Mein Kind – Dein Kind – Unser Kind

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Mein Kind – Dein Kind – Unser Kind
Dipl.-Psych. Klaus Ritter
Mein Kind – Dein Kind – Unser Kind
Erfahrungen mit dem gemeinsamen Sorgerecht
aus Sicht eines familienpsychologischen Sachverständigen
Vortrag am 27.05.1999 für das
„Forum Erziehungsberatung – 1999“ in Fulda
Einleitung
Die derzeitige Rechtslage zum Sorgerecht
Das Beziehungsdreieck Vater – Mutter – Kind
Beispiel einer Scheidungsfamilie
Voraussetzungen für das gemeinsame Sorgerecht
Literaturhinweise
1. Einleitung
Thema meines Vortrages ist die Ausgestaltung der elterlichen Sorge nach Trennung oder
Scheidung der Elternteile. Dabei werde ich mich auf die Frage der Potentiale und Risiken des
gemeinsamen Sorgerechts konzentrieren. Ich gehe zunächst auf die derzeitige Rechtslage ein,
so wie sie sich nach der Kindschaftsrechtsreform darstellt. Danach möchte ich Ihnen die
Bedeutung des Beziehungsdreiecks Vater- Mutter- Kind aus entwicklungspsychologischer
und psychoanalytischer Sicht kurz darstellen. Anschließend werde ich Ihnen anhand eines
Fallbeispiels aus meiner Tätigkeit als familienpsychologischer Sachverständiger schildern,
welche Kriterien für die Ausübung der gemeinsamen elterlichen Sorge erfüllt sein sollten. Am
Schluss meines Vortrages möchte ich Ihnen dann die wichtigsten psychologischen
Voraussetzungen der gemeinsamen elterlichen Sorge benennen.
2. Die derzeitige Rechtslage zum Sorgerecht
Die rechtlichen Rahmenbedingungen bis zum 30.06.1998 sahen vor, dass im Fall der
Scheidung der Elternteile das Sorgerecht für die gemeinsamen Kinder vom Familiengericht
aufgeteilt wird. In § 1671 BGB hieß es dazu: „Die elterliche Sorge ist einem Elternteil allein
zu übertragen.“ Mit beeinflusst durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom
03.11.1982 ist das neue Kindschaftsreformgesetz zum 01.07.1998 in Kraft getreten. In seiner
Entstehungsgeschichte ist das Motiv eingeflossen, eine Regelung bei Trennung und
Scheidung der Eltern zu finden, die dem Kindeswohl besser entspricht als die bisherige
Aufteilung der elterlichen Sorge. Bezüglich des Sorgerechts bestimmt das Gesetz, dass es nur
noch dann zu einer Entscheidung des Familiengerichts kommt, falls ein Elternteil die
elterliche Sorge oder Teile davon gem. § 1671 BGB beantragt. Das Familiengericht wird
folglich auf Antrag tätig und hat dem Antrag stattzugeben, soweit der andere Elternteil
zustimmt und nicht ein Kind über 14 Jahre der Übertragung widerspricht. Außerdem ist dem
Antrag zu entsprechen, wenn zu erwarten ist, dass die Aufhebung der gemeinsamen Sorge
dem Wohl des Kindes am besten entspricht. Die Formulierung Kindeswohl ist dabei generelle
Leitlinie des Gesetzes.
Faktisch bedeutet dies, dass die Elternteile bei Trennung oder Scheidung es in der Hand
haben, ob sie selbst zu einer konstruktiven Lösung kommen können und damit die juristische
Entscheidung bezüglich der elterlichen Sorge überflüssig wird. Aber auch wenn das
Familiengericht nicht tätig wird, besteht eine Anhörungs- und Beratungspflicht seitens des
Gerichts.
Der Antrag eines Elternteils kann sich darauf beziehen, ihm die gesamte elterliche Sorge zu
übertragen oder Teilaspekte des Sorgerechts, beispielsweise das
Aufenthaltsbestimmungsrecht, das Recht auf Entscheidung der Heilmaßnahmen oder
Festlegungen zur Ausbildung des Kindes.
Falls es zu einem einvernehmlichen Vorschlag beider Elternteile kommt, das Sorgerecht auf
einen Elternteil zu übertragen, so ist das Familiengericht grundsätzlich gehalten, diesem
Elternwillen zuzustimmen. Dem Gericht steht jedoch zusätzlich die Möglichkeit zu, bei
Zweifeln an der Erziehungsfähigkeit der Elternteile eine Überprüfung entsprechend § 1666
BGB einzuleiten. In diesem Paragrafen ist festgelegt, dass bei einer Gefährdung des Kindes
das Familiengericht die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen treffen kann.
Damit sind sowohl Schritte gegen die Inhaber des Sorgerechts gemeint als auch Festlegungen
gegen beteiligte Dritte. Konkret heißt dies, dass das Gericht in einem solchen Fall die
elterliche Sorge oder Teile davon den Eltern entziehen kann.
Auch hinsichtlich des Umgangsrechts hat das Gesetz eine Modifizierung gebracht, indem
festgelegt worden ist, dass das Kind ein Recht auf Umgang mit jedem Elternteil hat (siehe §
1684 BGB). Zusätzlich wird bestimmt, dass jeder Elternteil nicht nur zum Umgang mit dem
Kind berechtigt ist, sondern auch verpflichtet. Dabei wird, und auch dies ist eine Neuerung,
nicht zwischen ehelichen Kindern und Kindern, deren Eltern nicht miteinander verheiratet
sind, unterschieden. Den Eltern wird aufgegeben, alles zu unterlassen, was das Verhältnis des
Kindes zum jeweils anderen Elternteil beeinträchtigt oder erschwert. § 1685 BGB regelt, dass
auch weitere Bezugspersonen des Kindes umgangsberechtigt sind, beispielsweise Großeltern,
Geschwister, Stiefelternteile oder Personen, die zeitweise eine Pflege des Kindes
übernommen haben, beispielsweise Pflegeeltern. Einziger Maßstab für die Ausgestaltung des
Umgangsrechts ist das Wohl des Kindes, insbesondere seine Bindungen zu den genannten
Personen. Die o. g. Vorschriften betreffend der Ausgestaltung des Umgangsrechts gelten für
die weiteren Bezugspersonen analog.
Die Kindschaftsrechtsreform hat damit seit Mitte 1988 rechtliche Vorgaben geschaffen, um
zum einen die stärkere Orientierung am Kindeswohl zu ermöglichen, und zum anderen Eltern
und weitere Bezugspersonen des Kindes zu motivieren, konstruktive Lösungen bei der
Ausgestaltung von Sorge- und Umgangsrecht zu suchen, damit eine juristische
Auseinandersetzung möglichst vermieden werden kann. Dabei verweist das Gesetz auf die
bestehenden pädagogischen und psychologischen Beratungsangebote, beispielsweise im
Rahmen des Jugendamtes oder durch die Erziehungsberatungsstelle.
An dem Gesetz ist erkennbar, dass man sich bemüht hat, pädagogische und
entwicklungspsychologische Erkenntnisse mit einfließen zu lassen. Es muss in diesem
Zusammenhang deutlich gesagt werden, dass es auf der juristischen Ebene natürlich nicht
möglich ist, durch solche Vorgaben die Familienstrukturen unmittelbar zu verändern oder
eine Konsensfähigkeit zu entwickeln. Andererseits liefert das Gesetz Leitsätze, an denen sich
die Beteiligten abarbeiten können, so dass potentiell die Möglichkeit besteht, die oft nach
einer Trennung bzw. Scheidung auftretenden familiären Konflikte in weniger destruktive
Bahnen zu lenken. Die stärkere Betonung der Eigenverantwortung der Eltern und das
Herausstreichen von nichtjuristischen Beratungs- und Therapiemöglichkeiten könnte dazu
führen, dass familiäre Konflikte als solche angegangen werden, ohne das Familiengericht mit
unrealistischen Erwartungen zu überfrachten.
3. Das Beziehungsdre ieck Vater – Mutter – Kind
In seiner Entwicklung erlebt das Kind verschiedene Beziehungsdreiecke. Neben der
gleichzeitigen Beziehung zu Vater und Mutter gibt es weitere Dreieckskonstellationen,
beispielsweise zu den beiden Großelternpaaren. Mit der Trennung bzw. Scheidung der
Elternteile kommt es zu einer tiefgreifenden Erschütterung dieser Beziehungsdreiecke.
Deshalb möchte ich Ihnen zunächst aus entwicklungspsychologischer Sicht darstellen, welche
Bedeutung den Beziehungsdreiecken für die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
zukommt.
Das Erleben und Verinnerlichen von mehreren wechselseitigen Beziehungen wird in der
psychoanalytischen Entwicklungspsychologie mit dem Begriff Triangulierung bezeichnet.
Triangulierung meint dabei das Dreieck von Personen, beispielsweise in der kindlichen
Entwicklung das Dreieck Vater – Mutter – Kind, darüber hinaus die Beziehungen innerhalb
dieser Dreieckskonstellationen sowie die innerpsychischen Repräsentanzen dieser
Beziehungen. Im engeren Sinne meint Triangulierung den psychischen Prozess der
Integration dieser drei unterschiedlichen Ebenen.
In der frühkindlichen Entwicklung steht für das Kind häufig eine Zweierbeziehung im
Vordergrund, oft die zur Mutter. Mit der Weiterentwicklung der kognitiven und emotionalen
Fähigkeiten des Kindes wird die Kompetenz erworben, mehrere und unterschiedliche
Beziehungen gleichzeitig zu unterhalten, zu erkennen und zu akzeptieren. Dabei ist für das
Kind ein wichtiger psychischer Reifungsprozess, dass es nicht nur Beziehungen gibt, die auf
das eigene Selbst bezogen sind, sondern dass die Bezugspersonen, beispielsweise Vater und
Mutter, eigenständige Beziehungen zueinander unterhalten. An dieser Formulierung wird
schon deutlich, dass es sich bei der Triangulierung um eine Entwicklungsaufgabe handelt, die
die gesamte Kindheit bis in das Erwachsenenalter hinein begleitet.
Idealerweise sollte eine Dreieckskonstellation fünf Bedingungen erfüllen, um sie als
vollständig klassifizieren zu können.
? Erste Voraussetzung ist, dass sich die drei Personen klar voneinander differenzieren.
? Der zweite Aspekt meint, dass zwischen allen Beteiligten wechselseitige Beziehungen
bestehen.
? Dritter Gesichtspunkt ist, dass die Dreiecksstruktur durch die Beteiligten eine Billigung
erfährt.
? Vierte und daran anschließende Bedingung ist, dass die Beziehungen des Dreiecks
überwiegend positiv gefärbt sein sollten.
? Schließlich beinhaltet die fünfte Bedingung, dass die Beziehungen in den Beteiligten
psychisch ausreichend repräsentiert sind.
Unter diesen Aspekten ist ein familiäres Beziehungsgefüge vorstellbar, in dem gute
Grundvoraussetzungen für eine befriedigende Persönlichkeitsentwicklung des Kindes
vorliegen. Das Kind kann in einem solchen Ablauf die Fähigkeit entwickeln, mehrere
Beziehungen unterschiedlicher Qualität gleichzeitig anzunehmen und darüber eine
Zufriedenheit zu entwickeln. Entwicklungspsychologisch vollzieht sich der Übergang von der
Dyade, das heißt der Zweierbeziehung, hin zur Dreieckskonstellation. Das Kind entwickelt
allmählich die Kompetenz, die Beziehungen, beispielsweise der Eltern oder das Verhältnis
weiterer Geschwister untereinander, als eigenständige und eigengesetzliche Strukturen zu
akzeptieren. Diese Akzeptanz beinhaltet einen psychischen Reifegrad des Kindes, nämlich die
Stufe von Teilobjektbeziehungen überwunden zu haben und das Nebeneinander
unterschiedlicher Beziehungen und Beziehungsqualitäten akzeptieren zu können.
Eingeflossen in meine These ist die Annahme, dass der Prozess der Triangulierung nicht ohne
das zumindest unbewusste Einverständnis der Eltern erfolgreich verlaufen kann. Kommt es zu
einer übermäßigen Fixierung des Kindes auf einen Elternteil, so wird die Herausbildung
gelingender Beziehungsdreiecke in der Regel gestört.
Eine solche Fixierung im Sinne eines Teilbündnisses kann bereits innerhalb einer bestehenden
Partnerschaft bzw. Ehe stattfinden. Häufig führt eine Partnerschaftskrise dazu, dass ein
Elternteil eine übermäßige Nähe zum Kind aufbauen will, beispielsweise im Sinne einer
kompensatorischen Befriedigung für die ausbleibende Zuwendung durch den Partner. Das
Kind erlebt durch diese übermäßige Zuwendung zunächst eine Bestätigung im Sinne einer
narzisstischen Überhöhung, das heißt einer Übersteigerung des Selbstwertgefühls.
Mit der bewussten und unbewussten Wahrnehmung der Paarkrise der Eltern ist das
Familienbild des Kindes tangiert. Die bisher Sicherheit und Geborgenheit gebende Rolle der
Familie erscheint in Frage gestellt. Das im Rahmen der Triangulierung erworbene und
phantasierte Bild, dass die Eltern ihre eigenen Bereiche eigenständig und kompetent regeln
können, gerät ins Wanken. Typische Reaktionsweise beim Kind ist die Tendenz, die Situation
zu verleugnen, häufig verbunden mit einer betonten Unauffälligkeit und Überangepasstheit.
Eine andere Reaktionsbildung des Kindes ist die Auslösung von Verlustängsten und damit
verbundene Verhaltensauffälligkeiten, um auf sich aufmerksam zu machen. Das Kind würde
dann zum Symptomträger der Familie, verbunden mit der unbewussten Hoffnung, dadurch die
Krise der Eltern stoppen zu können.
Mit der organisatorischen, juristischen und räumlichen Trennung der Elternteile vollzieht sich
ein Bruch für das Kind, indem der Lebensmittelpunkt zukünftig bei einem Elternteil liegt und
die Kontakte zum anderen Elternteil häufig erheblich reduziert werden. Damit ist die bisher in
der Familie vorliegende Triangulierungsfunktion des anderen Elternteils, und dies ist häufig
der Vater, mehrfach in Frage gestellt. Die mit der Trennung häufig einhergehenden Schuldund Schamgefühle führen häufig zu einer Fixierung des Kindes auf denjenigen Elternteil, bei
dem es weiter lebt, und zu einer Schuldzuweisung dem anderen Elternteil gegenüber. Dies
erschwert zusätzlich den Zugang zum anderen Elternteil. Häufig werden dann die
Besuchskontakte, beispielsweise zum Vater, mit Scheidungsfolgekonflikten überfrachtet, die
dem Kind zusätzlich den Eindruck eines abgelehnten bzw. verunsicherten Vaters vermitteln
können. Die bisherige Funktion des Vaters im Sinne eines korrigierenden Dritten kann dieser
kaum noch erfüllen. Stattdessen erlebt das Kind eine verstärkte reale und psychische
Abhängigkeit zu dem mit ihm lebenden Elternteil. Reaktion des Kindes ist dann häufig eine
verstärkte Loyalitätsbindung, um dieses Ausgeliefertsein als psychische Phantasie
abzuwehren.
Zusätzlich ist zu bedenken, dass sich durch die Scheidung nicht selten die psychosoziale und
materielle Situation der gesamten Familie verschlechtert. Trennung und Scheidung sind
häufig mit einem Wohnungswechsel, dem sozialen Abstieg sowie einer Reduzierung der
materiellen Ressourcen verbunden. Vorher selbstverständliche Entfaltungsmöglichkeiten und
Freizeitaktivitäten müssen in der neuen Lebenslage mit Hinweis auf die knappen finanziellen
Möglichkeiten beschnitten werden. Durch diese psychosozialen Veränderungen reduziert sich
insgesamt die Möglichkeit, weitere Beziehungsdreiecke im Sinne einer kompensatorischen
Funktion aufzubauen.
Die vorliegenden psychologischen Untersuchungen zur Entwicklung des Kindes nach
Trennung und Scheidung zeigen, dass die psychische Bewältigung dieser Situation
grundsätzlich besser erfolgen kann, wenn es dem Kind gelingt, auch die Beziehung zu dem
Elternteil, bei dem es nicht lebt, weiter zu entwickeln oder Ersatzbeziehungen zu finden.
Generell ist festzustellen, dass Scheidungskinder mit einer guten Vaterbeziehung offenbar
deutlich weniger psychische Auffälligkeiten zeigen und langfristig besser in der Lage sind,
sich an ihre neue Lebenssituation anzupassen.
Generell sind Prozesse von Trennung und Scheidung hochgradig dazu geeignet, bei den
Beteiligten eine psychische Destabilisierung hervorzurufen, die mit einer ungünstigen
Veränderung der Selbst- und Objektrepräsentanzen einhergeht. Für die zukünftige
Partnerwahl des betroffenen Kindes werden Weichen gestellt, indem diese beispielsweise
unbewusst mit Ansprüchen nach Wiedergutmachung oder Schuldabbau besetzt wird.
Langzeitfolge einer nicht gelingenden Bewältigung der Scheidung kann damit sein, dass
Scheidungskinder später selbst eine instabile Partnerschaft und eine hohe Scheidungsrate
aufweisen.
Es ist daher generell davon auszugehen, dass es für das Kind eine bedeutungsvolle
korrigierende Erfahrung wäre, dass beide Elternteile nach einer Trennung in der Lage sind,
das Sorgerecht gemeinsam auszuüben. Der andere Elternteil wäre dann weiterhin als
eingreifender Dritter präsent und das Kind würde sich in geringerem Maße dem die Erziehung
hauptsächlich durchführenden Elternteil ausgeliefert fühlen. Das eingeschränkte Miteinander
der beiden Elternteile, nun nicht mehr auf der Paarebene, sondern in ihrer Funktion als
Elternteile, kann dem Kind als Vorbild dienen, dass die aufgeworfenen Konflikte zumindest
ansatzweise von den Beteiligten verarbeitet werden.
Die in der juristischen Auseinandersetzung sich vollziehende bewusste und unbewusste
Aufteilung in Gewinner und Verlierer kann in ungünstiger Weise dazu führen, die eigenen
Anteile am Scheitern der Ehe zu verleugnen und der erlittenen narzisstischen Kränkung aus
dem Weg zu gehen. Zielsetzung des gemeinsamen Sorgerechts wäre daher, diese Aufteilung
in Gewinner und Verlierer zu unterbrechen und dem getrennten Paar die gemeinsame
Elternverantwortung auch nach der Scheidung zu belassen. Das gemeinsame Sorgerecht
beinhaltet grundsätzlich, dass die wichtigen Entscheidungen der Erziehung einvernehmlich
getroffen werden müssen, und dass die beiden Elternteile entweder ein gemeinsames
Erziehungskonzept entwickeln oder sich wenigstens in der Ausübung ihrer jeweiligen
Erziehung nicht wechselseitig behindern. Konsens zwischen den Elternteilen wird bei
grundsätzlichen Fragen erwartet, beispielsweise bei der Festlegung der Schullaufbahn oder
bei lebenswichtigen medizinischen Maßnahmen.
Aus psychoanalytischer Sicht kommt es bei der Ausgestaltung der gemeinsamen elterlichen
Sorge nicht darauf an, dass eine ständige reale Präsenz beider Elternteile für das Kind
sichergestellt ist. Ein Gelingen des gemeinsamen Sorgerechts setzt jedoch voraus, dass das
Kind nicht mit Loyalitätskonflikten überfrachtet wird. Die Eltern sollten versuchen, die
Konflikte miteinander anzugehen und nicht agiert über das Kind, etwa wenn dem Kind
wechselseitige Teilbündnisse angeboten werden. Diese Teilbündnisse sind besonders
schädigend, indem dem Kind die Beziehung zum anderen Elternteil erschwert wird, weil
dieser als der Böse oder der Aggressor dargestellt wird.
Ziel einer gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge sollte daher sein, dass ein
funktionierendes Beziehungsdreieck Vater – Mutter – Kind zumindest wieder in Ansätzen
hergestellt wird. Dem Kind kann dadurch die Chance eröffnet werden, zu beiden Elternteilen
jeweils eigenständige Bindungen aufzubauen, ohne dadurch in Loyalitätskonflikte und damit
verbundene Schuld- und Schamgefühle zu geraten. Im erweiterten Blick auf die
Beziehungsdreiecke bedeutet dies, dass auch die anderen Beteiligten, beispielsweise die
Großelternpaare, nicht darauf drängen, mit dem Kind exklusive Bündnisse einzugehen und
auf die Fixierung einer Feindbildprojektion möglichst verzichtet wird. Die
Feindbildprojektion ist häufiger Ablauf nach einer Trennung oder Scheidung, um die eigenen
vielfältigen Affekte von Trauer, Schuld, Scham und Verlustangst durch eine aggressive
Abwertung der anderen Partei abwehren zu können. Letztlich handelt es sich dabei um den
aus psychologischer Sicht untauglichen Versuch, die Prozesse der psychischen Verarbeitung
der Scheidung durch eine dauerhafte Polarisierung von Gut und Böse umgehen zu können.
Die Folge sind oftmalig langwierige und quälende Nachscheidungskonflikte, auch auf der
juristischen Ebene, beispielsweise um materielle Fragen oder die Ausgestaltung der
Umgangskontakte. In diese Polarisierung sind regelmäßig die beiden Herkunftsfamilien der
Elternteile wie eine Art Hilfstruppe einbezogen.
4. Beispiel einer Scheidungsfamilie
Anhand der Situation von Familie B. möchte ich Ihnen einige typische Probleme hinsichtlich
der Möglichkeit der gemeinsamen elterlichen Sorge darstellen.
Herr und Frau B. haben zusammen zwei Kinder. Es handelt sich um den 1990 geborenen
Paul sowie um Joachim, geboren 1992. Zum Zeitpunkt der Trennung sind die Kinder 6 bzw. 4
Jahre alt. Die Mutter lebt seit der Trennung der Elternteile weiter in der früheren ehelichen
Wohnung, der Vater hat am gleichen Ort eine eigene Wohnung bezogen. Beide Kinder sehen
die Eltern etwa gleich häufig und wechseln in einer von den Eltern entwickelten
komplizierten Zeitaufteilung mehrmals in der Woche zwischen beiden Elternteilen.
Beim Kennenlernen des Paares war Frau B. 17 Jahre alt und wohnte noch bei ihren Eltern.
Herr B. war 22 Jahre alt und er absolvierte gerade seine Ausbildung zum Finanzbeamten.
Frau B. hatte den Wunsch, das Elternhaus möglichst rasch zu verlassen. Sie schilderte die
Atmosphäre bei ihrem dominanten und gefühlskalten Vater als unangenehm. Herr B. war ihr
erster Freund. Sie hatte vorher noch keine sexuellen Erfahrungen. Herr B. hatte sich nach dem
Abitur gegen ein Studium entschieden und begann die Ausbildung bei der Finanzbehörde in
einer 150 Kilometer entfernten Großstadt. Das Paar zog nach kurzer Bekanntschaft zusammen
und es entwickelte sich eine Wochenendbeziehung, da Herr B. weiter zu seiner Ausbildung
fuhr.
Innerhalb der Ehe ist es dann von Anfang an zu Krisen gekommen. Beide stellten hohe
Erwartungen aneinander, die der Partner kaum erfüllen konnte. Jeder hatte das starke
Bedürfnis, vom anderen emotional versorgt zu werden. Als diese Erwartungshaltung nicht
erfüllt wurde, zog sich Frau B. innerlich von ihrem Mann zurück, und er begann innerhalb
seiner Ausbildung eine Beziehung zu einer anderen Frau. Es kam dann zu mehreren
vorübergehenden Trennungen, ohne dass die Ehe endgültig zerbrach.
Mit 26 Jahren setzte Frau B. eigenmächtig die Pille ab und verkündete ihrem Mann die
Schwangerschaft mit den Worten: „Du wirst jetzt Vater!“ Frau B. hatte damals nach ihrem
Studium bereits ihre Stelle als Lehrerin, und sie ließ sich beurlauben.
Von dem Paar wird die Zeit nach der Geburt des ersten Kindes positiv geschildert. Herr B.
gab seine außereheliche Affäre auf und kümmerte sich intensiv um den Sohn Paul. Frau B.
berichtet, dass es um die Versorgung des Kindes regelrechte Rivalitäten gegeben habe, und
ihr Mann habe ihr zeigen wollen, dass er auch in diesem Bereich „besser“ sei. Nach der
Geburt des zweiten Kindes hat sich Herr B. überraschend von der Kindererziehung
abgewandt, und der berufliche Aufstieg wurde zu seinem Hauptlebensinhalt. Er lebt nur noch
für seinen Beruf und schließlich kommt es zu einer psychosomatischen Erkrankung, die er
zunächst verleugnet, und er arbeitet mit gleicher Intensität weiter. Schließlich führt die
Erkrankung zu einer dauerhaften Einschränkung seiner beruflichen Leistungsfähigkeit, so
dass er als Beamter vorzeitig pensioniert wird.
Innerhalb der Ehestruktur fühlt sich Frau B. vernachlässigt und wendet sich einem
Arbeitskollegen zu. Herr B. reagiert mit starker Eifersucht und schließlich zieht Frau B. aus.
Die Entwicklung des Kindes Paul ist dadurch gekennzeichnet, dass er seit seinem vierten
Lebensjahr vermehrt über Kopfschmerzen klagt. Insbesondere bei den starken Streitigkeiten
der Eltern hat er damit die Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Beide Elternteile versuchen,
den Jungen zu schonen. Nach der Trennung fühlt sich der Junge weiterhin zu beiden
Elternteilen hingezogen und er erklärt, dass er „zwei Zuhause“ habe. Er versucht, beide
Elternteile in der Trennungssituation zu trösten, insbesondere in intensiven Gesprächen mit
seinem Vater. Im Gespräch wirkt der Junge überangepasst, und seine Gedanken kreisen um
das Wohlergehen seiner Eltern.
Bei dem jüngeren Bruder Joachim zeigen sich seit der Trennung der Eltern kleinkindhafte
Verhaltensweisen. Zu der Mutter sucht er starke körperliche Nähe, und er möchte oft bei ihr
im Bett schlafen. Gelegentlich ist es wieder zu einem Einnässen gekommen. In seinem Spiel
beschäftigt sich der Junge oft mit dem Eindringen böser Mächte. Er liebt seine Ritterburg und
spielt oft, dass die Ritter in dem Keller ihrer Burg einen Feind festgestellt hätten. Sie gingen
mit ihrer Kanone in den Keller und würden den Feind vernichten.
In den Zeiten, die die Kinder mit dem Vater verbringen, erleben beide eine Überbetonung der
Gemeinsamkeiten. Der Vater unterstreicht häufig die Bedeutung der Kinder für ihn. Ausdruck
seiner Nähewünsche sind die an den Zimmertüren von ihm angebrachten Schilder. Es sind die
Kinderzimmer gekennzeichnet, sowie der Hinweis auf das Arbeitszimmer von Herrn B. („Das
Zimmer von Eurem Papi“). Eigene Hobbys und Interessen hat Herr B. inzwischen
aufgegeben, seine ganze Aufmerksamkeit gilt den Kindern.
Beide Elternteile möchten das gemeinsame Sorgerecht fortsetzen, sind sich aber unsicher, ob
die bestehende Zeitaufteilung für die Kinder sinnvoll sei.
Für den Kindesvater bedeutet seine Aufopferung für die Kinder, die er im Rahmen eines
gemeinsamen Sorgerechts breit ausleben könnte, den Versuch einer Wiederherstellung seiner
Identität. Die Fürsorglichkeit den Kindern gegenüber stellt eine Abwehr seiner durch die
Ehekrise und den Verlust des Arbeitsplatzes aufgeworfenen Frustrationen und Aggressionen
dar. Für die beiden Jungen hieße dies, dass der Vater auch zukünftig nicht ausreichend für
eine Auseinandersetzung mit der männlichen Rolle zur Verfügung steht. Er würde seine
expansiven Seiten gegenüber den Kindern verleugnen und dadurch die
Persönlichkeitsentwicklung bei den Jungen insbesondere im Bereich der Männlichkeit
erschweren. Die für den Prozess der Triangulierung wichtige Auseinandersetzung zwischen
divergierenden weiblichen und männlichen Seiten wäre somit einseitig aufgelöst.
Frau B. strebt ebenfalls das gemeinsame Sorgerecht an. Sie ist jedoch in dieser Haltung
zögerlicher als ihr Mann. Ihr unbewusstes Motiv bei der angestrebten Regelung ist die
Abwehr der bei ihr durch den aktiven Schritt der Trennung ausgelösten Schuldgefühle den
Kindern und dem Ehemann gegenüber. Sie möchte ihm die Kinder als eine Art versuchter
Wiedergutmachung anbieten, verbunden mit der Hoffnung einer Besänftigung seiner Wut.
Durch ihre außereheliche sexuelle Beziehung fühlt sie sich an der jetzigen Lage der Kinder
schuldig.
Für die Kinder würde die Festschreibung eines gemeinsamen Sorgerechts ihrer Eltern ohne
die Lösung der eben skizzierten Konflikte zu einer weiteren psychischen Belastung führen.
Durch die unbewussten Motive bei der Sorgerechtswahl negieren die Elternteile die
eigenständige Entwicklung der Kinder. Die Kinder hätten die Funktion, Schuldgefühle
abzuwehren bzw. narzisstische Defizite zu reparieren. Mit dem gemeinsamen Sorgerecht
würden sich die Elternteile wechselseitig die Erlaubnis und nach außen die Legitimation
geben, um mit dieser Struktur fortzufahren.
Nach alledem ist aus meiner Sicht deutlich, dass die Fortsetzung eines gemeinsamen
Sorgerechts erst konstruktiv möglich sein kann, nachdem pädagogische und psychologische
Hilfen dafür gesorgt haben, dass die bisherigen ungünstigen Beziehungsformen verbessert
werden und wieder ein Prozess der Triangulierung ermöglicht wird. Beispielsweise sollte
Frau B. im Rahmen einer Beratung oder Psychotherapie ihre Schuldgefühle bearbeiten und
sich innerlich die Trennung von ihrem Mann erlauben. Über die Berufstätigkeit und eine neue
Partnerschaft hat sie Ansatzpunkte für eine eigenständige Lebensentwicklung, die den
Kindern eine Mutter zeigen würde, die sich trotz ihrer depressiven Struktur ein eigenes Leben
aufbaut. Auch für Herrn B. wäre ein Beratungsprozess sinnvoll, damit er erkennen kann, dass
er seine lebensgeschichtlichen Verluste nicht durch eine symbiotische Anklammerung an die
Kinder bewältigen kann. Für ihn ist es wichtig, überhaupt wieder Beziehungen jenseits seiner
Rolle als Vater aufzubauen.
Durch eine solche Weiterentwicklung ihrer Elternteile könnten beide Kinder ihren Prozess der
Triangulierung fortsetzen und sich die Mischung aus Liebes- und Hassgefühlen den
jeweiligen Elternteilen gegenüber zugestehen. Allmählich könnten der Vater und die Mutter
wieder als Subjekte begriffen werden, die ein eigenes Leben mit eigenen Inhalten und
spezifischen Geheimnissen führen. Dadurch würden die beiden Jungen die psychische
Sicherheit erlangen, sich in ihrer Entwicklung von den Elternteilen abzulösen und sich die
altersentsprechenden Autonomiebestrebungen zu gestatten.
Das vorliegende Beispiel soll die These belegen, dass das gemeinsame Sorgerecht zunächst
eine vorgegebene Beziehungsform ist, die nur durch eine entsprechende psychisch
Kompetenz der Beteiligten zum Leben gebracht werden kann. Bei unaufgelösten und weiter
bestehenden Scheidungskonflikten besteht die Gefahr, dass die Elternteile mit den Kindern
regressive Beziehungsformen entwickeln, die die Weiterentwicklung der Kinder auf Dauer
behindern.
5. Voraussetzungen für das gemeinsame Sorgerecht
Aus meiner Erfahrung als familienpsychologischer Sachverständiger ist mir deutlich
geworden, dass das gemeinsame Sorgerecht zunächst einmal eine juristische Kategorie ist.
Entscheidend ist und bleibt, wie die Beziehungen innerhalb der Familie im Rahmen des
gemeinsamen Sorgerechts ausgestaltet werden. Dabei können die rechtlichen Normen
bewusstseinsbildende Potenz haben, sie greifen aber ohne flankierende Maßnahmen zu kurz.
Realistisch und praktikabel erscheint das Modell der gemeinsamen elterlichen Sorge dann,
wenn ein Mindestmaß an Konfliktfähigkeit trotz der Trennung erhalten geblieben ist, und die
Elternteile folglich nicht im Übermaß dazu neigen, Auseinandersetzungen über die Kinder zu
agieren.
Nach meinen bisherigen Erfahrungen erscheint die Ausübung der gemeinsamen elterlichen
Sorge in den folgenden Fällen problematisch:
? Falls weiterhin ein hohes Konfliktpotential der beiden Elternteile besteht, sowie eine
mangelhafte Verarbeitung der narzisstischen Kränkungen aus der Ehe.
? Die Kinder wurden in der Vorgeschichte erheblich in die Paarkrise und die Trennung
hineingezogen, z.B. als Partnerersatz oder zum Agieren von Schuldzuweisungen.
? Es besteht eine geringe Bereitschaft der Elternteile zur Inanspruchnahme von Beratung und
Psychotherapie.
? Es besteht eine Erziehungsunfähigkeit beider Elternteile, z.B. durch eine schwere
Persönlichkeitsstörungen, Alkoholismus, Neigung zur Mißhandlung oder zum sexuellem
Mißbrauch der Kinder.
? Die Erziehungskonzepte der Elternteile erscheinen unvereinbar, der Grundkonsens
zwischen ihnen ist gestört und es besteht eine geringe Neigung für gemeinsame Lösungen.
Dies führt dazu, dass in Fragen von erheblicher Bedeutung für die Erziehung keine Einigung
erzielt werden kann.
? Die bisherigen Ansätze der Erziehungsberatung und Jugendhilfe erscheinen ausgeschöpft
und gescheitert.
In diesen Fällen sollte zunächst überprüft werden, ob durch eine Beratung die Basis für ein
gemeinsames Sorgerecht wieder hergestellt werden kann. Scheitert ein solches Vorgehen,
dann muß geprüft werden, ob das Sorgerecht zwischen den Elternteilen aufgeteilt wird.
Hauptziel der gemeinsamen elterlichen Sorge kann und sollte es sein, dem betroffen Kind
einen Eindruck davon zu vermitteln, dass beide Elternteile noch konstruktiv miteinander in
Kontakt stehen. Die durch die Ehekrise und die Trennung der Eltern ausgelöste
Verunsicherung und Traumatisierung des Kindes kann dadurch allmählich wieder verringert
werden. Dabei kommt es nach meiner praktischen Erfahrung nicht so sehr darauf an, dass die
beiden Elternteile ständig in Absprache über die Erziehung stehen. Vielmehr scheint für das
Kind von zentraler Bedeutung, dass es eine Kontinuität in der aktiven
Konfliktlösungskompetenz der Eltern erlebt und die gefundenen Regelungen als konstruktiv
annehmen kann. Dies bedeutet, dass die Qualität der Bindungen im Vordergrund steht und
nicht so sehr die Vielzahl der Kontakte zu beiden Elternteilen.
Einige Eltern haben die Ausgestaltung der gemeinsamen elterlichen Sorge so geregelt, dass
für die Kinder ein häufiger Wechsel zwischen den beiden Lebenssituationen stattgefunden
hat. Dieser Wechsel hat regelmäßig zu einer psychischen und auch organisatorischen
Überforderung der Kinder geführt, da es ihnen schwergefallen ist, ihren Lebensmittelpunkt zu
finden und einen kontinuierlichen Freundeskreis aufzubauen. Dieser Wechsel der
Lebenswelten kann dazu führen, dass die betroffenen Kinder versuchen, es beiden
Elternteilen recht zu machen. Sie übernehmen dann immer wieder die Rolle eines
Ersatzpartners, um damit die unbewußten Elternerwartungen zu erfüllen. Beispielsweise sind
die Kinder in einem starken Maße damit beschäftigt, die jeweiligen Bedürfnisse und
Interessen der Elternteile zu nachspüren und dabei eigene Autonomiebestrebungen zu
vernachlässigen.
Durch das Modell der weiter bestehenden gemeinsamen Sorge wird dem Vater nach der
Trennung nahegebracht, weiterhin für die Kinder präsent zu sein. Zwei Abläufe erscheinen
dabei aber nicht sinnvoll.
Erstens sollte der Vater nicht versuchen, die Beziehungen zu den Kindern zu überfrachten.
Dabei wird häufig der Fehler gemacht, dass der Vater in komprimierter Form versucht, früher
Versäumtes nachzuholen, ohne auf die Aufnahmefähigkeit der Kinder ausreichend Rücksicht
zu nehmen. Dabei spielen die Schuldgefühle des Vaters seinen Kindern gegenüber eine
gewichtige Rolle. Diese motivieren ihn zu einer übertriebenen Nähe im Sinne einer
Wiedergutmachung. Für die Kinder erscheint diese Form der Annäherung häufig
unangemessen, aber aus ihren Verlustängsten heraus lassen sie sich darauf ein.
Zweitens sollte der Vater nicht in einem Konkurrenzkampf mit der Mutter darüber eintreten,
wer der bessere Elternteil sei.
Prinzipiell erscheint es nach den vorliegenden entwicklungspsychologischen Erkenntnissen
sinnvoll, dass der Vater für die Kinder als Bezugsperson in qualitativer Hinsicht ausreichend
präsent bleibt. Dies muß aber nicht bedeuten, dass beide Elternteile in der Alltagssorge
ständig anwesend sind.
Vielmehr sollte es bei der gemeinsamen Ausübung der elterlichen Sorge zu einer
Auseinandersetzung über zentrale Anliegen der Erziehung kommen, wobei die Elternteile
durchaus divergierende Meinungen haben können. Für das Erleben der Kinder ist es nicht
entscheidend, dass Vater und Mutter einer harmonische Einheit bilden, sondern dass sich trotz
der Unterschiede zwischen beiden ein Konsens entwickelt. In diesen Aspekt liegt die
wichtigste Chance des gemeinsamen Sorgerechts. Sie wird nicht genutzt, wenn bloß der
formale Rahmen gewählt wird, ohne die Qualität der Bindungen zu verbessern und zu
entwickeln. Angesichts der meist wenig verarbeiteten Erfahrungen der vorhergehenden
Paarkrise und der Trennung ist es gemeinsame Aufgabe aller beteiligten Familienmitglieder,
wieder die Inhalte der Beziehungen so zu gestalten, dass eine dem Kindeswohl entsprechende
Entwicklung der Kinder möglich ist. Dieser Anspruch wird in der Regel nicht ohne
professionelle Hilfe in Form von Beratung oder Psychotherapie einzulösen sein.
Nach meiner Erfahrung scheitern diejenigen Familien an dem gemeinsamen Sorgerecht, bei
denen die beiden Elternteile dieses Modell lediglich als eine formale Regelung begreifen, mit
der sie die bisherigen Machtkämpfe fortsetzen können.
Der rechtliche Rahmen liefert Anregungen, um dem Kind trotz der Trennung seiner Eltern
die Beziehungen und Bindungen möglichst zu erhalten. Die Aufarbeitung der Konflikte, die
zu Trennung und Scheidung geführt haben, kann jedoch weder durch eine formale Regelung,
noch überhaupt durch juristische Prozesse erreicht werden. Gefragt sind die pädagogischen
und psychologischen Interventionen, welche die Qualität der Beziehungen verbessern sollen
und ein Gelingen des Dreiecks von Vater, Mutter und Kind wiederherstellen. Im Rahmen des
gemeinsamen Sorgerechts ist ein bestimmter psychischer Reifegrad der beteiligten
Familienmitglieder und eine Struktur für die Alltagsabläufe zu entwickeln. Ohne die
Entwicklung einer solchen Kompetenz droht das gemeinsame Sorgerecht zu einer
sinnentleerten Hülle zu werden und zum Austragungsort von Nachscheidungskonflikten
unproduktiver Art.
Das gemeinsame Sorgerecht ist daher aus meiner Sicht keine formal-organisatorische,
sondern die inhaltliche Frage, ob sich das Konfliktniveau zwischen den Eltern nach der
Trennung dauerhaft niedrig gestalten läßt. Falls dies gelingt, wird der familiäre Prozeß der
Triangulierung wieder ermöglicht und damit günstige Verarbeitungsmöglichkeiten für die
betroffenen Kinder und Jugendlichen geschaffen.
Literaturverzeichnis
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Bauriedl, T., 1984 : Beziehungsanalyse. Das dialektisch-emanzipatorische Prinzip der Psychoanalyse und seine
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* Diese Texte sind besonders für betroffene Eltern geeignet