vorlesen als Ritual zum Zuhören während der
Frühstückspause stattfindet.
Am Beispiel von „Ein Schaf fürs Leben“ soll insbesondere das bewährte Zusammenspiel von
Vorlesen, Schreiben und Sprechen skizziert werden (s. ausführliche Aufgabendarstellung in
Hüttis-Graff 2009; s.a. Dehn u.a. 2011).
Intensivierung der Lektüre und Höreraktivierung
• Sprechgestaltung: Lautstärke, Dynamik,
Melodie, Tempo, Pausen … - Hörmedien
einsetzen
• Gesprächseinlagen beim Vorlesen und
Hören: Wechselspiel von entfaltenden und
abstrahierenden Gesprächen
• (Wann) Aufmerksamkeit auf Bilder richten
• szenische Interpretation
• Schreiben zur Lektüre
Achtung:
Prof. Dr. Petra statt
Hüttis-Graff
Textzentriertheit
Methoden-Euphorie!!!
29
Auf dem folgenden Blatt finden Sie
einige Schreibaufgaben, die die Lektüre
von „Ein Schaf fürs Leben“ vertiefen:
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
Strobl/Österreich 9.5.2011
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BEISPIELE: SCHREIBEN zur Lektüre
Erwartungen VOR dem Hören wecken
Wir werden heute eine Geschichte von einem Wolf und
einem Schaf hören. Was wisst ihr schon über Wölfe und
Schafe? Schreibe auf das Platzdeckchen, wie Wölfe sind!
Oder: Schreibe auf, wie Schafe sind!
ODER: eigenständige Schreibaufgabe 2:
Den ersten Höreindruck vertiefen
ODER: Schreibaufgabe als Anpassung an Vorgelerntes
Du hast den Anfang der Geschichte gehört. Schreibe
Eine 3. Klasse hat gerade zu Beschreibungen gearbeitet.
auf, was du über Wolf denkst!
Bevor die Kinder den Buchtitel und die Lesung hören,
erhalten sie diese Abbildungen zur Auswahl.
Sieh dir das Tier genau an und beschreibe, wie es aussieht und was es
wohl denkt.
Platzdeckchen mit Eigenschaften von „Wolf“ und
„Schaf“
Anschließend Platzdeckchen drehen und lesen.
Leise am Tisch besprechen und markieren: Was
hast du Neues erfahren?
ÆSammlung im Plenum
Aktualisierung des Vorwissens als Folie für das
Lesen/Hören
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
Æ Hörprobe
30
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
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Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
33
Aufgabe 4 (Arbeitsblatt auf DIN-A3 vergrößern):
Gedanken lesen - Perspektivenübernahme
Stelle dir vor, in deinem Kopf siehst du wie im Film die
Gedanken von Wolf, wenn er von Erfahrungen spricht.
Stoppe den Film in deinem Kopf, wenn du etwas
Wichtiges klar siehst, und male dieses Bild in die
Gedankenblase von Wolf! … Schaf
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
36
Prof. Dr. Petra Hüttis-Graff
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26
Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
Strobl/Österreich 9.5.2011
Fazit:
Literatur kann ihr Bildungspotential nur bei einer über die Schule hinausreichenden
Leseaktivität entfalten: Wird der Griff zum Buch oder zum Text im Internet alltägliche Praxis,
dient das Lesen zugleich dem fachlichen und ästhetischen Lernen, es ist „die ergiebigste
Quelle des Begriffslernens und ein wichtiges Übungsfeld für den Umgang mit elaborierter
Sprache“ (Groeben/Hurrelmann 2004, S. 213). Dazu müssen Schüler nicht nur lesen können,
sondern auch lesen wollen.
In der Schule kann die persönliche Bedeutung des Lesens nicht nur beim selbständigen Lesen
erfahrbar werden, sondern auch wenn die Lehrkraft regelmäßig vorliest und eine intensive
Lesekommunikation in der Klasse anregt, die nicht nur das Gespräch mit der gesamten Klasse
beinhaltet, sondern auch dialogische Kontexte in kleinen Gruppen anbietet. Auch kann das
Schreiben (oder Diktieren) zur knappen Fixierung von Kernaussagen (Formulierung auf
einem kleinen Blatt) oder zur individuellen Vertiefung der Gedanken zum Gelesenen oder
Gehörten (Fokussierung auf ein ausgewähltes Thema) und der Austausch über die
entstandenen Schülertexte für das Lernen in der Klasse genutzt werden. Denn das Schreiben
erfordert und ermöglicht aufgrund seiner Langsamkeit die Strukturierung und Klärung des
Gedachten mehr als der mündliche Gesprächsbeitrag. In einer solchen Lesekultur machen
gezielte Übungen zur Stärkung der Lesekompetenz für den einzelnen Schüler Sinn, weil er die
selbständige Lektüre als Ziel hat.
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Stuttgart.
Baumgartner, Andreas: http://www.lesepartnerinnen.at/Die-Aktion/Inhalt-und-Ziele.html
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Dehn, Mechthild/Merklinger, Daniela/Schüler, Lis (2011 i.V.): Texte und Kontexte. (vollständige Überarbeitung von Dehn
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Hurrelmann, Bettina (2002): „Leseleistung – Lesekompetenz. Folgerungen aus PISA mit einem Plädoyer für ein didaktisches
Konzept des Lesens als kultureller Praxis“. In: Praxis Deutsch 176, S. 6–19.
Hüttis-Graff (2009): Zuhören – schreiben – verstehen. Mit einem Hörbuch literarisches Verstehen üben. Grundschule
Deutsch, Heft 10 2009, S. 31-36 und Material auf CD-Rom
Hüttis-Graff, Petra (2010): Lese-Hör-Kiste. Handreichung für Vorschulkräfte (Homepage)
Hüttis-Graff, Petra (2011): Deutschdidaktik in der Grundschule. In: Köhnen, Ralph (Hg.): Einführung in die Deutschdidaktik.
Stuttgart: Metzler, S. 37-86
IGLU 2006: Internationale Grundschul-Leseuntersuchung. Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen
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Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf (1997): „Schriftlichkeit und Sprache“. In: Günther, Hartmut/Ludwig, Otto (Hg.): Schrift und
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Kruse, Iris (2010): Das Vorlesen lernförderlich gestalten GSU 1/2010
Kruse, Iris (2010): Figurengeschichten zu Potilla. Das Lesetagebuch als Impuls für Schreibideen. GSZ 231, 2/2010, 32-35
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Petra Hüttis-Graff
Einführungsvortrag
Strobl/Österreich 9.5.2011
Kultusministerkonferenz (KMK): Bildungsstandards im Fach Deutsch für den Primarbereich. (Jahrgangsstufe 4) Beschluss
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Schreibens“. In: Hofmann, Bernhard/Valtin, Renate (Hg.): Projekte. Positionen. Perspektiven. 40 Jahre DGLS. Berlin,
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Rosebrock, Cornelia/Rieckmann, Carola/Nix, Daniel/Gold, Andreas (2010): „Förderung der Leseflüssigkeit bei
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Wieler, Petra (1997): Vorlesen in der Familie. Fallstudien zur literarisch-kulturellen Sozialisation von Vierjährigen.
München.