Die Millennium-Entwicklungsziele

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Die Millennium-Entwicklungsziele
EINE Welt
Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden
Band 20
Die STIFTUNG ENTWICKLUNG UND FRIEDEN wurde
1986 auf Initiative von Willy Brandt unter Mitwirkung des damaligen Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten
Johannes Rau gegründet.
Die überparteiliche und gemeinnützige Stiftung plädiert für
eine politische Neuordnung in einer Welt, die zunehmend
durch die Globalisierung geprägt ist. Die Arbeit der Stiftung
beruht auf drei Prinzipien: globale Verantwortung, überparteilicher und interkultureller Dialog sowie interdisziplinäres Verstehen von Interdependenzen.
Für diese Orientierung bürgen die führenden Persönlichkeiten der Stiftung. Dem Kuratorium stehen die Ministerpräsidenten der vier Stifterländer Nordrhein-Westfalen, Berlin, Brandenburg und Sachsen vor. Dem Vorstand gehören
als Vorsitzender Staatssekretär a. D. Volker Kähne und seine
Stellvertreter Staatssekretär a. D. Dr. Klaus Dieter Leister und
Prof. em. Dr. Franz Nuscheler an. Vorsitzender des Beirates ist
Prof. Dr. Dieter Senghaas. Geschäftsführerin der Stiftung ist
Dr. Michèle Roth.
Franz Nuscheler / Michèle Roth (Hg.)
Die MillenniumEntwicklungsziele
Entwicklungspolitischer
Königsweg oder ein Irrweg?
Mit einem Vorwort von
Minister Armin Laschet
EINE WeltTexte der Stiftung Entwicklung
und Frieden
EINE Welt. Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden.
Lektorat: Dr. Thomas Siebold
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN-10: 3-8012-0364-6
ISBN-13: 978-3-8012-0364-1
Titelfoto: Make Poverty History-Marsch am 2. Juli 2005 in Edinburgh
Picture Alliance/dpa/Chris Radburn
Copyright © 2006 by Stiftung Entwicklung und Frieden
Gotenstraße 152, D-53175 Bonn, http://www.sef-bonn.org
Alle Rechte: Verlag J.H.W. Dietz Nachfolger GmbH
Dreizehnmorgenweg 24, D-53175 Bonn
Umschlaggestaltung: Groothuis & Consorten
Druck und Verarbeitung: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany 2006
Inhalt
Vorwort
11
Einleitung
FRANZ NUSCHELER, MICHÈLE ROTH
15
Die Millennium-Entwicklungsziele:
ihr Potenzial und ihre Schwachstellen
Eine kritische Zusammenfassung
Kontroverse Debatte über die MDGs 16 – Weichenstellungen
zum UN-Millennium-Projekt 17 – Make Poverty History: Mehr
als alter Wein in neuen Schläuchen? 20 – Ansatz- und Schwerpunkte der Kritik 23 – Ist das Glas halb voll oder halb leer? 37 –
Zusammenfassung: Königsweg oder Irrweg? 39
Erster Teil:
Was wurde bislang erreicht?
THOMAS FUES
44
Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Die Umsetzung der Millennium-Entwicklungsziele in den
einzelnen Weltregionen
Umsetzungsstand bei den MDGs 46 – Kritische Faktoren für die
Erreichung der MDGs 53 – Fazit und Ausblick 57
RICHARD BRAND
61
Mehr Worte als Taten?
Der deutsche Beitrag zur Erfüllung der MillenniumEntwicklungsziele
Das Aktionsprogramm 2015 62 – Armutsbekämpfung, MDGOrientierung und Wirkungsmonitoring 67 – Geringe Ressour-
5
cenmobilisierung zur Entwicklungsfinanzierung 71 – Entwicklungspolitische Kohärenz 76 – Schlussbemerkung 78
JUTTA KRANZ-PLOTE
81
Chancen und Herausforderungen bei der operativen
Umsetzung der Millennium-Entwicklungsziele
Eine Innenperspektive
Ein verbindlicher Referenzrahmen für die strategische Ausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit 81 – Die
deutsche EZ im Kontext der internationalen Prozesse zur
Umsetzung der Millennium-Agenda 84 – Eigenverantwortung der Entwicklungsländer und Partnerorientierung der
Geber 85 – Die deutsche EZ als Teil der internationalen Gebergemeinschaft 89 – Die Wirksamkeit der EZ als entscheidendes
Qualitätsmerkmal 90 – Politikkohärenz als Voraussetzung für
erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit 95 – Fazit 96
MICHÈLE ROTH
98
Armutsbekämpfung durch Massenmobilisierung?
Die Kampagnen zu den Millennium-Entwicklungszielen
Zwischen Kooperation und Konkurrenz: die MDG-Kampagnen
99 – Versuche einer Wirkungsanalyse 109 – »Cui bono außer
Bono?« – Zur Kritik an den Kampagnen 112 – Fazit 114
Zweiter Teil:
Nur kurieren an Symptomen?
UWE HOLTZ
Die Zahl undemokratischer Länder halbieren!
Armutsbekämpfung durch Demokratie, Menschenrechte und
good governance
Die MDGs: Fortschritt, aber fehlende politische Dimension 118
– Was bedeuten Entwicklung und Demokratie? 122 – Die »dritte Welle der Demokratisierung« 124 – Demokratie in der Mil-
6
118
lennium-Erklärung, aber nicht in den MDGs 125 – Demokratie,
Menschenrechte und good governance als Voraussetzung und
Ziel für die Realisierung der MDGs 127 – Plädoyer für eine Ergänzung des MDG-Zielkatalogs 132 – Schlussfolgerungen 135
KARIN KÜBLBÖCK
138
Schmerztherapie statt Ursachenbekämpfung?
Eine strukturelle Kritik an den Millennium-Entwicklungszielen
Entstehung der Ziele 138 – Fortschritt oder Rückschritt? 140
– Quick fixes für Armut? 142 – Armut als technisches Problem –
Entpolitisierung der Armutsdebatte 143 – Armut getrennt von
Reichtum? 144 – Ausblendung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen 146 – Beschränkte Partnerschaft 149 – Schlussfolgerungen 151
FRANZ NUSCHELER
155
Sinnentleerung des Prinzips Nachhaltigkeit
Die Millennium-Entwicklungsziele haben eine ökologische
Lücke
Das Umweltproblem ist ein Kernproblem internationaler Entwicklung 156 – Analyse der Problemlage, die dem MDG 7
zugrunde liegt 157 – Statt gemeinsamer »globaler Verantwortung« ein Feilschen um Positionsvorteile 160 – Die Millennium-Erklärung als Referenzdokument 161 – Der diffuse Inhalt
des MDG 7: Verflüchtigung des Leitbildes der globalen nachhaltigen Entwicklung 163 – Vorschläge zur Verkoppelung von
Umwelt- und Entwicklungspolitik 167 – Fazit: Wider den Ungeist der ökologischen Bedenkenlosigkeit 169
VERONIKA WITTMANN
173
Gender und die Millennium-Entwicklungsziele
Empowerment ohne Veränderung der Machtstrukturen?
Die feministische Kritik an den MDGs 173 – Gender in der Millennium-Erklärung: ein rudimentärer Bereich 177 – Die Entmys-
7
tifizierung der MDGs durch den Gender-Blick 179 – Fort- und
Rückschritte bei der Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit 182 – Ausblick auf 2015: Ohne Empowerment von Frauen
wird kein MDG-Ziel erreicht werden 189
Dritter Teil:
Herausforderungen
STEPHAN KLINGEBIEL
194
Mit einem big push aus der Armutsfalle?
Der Sachs-Bericht ist kein Patentrezept
Afrika im Mittelpunkt der Debatte über eine neue Entwicklungspolitik 194 – Die »Armutsfalle«: Ein Erklärungsansatz für
Afrika südlich der Sahara? 197 – Wie viel Hilfe hilft Afrika südlich der Sahara? 200 – Wie wichtig ist Governance in Afrika südlich der Sahara? 202 – Wirksamere Entwicklungspolitik 203
ROSS HERBERT
207
Wachstumsziele statt Entwicklungsziele
Afrika braucht eine andere Reformagenda
Die MDGs können Afrikas wirkliche Probleme nicht lösen 208 –
Kernpunkte für afrikanische Millennium-Wachstumsziele 212
– Die politische Reformagenda 219 – Afrika braucht eine andere
Reformagenda 221
EVELINE HERFKENS, MANDEEP BAINS
Damit die Millennium-Entwicklungsziele nicht nur eine
Vision bleiben
Herausforderungen für den Norden
Fortschritte bei der Umsetzung der MDGs 224 – Mehr Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit 229 – Qualitativ bessere
Entwicklungszusammenarbeit 231 – Schuldenerlasse 234 – Gerechtere Handelsregeln 235 – Fazit 239
8
223
Anhang
Die Millennium-Entwicklungsziele mit
Zielvorgaben und Indikatoren
242
Autorinnen, Autoren und Herausgeber
249
9
Vorwort
Das Ereignis schrieb Geschichte – nicht nur in Deutschland.
Doch am Tag des Mauerfalls 1989 glaubten zunächst nur wenige daran, dass auch dem Ost-West-Konflikt ein rasches Ende
beschieden sein würde. Umso größer war die Freude, als die
globale Wende tatsächlich einsetzte – nicht zuletzt deshalb,
weil auch die Krisengebiete und armen Länder des Südens
nach dem plötzlichen Ende des Kalten Krieges auf Frieden,
Freiheit und wirtschaftliche Entwicklung hoffen konnten.
Aber es kam anders. Ein weltweiter Entwicklungsschub,
die »Friedensdividende«, blieb aus. Kurz vor der Jahrtausendwende mussten die Vereinten Nationen eine bittere Bilanz ziehen: Mehr als eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut,
immer mehr Menschen müssen hungern, und die Schere zwischen reichen und armen Staaten vergrößert sich zusehends.
Gewiss, die 1990er Jahre waren geprägt von einer intensiven Debatte über nachhaltige Entwicklung. Sie schärfte etwa
das Bewusstsein für die globalen Umweltveränderungen. Außerdem wurde das Phänomen der Globalisierung eingehend
untersucht und auf Chancen und Risiken abgeklopft. Was jedoch am Ende dieses Jahrzehnts bei nüchterner Betrachtung
übrig blieb, war kaum mehr als die Erkenntnis, dass alle bisherigen Entwicklungsanstrengungen die extreme Armut nur in
Ansätzen lindern konnten.
Politische Beschlüsse zur Bekämpfung der Armut blieben
aber zunächst aus. Es mussten andere Faktoren hinzukommen,
um den Handlungsdruck auf die Weltgemeinschaft zu erhöhen. Dazu gehörte die Aufbruchsstimmung, die vom Jahrtausendwechsel ausging. Nur so ist zu erklären, dass es gelang,
am 8. September 2000 die »Millennium-Erklärung der Vereinten Nationen« und in ihrer Folge die acht Millennium-Entwicklungsziele (MDGs) zu verabschieden – ein Novum in der
Geschichte der Entwicklungspolitik.
11
In jüngster Zeit werden die MDGs aber zunehmend kritisch
diskutiert. Diese Auseinandersetzung ist wichtig, weil sie hilft,
die Entwicklungsziele weiterzuentwickeln. Doch trotz berechtigter Kritik: Es sollte nicht vergessen werden, dass sich die
Weltgemeinschaft auf ganz konkrete Ziele und einen verbindlichen Zeitrahmen zur Bekämpfung der Armut festlegt hat.
Allein das war ein großer Schritt vorwärts – weg von den zahlreichen wohl klingenden, aber unverbindlichen Erklärungen
der Vergangenheit. Selbst die Gründungsmitglieder der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) wollten an globale Beschlüsse zunächst nicht so recht glauben. So heißt es in einer
vom SEF-Vorstand in den 1980er Jahren formulierten Zielsetzung: »Uns eint die Vision einer Welt ohne Grenzen und Vorurteile,
ohne Hunger und Angst vor Zerstörung. Wir sind uns bewusst, dass
diese Vision weder heute noch morgen verwirklicht werden kann.
Aber wir wollen uns dafür einsetzen, schrittweise jenem Ziel näher
zu kommen. Die Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob wir uns
als Weltbürger begreifen und in globaler Verantwortung handeln.«
Doch zurück in die Gegenwart: Mit der Millennium-Erklärung verfügen wir über einen konkreten Leitfaden für unser
künftiges entwicklungspolitisches Handeln. Aber wir erreichen die MDGs nur, wenn sich alle entwicklungspolitischen
Akteure bis 2015 gemeinsam auf die acht Entwicklungsziele
konzentrieren.
Die G8, die EU und die Bundesregierung schufen mit der
Entscheidung, die Quote für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) bis 2015 stufenweise auf 0,7 % zu erhöhen und weit reichende Schuldenerlasse zu gewähren, auch einen finanziellen Grundstein für die
armutsorientierte Entwicklungszusammenarbeit. Auch wenn
die ODA-Quote zunächst vor allem durch die Schuldenerlasse
stieg, werden die weiteren Steigerungen künftig doch frisches
Geld bringen. Das freilich setzt voraus, dass die Regierungen
im Norden ihre Verpflichtungen gegenüber den Entwicklungs-
12
ländern einhalten – was angesichts hoch verschuldeter öffentlicher Haushalte nicht einfach sein wird.
Nordrhein-Westfalen, neben Berlin, Brandenburg und Sachsen Stifter der Stiftung Entwicklung und Frieden, konzentriert
seine internationale Entwicklungszusammenarbeit ebenfalls
auf die MDGs. So pflegen wir gute Beziehungen zu zahlreichen
Entwicklungsländern und fördern die entwicklungspolitische
Bildungsarbeit. Nordrhein-Westfalen ist in diesem Bereich der
größte Akteur unter den Bundesländern.
Freilich müssen wir uns darauf konzentrieren, eine den
Möglichkeiten unseres Landes angemessene Praxis der Entwicklungspolitik zu entwerfen und umzusetzen. Dies kann
nur gelingen durch die Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft sowie durch die Nutzung landesspezifischer Standortpotenziale. Für Nordrhein-Westfalen
steht das Millenniumziel 8, der Aufbau einer Internationalen
Entwicklungspartnerschaft, im Mittelpunkt. Dabei legen wir
den Schwerpunkt auf Afrika südlich der Sahara, eine Region,
die in besonderem Maße unter Armut leidet. Die Konzentration auf ein Gebiet erlaubt es uns auch, unsere eigenen Förderprogramme zielgerichteter umzusetzen und die Aktivitäten unserer Partner aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft besser einzubinden. Eine wichtige Rolle werden dabei künftig die
rund 65.000 in unserem Land lebenden Menschen aus Afrika
südlich der Sahara spielen. Ihre Potenziale als »Brückenbauer«
sind bislang noch weitgehend ungenutzt. Es geht nicht nur um
die privaten Rücküberweisungen von hier lebenden Zuwanderern, die für viele arme Länder Afrikas eine wichtige Einnahmequelle darstellen und die öffentliche Entwicklungshilfe
mittlerweile übertreffen, sondern vor allem darum, stabilere
Kommunikationsbeziehungen zu afrikanischen Ländern herzustellen, kulturelle und sprachliche Barrieren zu verkleinern
und die Rückkehr zu erleichtern.
Es gibt aber noch weitere gute Gründe, die Kooperation
mit Afrika auszubauen. Nordrhein-Westfalen ist das deutsche
13
Nord-Süd-Land. Fast alle wichtigen entwicklungspolitischen
Einrichtungen sind bei uns zu Hause. Außerdem verfügen
wir mit Bonn über den einzigen UN-Standort in Deutschland.
Kurzum: Die Entwicklungspolitik und ihre Institutionen bereichern unser Land wie kaum ein anderes Politikfeld.
Aber auch als Exportland ist es für Nordrhein-Westfalen
wichtig, gute Beziehungen zu Afrika aufzubauen. Die Möglichkeiten der Zusammenarbeit sind vielfältig. Einen Schwerpunkt soll der Energiesektor bilden, in dem Nordrhein-Westfalen über besonders umfangreiche Erfahrungen verfügt. Im
Bereich der erneuerbaren Energien zum Beispiel bieten sich
eine Reihe von Kooperationen mit dem südlichen Afrika an.
Und mit Blick auf die Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2010
in Südafrika werden wir unsere Partnerprovinz Mpumalanga
bei ihren Vorbereitungen als Austragungsort unterstützen.
Nordrhein-Westfalen wird sich aber nicht an den MDGs
festklammern. Ziele wie Gute Regierungsführung, Frieden
und Sicherheit sind für uns genauso wichtig. Gerade mit unseren Erfahrungen als Bundesland können wir Impulse für
den Dezentralisierungs- und Demokratisierungsprozess in den
Entwicklungsländern geben.
Uns ist es ein wichtiges Anliegen, den Blick über den Tellerrand zu richten. Deshalb engagiert sich Nordrhein-Westfalen
in der Stiftung Entwicklung und Frieden. So entsteht wichtiges
Know-how zu allen zentralen Fragen der globalen Entwicklung und Friedenssicherung. In diesem Sinne wird auch das
vorliegende Buch den Blick auf die MDGs schärfen und einen
Beitrag dazu leisten, dass die weltweite Armutsbekämpfung
ihre Wirkung entfaltet.
Armin Laschet
Minister für Generationen, Familie, Frauen und
Integration des Landes Nordrhein-Westfalen
Mitglied im Kuratorium der Stiftung Entwicklung
und Frieden
14
FRANZ NUSCHELER, MICHÈLE ROTH
Die Millennium-Entwicklungsziele:
ihr Potenzial und ihre Schwachstellen
Eine kritische Zusammenfassung
In einer Flut von Reden und Publikationen, die bei Google schon
Millionen Webseiten füllen, finden sich viele Wortschöpfungen,
um die Bedeutung der Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) in der Geschichte der internationalen Entwicklungspolitik hervorzuheben. Da war gar die
Rede von einem neuen »Mantra« (Martens 2005). Dieses geheimnisvolle Wort kommt aus dem Sanskrit und bedeutet laut
Fremdwörter-Duden eine als »wirkungskräftig geltende religiöse Formel«. Die Betonung liegt auf »wirkungskräftig geltend«,
also auf dem quasi-religiösen Glauben, dass die Formel auch
praktische Wirkungskraft entfaltet. Christa Wichterich (2005)
entdeckte in den MDGs einen »entwicklungspolitischen Katechismus«, der ebenfalls religiös untermauerte Ge- und Verbote
enthält und bei Zuwiderhandeln Strafen androht.
Die MDGs haben offensichtlich die Bedeutung einer Beschwörungsformel gewonnen, die sowohl den Glauben als
auch die Hoffnung stärkt, dass die acht MDGs (vgl. Anhang)
im geplanten Zeitraum erreicht werden können; dass also eine
Halbierung der in extremer Armut lebenden Menschen in den
noch verbleibenden zehn Jahren trotz einer wachsenden Weltbevölkerung möglich sein wird. Die auf dem Millennium+5Gipfel vom September 2005 vorgelegten Zwischenbilanzen
nährten allerdings die Zweifel, dass die Ziele auch dort erreicht
werden können, wo die Statistiken internationaler Organisationen in den ersten fünf Jahren wenig Fortschritte oder gar
Rückschritte registrierten. Wie der Beitrag von Thomas Fues
15
zeigt, ist das Glas in globaler Perspektive schon halb voll, aber
bei einer regionalen Aufschlüsselung der Daten an manchen
Orten nicht einmal halb leer.
Die Mantra-Formel verlor ihre Geltung als »wirkungskräftig«, aber nicht ihre Funktion als Beschwörungsformel: Denn
dies ist gewiss, dass eine Erfolge nachweisende Politik der Armutsbekämpfung für eine nationale und internationale Entwicklungspolitik, die nicht den letzten Rest ihrer ohnehin angeschlagenen Glaubwürdigkeit und Legitimation verlieren
möchte, die Nagelprobe bildet. Umfragen haben immer wieder
zutage gefördert, dass die Menschen prinzipiell immer noch –
obgleich angesichts wachsender Sozialprobleme im eigenen
Land immer weniger – auch eine höhere Entwicklungshilfe akzeptieren würden, sofern sie davon überzeugt werden können,
dass sie wirklich bei den Armutsgruppen ankommt.
Kontroverse Debatte über die MDGs
Es geht in diesem Sammelband weder um eine Romantisierung noch um eine Entmystifizierung des MDG-Mantra, sondern um eine nüchterne Bestandsaufnahme und Antwort auf
die Titelfrage, ob die MDGs einen entwicklungspolitischen
Königsweg oder eher einen Irrweg beschritten haben. Anders
formuliert: Erweist sich der programmatische große Wurf bei
näherem Hinsehen als ein letztlich hilfloses Kurieren an Symptomen der Armut? Oder gleichen sie gar, wie Ross Herbert vom
South African Institute of International Affairs bissig kommentiert,
einer politischen Camouflage, die von den wirklichen Problemen ablenkt?
Zwar kommen die Beiträge überwiegend zu einer kritischen Bewertung einzelner MDGs und des »Gesamtkunstwerkes« des MDG-Kataloges, aber nicht deshalb, weil sie das
Ziel der Armutsbekämpfung nicht teilen, sondern weil sie in
den MDGs nicht den richtigen Weg zu diesem Ziel erkennen
16
können. Die Kritik gilt also nicht dem Ziel, sondern dem vom
MDG-Zielkatalog aufgestellten Wegweiser.
Nach Einschätzung des Sachs-Reports (2005, 2) sind die
MDGs »die am breitesten unterstützten, umfassendsten und
konkretesten Vorgaben zur Verringerung der Armut, die die
Welt je aufgestellt hat«. Breit unterstützt und konkret sind sie
sicherlich, aber umfassend ist allenfalls die Millennium-Erklärung. Ein Hauptkritikpunkt dieses Bandes ist deshalb, dass
sich von den vier in der Millennium-Erklärung formulierten
grundlegenden, interdependenten Herausforderungen, denen sich die internationale Gemeinschaft stellen muss – nämlich Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Armutsbekämpfung, Schutz der Umwelt sowie Menschenrechte, Demokratie und good governance –, drei in den MDGs nicht oder nicht
angemessen wiederfinden. Auch andere, für eine erfolgreiche
Armutsbekämpfung höchst relevante, jedoch politisch brisante
Themen wurden im MDG-Katalog ausgespart.
Die Kritik zeigt, dass die allseitigen Bekenntnisse zu den
MDGs keineswegs alle entwicklungspolitischen Kontroversen
in einem allseitigen Konsens aufgehoben haben. Der vorliegende Sammelband zielt auf eine Rekonstruktion dieser Kontroversen und auf eine Überprüfung der Frage, welche Wirkungskraft die Mantra-Formel als »wirkungskräftig geltende
religiöse Formel« in der praktischen Entwicklungspolitik entfalten konnte.
Weichenstellungen zum UN-Millennium-Projekt
Was die Staats- und Regierungschefs in der MillenniumErklärung unterzeichneten, war schon vorher in vielen UNDokumenten und Berichten von internationalen Kommissionen enthalten. Es war also nicht neu, was plötzlich als Mantra
der internationalen Entwicklungspolitik entdeckt wurde.
Schon in den 1970er Jahren, als sich die Weltbank, damals unter
17
der Leitung von Robert McNamara, auf einen Kampf gegen die
»absolute Armut« mittels einer Grundbedürfnisstrategie einschwor, überschlugen sich die UN-Organisationen und nationalen Entwicklungsbehörden mit den folgenden Ziel- und Willenserklärungen: »Nahrung für alle« (Welternährungsorganisation), »Gesundheit für alle« (Weltgesundheitsorganisation),
»Bildung für alle« (UNESCO) oder sogar »Arbeit für alle« (Internationale Arbeitsorganisation). Diese hoch gesteckten Ziele
sollten schon bis Ende des vergangenen Jahrhunderts erreicht
werden. Auch die so genannten UN-Entwicklungsdekaden
waren voll gepackt mit hohen Zielsetzungen, die am Ende der
Dekaden jedes Mal unerfüllt blieben.
Dann kam zu Beginn der 1980er Jahre, eingeleitet durch die
Verschuldungskrise vieler Entwicklungsländer, die ordnungspolitisch vom Washington-Konsensus unterlegte »neo-liberale Wende«, die auch der als »Armenpolitik« diskreditierten
Grundbedürfnisstrategie den schnellen Garaus machte. Mit ihr
kamen die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der
Weltbank mit dem Knüppel der Kreditverweigerung durchgesetzten Strukturanpassungsprogramme, die den zusätzlich
von hohen Ölpreissteigerungen heimgesuchten Schuldnerländern makroökonomische Struktur- und Sparpolitiken aufzwangen. Sie forderten vor allem den Armutsgruppen ab, den
ohnehin engen Gürtel noch enger zu schnallen. Der erzwungene Abbau von Subventionen für Grundnahrungsmittel und
Medikamente erschwerte das Überleben, die Einführung von
Schulgebühren senkte die Einschulungsraten. Hier ging es um
die basic needs des nackten Überlebens.
Es waren damals neben den Nichtregierungsorganisationen
(NGOs), die weltweit Kampagnen gegen diese Politik organisierten, auch UN-Organisationen wie das UN-Entwicklungsprogramm (UNDP) und das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF),
die eine »Strukturanpassung mit menschlichem Gesicht« ohne
allzu große soziale Grausamkeiten forderten. Die Länder der
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent18
wicklung (OECD), die nach der weltpolitischen Zeitenwende
vom Ballast des Kalten Krieges befreit waren, konnten Berichte nicht mehr ignorieren, die eine Verschärfung des Armutsproblems und der in der »globalen Risikogesellschaft«
(Ulrich Beck) auch auf sie zurück wirkenden armutsbedingten
Folgeprobleme belegten. Sie erklärten bereits auf dem Kopenhagener Weltsozialgipfel von 1995 einen »Krieg gegen die Armut« mit dem – freilich illusionären – Ziel ihrer weltweiten
»Ausrottung«. Gleichzeitig drängten sie die mächtigen Bretton
Woods-Institutionen, in denen sie mit ihren überlegenen Kapitalanteilen das Sagen haben, zu Kursänderungen ihrer mit harten Konditionen ausgestatteten Kreditpolitik. Schon ein Jahr
später formulierte die OECD in ihrem Strategiepapier »Shaping the 21st Century« das Kernziel der MDGs, die Halbierung
der statistisch errechneten Armutsquote (also des Anteils von
Menschen mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als
1 US-$ pro Tag).
Zur Vorgeschichte der MDGs gehören die folgenden Erfahrungen und Weichenstellungen:
Erstens die Erfahrung, dass die vielen Milliarden Dollar,
die in den Süden flossen, das Anwachsen der Armut in einigen Weltregionen nicht aufhalten konnten und aus diesem
Verelendungswachstum auch dem reichen Norden Risiken erwachsen.
Zweitens die Konsequenz, welche die OECD schon 1996
aus den Handlungsempfehlungen des Kopenhagener Weltsozialgipfels zog: nämlich die Willenserklärung zu einer Halbierung der Armutsquote.
Drittens die Folgerungen, die die Bretton Woods-Institutionen auf ihrer gemeinsamen Jahrestagung vom Herbst 1999 aus
dem Kurswechsel ihrer Anteilseigner zogen. Innovativ war vor
allem ihr neuer Ansatz zum Schuldenmanagement, der in den
Poverty Reduction Strategy Papers (PRSPs) verankert wurde und
erstmals zivilgesellschaftliche Akteure beteiligte.
19
Viertens konnten die MDGs auf den Vereinbarungen aufbauen, die auf der Serie von Weltkonferenzen der 1990er Jahre
im internationalen Konsens getroffen wurden. Diese Weltkonferenzen, auf denen die NGOs nicht mehr an Katzentische abgedrängt, sondern in die Verhandlungen einbezogen wurden,
waren keine folgenlosen Rituale des internationalen Konferenztourismus, sondern in der Tat »Baustellen für Global Governance« (Fues/Hamm 2001).
Weder das Kernziel Nr. 1, die Halbierung der Armutsquote,
noch die weiteren Einzelziele im MDG-Zielkatalog können irgendeine Originalität beanspruchen. Man kann sie eher als
einen »ultimative[n] Kraftakt der UN, um die Serie gescheiterter Entwicklungskonzepte mit einem pragmatischen Hauruck-Verfahren zu beenden« (Wichterich 2005), sowie als einen
Versuch dieser häufig kritisierten Weltorganisation deuten,
durch eine spektakuläre Initiative ihre eigene Existenzberechtigung nachzuweisen. Auch deshalb engagieren sich Eveline
Herfkens, die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für
die Millennium Campaign, und ihre Kollegin Mandeep Bains in
diesem Sammelband vehement für die MDGs.
Make Poverty History:
Mehr als alter Wein in neuen Schläuchen?
Den Kritikern fallen viele Formulierungen ein, um das »Mantra«
der MDGs zu entmystifizieren. Sind sie wirklich nicht mehr als
»viel Lärm um nichts« oder »alter Wein in neuen Schläuchen«?
Es gibt mehrere Gründe, in ihnen doch etwas Neues und einen
entwicklungspolitischen Befreiungsschlag zu entdecken, der
aus den Orientierungs- und Legitimationsproblemen herausführen könnte, in welche die internationale Entwicklungspolitik nach der Verflüchtigung der geostrategischen Schubkraft,
die ihr die Interessenlogik des Kalten Krieges verschafft hatte,
geraten war.
20
Erstens: Es ist zwar richtig, dass alle Ziele und Forderungen,
welche die MDGs in einem entwicklungspolitischen Achteck
zusammenfassen, schon in diversen UN-Dokumenten und
Absichtserklärungen von Weltkonferenzen auftauchten. Aber
keiner dieser Forderungskataloge erhielt den Nachdruck, den
die in New York versammelten Repräsentanten der Staatengemeinschaft der Millennium-Erklärung und den aus ihr abgeleiteten MDGs verliehen. Nach Ansicht von UN-Generalsekretär Kofi Annan haben die MDGs bereits das »Antlitz der
internationalen Entwicklungspolitik« verändert.
Zweitens: Sechs der acht MDGs wurden erstmals – und im
Unterschied zu früheren ebenso ambitionierten, aber unverbindlichen Absichtserklärungen – mit quantitativen und damit
auch überprüfbaren Ziel- und Zeitvorgaben zu ihrer Verwirklichung gehärtet. Dies ist neu und setzt die entwicklungspolitischen Entscheidungsträger unter erheblichen Handlungsdruck.
Drittens: Nie zuvor schienen sich alle Akteure über einen
entwicklungspolitischen Zielkatalog so einig zu sein. Aber es
stellte sich bald heraus, dass die Einigkeit über das Ziel keineswegs die Einigkeit über Mittel und Wege einschließt, wie dieses
Ziel zu erreichen ist. So reaktivierten die Erfolge in China und
Indien bei der Armutsbekämpfung die alte trickle down-Streitfrage, ob die Armut am erfolgreichsten durch ein möglichst hohes Wirtschaftswachstum bekämpft werden kann.
Viertens: Nie zuvor wurden sowohl die Entwicklungs- als
auch die Industrieländer so nachdrücklich angehalten, nationale Strategien zur Armutsbekämpfung zu erarbeiten. In
Deutschland geschah dies bemerkenswert schnell durch das
auch von der NGO-Szene gelobte »Aktionsprogramm 2015«,
das alle Ressorts in einen Verpflichtungskatalog einband, aber
dem BMZ die Führungsrolle zuwies (vgl. den Beitrag von
Brand).
Fünftens: Eine wichtige Innovation enthalten nicht die
MDGs selbst, sondern ein Instrument zu den im MDG 8 gefor21
derten Schuldenerlassen: nämlich das in den PRSPs verankerte
Erfordernis der gesellschaftlichen Partizipation bei ihrer Gestaltung. Schuldenerlasse spielen für die Armutsbekämpfung
eine wichtige Rolle, weil sie besonders die ärmsten und hoch
verschuldeten Länder (HIPC) vom Druck befreien, erhebliche
Anteile ihrer knappen Devisenerlöse für den Schuldendienst
aufbringen zu müssen. Ebenso wichtig ist, dass nicht nur Bürokratien, sondern auch betroffene gesellschaftliche Gruppen
mitentscheiden dürfen, für welche Zwecke die nach Schuldenerlassen verfügbaren Mittel verwendet werden sollen. Auf
diese Weise wird möglich, was die zivilgesellschaftliche Entwicklungslobby schon lange gefordert hatte: Entschuldung für
Entwicklung und für die Bekämpfung der Armut.
Sechstens: Die Verkündung der MDGs förderte breite öffentliche Kampagnen und gab der entwicklungspolitischen
Bildungsarbeit einen kräftigen Schub. Selten zuvor beteiligten sich neben der buntscheckigen NGO-Gemeinde auch Ministerien, Bundesländer (wie NRW), Kommunen, Kirchen und
Medien mit vielerlei Aktivitäten an einer Kampagne wie der
von den Vereinten Nationen weltweit organisierten Millennium
Campaign. VENRO, der Dachverband entwicklungspolitischer
NGOs, organisierte und koordinierte zusammen mit Herbert
Grönemeyer die nationale NGO-Kampagne Deine Stimme gegen Armut. Die Tatsache, dass mit Armin Laschet ein Landesminister und mit Eveline Herfkens eine UN-Repräsentantin
Beiträge zu diesem Sammelband beisteuern, belegt dieses auf
verschiedenen politischen Handlungsebenen verankerte Engagement für die MDGs.
Die Unterstützung durch Popstars wie Bob Geldorf, Bono
und Herbert Grönemeyer zur Mobilisierung der Massen wurde
allerdings, wie der Beitrag von Michèle Roth zeigt, auch kritisch und gelegentlich gar höhnisch kommentiert. Unter anderem wurde den beteiligten Stars unterstellt, mehr für das eigene Image von Wohltätern der Menschheit als für die Sache
zu werben. Welche Motive sie auch dazu bewogen haben mö22
gen, gegen die Armut in der Welt auf die Bühne zu gehen: Sie
haben mehr Menschen erreicht als alle Informationskampagnen von UN-Organisationen, Ministerien und NGOs es alleine
vermocht hätten. Angesichts des ernüchternden demoskopischen Nachweises, dass nach Umfragen von Eurobarometer
Ende 2004 nur 12 % der Europäer etwas mit den MDGs anzufangen wussten, ist der unerwünschte Nebeneffekt einer Personalityshow zu verschmerzen.
Neu waren also nicht so sehr die Inhalte der MDGs, sondern das weltweite Echo, das sie auslösten. Es gab bisher in der
internationalen Entwicklungspolitik keinen so großen Konsens
und kein vergleichbares Momentum, feierliche Absichtserklärungen in rasche Taten umzusetzen. Diesem Zweck diente
auch die Verdichtung der Millennium-Erklärung auf konkrete
und mittels Indikatoren überprüfbare Ziele. Die MDGs mögen
inhaltlich »alter Wein in neuen Schläuchen« gewesen sein, aber
diese neuen Schläuche verliehen dem alten Inhalt hohe Aktualität und Dringlichkeit.
Ansatz- und Schwerpunkte der Kritik
Die internationale Diskussion über die MDGs hebt in der Regel die oben erwähnten positiven Aspekte hervor, reibt sich
aber zunehmend auch an einigen Schwachstellen. Die Gewichtung von Lob und Kritik hängt dabei sowohl von subjektiven
Wertentscheidungen als auch von entwicklungsstrategischen
Überlegungen ab, die auf entwicklungstheoretische Debatten
der vergangenen Jahrzehnte zurückgreifen. Die Leitfrage lautet: Bilden die MDGs den entwicklungspolitischen Königsweg
für das beginnende 21. Jahrhundert oder erweisen sie sich nach
einer nüchternen Analyse der sozio-ökonomischen und politischen Strukturen in den Zielländern und der internationalen Rahmenbedingungen eher als ein Irrweg? Dabei ist eine
von Jutta Kranz-Plote in diesem Band betonte Einschränkung
23
wichtig: Die MDGs beschreiben »Mindestvoraussetzungen für
ein menschenwürdiges Leben«, stellen aber keine »umfassende
Entwicklungsagenda« dar.
»Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts«
(Willy Brandt)
Das friedens- und entwicklungspolitische Credo von Willy
Brandt, dem Friedensnobelpreisträger und Gründer der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF), lautete: Ohne Frieden
gibt es keine Entwicklung und ohne Entwicklung gibt es keinen Frieden. Dieses Credo liegt auch der Millennium-Erklärung zugrunde, wird aber im MDG-Zielkatalog gänzlich ausgeblendet. Seine Konstrukteure hätten bei der Friedens- und
Konfliktforschung aussagefähige Indikatoren abrufen können,
um den Schlüsselproblemen der Friedenssicherung und politischen Stabilisierung fragiler Staatsgebilde einen dem Problemdruck angemessenen Stellenwert zu geben.
Welche elementare Bedeutung die Friedenssicherung für
die Bekämpfung der Massenarmut hat, kann am Beispiel
des an mineralischen Rohstoffen ungemein reichen, aber von
Warlords und räuberischen Milizen terrorisierten sowie von
externen Beutemachern ausgeplünderten Kongo verdeutlicht
werden. Dieses potenziell reiche Land im Zentrum Afrikas
könnte die Armut aus eigener Kraft überwinden – könnte,
wenn ihm mit internationaler Hilfe die Wiederherstellung einer funktionierenden Staatlichkeit und politische Stabilisierung gelingen würden; und wenn es außerdem die entäußerte
Verfügungsgewalt über seinen Ressourcenreichtum zurück gewinnen könnte. Darüber hinaus ist dann allerdings good governance die bare Voraussetzung, dass dieser Reichtum auch der
Bevölkerung zugute kommt.
Ähnlich verhält es sich bei anderen fragilen oder schon kollabierten Staatsgebilden (failing states), zu denen in Afrika süd24
lich der Sahara ein Viertel aller Staaten gezählt wird (Debiel/
Werthes 2006). Sie sind allesamt beim Human Development Index und beim Poverty Index von UNDP oder beim neuen Bertelsmann Transformation Index an das Ende der Ranking-Tabellen
zurückgefallen. Wie dramatisch die Lage in dieser Ländergruppe ist, belegte das britische Department for International Development (DFID) mit Zahlen: Die Müttersterblichkeit beispielsweise liegt hier dreimal so hoch wie in anderen armen Ländern.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die MDGs in diesen Ländern umgesetzt werden können, schätzt das DFID auf unter 20 %.
Es ist also nicht nachvollziehbar, warum sich die MDGs
auch bei den Zielvorgaben und Indikatoren über das Kardinalproblem der Sicherheit ausschweigen. VENRO hat hierzu
erste Anregungen entwickelt und schlägt unter anderem eine
Beschränkung des Waffenhandels und die Reduzierung der
nationalen Rüstungsausgaben als konkrete Ziele vor (VENRO
2006, 7). Allerdings kann die kontrollierte Lieferung von militärischen Ausrüstungsgütern sinnvoll und notwendig sein, um
nationale Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, das staatliche Gewaltmonopol und die innere Sicherheit zu bewahren.
Keine Entwicklung ohne good governance,
Demokratie und Menschenrechte
Der UN-Generalsekretär räumte in seinem programmatischen
Bericht zum Millennium+5-Gipfel unter dem Titel »In Larger
Freedom« der Demokratie und den Menschenrechten einen
ebenso hohen Stellenwert wie der Entwicklung und der Friedenssicherung ein. Dagegen hatte die diplomatische Rücksichtnahme der MDG-Konstrukteure auf die politischen Empfindlichkeiten vieler Entwicklungsländer abermals zur Folge,
dass das Grundübel bad governance, vor allem in Gestalt der alle
Lebensbereiche und politischen Entscheidungsebenen durchdringenden Korruption, verschwiegen wird. Uwe Holtz er25
kennt in seinem Beitrag im Zurückfallen der MDGs hinter die
starken Bekenntnisse der Millennium-Erklärung und vieler anderer internationaler Konferenzbeschlüsse zu Demokratie und
Menschenrechten die entscheidende Schwach- und Bruchstelle. Für ihn bildet eine auf der Achtung der Menschenrechte
beruhende Demokratie die Voraussetzung dafür, dass die Armen zu ihren Rechten kommen können.
Stephan Klingebiel verweist in seinem Beitrag auf empirische Nachweise, dass in Afrika good governance die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit positiv beeinflusst und in einer engen Wechselwirkung mit der Anfälligkeit für Gewaltkonflikte
steht. Und was folgt aus dem Mangel an diesen politischen
Voraussetzungen? Selbst wenn die reichen Länder aufbringen
sollten, was ihnen Jeffrey Sachs in seinem Bericht zum Millennium-Projekt abverlangte, nämlich eine sofortige Verdoppelung und bis 2015 eine Verdreifachung des derzeitigen Volumens öffentlicher Entwicklungsgelder (Official Development
Assistance, ODA), könnten diese mangels funktionierender
Rechts- und Verwaltungsstrukturen nicht sinnvoll eingesetzt
werden. Afrika galt deshalb schon als over-aided. Eine Erfolge
versprechende Armutsbekämpfung setzt die Überwindung
schlechter Regierungsführung, die Bekämpfung des vielerorts
wuchernden Krebsgeschwürs der Korruption und die Herstellung rechtsstaatlicher Verhältnisse voraus. Erst dann können
externe Subsidien zur Verwirklichung der MDGs beitragen.
Uwe Holtz stellt eine bemerkenswerte Korrelation her: Die
Halbierung undemokratischer, schlecht regierter Staaten mit
einem hohen Grad der Korruption könnte die von den MDGs
angestrebte Halbierung der Armut eher bewirken als eine Verdoppelung der ODA. Deshalb plädiert er nachdrücklich für
die Ergänzung des MDG-Zielkatalogs um ein neuntes MDG,
das lautet: »Diktaturen überwinden«. Allerdings ist angesichts
der Stimmenverteilung in UN-Gremien die Realisierung dieser
Forderung ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem sollte angemerkt werden, dass das emphatische Plädoyer für das univer26
selle Leitbild der parlamentarischen Demokratie auch Antworten auf die alte entwicklungs- und demokratietheoretische
Streitfrage geben muss, unter welchen sozio-ökonomischen
und sozio-kulturellen Bedingungen ein solches Modell überhaupt funktionieren kann.
Die Entwicklungspolitik hatte immer ein Problem mit
schlecht regierten und korrupten Regimen. Das Problem, das
sich auch bei der Umsetzung der MDGs stellt, liegt darin, dass
politische Sanktionen nicht die ohnehin malträtierte Bevölkerung treffen sollen. Dann bleibt nur die von Uwe Holtz aufgezeigte Konsequenz, dass die bi- und multilaterale Gebergemeinschaft mehr Energie in die politische Stabilisierung fragiler Staatswesen und in die Förderung rechtsstaatlicher und
demokratischer Strukturen investiert, um Voraussetzungen
zu schaffen, dass die ODA nicht in Fässern ohne Böden verschwindet.
Soziale Ungleichheit als
verschwiegene Ursache von Armut
Vor einigen Jahren rang sich die Weltbank, die politische Bewertungen zu scheuen pflegt, zu der mit Daten unterfütterten
Aussage durch, dass in Lateinamerika schon eine gerechtere
Besteuerung der oberen Einkommensgruppen genügend Mittel für eine wirksame Armutsbekämpfung aus eigener Kraft
mobilisieren könnte. Auch ihre Bewunderung für das »ostasiatische Wunder« versah sie mit dem Hinweis, dass hier die
Armut deshalb deutlich verringert werden konnte, weil das
wirtschaftliche Wachstum für eine aktive Sozialpolitik genutzt
wurde. Die internationalen Einkommensstatistiken belegen,
dass der Anteil der 20 % reichsten Privathaushalte am nationalen Einkommen nicht nur in Lateinamerika, sondern auch
in Afrika südlich der Sahara deutlich über dem Durchschnitt
der Industrieländer liegt (Fues 2006). Es gibt deshalb nicht nur
27
das ethische Postulat der Gerechtigkeit, sondern auch entwicklungspolitische Gründe, warum der Weltentwicklungsbericht
2006 der Weltbank das Thema der Gleichheit (equity) in den
Mittelpunkt stellte.
Karin Küblböck wertet in ihrem Beitrag die MDGs zu einer
»Schmerztherapie« ab, die Krankheitsbeschwerden nur lindert,
aber die Krankheit nicht heilt. Ihre Diagnose wird durch die
Tatsache erhärtet, dass die MDGs die internen und internationalen Ausprägungen sozialer Ungleichheit und die Ungerechtigkeiten in der Verteilung von Ressourcen völlig tabuisieren.
Viele empirische Studien, auf die Küblböck hinweist, belegen,
dass extreme Ungleichheit nicht nur ein Wachstumshindernis
darstellt, weil sie die Kaufkraft von Bevölkerungsmehrheiten
schmälert und große Teile der Bevölkerung von produktiven
Tätigkeiten ausschließt, sondern auch die extreme Armut verfestigt.
Die altbekannten Argumente der Wachstumstheoretiker,
die im neoliberalen Washington-Konsensus wieder aufgefrischt wurden, waren seit den 1950er Jahren immer wieder Gegenstand heftiger wirtschafts- und entwicklungstheoretischer
Kontroversen: Eine Umverteilung der Wachstumsgewinne
verringere die Spar- und Investitionsrate, weil die Armen jeden zusätzlichen Dollar konsumieren würden, oder gefährde
gar die politische Stabilität, weil sich die Besitzer von Produktionsmitteln nicht widerstandslos schröpfen ließen – als ob sich
die Nichtbesitzer von Produktionsmitteln auf Dauer widerstandslos schröpfen lassen. Die Geschichte der sozialen Marktwirtschaft lässt den Schluss zu, dass solche Argumente »theoretisch dünn, empirisch falsch und in der Praxis zynisch« sind
(Berner 2005, 248).
Hier stellt sich auch die Frage, ob die Fundamentalkritik von
Ross Herbert an der MDG-Strategie und sein Plädoyer für eine
Wachstumsstrategie für Afrika mehr überzeugen kann als die
Vorschläge des Sachs-Berichts. Herbert wirft den MDGs übermäßige Vereinfachung und falsche Schwerpunktsetzung vor.
28
Sie würden die Aufmerksamkeit von Investitionen ablenken,
die das Wachstum und den Arbeitsmarkt direkt ankurbeln. Er
stellt deshalb einen Katalog von Millennium-Wachstumszielen
auf. Sein Beitrag stellt ein provozierendes Kontrastprogramm
zur MDG-Programmatik dar, das sich weitgehend mit den Forderungen des jüngsten UNCTAD-Berichts über die am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) deckt. Die UN-Konferenz für
Handel und Entwicklung (UNCTAD) warnt ebenfalls davor,
mehr Geld in ein falsches Entwicklungsmodell mit sozialpolitischem Fokus zu pumpen und fordert einen Paradigmenwechsel, der die Förderung produktiver Kapazitäten in den Mittelpunkt rückt (UNCTAD 2006, 283ff.). Konkret fordert sie eine
Ergänzung des MDG-Zielkatalogs für die LDCs beispielsweise
um eine Wachstumsrate von 7 % oder eine Investitionsquote
von 25 % (jeweils pro Jahr, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt) (UNCTAD 2006, 30).
Nicht vergessen werden darf jedoch die Erkenntnis, dass
Wachstum zwar notwendig ist, allein das Armutsproblem
aber nicht lösen kann, weil es nur dann nach der trickle downAnnahme zu den Armutsgruppen durchsickert, wenn diese
mittels einer aktiven Sozial- und Umverteilungspolitik an den
Wachstumserfolgen beteiligt werden. So forderte Social Watch
die Regierungen vor dem Millennium+5-Gipfel zu einer Politik der Reduzierung von Ungleichheiten auf, einschließlich einer »redistributiven Steuerpolitik« (Social Watch Deutschland
2005, 55).
Ohne Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen
keine Überwindung der Armut
Die Kernthese des Beitrags von Franz Nuscheler lautet: Die
Imperative der Nachhaltigkeit, welche die Millennium-Erklärung zu den vier prioritären Handlungsfeldern zählt, erhielten
im MDG-Zielkatalog nicht den Stellenwert, den ihnen bereits
29
die Rio-Konferenz von 1992 gegeben hatte. Das Jahresgutachten 2005 des »Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung
Globale Umweltveränderungen« (WBGU) über »Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik« liefert hierzu zahlreiche unterstützende Argumente.
Viele Menschen sind inzwischen existenziell durch Umweltkrisen verschiedenen Ursprungs mehr bedroht als durch
Kriege. So übersteigt die Zahl der Umweltflüchtlinge, die der
Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen entfliehen müssen, inzwischen die Zahl der Kriegsflüchtlinge – und sie wird nach
Prognosen internationaler Organisationen weiter dramatisch
ansteigen. Arme Menschen leiden nicht nur besonders unter
lokalen Umweltproblemen wie Wasserverschmutzung oder
Bodendegradation, die ihre Lebensgrundlagen und ihre Gesundheit bedrohen, sondern auch unter den Folgen des Klimawandels. Sie haben nicht zuletzt gravierende Auswirkungen
auf die Gesundheit (Sauerborn 2006).
Eine offensive Klimapolitik über das Kioto-Regelwerk hinaus ist deshalb für eine langfristig Erfolg versprechende
Verwirklichung der MDGs wichtiger oder zumindest ebenso
wichtig wie das Bohren von vielen Brunnen im Sahel, die bald
versanden werden; die Umsetzung der »Wüstenkonvention«
ist für die langfristige Ernährungssicherung ebenso wichtig
wie viele mehr oder weniger erfolgreiche Agrarprojekte. Es
war konsequent, dass die britische NGO Christian Aid angesichts der apokalyptischen Folgen des Klimawandels forderte,
dem MDG-Zielkatalog die Reduktion der CO2 -Emissionen als
neuntes MDG hinzuzufügen (Christian Aid 2006, 3; vgl. auch
VENRO 2006, 8).
Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass eine
globale nachhaltige Entwicklung eine Energiewende, vor
allem durch eine stärkere Nutzung von erneuerbaren Energien
voraussetzt (WBGU 2003). Diesen Zusammenhang ignoriert
das MDG 7, das die environmental sustainability sichern soll. Es
ignoriert auch das gravierende Problem der Energiearmut, also
30
den Tatbestand, dass etwa zwei Milliarden Menschen keinen
Zugang zu sauberer Energie in Form von Elektrizität haben.
Berichte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben gezeigt, dass jährlich rund 900.000 Kinder und 700.000 Erwachsene, unter ihnen vor allem Frauen, an der Vergiftung von Innenräumen durch das Verbrennen von Biomasse (Holz, Tierdung) sterben.
Dass die Imperative der Nachhaltigkeit eher den Rang einer pflichtschuldigen Marginalie denn einen dem Problem
angemessenen Stellenwert erhielten, liegt auch an der unterschiedlichen Interessenlage von Industrie- und Entwicklungsländern. Letztere halten den Umweltschutz noch immer für einen postmaterialistischen Luxus, der die eigene Entwicklung
und Ressourcennutzung behindert; und sie können mit guten
Gründen darauf verweisen, dass die OECD-Länder für den
Klimawandel und für die Verschwendung knapper und nichterneuerbarer Ressourcen hauptverantwortlich sind. Auf diese
Weise verflüchtigt sich der »Geist von Rio«, der Umwelt und
Entwicklung in einen unauflösbaren Zusammenhang gebracht
hatte.
Die Entproblematisierung des Bevölkerungswachstums
Jeder der jährlich vom Weltbevölkerungsfonds (UNFPA) vorgelegten Berichte belegt mit einer Fülle von Daten, dass die Geburtenraten zwar auch in den Entwicklungsländern deutlich
sinken, aber immer noch dort am höchsten sind, wo die Statistiken die größte Armut ausweisen. In Afrika südlich der Sahara
leben drei Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.
Dort wird die Bevölkerung von heute rund 750 Mio. bis zur
Jahrhundertmitte auf geschätzte 1,7 Mrd. anwachsen, sich also
mehr als verdoppeln – falls die internationalen Programme zur
Bildungs- und Gesundheitsförderung sowie zur Familienplanung nicht doch noch eine Trendumkehr bewirken.
31
Die Statistiken belegen einen eindeutigen Zusammenhang
zwischen der Verbesserung der Sozialindikatoren (Lebenserwartung bei Geburt, Kindersterblichkeit und Alphabetisierungsrate) und der Verringerung des Bevölkerungswachstums,
gleichzeitig eine Korrelation zwischen der Entwicklung der Bildungs- und Gesundheitssysteme und dem Gebrauch von Verhütungsmitteln. Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass mit
steigendem Bildungsstand von Männern und Frauen die Kinderzahl sinkt und Familienplanung zu einer gesellschaftlichen
Norm wird. Die entwicklungs- und bevölkerungspolitischen
Erfolgsländer in Ost- und Südostasien, in Afrika auch der Inselstaat Mauritius, haben gezeigt, dass nur eine Kombination
von sozialer Entwicklung und Familienplanung das Bevölkerungswachstum unter eine bedrohliche Marke drücken kann.
Hohes Bevölkerungswachstum belastet die verknappenden Ressourcen von Lebensraum, Nahrung und Wasser sowie die Bildungs- und Gesundheitssysteme zusätzlich; eine
Verringerung der Massenarmut ohne massive und gezielte Investitionen in die Familienplanung wird nicht möglich sein.
Wir schließen uns zwar nicht der populären Dramatisierung
der »Bevölkerungsexplosion« an, die in Unkenntnis der vielfältigen Ursachen von Armut diese vor allem der »B-Bombe«
anlastet. Dennoch dürfen wir uns nicht der empirisch hinreichend belegten Einsicht verschließen, dass Armut das Bevölkerungswachstum anschiebt und dieses wiederum die Überwindung von Armut erschwert.
Es ist deshalb schwer nachvollziehbar, dass die MDGs
dieses entwicklungspolitische Schlüsselproblem nicht anpacken. Beim Indikator zur Empfängnisverhütung (Indikator 19
zum MDG 6) geht es allein um die Benutzung von Kondomen
zur HIV-Prävention. Es fehlt der Rückgriff auf den »Kairo-Prozess«, der 1994 von der Weltbevölkerungskonferenz eingeleitet
wurde. Das von dieser Konferenz verabschiedete Aktionsprogramm gab überzeigende Hinweise, was nationale Regierungen und internationale Entwicklungsagenturen zur »re32
produktiven Gesundheit«, zur wirksamen Eindämmung des
Bevölkerungswachstums und damit auch zum Erreichen der
MDGs tun müssten. Es enthält alle Kernelemente der MDGs 1
bis 6, stellt aber einen entwicklungs- und bevölkerungspolitischen Zusammenhang her, den der MDG-Zielkatalog vermissen lässt.
Gender: eine Schmalspuragenda im MDG-Zielkatalog
»Armut ist weiblich« – diese oft zitierte Feststellung verweist
auf die Tatsache, dass Frauen am häufigsten von Armut betroffen sind. Ohne aktive Beteiligung von Frauen wird deshalb
keine Strategie der Armutsbekämpfung erfolgreich sein können. Dabei reicht es keinesfalls aus, wie Veronika Wittmann
in ihrem Beitrag deutlich macht, die Stärkung der Frauen auf
ein einzelnes MDG zu beschränken. Geschlechtergerechtigkeit
muss vielmehr als übergreifendes, umfassendes Konzept – als
Querschnittsthema – verstanden werden. Zwar kann es als Erfolg gewertet werden, dass die Förderung der Gleichstellung
der Geschlechter und das Empowerment von Frauen Eingang
in den MDG-Zielkatalog gefunden haben. Doch die Einschränkung dieses Ziels auf die Gleichstellung in der Schulbildung,
auf dem formellen Arbeitsmarkt und in nationalen Parlamenten durch die Indikatoren zu MDG 3 haben in der Frauenbewegung zu Vorwürfen wie »Schmalspuragenda« oder »Täuschungsmanöver« geführt. Kritisiert wird unter anderem, dass
überprüfbare Zielquoten, zum Beispiel ein 30 %-Anteil von
Frauen in Parlamenten, gänzlich fehlen.
Auch Empowerment-Indikatoren sind nicht zu finden. Birte
Rodenberg (2005, 65) verweist beispielsweise auf diskriminierende Erbschafts- und Eigentumsrechte, die zur extrem
schwachen »wirtschaftlichen Verfügungsmacht« von Frauen
beitragen. Veronika Wittmann kritisiert, dass das Ziel des Empowerment zu einem »unwesentlichen Nebenelement« ver33
komme und die Rolle von Frauen als Hauptakteurinnen von
Entwicklung vernachlässigt werde. Statt als Rechtssubjekte
würden Frauen lediglich als Unterstützungsbedürftige und
Zielgruppe von Investitionen wahrgenommen. Kritische Themen wie reproduktive und sexuelle Rechte sowie psychische
und physische Gewalt gegen Frauen würden von den MDGs
ebenso ausgeblendet wie die notwendigen Veränderungen von
Hierarchien und Machtverhältnissen. Somit fallen die MDGs
deutlich hinter das Aktionsprogramm der Weltfrauenkonferenz von Beijing und das Abkommen der Vereinten Nationen
zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen
(CEDAW) zurück.
Social Watch forderte deshalb unter anderem »sinnvolle
Ziele und Indikatoren« zur Messung des Fortschritts bei der
Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit bei Entwicklungsstrategien. Zehn Prozent der Mittel sollten speziell zur
Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und von Empowerment der Frauen aufgewendet werden. Auch im Kontext von
MDG 8 müssten Maßnahmen zur Gleichberechtigung der Geschlechter – etwa im Rahmen der PRSP-Prozesse – identifiziert
werden (Social Watch Deutschland 2005, 57). Rodenberg (2005,
63) kam nach einer Analyse der vorliegenden PRS-Papiere zu
dem Ergebnis, dass bislang »die Lebensrealitäten armer Frauen
und ihre geschlechtsspezifischen Interessen unberücksichtigt«
bleiben.
Mehr Geld allein kann das Armutsproblem nicht lösen
Das MDG 8 fasst mit sieben Zielvorgaben die auf vielen NordSüd-Konferenzen erhobenen und in den Aktionsprogrammen der Weltkonferenzen konsensual verabschiedeten Forderungen des Südens an die OECD-Länder zusammen. Was die
Zusagen wert sind, wurde besonders bei der Zielvorgabe 12
deutlich, welche die Entwicklung eines offenen, regelgestütz34
ten und nicht-diskriminierenden Finanz- und Handelssystems
fordert. Das möglicherweise endgültige Scheitern der »DohaRunde« im Sommer 2006 bedeutet vor allem für die Entwicklungsländer ein handelspolitisches Fiasko, obwohl durchaus
begründete und durch die Entwicklungsgeschichte der alten
und neuen Industrieländer belegte Zweifel bestehen, ob der
von der Welthandelsorganisation (WTO) vorangetriebene Freihandel wirklich die verheißenen Vorteile bringt (vgl. den Beitrag von Küblböck).
Die öffentliche Debatte konzentriert sich vor allem auf die
Verheißungen größerer Geldströme aus dem Norden in den
Süden. Etwas versteckt in den Indikatoren zur »Entwicklungspartnerschaft« verpflichten sich die OECD-Länder – allerdings
ohne konkrete Zeitvorgabe – zur Steigerung ihrer ODA auf
das berühmt-berüchtigte UN-Ziel von 0,7 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) und deren stärkere Ausrichtung auf
die MDGs. Die OECD-Länder haben sich zu einem Stufenplan
durchgerungen, der bis zum Jahr 2010 das »Barcelona-Ziel«
von 0,51 % des BNE anvisiert und bis 2015 das »UN-Ziel« von
0,7 % in Reichweite rücken soll. Schon die mittelfristigen Haushaltsplanungen in mehreren OECD-Ländern nähren Zweifel,
ob den Versprechen auch Taten folgen werden.
Ob das umstrittene »UN-Ziel«, das manche schon für eine
»Schimäre« oder gar für eine »Absurdität« halten, irgendwann
oder sogar schon 2015 erreicht werden kann, ist allerdings nicht
nur eine Frage des politischen Willens. Wenn Afrika schon jetzt
als over-aided gilt, weil die milliardenschwere Afrika-Hilfe nicht
die erhofften Erfolge erzielte, dann sind Zweifel berechtigt, ob
ein big push den gordischen Knoten von Unterentwicklung und
Armut lösen könnte. Der Beitrag von Stephan Klingebiel attestiert dem vom Sachs-Bericht propagierten Konzept mit überzeugenden Argumenten, keine Patentlösung für den Ausbruch
aus der Armutsfalle zu offerieren.
Die Finanzierungsfrage bildet also nicht den »strategischen
Knackpunkt« bei der Umsetzung der MDGs, wie häufig zu hö35
ren ist, vor allem bei Stellungnahmen von Repräsentanten des
Südens, aber auch von NGOs hierzulande. Es geht zunächst
nicht um mehr Geld, sondern um einen zielgerichteten Einsatz des bereits verfügbaren Geldes – und zwar sowohl auf
Seiten der Gebergemeinschaft als auch auf Seiten der Zielländer. Schon jetzt stellt sich die Frage, ob die vorhandenen Mittel
tatsächlich vorwiegend in die so genannte »soziale Priorität«
der Armutsbekämpfung investiert werden (und werden sollten). Richard Brand unterlegt in seinem Beitrag mit harten Fakten, dass die deutsche Entwicklungspolitik bei der Umsetzung
der MDGs und des von der Bundesregierung beschlossenen
»Aktionsprogramm 2015« kräftig nachbessern muss. Sein Beitrag fasst die kritischen Diskussionen in der NGO-Szene über
die »Wirklichkeit der Entwicklungshilfe« zusammen.
Der Beitrag von Jutta Kranz-Plote, die im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
(BMZ) tagtäglich mit den Herausforderungen bei der operativen Umsetzung der MDGs konfrontiert ist, macht deutlich,
dass es schwierig ist, das richtige Maß an Unterstützung zu finden und bei allen Maßnahmen die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit zu sichern. Ihr Beitrag erinnert nachdrücklich daran, das die Verdopplung oder gar Verdreifachung
des ODA-Volumens allein noch nicht alle Probleme der armen
Welt lösen kann; dass sowohl die internationale Gebergemeinschaft als auch die Empfängerländer noch tragfähige Strukturen der »Entwicklungspartnerschaft« aufbauen müssen. Natürlich muss einer Vertreterin des BMZ auch daran gelegen
sein, das eigene »Haus« in das richtige Licht zu rücken, indem
sie bei der Umsetzung des MDG-Zielkataloges auf Schwierigkeiten im internationalen Umfeld und vor allem bei den
Partnerländern im Süden hinweist. Aber ihre Lektion ist für
alle heilsam, die nur die Ziele rezitieren, ohne über die komplizierten und häufig steinigen Wege zum Erreichen der Ziele
nachzudenken.
36
Trotz der vielfältigen Ursachen von Armut und der operativen Umsetzungsprobleme hängt für die UN-Sonderbeauftragte für die Millennium Campaign, Eveline Herfkens, und ihre
Mitarbeiterin Mandeep Bains der Erfolg des MDG-Projekts
wesentlich davon ab, dass die Industrieländer ihre im MDG 8 –
allerdings ohne konkrete Zeitvorgaben – eingegangenen Verpflichtungen einhalten. Die Schärfe ihrer Kritik beruht auch
auf der Erfahrung, dass in den ersten fünf Jahren nach dem
New Yorker Millennium-Gipfel nicht geschah, was zur schrittweisen Verwirklichung der MDGs hätte geschehen müssen.
Eveline Herfkens hält im Rahmen der Millennium Campaign in
allen Hauptstädten flammende Reden und spricht damit den
Entwicklungspolitikern aus dem Herzen, kann aber die Finanzminister nicht dazu bewegen, ihre Knauserigkeit bei der
Aufstellung der Entwicklungshaushalte zu überwinden. Alle
wohlfeilen Bekenntnisse zu den Vereinten Nationen und ihren
Projekten sollen weder viel Geld kosten noch die Welthandelsordnung zum eigenen Nachteil verändern.
Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Angesichts der vielen berechtigten Kritikpunkte an den
MDGs – die sich, wie eingangs dargestellt, nicht gegen das Ziel
der Armutsminderung, sondern gegen den vorgegebenen Pfad
richten – stellt sich die Frage, welche Ergebnisse die MDGs bislang vorweisen können. Auf der politischen Ebene sieht der
frühere MDG-Beauftragte des Bundesministeriums für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit, Klemens van
de Sand, die wesentliche Bedeutung der MDGs darin, »dass
sie einen deutlich spürbaren und belegbaren politischen Prozess angestoßen haben« (van de Sand 2006, 111). Mit Blick auf
die konkreten Ergebnisse dieses Prozesses zieht Thomas Fues
in seinem Beitrag jedoch eine zwiespältige Bilanz. Nachdem
bereits fast die Hälfte der Zeitspanne bis 2015 abgelaufen ist,
37
lassen sich positive Trends bei der Grundbildung, beim Zugang zu sauberem Trinkwasser und bei der Senkung der Kindersterblichkeit feststellen. Kaum Fortschritte gibt es bei der
Eindämmung von Infektionskrankheiten, beim Zugang zu Sanitäranlagen und beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen. Die drohenden Umweltveränderungen könnten gar
jeglichen sozialen Fortschritt zunichte machen. Insgesamt hat
das Tempo der Entwicklungsfortschritte gegenüber den 1970er
und 1980er Jahren abgenommen (van de Sand 2006, 114).
Auch wenn sich bei einigen Zielen, allen voran beim Hauptziel der Halbierung der Armutsquote, Fortschritte feststellen
lassen, sind diese oft gering oder sehr ungleich verteilt. Dies
führt zu einem zunehmenden Gefälle sowohl innerhalb als
auch zwischen Staaten und Regionen. Während Ostasien und
Teile Südasiens »auf Kurs« sind, fällt Afrika südlich der Sahara
weiter zurück. Inwieweit beide Entwicklungen ursächlich mit
den MDGs zusammenhängen, bleibt indes unklar. Folgt man
Ross Herbert, so führen möglicherweise gerade die MDGs
dazu, Afrika dauerhaft von Almosen abhängig zu machen.
Jutta Kranz-Plote verweist auf die Schwierigkeit, angesichts
der Komplexität der Aufgabe und der Vielzahl der Akteure einen direkten Beitrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit zur Erreichung der MDGs auszumachen.
Fues kritisiert gerade den Beitrag der Industrieländer
zur Erreichung der MDGs. Ihren »wohlklingenden Versprechungen« seien allenfalls »Trippelschritte« in der Umsetzung
gefolgt. Kritische Faktoren für ein Erreichen der MDGs in der
noch verbleibenden Zeitspanne seien die Mobilisierung zusätzlicher Finanzmittel sowie eine MDG-förderliche Politik auf
globaler Ebene, also good global governance. Doch fehle es am
politischen Willen, die Strukturen der Weltwirtschaft zu verändern. Diesen Befund teilen Eveline Herfkens und Mandeep
Bains, die deshalb dazu aufrufen, Druck auf die westlichen Regierungen zur Umsetzung ihrer Zusagen auszuüben.
38
Zusammenfassung: Königsweg oder Irrweg?
Die MDGs können keinen entwicklungspolitischen Königsweg weisen, weil sie keine umfassende Entwicklungsagenda
entwerfen, sondern »Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben« skizzieren wollen. Bei der Bewertung
der MDGs ist es also wichtig, von ihrer prioritären Zielsetzung
auszugehen. Es bleibt dabei die Frage, ob sie richtige Rezepte
zur Armutsbekämpfung enthalten. Diese Frage kann nicht mit
einem eindeutigen Ja oder Nein beantwortet werden. Weil die
MDGs aus diplomatischer Rücksichtnahme Krieg und Staatsverfall, interne Entwicklungshindernisse von der Korruption
bis zu ausbleibenden Landreformen, das Bevölkerungswachstum sowie soziale Ungleichheit als strukturelle Ursache von
Armut tabuisieren und die Umwelt- und Genderproblematik vernachlässigen, bekämpfen sie in der Tat nur Symptome.
Karin Küblböck kritisiert zu Recht die Entpolitisierung und
»Technisierung« der Armut und greift damit Argumente auf,
die auch Kritiker aus dem Süden, zum Beispiel Samir Amin
(2006), ein Klassiker der Dependenztheorie, gegen die MDGs
vorbringen.
Weil die formulierten Ziele politische Schlüsselprobleme erfolgreicher Armutsbekämpfung nicht anpacken – von Krisenprävention über good governance, das politische Empowerment
der Armutsgruppen, die Überwindung sozialer Ausgrenzung,
breitenwirksame Wirtschaftsförderung, die Verpflichtung von
Regierungen zur Eigenverantwortung und Fürsorge für ihre
arme Bevölkerung bis hin zu weltwirtschaftlichen Strukturreformen – laufen sie Gefahr, einen von der internationalen
Entwicklungspolitik lange beschriebenen Irrweg fortzusetzen
oder gar zu verstärken. Ohne verantwortliches Handeln der
Regierenden, das die MDGs nicht mit allem Nachdruck anmahnen, kann mehr Geld sogar Fehlentwicklungen verstärken, die schon zur zwiespältigen Erfolgsgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit gehören.
39
Was bleibt zur Verteidigung des UN-Millennium-Projekts?
Erstmals in der Geschichte der internationalen Entwicklungspolitik hat die an den MDGs orientierte Armutsbekämpfung
eine von allen bi- und multilateralen Akteuren mitgetragene
Priorität erhalten. Die MDGs mit ihren quantitativen Ziel- und
Zeitvorgaben und ihrer »Kampagnenfähigkeit« bieten der nationalen und internationalen Entwicklungspolitik die Chance,
ihrer Rechtfertigungskrise zu entgehen. Sollten die MDGs allerdings auch nach den noch verbleibenden Jahren bis 2015
weit verfehlt werden, würde die Entwicklungszusammenarbeit ihren ohnehin geringen Kredit wohl endgültig verspielen.
Eine erfolgreiche Armutsbekämpfung ist, abgesehen von Imperativen der Humanität und internationalen Solidarität, eine Bedingung für die Akzeptanz von Solidarleistungen, vor allem
dann, wenn sie noch deutlich gesteigert werden sollen.
Dies muss am Ende mit allem Nachdruck betont werden:
Mehr Geld allein kann das weltweite Armutsproblem nicht lösen, aber ohne mehr Geld kann es auch nicht gelöst werden.
Es wäre ein epochaler Erfolg der Staatengemeinschaft und
der sie bedrängenden internationalen Zivilgesellschaft, wenn
sie bis zum Jahr 2015 für wesentlich mehr Menschen in einer
weiterhin wachsenden Weltbevölkerung die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben schaffen würde.
Sollte dieses Ziel verfehlt werden, würde den Staats- und Regierungschefs am Vorabend des Stichjahres 2015 wohl kaum
etwas anderes einfallen als eine Fristverlängerung zur Verwirklichung der MDGs. Eine solche schlug die Weltbank in realistischer Vorausschau bereits vor. Dies ist kein optimistischer
Ausblick. Nur entschlossenes politisches Handeln könnte diesen Pessimismus noch entkräften.
40
Literatur
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the South, in: Monthly Review 10/57 (http://www.monthlyreview.
org/0306amin.htm, 14.7.2006).
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Christian Aid, 2006: The Climate of Poverty: Facts, Fears, and Hope. London et al.
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Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends 2007. Frieden –
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Fues, Thomas/Brigitte Hamm (Hg.), 2001: Die Weltkonferenzen der 90er
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York.
van de Sand, Klemens, 2006: Die Millenniums-Entwicklungsziele: Herausforderungen für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, in:
Stephan Klasen et al., Globalisierung und Armut. Wie realistisch sind
die Millenniums-Entwicklungsziele der Vereinten Nationen? (Globale
Solidarität, Bd. 13). Stuttgart, S. 109–122.
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41
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s20.html. 15.08.2006).
42
Erster Teil:
Was wurde bislang erreicht?
THOMAS FUES
Ist das Glas halb voll oder halb leer?
Die Umsetzung der MillenniumEntwicklungsziele in den einzelnen
Weltregionen
Für eine breite Weltöffentlichkeit sind die von allen Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen getragene Millennium-Erklärung aus dem Jahr 2000 und das daraus abgeleitete Zielbündel
der Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development
Goals, MDGs) die entscheidenden Eckpunkte einer globalen Strategie zur Armutsreduzierung und globalen Nachhaltigkeit. Das MDG-Konzept wurde vom Millennium+5-Gipfel
(September 2005) noch erweitert im Hinblick auf menschenwürdige Arbeit, Frauenrechte und reproduktive Gesundheitsversorgung (Fues/Loewe 2005). Daneben sind der MonterreyKonsens der Konferenz für Entwicklungsfinanzierung und das
Umsetzungsprogramm des Johannesburg-Gipfels für nachhaltige Entwicklung, beide aus dem Jahr 2002, wichtige Elemente
einer gerechteren Weltordnung – eine Vision, die freilich in der
Praxis erst noch verwirklicht werden muss.
Fast die Hälfte der Frist zur Erreichung der MDGs bis 2015
ist bereits abgelaufen. Die Zwischenbilanz 2006 liefert ein
zwiespältiges Bild. Die Polarisierung zwischen und innerhalb
der Staaten schreitet voran; die an vielen Stellen erzielten Fortschritte sind global ungleich verteilt. Einzelne Weltregionen,
beispielsweise Ostasien und Teile Südasiens, sind auf gutem
Kurs. Als wettbewerbsfähige Akteure profitieren sie von der
Ausweitung des Welthandels und der ausländischen Direktinvestitionen. Für andere Regionen, dies gilt insbesondere
in Afrika südlich der Sahara, und ebenso für marginalisierte
44
Schichten in dynamischen Ökonomien haben sich die Aussichten – von einzelnen Ausnahmefällen abgesehen – eher verdüstert. Es müsste schon ein kleines Wunder geschehen, damit
sie die Ziellinie rechtzeitig überschreiten. Allgemein zeigt sich
ein positiver Trend bei den MDGs für Grundbildung, Trinkwasser, Impfschutz und Senkung der Kindersterblichkeit. Wenig Anlass zur Hoffnung bietet hingegen die Situation bei Infektionskrankheiten, Sanitäranlagen und Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen.
Der Beitrag der westlichen Industrieländer zur Erreichung
der MDGs, denn es handelt sich ja um eine wechselseitige Verpflichtung, ist bisher alles andere als zufrieden stellend. Den
wohlklingenden Versprechungen von mehr Entwicklungshilfe, wirksamer Entschuldung und Handelserleichterungen
sind bisher allenfalls Trippelschritte in der praktischen Umsetzung gefolgt (Social Watch Deutschland 2005; Kaiser 2006). Vor
allem fehlt es dem Norden am politischen Willen, die von ihm
dominierten Strukturen der Weltwirtschaft und der Globalpolitik auf den Prüfstand zu stellen. Beunruhigend im Hinblick
auf die künftigen Lebensbedingungen auf diesem Planeten ist
auch das unbeirrbare Festhalten an umweltschädlichen Produktions- und Konsummustern. Es besteht die Gefahr, dass die
drohenden Umweltveränderungen, zum Beispiel die bereits
jetzt feststellbaren Folgen des Klimawandels, jeden sozialen
Fortschritt untergraben und die Weltgesellschaft schon bald
vor existenzielle Herausforderungen stellen werden (WBGU
2005).
Im Folgenden wird der aktuelle Stand der MDGs in den
Staaten des Südens und den osteuropäischen/zentralasiatischen Transformationsländern beschrieben. Daran knüpft
sich die Frage, mit welchen Entwicklungsstrategien soziale
Fortschritte erzielt werden können, wie die Industrieländer
ihre Unterstützung ausbauen müssten und welcher institutionelle Rahmen für die internationalen Bemühungen angemessen ist.
45
Umsetzungsstand bei den MDGs
MDG 1: Absolute Armut zurückdrängen
Der Bevölkerungsanteil, der mit weniger als 1 US-$ auskommen muss und an chronischem Hunger leidet, soll halbiert
werden. Für die Länder mit höherem Einkommen, beispielsweise in Lateinamerika, ist allerdings eher eine Messlatte von 2
US-$ passend. Global betrachtet liegt die Erreichung von MDG
1 (1 US-$ pro Tag) wegen der hohen Wachstumsraten in Ostund Südasien im Bereich des Möglichen. Die globale Armutsquote ist seit 1990 von rund 28 % auf derzeit 19 % gefallen. Für
die eine Milliarde Menschen, die heute noch unter dieser extremen Form von Entbehrung leiden, bedeutet der positive Befund jedoch nichts. Die Fortschreibung aktueller Trends lässt
eine weitere Absenkung auf weltweit 10 % bis 2015 erwarten,
deutlich unter den angestrebten MDG-Wert von 14 %. Dann
wären »nur« noch 600 Mio. Menschen betroffen.
Auffälliges Ergebnis der volkswirtschaftlichen Dynamik in
Ostasien ist das prognostizierte Verschwinden der absoluten
Armut dort. Bereits heute wird die erst für 2015 angestrebte
Messlatte deutlich überboten. Auch die Projektion für Südasien
spricht für eine erfolgreiche Armutsreduzierung. In Lateinamerika hingegen stagniert die Entwicklung; die Halbierung
der Armutsquote könnte knapp verpasst werden. Besonders
drastisch fällt die Zielverfehlung in Afrika südlich der Sahara
aus. In der Region ist die Anzahl der absolut Armen seit 1990
um 140 Mio. gestiegen. Die Armutsrate verharrt bei über 40 % –
trotz der historisch überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten in jüngster Zeit.
Eine entscheidende nichtmonetäre Dimension von Armut
betrifft die chronische Mangelernährung. Nur 34 von 143 Ländern können auf diesem Gebiet die gewünschten Fortschritte
vorweisen. Noch immer leiden 842 Mio. Menschen auf der Erde
unter ständigem Hunger. Nur in Ostasien und Lateinamerika
46
ist die absolute Zahl der Hungrigen zurückgegangen. Besonders kritisch ist die Lage in Afrika südlich der Sahara. Dort
nimmt die Mangelernährung zu – auch bedingt durch die hohen HIV/AIDS-Infektionsraten. Erfolge bei der Bekämpfung
des Hungers sind trotz eines niedrigen Durchschnittseinkommens und widriger weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen
möglich, wenn Staat und Gesellschaft entsprechende Prioritäten setzen. Mit Unterstützung von ausländischen Gebern und
einheimischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hat beispielsweise die Regierung von Bangladesch ein flächendeckendes Ernährungsprogramm für Mütter und Kinder als zentrales
Element ihrer Armutsstrategie eingeführt.
MDG 2: Universale Grundbildung durchsetzen
Weltweit kommen derzeit 115 Mio. Kinder nicht in den Genuss
einer schulischen Ausbildung. In nur 37 von 155 Entwicklungsländern ist der Grundschulabschluss für alle – wie von MDG 2
gefordert – derzeit Realität. In Afrika südlich der Sahara sind
die Probleme am größten. Hier haben derzeit 40 % eines Jahrgangs überhaupt keinen Zugang zu Grundbildung; die Erreichung des MDGs in der vorgegebenen Frist ist mehr als unwahrscheinlich. Auch Südasien wird das Ziel wohl verfehlen.
In den anderen Weltregionen hingegen stehen die Chancen
gut. Im schulischen Bereich lässt sich die durch den MDG-Prozess ausgelöste Dynamik der internationalen Entwicklungszusammenarbeit gut dokumentieren. 2002 wurde die Education
for All Fast-Track Initiative (FTI) als erste globale Übereinkunft
im Bildungsbereich zwischen Gebern und Entwicklungsländern ins Leben gerufen. Das Netzwerk verfolgt das Ziel, Staaten mit niedrigem Durchschnittseinkommen bei der flächendeckenden Einführung einer kostenfreien Grundbildung bis
2015 zu unterstützen. Auf Geberseite sind über 30 bilaterale,
regionale und internationale Institutionen vertreten, die sich
47
zu einem hohen Maß an Harmonisierung verpflichtet haben.
Auf Empfängerseite sind bislang 20 Länder beigetreten, deren
bildungspolitische Anstrengungen breite Anerkennung gefunden haben. Ein herausstechendes Beispiel für schnelle bildungspolitische Reformen ist Niger, das bis vor kurzem eine
der niedrigsten Einschulungsraten der Welt hatte: Hier wurden rund 2.500 Lehrer/innen pro Jahr neu eingestellt. Von 1998
bis 2003 stieg deshalb die Einschulungsquote im Primarbereich
um 60 %.
MDG 3: Gleichstellung der Geschlechter verwirklichen
Das einzige MDG, dessen Frist bereits im Jahr 2005 abgelaufen
ist, betrifft die Gleichstellung der Geschlechter im Bildungswesen. Zwar konnte das angestrebte Ziel gleicher Einschulungsraten auf der Primar- und Sekundarstufe nicht erreicht
werden, aber die Lage der Schülerinnen hat sich eindeutig verbessert. Bis 2015 wird in den meisten Ländern mit einer Angleichung gerechnet, zumindest im Bereich der Grundbildung.
Auf höheren Ebenen ist die Lage nicht so günstig. Beispielsweise kommen in Afrika südlich der Sahara nur 68 Mädchen
auf 100 Jungen im tertiären Bildungssektor. In Südasien ist
die Quote mit 71 zu 100 nur wenig besser. Rasche Fortschritte
sind bei entsprechendem politischen Willen möglich. In Bangladesch beispielsweise umfasst das staatliche Engagement für
Gleichberechtigung im Bildungswesen massive Anreize für
Mädchen durch Stipendien und Bereitstellung von Schulmaterialien. In Mauretanien wurde die Primareinschulungsrate für
Mädchen enorm gesteigert, von 39 % (1990) auf 85 % (2001). Einer der Indikatoren von MDG 3 misst die politische Beteiligung
von Frauen an ihrem Sitzanteil in nationalen Parlamenten. Das
inoffizielle Ziel von 30 % wird nur in wenigen Fällen erreicht
(Anfang 2005: 17 Länder). Weltweit lag zu dem Zeitpunkt der
Anteil der weiblichen Parlamentssitze bei 15,9 %, eine leichte
48
Steigerung gegenüber dem Jahr 2000 (13,5 %). Aber auch hier
gibt es Vorreiter. Ruanda steht an der Weltspitze, was die Vertretung von Frauen in politischen Führungsgremien angeht.
Auf sie entfallen 49 % der Mandate der Nationalversammlung.
Und in Lateinamerika ist der Anteil der weiblichen Sitze von
12 % in 1990 auf jetzt 20 % gestiegen.
MDG 4: Überleben der Kinder sichern
Derzeit sterben jährlich rund 11 Mio. Kinder, das sind 30.000
Kinder pro Tag, bevor sie ein Lebensalter von fünf Jahren erreichen an vermeidbaren oder heilbaren Krankheiten. In den armen Ländern stirbt jedes zehnte Kind, während in den reichen
Ländern statistisch nur eines von 143 dieses Schicksal ereilt. Die
gute Nachricht ist, dass die Kindersterblichkeit in allen Weltregionen in den vergangenen Jahrzehnten spürbar gesunken
ist (UNICEF 2005). Selbst Afrika südlich der Sahara, das bei allen anderen Armutsdimensionen extrem schlecht abschneidet,
verzeichnet hier seit 1970 einen leichten Fortschritt (Rückgang
der Sterbequote von 24 % auf 17 %). In Südasien nahm die Rate
in den vergangenen 35 Jahren von über 20 % auf 9 % ab. 117 der
148 Entwicklungsländer, für die Daten erhältlich sind, schaffen
es aber nicht, die Kindersterblichkeit im erforderlichen Tempo
für die fristgerechte Erreichung der MDGs zu reduzieren. In
15 Ländern verschlechtern sich die Gesundheitsbedingungen
für Kinder sogar, darunter befinden sich die Konfliktfälle Kambodscha, Zentralafrikanische Republik, Elfenbeinküste, Irak
und die HIV/AIDS-betroffenen Länder Botswana, Kenia und
Südafrika. Positiv bei der Senkung der Kindersterblichkeit wirken sich die Bemühungen um wirksamen Impfschutz unter
Führung der Global Alliance on Vaccines and Immunizations aus.
So hat es seit 2000 einen Rückgang der Masernfälle um 90 % in
19 Ländern Afrikas südlich der Sahara gegeben.
49
MDG 5: Gesundheitsversorgung für Mütter verbessern
Jährlich müssen weltweit mehr als 500.000 Frauen und Mädchen jedes Jahr bei einer Schwangerschaft oder Geburt ihr Leben lassen, weil die Gesundheitsversorgung defizitär ist oder
völlig fehlt. Ein wichtiger Indikator für MDG 5 ist der Anteil an
Geburten, die von medizinischem Fachpersonal begleitet werden. In diesem Bereich haben alle Entwicklungsregionen bis
auf Afrika südlich der Sahara spürbare Fortschritte erzielt. Unter der Bezeichnung Partnership for Maternal, Newborn, and Child
Health entstand 2005 durch die Fusion von drei bestehenden Initiativen ein übergreifendes Multiakteursnetzwerk. Seine mehr
als 80 Mitglieder, zu denen Regierungen, staatliche und akademische Einrichtungen, Gesundheitsorganisationen und internationale Institutionen wie Weltbank und Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehören, wollen politische Unterstützung
und Finanzen mobilisieren, nationale Planungsprozesse unterstützen und die Geberkohärenz auf Länderebene verbessern.
MDG 6: Schwere Krankheiten bekämpfen
2005 lebten 40,3 Mio. Menschen mit dem HIV-Erreger, davon
63 % in Afrika südlich der Sahara. Ein Hoffnung machender
Trend ist die wachsende Zahl der HIV/AIDS-Kranken in Entwicklungsländern, die in den Genuss einer antiretroviraler
Behandlung kommen: 1,65 Mio. 2006 gegenüber weniger als
100.000 im Jahr 2000. Dies entspricht einer Versorgungsquote
von 24 %; mehr als 5 Mio. Erkrankte müssen weiter auf die lebensrettenden Medikamente warten (WHO 2006).
In Argentinien, Brasilien, Chile und Kuba konnten mehrere
hunderttausend Menschenleben gerettet werden, weil der nationale Versorgungsgrad auf über 80 % geklettert ist. Vorbildlich sind auch die vorbeugenden Anstrengungen in Simbabwe,
wo es trotz widriger wirtschaftlicher und politischer Rahmen50
bedingungen gelungen ist, die Ausbreitung des Virus durch
Kondome und Verhaltensänderungen zurückzudrängen.
Für mindestens 1 Mio. Menschen jährlich ist Malaria die
Todesursache, aber die Behandlungsmethoden werden besser und der Einsatz von imprägnierten Netzen breitet sich aus.
Zum Beispiel hat das kombinierte Programm für Impf- und
Malariaschutz in Togo zu einer Verbreitungsrate von 62 % für
Bettnetze innerhalb weniger Jahre geführt, bei einer Ausgangsposition von 6 %.
MDG 7: Ökologische Nachhaltigkeit sieht anders aus
MDG 7 erfasst nur einen kleinen Ausschnitt der ökologischen
Nachhaltigkeit. Hier müssten in erster Linie die nichtnachhaltigen Lebensstile und Konsummuster in den Industrieländern
thematisiert werden. Es macht sich negativ bemerkbar, dass
die auf dem Erdgipfel 1992 begonnene Suche nach aussagekräftigen Indikatorensystemen für nachhaltige Entwicklung
wegen mannigfaltiger politischer Widerstände im Sand verlaufen ist (Fues 1998). Der bei MDG 7 angesiedelte Wassersektor spielt für die menschliche Gesundheit eine zentrale Rolle.
Mehr als 1 Mrd. Menschen auf der Welt hat keinen Zugang
zu sauberem Trinkwasser und mehr als 2,5 Mrd. leiden unter
unzureichender Sanitärversorgung. In Afrika südlich der Sahara ist die Lage dramatisch: Nur 64 % haben Zugang zu sauberem Trinkwasser und nur 37 % können Sanitäranlagen nutzen. Im Bereich der Infrastruktur äußert sich das Stadt-LandGefälle besonders deutlich. In den ärmsten Ländern genießen
83 % der städtischen Bewohner/innen sauberes Trinkwasser,
aber nur 55 % auf dem Land. Vor allem in Afrika setzen sich
zunehmend dezentrale, kleinteilige Lösungen für die Wasser-,
Sanitär- und Elektrizitätsversorgung von armen und isolierten
Bevölkerungsgruppen durch, die meist von Nachbarschaftsgruppen oder informellen Privatanbietern getragen werden.
51
In der tansanischen Hauptstadt Daressalam wurde beispielsweise das öffentliche Monopol zur Latrinensäuberung nach
dem Ausbruch einer Seuche aufgehoben. Jetzt können die Verbraucher/innen zwischen lokalen Unternehmen wählen, die
sich im Wettbewerb bewähren müssen.
Entwaldung, die von einem weiteren Indikator für MDG 7
erfasst wird, findet weiterhin in einem beachtlichen Umfang
statt. Pro Jahr beläuft sich der weltweite Verlust auf rund
13 Mio. Hektar. Die Waldbedeckung ist seit 1990 besonders
auffällig in Südostasien zurückgegangen, von 56 % auf 47 %
der gesamten Fläche. Ein Schlüsselindikator für MDG 7, der
allerdings nur die relative, nicht die absolute ökologische Belastung misst, ist die gesamtwirtschaftliche Energieeffizienz.
Extreme Verbesserungen sind hier in den Transformationsländern Mittel- und Osteuropas zu verzeichnen, in denen der
Systemwechsel zu massivem Strukturwandel in Industrie und
Energieversorgung geführt hat. Auch in Ostasien wurden hohe
Steigerungsraten bei der Energieproduktivität erzielt.
MDG 8: Globale Partnerschaft als ferne Vision
Die Operationalisierung der globalen Partnerschaft durch
MDG 8 umfasst wichtige Aspekte der Nord-Süd-Beziehungen.
Da aber feste Zielvorgaben fehlen, handelt es sich hierbei eher
um symbolische Appelle an die Industrieländer ohne jeden
Verpflichtungscharakter. Die durchaus vorzeigbaren Fortschritte im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und Entschuldung werden durch anhaltende Agrarsubventionen und
Marktabschottung des Nordens konterkariert, eklatante Beispiele mangelnder Kohärenz. Die öffentliche Entwicklungshilfe (Official Development Aid, ODA) stieg zwar 2005 zum ersten Mal auf über 100 Mrd. US-$; die Steigerung ist jedoch vor
allem dem Schuldenerlass für Nigeria und Irak zu verdanken.
Im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde sollten die Agrar52
Exportsubventionen der Industrieländer bis 2013 abgebaut
werden, aber es ist unklar, ob diese Zusagen nach dem vorläufigen Scheitern der Welthandelsgespräche Bestand haben
werden.
Kritische Faktoren für die Erreichung der MDGs
Finanzierung der MDGs
Die Erreichung der MDGs setzt die Mobilisierung zusätzlicher
Finanzmittel voraus. Bei Niedrigeinkommensländern werden
die öffentlichen Entwicklungsleistungen auf längere Sicht eine
unverzichtbare Rolle spielen. Das Millenniumsprojekt der Vereinten Nationen hat die notwendigen jährlichen Entwicklungstransfers für die weltweite Umsetzung der MDGs auf 135 Mrd.
US-$ für 2006 und auf 195 Mrd. US-$ für 2015 geschätzt (UN
Millennium Project 2005). Umstritten ist allerdings, ob in den
Partnerländern überhaupt die Voraussetzungen zur sinnvollen
Verwendung der Mittel gegeben sind (Martens 2005). Kritische
Stimmen warnen mit guten Argumenten vor einer Überforderung der einheimischen Institutionen und setzen stattdessen
auf ein selektives Vorgehen, das die notwendigen und verkraftbaren Entwicklungsleistungen im Einzelfall festlegt.
Da die sozialpolitischen MDGs eng mit dem allgemeinen
Zugang zu sozialen Grunddiensten (Grundbildung, Basisgesundheitsdienste einschließlich der reproduktiven Gesundheitsversorgung, Trinkwasser und Sanitäranlagen) verbunden
sind, sollten diese Kernbereiche der direkten Armutsbekämpfung einen angemessenen Stellenwert in den einheimischen
Haushalten sowie in der Entwicklungszusammenarbeit erhalten. Zu diesem Zweck könnte die so genannte 20 : 20-Initiative
wiederbelebt werden, die anlässlich des Weltsozialgipfels 1995
verabschiedet wurde (UNDP et al. 1998). Damit wurde eine
wechselseitige Verpflichtung zwischen Geberstaaten und Ent53
wicklungsländern begründet, mindestens 20 % Entwicklungsgelder einerseits und der nationalen Budgets andererseits für
soziale Grunddienste zu reservieren (Fues 1996).
Angaben zur öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit
legen den Schluss nahe, dass bereits Verschiebungen in diesem Sinne stattfinden. Die Geberzusagen für Erziehung und
Gesundheit haben sich seit 2000 deutlich erhöht. 2004 wurden
11,4 Mrd. US-$ für Gesundheit und 9,5 Mrd. US-$ für Bildung
über ausländische Hilfe zur Verfügung gestellt. Heute fließen
50 % der Bildungstransfers an arme Länder in den Primarschulbereich, gegenüber rund 33 % am Ende des vergangenen
Jahrzehnts. Im Gegensatz dazu ist der Anteil für Basisgesundheitsdienste an der sektoralen Gesamtsumme rückläufig, von
28 % (1999) auf 15 % (2004). Inzwischen gibt es etwa 70 globale
Partnerschaften im Gesundheitswesen, die 2004 mehr als 20 %
der Gesamt-ODA für den Sektor aufgebracht haben. Die Pluralisierung der Akteure ist mit Skepsis zu betrachten ist, da sie
die Kohärenz des Gesamtsystems schwächt und die Transaktionskosten erhöht.
Noch wichtiger als die Geberleistungen sind die staatlichen
Ausgaben für die sozialen Schlüsselsektoren in den Ländern
selber. Statistische Angaben in diesem Feld sind jedoch spärlich
gesät. Die für 2003, dem letzten verfügbaren Jahr, erhältlichen
Daten decken nur 21 von 79 Mittel- und 27 von 57 Niedrigeinkommensländern ab. Diese Zahlen signalisieren einen bescheidenen Aufwärtstrend für Bildung, während die Finanzierung
des öffentlichen Gesundheitswesens nicht zugenommen hat.
Gesamtwirtschaftliche Strategien und MDGs
Konsens besteht in der internationalen Debatte darüber, dass
die direkte Armutsbekämpfung, etwa über eine Förderung der
sozialen Grunddienste, durch entwicklungsfreundliche politische Rahmenbedingungen und durch armutsorientierte Wirt54
schaftspolitiken (pro-poor growth) flankiert werden muss. Good
governance, also gute Regierungsführung, Partizipation und
Anti-Korruptionsmaßnahmen, werden zunehmend als unverzichtbarer Bestandteil einer erfolgreichen MDG-Politik thematisiert (World Bank/IMF 2006). Konsequenterweise müssen
dann aber auch die Industrieländer selbstkritisch reflektieren
und sich von der Weltöffentlichkeit fragen lassen, inwieweit sie
auf internationaler Ebene MDG-förderliche Politiken, also good
global governance, praktizieren.
Der Millennium+5-Gipfel hat alle Staaten dazu verpflichtet,
bis 2006 nationale MDG-Strategien zu beschließen, die eng mit
den bereits vorhandenen, häufig von Weltbank und IWF unterstützten Plänen zur Armutsreduzierung (Poverty Reduction
Strategy Papers) verzahnt werden sollen. Eine zeitnahe Umsetzung dieser Vorgabe ist aber nicht in Sicht, da den Niedrigeinkommensländern aus dem UN-System dafür bislang keine
nennenswerte Unterstützung angeboten wird. Wichtig für
langfristige Erfolge im MDG-Prozess ist, das gerade bei Nichtregierungsorganisationen weit verbreitete Missverständnis
auszuräumen, soziale Ziele seien vor allem durch sozialpolitische Maßnahmen zu erzielen. Der Bericht des Millenniumsprojekts weist zu Recht darauf hin, dass die Zielebenen nicht
mit den Interventionsebenen identisch sind. Wer Grundbildung fördern will, darf sich beispielsweise nicht ausschließlich
auf diesen Sektor konzentrieren. Insbesondere in Afrika südlich der Sahara sind Investitionen in die Infrastruktur (Transport, Energie, Wasser) zur MDG-Verwirklichung erforderlich;
das Bildungswesen muss auch auf höheren Stufen ausgebaut
werden (zum Beispiel im universitären Bereich). Eine MDGorientierte Entwicklungspolitik muss drei Stoßrichtungen gleichermaßen verfolgen (Messner/Wolff 2005): Erstens muss sie
unmittelbare Armutsbekämpfung betreiben, um die Lebensverhältnisse der Armen spürbar zu verbessern (universeller
Zugang zu Grundbildung und Gesundheit, besonders im Hinblick auf Mädchen). Gleichzeitig muss sie, zweitens, die pro55
duktiven Potenziale der Armen entfalten helfen, zum Beispiel
durch Modernisierung der Landwirtschaft und Stärkung des
informellen Sektors. Drittens muss die Wettbewerbsfähigkeit
der dynamischen Wirtschaftssektoren gestärkt und deren Vernetzung mit den Wirtschaftssektoren der Armen vorangetrieben werden.
Internationale Überprüfung der MDGs
Eine für die MDGs zentrale Frage bezieht sich darauf, in welchem Rahmen die Harmonisierung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit und die Arbeitsteilung zwischen
Gebern und Entwicklungsländern organisiert wird. Die
westlichen Industrieländer setzen in dieser Hinsicht auf den
OECD-Entwicklungsausschuss (Development Assistance Committee, DAC), wo sie unter sich tagen und nach Bedarf Partner
aus der Entwicklungswelt hinzuladen. Die »neuen« Geber des
Südens, zum Beispiel China, Indien, Brasilien und Südkorea,
werden sich auf diese westlich dominierte Plattform nicht einlassen, aber sie sind durchaus offen für Kooperation. Auf der
programmatischen Ebene hat sich beispielsweise China in seiner neuen Afrika-Strategie für die Unterstützung der MDGs
ausgesprochen (GoC 2006).
Die beste Chance für Erfahrungsaustausch und gemeinsame Strategiebildung mit Gebern außerhalb des DAC bietet
sich unter dem Dach der Vereinten Nationen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die laufende Reform des UN-Wirtschaftsund Sozialrats (ECOSOC) neue Bedeutung. Dieses bisher weitgehend einflusslose Gremium soll nach dem Beschluss des
Millennium+5-Gipfels eine größere Rolle in der Entwicklungspolitik einnehmen. Zur Überprüfung der Umsetzungserfolge
bei den MDGs sollen jährliche Sitzungen auf Ministerebene
stattfinden, zu denen auch Berichte der Geber und der internationalen Institutionen vorgelegt werden. Und alle zwei Jahre
56
wird ECOSOC eine hochrangige Entwicklungskonferenz einberufen, die einen Kooperationsrahmen für alle maßgeblichen
Akteure bieten soll. In diesem Kontext ließe sich auch eine UNKonditionalität etablieren, die sich an den universell gültigen
Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsnormen orientiert – und
nicht einseitig an Geberinteressen. Nach anfänglichem Zögern
hat auch der DAC-Vorsitzende, Richard Manning (2006) die
Chance erkannt, auf diesem Weg die weltweite Verständigung
über gemeinsame Werte, Prinzipien und Verfahren in der Entwicklungszusammenarbeit voranzubringen.
Fazit und Ausblick
Wie stehen die Chancen zur termingerechten Erreichung der
MDGs heute – nicht nur global, sondern in jedem einzelnen
Land? Viel Anlass für Optimismus gibt es wohl kaum, insbesondere im Hinblick auf Problemregionen wie Afrika südlich
der Sahara und schwache Staaten, die unter Gewaltkonflikten
und autoritären Systemen leiden. Die fehlende Kompromissbereitschaft der Industrieländer im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde und andere Erscheinungsformen mangelnder
Kohärenz machen wenig Hoffnung auf weltwirtschaftliche
Weichenstellungen, die für langfristige Erfolge bei den MDGs
unerlässlich sind. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit
kann der Norden weitreichenden Reformen nicht mehr lange
ausweichen. Dabei geht es nicht nur um eine Ausweitung des
Ressourcentransfers, etwa über innovative Instrumente wie die
Flugticketabgabe, sondern auch um die Bereitschaft, laufende
Kosten in den sozialen Schlüsselsektoren zu übernehmen (zum
Beispiel für Lehr- und Gesundheitspersonal). Heute wird nur
ein Drittel der Entwicklungsgelder an die Niedrigeinkommensländer in Form frei verfügbarer Zuschüsse geleistet; der
Rest nutzt zuallererst der Geberseite, beispielsweise in Form
von hoch dotierten Expertengehältern. Hoffnung machen die
57
zahlreicher werdenden Beispiele von Multiakteursnetzwerken,
insbesondere im Bildungs- und Gesundheitsbereich, in denen
die Ressourcen von Staaten aus Nord und Süd, internationalen
Organisationen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft
gebündelt werden.
Es muss bis 2015 gelingen, in allen Ländern handfeste Fortschritte bei Armutsreduzierung und ökologischer Nachhaltigkeit vorzuweisen. Sonst droht ein gravierender Rückschlag in
der Weltöffentlichkeit, der die Legitimationsbasis der Entwicklungszusammenarbeit insgesamt untergraben könnte (Loewe
2005). Damit dies nicht geschieht, müssen alle Akteure ihre
Interessen neu definieren (Fues 2006). Die MDGs sind nicht
ausschließlich als ethisch-humanitäre Selbstverpflichtung zur
weltweiten Durchsetzung von Menschenwürde und nachhaltiger Entwicklung zu verstehen. Neben diese wichtige Dimension einer neuen Universalethik tritt das aufgeklärte Eigeninteresse der reichen Gesellschaften an globaler Stabilität und
Frieden. Die Bereitstellung solcher globalen öffentlichen Güter
ist eine unverzichtbare Bedingung für eine gelingende Globalisierung. In einer immer stärker vernetzten Weltgesellschaft
sind Wohlstand und Sicherheit in den privilegierten Ländern
bedroht, solange Verelendung und soziale Desintegration zur
Auflösung staatlicher Strukturen, Flüchtlingsbewegungen und
Umweltzerstörungen führen. Auch die Eindämmung des internationalen Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität bleibt eine Illusion ohne Reduzierung der globalen
Kluft zwischen Arm und Reich.
58
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www.who.int/hiv/toronto2006/FS_Treatment_en.pdf, 19.08.2006).
World Bank, 2006: World Development Indicators 2006. Washington,
D.C.
World Bank/IMF (International Monetary Fund), 2006: Global Monitoring
Report 2006. Millennium Development Goals. Strengthening mutual
accountability, aid, trade, and governance. Washington, D.C.
60
RICHARD BRAND
Mehr Worte als Taten?
Der deutsche Beitrag zur Erfüllung der
Millennium-Entwicklungsziele
Die auf dem Millennium-Gipfel der Vereinten Nationen im
September 2000 verabschiedete Millennium-Erklärung behandelt wesentliche Fragen der zukünftigen Gestaltung der internationalen Beziehungen im 21. Jahrhundert. Als Handlungsorientierung für Entwicklung und Armutsbekämpfung wurden
aus der Millennium-Erklärung acht Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) abgeleitet,
die es bis 2015 zu erreichen gilt. Betont wird die gemeinsame
Verantwortung von Industrie- und Entwicklungsländern im
Rahmen einer globalen Entwicklungspartnerschaft (MDG 8).
Die MDGs haben sich nach schleppendem Beginn mittlerweile
als zentraler Referenzrahmen der internationalen Zusammenarbeit etabliert.
Dies gilt auch für die Debatte in Deutschland. Bundesregierung und staatliche Entwicklungsorganisationen haben die
MDGs und die Millennium-Erklärung als verbindlichen Orientierungsrahmen integriert. Auch nichtstaatliche Organisationen (NGOs) orientieren ihre Projektunterstützungen daran
und gestalten ihre Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit »MDGkompatibel«. Zivilgesellschaftliche Kampagnen wie Global Call
to Action against Poverty und die UN-gestützte Millennium Campaign werben für mehr Engagement und Solidarität.
Dieser Beitrag beschäftigt sich mit der Politik der Bundesregierung: Wie hat sie auf die MDGs reagiert? Welche Maßnahmen wurden getroffen? Welche Änderungen sind notwendig?
61
Das Aktionsprogramm 2015
Die Bundesregierung reagierte relativ zügig und mit einem
umfassenden konzeptionellen Ansatz auf die neuen entwicklungspolitischen Vorgaben. Am 4. April 2001 verabschiedete
sie das »Aktionsprogramm 2015 – Der Beitrag der Bundesregierung zur Halbierung extremer Armut«. Als Zielsetzung formulierte Bundeskanzler Gerhard Schröder:
»Dieses Programm bündelt alle Kräfte der Bundesregierung auch in dem Bestreben, die Zusammenarbeit mit den
relevanten internationalen Organisationen und anderen Regierungen konsequent auf ihren Beitrag zur Minderung der
weltweiten Armut auszurichten. Es unterstreicht den Willen Deutschlands, aktiv an der Halbierung der Armut mitzuwirken.« (BMZ 2001, Vorwort).
Das Aktionsprogramm 2015 zeigte den Gestaltungswillen der
rot-grünen Regierung. Die Übertragung der Federführung an
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung (BMZ) war eine Aufwertung der Entwicklungspolitik und der Ministerin in der Kabinettsrunde. Neu
war, dass ein ressortübergreifender strategischer Rahmen für
alle deutschen Beiträge zum Erreichen der MDGs geschaffen
wurde, um die Verringerung der Armut als Kernaufgabe und
Kernlegitimation der Entwicklungspolitik zu bestärken und
um ein kohärentes Vorgehen in allen relevanten Politikbereichen, die Koordinierung mit anderen bilateralen und internationalen Akteuren und die Einbindung von Zivilgesellschaft
und Privatwirtschaft zu fördern (van de Sand 2005).
Das Aktionsprogramm identifiziert zehn vorrangige thematische Ansatzpunkte, die sich sowohl auf die Umsetzung
der MDGs beziehen als auch Elemente aus der MillenniumErklärung aufnehmen. Es stellt keine völlige Neuorientierung
der Entwicklungspolitik dar, sondern kombiniert bestehende
Zielsetzungen mit den neuen internationalen Vereinbarungen
und soll strukturelle Änderungen unterstützen. Es geht damit
62
in seinem Anspruch über die Entwicklungspolitik hinaus und
benennt Handlungsfelder auf der multilateralen Ebene (Global
Governance, gleichberechtigte Partnerschaft), auf der Ebene
der Partnerländer (strukturelle Reformen, Armutsbekämpfungsstrategien) und bei den Strukturen in Deutschland und
Europa (Kohärenz aller Politikfelder, wirtschaftliche und ökologische Nachhaltigkeit).
Die zehn Ansatzpunkte des Aktionsprogramms 2015
1. Wirtschaftliche Dynamik und aktive Teilnahme der Armen erhöhen (insbesondere MDGs 1, 8)
2. Das Recht auf Nahrung verwirklichen und Agrarreformen durchführen (MDGs 1, 7, 8)
3. Faire Handelschancen für die Entwicklungsländer schaffen (MDG 8)
4. Verschuldung abbauen – Entwicklung finanzieren
(MDGs 1, 8)
5. Soziale Grunddienste gewährleisten – Soziale Sicherung
stärken (MDGs 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8)
6. Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen sichern –
Eine intakte Umwelt fördern (MDG 7, MillenniumErklärung)
7. Menschenrechte verwirklichen – Kernarbeitsnormen respektieren (Millennium-Erklärung)
8. Gleichberechtigung der Geschlechter fördern (MDG 3)
9. Beteiligung der Armen sichern – Verantwortungsvolle
Regierungsführung stärken (MDGs 1, 3, MillenniumErklärung)
10. Konflikte friedlich austragen – Menschliche Sicherheit
und Abrüstung fördern (Millennium-Erklärung)
Quelle: BMZ 2005c
63
Dem Aktionsprogramm liegt ein umfassendes Armutsverständnis zugrunde, da es auf die strukturellen wirtschaftlichen
und gesellschaftlichen Ursachen der Armut, die Notwendigkeit zur Stärkung der Selbsthilfepotenziale und die Partizipation der Armen als tragende Prinzipien der Armutsbekämpfung verweist. Es geht damit über den Armutsbegriff der
MDGs hinaus, da nicht nur die Einkommensarmut (weniger
als 1 US-$ pro Tag) als Indikator verwendet wird, sondern weitere Indikatoren wie geringe Chancen und mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten am politischen und wirtschaftlichen Leben, besondere Gefährdung durch Risiken, Missachtung der
Menschenwürde und Menschenrechte sowie fehlender Zugang zu Ressourcen Berücksichtigung finden.
Das Aktionsprogramm wurde von der Zivilgesellschaft
und den Kirchen prinzipiell begrüßt. Dies galt besonders für
den Anspruch, die entwicklungspolitische Kohärenz zu stärken und künftig alle neuen Gesetze auf ihre Entwicklungsverträglichkeit und auf ihre Bedeutung für die Armutsminderung zu prüfen. Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)
lobte in ihrer Stellungnahme zu den MDGs die konzeptionelle
Pionierarbeit des Aktionsprogramms hinsichtlich der Armutsbekämpfung, mahnte aber an, sein Handlungspotenzial auch
auszuschöpfen (EKD 2005). Kritisch bemerkt wurde, dass trotz
des Anspruchs, die Ursachen der Armut anzugehen, kaum
Handlungsvorschläge für den Bereich nationaler und internationaler Strukturpolitik zu finden sind. Es wurde befürchtet,
dass das Programm weniger ein Programm der gesamten Bundesregierung ist, sondern eher eines des Entwicklungsministeriums (EED 2002).
Zur Koordination und Steuerung des Aktionsprogramms
hat das federführende BMZ im Referat 300 einen Arbeitsstab
2015 gebildet. Anfang 2002 kam ein Sektorprogramm »Aktionsprogramm 2015« hinzu, welches von der Gesellschaft für technische Zusammenarbeit (GTZ) betreut wird. Der Arbeitsstab
verfügte 2002 und 2003 über einen eigenen Sondertitel (Haus64
haltstitel 687 05) in Höhe von 90 Mio. € (40 Mio. € Barmittel und
50 Mio. € Verpflichtungsermächtigungen), der ab 2004 in die
Haushaltsstruktur des BMZ (Einzelplan 23) überführt wurde.
Aus dem Sondertitel wurden unter anderem die Zusammenarbeit in den vier Pilotländern Bolivien, Jemen, Mosambik und
Vietnam aufgestockt und zusätzliche Vorhaben der staatlichen
Durchführungsorganisationen, der kirchlichen Zentralstellen
für Entwicklungszusammenarbeit (EZ), der politischen Stiftungen sowie von privaten Trägern finanziert.
In allen Ministerien und im Kanzleramt wurden Kontaktpersonen für den Arbeitsstab benannt. Über Kohärenzgespräche mit anderen Ministerien und durch die Beteiligung
an der Rahmenplanung des BMZ wirkt der Arbeitsstab an der
Politikgestaltung mit. Im Jahr 2003 wurde zur Koordinierung
aller MDG-Fragen in der deutschen EZ zusätzlich die Stelle
eines MDG-Beauftragten direkt beim Staatssekretär im BMZ
eingerichtet. In den staatlichen Durchführungsorganisationen
(GTZ, KfW, InWent, DED) wurden ebenfalls MDG-Beauftragte
benannt und eine Orientierung auf die MDGs in die Wege geleitet.
Trotz der konzeptionellen Ausrichtung auf die MDGs, zahlreicher neuer Initiativen und institutioneller Änderungen blieb
die Umsetzung des Programms hinter den Erwartungen zurück. Der Anspruch, Referenzrahmen für die gesamte Bundesregierung zu sein, wurde nur bedingt eingelöst. Schon bei
den Koalitionsgesprächen 2002 ließen sich erweiterte Kompetenz- und Führungsansprüche für das BMZ gegenüber anderen Ministerien nicht vereinbaren. Die Folgen waren, dass die
politische Wirkung als ressortübergreifendes Programm und
als Programm der gesamten Bundesregierung de facto an Gewicht verlor, auch wenn die Ministerin die Bedeutung des Aktionsprogramms als Referenzrahmen weiterhin betonte. Indizien für den Bedeutungsverlust waren, dass Bundeskanzler
Schröder sich wenig für das Programm einsetzte, der angekündigte Operationsplan nie vorgelegt und der Haushalts-Sonder65
titel später in die bestehenden Titel im Einzelplan 23 integriert
wurde.
Das Aktionsprogramm 2015 blieb weitgehend auf entwicklungspolitische Aktivitäten konzentriert und ist damit de facto
ein Programm des BMZ. Zum 2. Zwischenbericht kommentierte der Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO), das Programm stelle noch
immer eine bemerkenswerte Selbstverpflichtung der Bundesregierung dar, die Bekämpfung der Armut zu einer gesamtpolitischen Aufgabe zu machen, leider sei es aber bei dem
programmatischen Anspruch geblieben, da die Umsetzungsschritte dem nicht gerecht würden (VENRO 2004). Die Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) mahnte
an, dass im Hinblick auf die Bewertung der Zielerreichung der
vom BMZ angekündigte Umsetzungsplan endlich vorgelegt
werden sollte und bemängelte, dass trotz vieler Einzelmaßnahmen keine deutliche Umsteuerung in Richtung einer Überwindung der extremen Armut und einer Fokussierung auf
die ärmsten Länder zu erkennen sei (GKKE 2004). Der Social
Watch Report sieht die Ergebnisse der entwicklungspolitischen
Kohärenz kritisch, da diese häufig den Interessen anderer Ministerien untergeordnet wurde (Heidel 2005).1
Mit dem Regierungswechsel 2005 hat sich der Bedeutungsverlust des Aktionsprogramms weiter verstärkt. In den Koalitionsvereinbarungen wurde es nicht erwähnt. Obwohl es nach
Aussage der Entwicklungsministerin weiter als ein Referenzrahmen neben anderen Vereinbarungen gelten soll, ist seine
politische Bedeutung für die Regierungspolitik ungewiss. Der
bisher ausgebliebene 3. Zwischenbericht, der nun im Frühjahr
1
66
Die GKKE legt seit 2002 jährlich einen Bericht zur Umsetzung des Aktionsprogramms 2015 vor (www.gkke.org). Als Beitrag der Zivilgesellschaft
zum Monitoring der Fortschritte bei der Armutsbekämpfung und der
Gleichstellung der Geschlechter versteht sich der jährliche internationale
Social Watch Report (www.socialwatch.org). Ein darauf basierender deutscher Report wird seit 2001 vorgelegt (www.woek.de).
2007 vorgelegt werden soll, könnte in dieser Frage eine Klärung bringen.
Armutsbekämpfung, MDG-Orientierung
und Wirkungsmonitoring
Die Bundesregierung versteht Armutsbekämpfung als eine
überwölbende Zielsetzung, die durch direkte und indirekte
Maßnahmen erreicht werden soll. Dazu gehören die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung (soziale Gerechtigkeit,
ökologische Nachhaltigkeit, Förderung der wirtschaftlichen
Rahmenbedingungen) und politisch dimensionierte Maßnahmen (Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, friedliche Konfliktbeilegung). Dieser umfassende Ansatz entspricht
dem internationalen entwicklungspolitischen Konsens. Die
Frage ist, wie die Maßnahmen gewichtet werden, in welchem
Zusammenhang sie stehen und wie sie zur Verbesserung der
Lebensbedingungen der Armen beitragen.
Überarbeitung des BMZ-Leitfadens zur
Armutsorientierung erforderlich
Ein wichtiges Projekt ist die Überarbeitung des derzeit gültigen
BMZ-Leitfadens zur Beurteilung der Armutsorientierung aus
dem Jahr 1997 (BMZ 1997). Nach Veränderungen der inhaltlichen und institutionellen Rahmenbedingungen war dieser
Schritt überfällig. Es gilt im BMZ-Leitfaden neue Grundsatzdokumente zu berücksichtigen, die Änderungen des OECDEntwicklungsausschusses (Development Assistance Committee,
DAC) bei den Leitlinien zur Armutsbekämpfung aufzunehmen, aber auch die stärkere Ausrichtung der EZ auf Wirkung
und die Verschiebung vom Projektansatz in Richtung Budgethilfe und Programmfinanzierung zu reflektieren. Ein vom
67
BMZ in Auftrag gegebenes Gutachten ergab, dass eine Aktualisierung nicht ausreicht, sondern ein neuer Leitfaden erstellt
werden sollte; dieser liegt derzeit noch nicht vor.
Die Notwendigkeit zur Überarbeitung illustriert eine Kontroverse zwischen dem BMZ und NGOs über die Armutsorientierung der deutschen EZ. Laut Leitfaden erhalten Vorhaben
der unmittelbaren Armutsbekämpfung die Kennungen SHA
(selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung) und SUA (sonstige
unmittelbare Armutsbekämpfung). Die Kennung MSA (übergreifende Armutsbekämpfung auf Makro- und Sektorebene)
gilt für Vorhaben, bei denen eine plausible Wirkungskette zwischen Vorhaben und Verbesserung der Lebensbedingungen
der Armen herzustellen ist. Die Kennung EPA (allgemeine entwicklungspolitische Ausrichtung) gilt für Vorhaben, die nicht
unmittelbar armutsorientiert wirken, aber aus entwicklungspolitischen Gründen förderungswürdig sind. Der Anteil der armutsorientierten Vorhaben mit einer MSA-Kennung stieg von
27 % im Jahr 2002 auf 60 % im Jahr 2004. Während die GKKE
dem BMZ »Etikettenschwindel« vorwarf (GKKE 2004), verwies das BMZ auf die indirekte armutsorientierte Wirkung von
strukturbildenden Aktivitäten auf der Meso- und Makroebene.
Auch wenn die Argumentation des BMZ analytisch a priori
nicht falsch ist, bleibt die Frage, warum der Anteil von plausiblen Wirkungsketten fast sprunghaft zugenommen haben
soll. Es ist zu vermuten, dass für eine Vielzahl von mehr oder
minder armutsorientierten Maßnahmen die MSA-Kennung als
Auffangbecken diente.
Sektorale und regionale MDG-Orientierung erhöhen
Um den Beitrag der deutschen EZ zur Erfüllung der MDGs
zu beurteilen, ist genauer zu betrachten, ob der im Aktionsprogramm 2015 formulierte politische Anspruch sich auch in
einer stärkeren Mittelallokation zugunsten der MDG-Sektoren
68
niederschlägt und eine Fokussierung auf besonders arme Länder zu verzeichnen ist. In einer vergleichenden Untersuchung
zur Entwicklungspolitik von Dänemark, Deutschland, Irland,
Italien, Niederlande, der Tschechischen Republik und der Europäischen Union schneidet die Bundesrepublik hinsichtlich
ihrer MDG-Orientierung mit 44 von 100 möglichen Punkten
eher mittelmäßig ab (Alliance 20152 2005).
Kritisiert wird vor allem die geringe Mittelzuweisung für
soziale Grunddienste. Im Jahr 2003 wurden nur 10,4 % der bilateralen EZ dafür verwandt, weniger als im Jahr 2000 mit 11,64 %
(Alliance 2015 2005, 40). Deutschland ist damit weit von der Erfüllung der 20/20-Initiative entfernt, die beim Weltsozialgipfel 1995 in Kopenhagen beschlossen wurde. Die Initiative sieht
vor, dass sich Entwicklungs- und Industrieländer verpflichten,
durchschnittlich 20 % des Staatshaushaltes bzw. 20 % der Mittel
für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) für soziale Grunddienste zu verwenden,
also zum Beispiel für Grundbildung, Basisgesundheit, reproduktive Gesundheit, Ernährungsprogramme, Trinkwasserversorgung und Abwasserbeseitigung.
In der bilateralen Zusammenarbeit zeichnet sich seit einigen Jahren eine Verschiebung zu Gunsten der ärmeren Länder ab. 1998 leitete das BMZ eine stärkere geographische Konzentration von zuvor 120 Kooperationsländern auf ca. 70 Länder ein. Damit verbunden war auch eine Reduzierung der bis
dahin geltenden Präferenz für Länder der mittleren Einkommensgruppe, deren Anteil von über 50 % der bilateralen ODA
im Jahr 2002 auf ca. 44 % im Jahr 2004 zurückging (OECD 2005,
34f.). Trotz dieser positiven Entwicklung ist die Bundesregierung vom Ziel der Vereinten Nationen, 0,15 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) für die am wenigsten entwickelten Länder (LDC) zu verwenden, noch entfernt. Nach Berechnungen
2
Alliance 2015 ist ein Zusammenschluss von sechs europäischen NGOs, die
regelmäßig einen 2015-Watch Report zur Umsetzung der MDGs vorlegen.
69
der OECD betrug der über bilaterale und multilaterale Stellen
gehende ODA-Anteil an LDCs im Jahr 2003 37 % der gesamten
deutschen ODA. Dies entspricht einem Anteil von 0,10 % am
BNE (OECD 2005, 35 u. 94).
Um den deutschen Beitrag zur Erreichung der MDG-Ziele
zu stärken, ist daher eine substanzielle Erhöhung der BMZMittel für soziale Grunddienste wie Bildung, Gesundheit und
Wasserversorgung sowie Ernährungssicherung zwingend erforderlich. Der Anteil der Mittelvergabe an die ärmsten Länder
sollte stetig und dauerhaft erhöht werden (GKKE 2005, 42f.).
Mehr Wirkung erzielen
Durch die quantitativen und mit einem eindeutigen Zeithorizont versehenen MDGs wurde international die Debatte über
Wirkungsorientierung und über eine stärkere Effektivität und
Effizienz der EZ gefördert. Es gilt analytisch zu erfassen und
zu belegen, ob und wie die Konzepte, Maßnahmen und Strategien zur Erfüllung der MDGs beitragen. Die seit langem bestehenden Systeme des Monitorings, der Evaluierung und Erfolgskontrolle auf der Projekt- und Programmebene müssen
um eine aggregierte, MDG-orientierte Gesamtperspektive ergänzt werden. Um die politische und gesellschaftliche Unterstützung für eine Erhöhung der öffentlichen EZ zu erwirken,
muss diese außerdem zeigen können, dass zusätzliche Gelder
auch zusätzliche Wirkungen erzielen.
Um Wirkungen besser belegen zu können, startete das BMZ
diverse Initiativen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und den Durchführungsorganisationen und ist aktiv an den Diskussionen im OECDEntwicklungsausschuss beteiligt. Auch wenn damit wichtige
Erkenntnisse zur Ermittlung aggregierter Wirkungszusammenhänge geschaffen wurden, ist nach Aussage der Leiterin
des BMZ-Evaluierungsreferates aufgrund der komplexen Zu70
sammenhänge und methodischen Schwierigkeiten nicht damit
zu rechnen, dass demnächst mit Zahlen belegt werden kann,
welche Beiträge die deutsche EZ zu einzelnen MDGs geleistet
hat (Zintl 2006, vgl. auch den Beitrag von Kranz-Plote).
Im März 2005 verabschiedete die OECD die Paris Declaration on Aid Effectiveness, in der die Bedeutung einer stärkeren
Wirkungsorientierung bekräftigt wurde. Die MDG-Stabsstelle
erstellte daraufhin ein Umsetzungspapier, in dem das Kohärenzgebot, das Partnerschaftsprinzip und die Orientierung auf
Wirkungen als handlungsleitende Prinzipien bekräftigt und
die nötigen Maßnahmen in einem Operationsplan 2005/2006
konkretisiert werden (BMZ 2005b).
Ein öffentlicher Fortschrittsbericht zur Umsetzung des
Operationsplans liegt noch nicht vor. Zur Verbesserung der
Transparenz wäre es zu begrüßen, wenn das BMZ seine Anstrengungen in regelmäßigen Zwischenberichten dokumentieren würde. Spannende Fragen für die fachliche Debatte sind,
inwiefern das geltende Effektivitäts- und Effizienz-Paradigma
bestimmte technokratische Ansätze bevorzugt, die Pluralität
von Ansätzen erschwert, die Unabhängigkeit der Arbeit von
NGOs negativ beeinflusst und ob damit letztlich einer formierten Entwicklungspolitik Vorschub geleistet wird.
Geringe Ressourcenmobilisierung zur
Entwicklungsfinanzierung
Für die Umsetzung der MDGs braucht es zusätzliche finanzielle Mittel. Die betroffenen Länder müssen neue inländische
Ressourcen mobilisieren oder ihre Ausgaben stärker zur Förderung der MDG-relevanten Handlungsfelder verwenden.
Gleichzeitig sind bei der Finanzierung der MDGs die wohlhabenderen Staaten gefordert. Das von UN-Generalsekretär
Kofi Annan eingesetzte Millennium-Projekt unter der Leitung
von Jeffrey Sachs hat die Kosten für die weltweite Umsetzung
71
der MDGs bis zum Jahr 2015 geschätzt und eine Erhöhung der
jährlichen ODA auf 135 Mrd. US-$ bis 2010 und eine Steigerung
auf 195 Mrd. US-$ bis 2015 gefordert.
Der deutsche ODA-Anteil ist in den 1990er Jahren auf Werte
unterhalb von 0,3 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) gesunken. Um einen adäquaten Beitrag zu leisten, muss die deutsche Entwicklungshilfe deutlich erhöht werden.
Zögerliche Anhebung der ODA
Die Antwort der Bundesregierung fiel zunächst enttäuschend
aus. Der BMZ-Etat, der den größten Anteil der ODA umfasst,
blieb zwar von den allgemeinen Haushaltskürzungen weitgehend verschont, wurde aber auch nicht nennenswert erhöht.
Von 2001 bis 2004 verharrte der Anteil der ODA (Bund, Länder
und Kommunen) zwischen 0,27 % und 0,28 % des BNE. Länder
wie Norwegen, Schweden, Niederlande und Dänemark erreichen dagegen Anteile von über 0,8 % am BNE.
Tabelle 1
Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands
(in Mio. US-$ zu jeweiligen Preisen und Wechselkursen)
Jahr
2000
2001
2002
2003
2004
2005
ODA insgesamt
5.030
4.990
5.324
6.784
7.534
9.915
Bilateral
2.687
2.853
3.328
4.060
3.823
7.129
Multilateral
2.343
2.136
1.997
2.724
3.712
2.786
ODA (in % des BNE)
0,27
0,27
0,27
0,28
0,28
0,35
Davon:
Quelle: OECD 2005, Zahlen 2005 entnommen aus den DAC-Statistiken
auf der OECD-Website
72
Erst im Vorfeld des Millennium+5-Gipfels im September 2005
kam es zu weiter gehenden politischen Initiativen. Durch den
Beschluss des Europäischen Rates vom 16./17. Juni 2005 verpflichtete sich die Bundesregierung im Rahmen eines Stufenplanes, ihre ODA bis zum Jahr 2015 auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts aufzustocken. Der EU-Stufenplan bedeutet für
Deutschland, dass bis zum Jahr 2010 0,51 % erreicht werden sollen. Die Mittel für EZ müssten dann auf 15,5 Mrd. US-$ erhöht
werden. Dies entspricht im Vergleich zu 2004 einem Anstieg
um 106 % in realer Rechnung (OECD 2005, 29). Der 13. Bericht
2004/2005 zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe erstellte
auf der Basis von Schätzungen der Europäischen Kommission
eine Projektion für einen möglichen 2015-Stufenplan Deutschlands. Der deutsche Beitrag müsste demnach zwischen 2006
und 2010 um jährlich 1,27 Mrd. € wachsen und danach um
jährlich 1 Mrd. € bis 2015 (terre des hommes/Welthungerhilfe
2005, 9f.)
Der EU-Beschluss stellt eine wichtige politische Selbstverpflichtung dar und erhöht den Druck auf die einzelnen Staaten. Die Bundesregierung hatte sich für die Annahme des EUBeschlusses eingesetzt. Im Koalitionsvertrag 2005 wird das
Ziel bekräftigt. Um die politische Ernsthaftigkeit zu untermauern und um die Transparenz zu erhöhen, sollte die Bundesregierung umgehend einen eigenen Stufenplan verabschieden,
der Umsetzungsstrategien, Finanzierungsquellen und Maßnahmen benennt. Sie würde damit mit anderen EU-Ländern
gleichziehen, die solche Umsetzungspläne schon verabschiedet haben.
Kritik an der Berechnung der ODA-Quoten
Die Erhöhung der öffentlichen EZ wird seitens der internationalen Zivilgesellschaft nicht in Frage gestellt. Deutliche Kritik
gibt es an der derzeit gültigen Berechnung der ODA-Quote.
73
Im April 2006 stellten europäische NGOs den Bericht »EU Aid:
Genuine Leadership or Misleading Figures?« vor, in dem für
einige EU-Mitglieder die absoluten und relativen Anteile von
»aufgeblähter« Hilfe (inflated aid) ermittelt wurden (Joint European NGO Report 2006). Ihrer Meinung nach sollten bei der
Berechnung Schuldenerlasse, Ausgaben für Studienplatzkosten von Studierenden aus Entwicklungsländern und die Kosten für die Betreuung von Asylbewerbern und deren zwangsweise Rückführung ausgeklammert werden, da damit keine
zusätzlichen Ressourcentransfers in die Entwicklungsländer
realisiert werden. Für Deutschland ermittelte der Bericht für
das Jahr 2005 einen Betrag von ca. 3,4 Mrd. € an aufgeblähter
Hilfe, das entspricht 43 % der offiziellen ODA. Die deutsche
ODA-Quote würde sich von 0,35 % auf 0,2 % des BNE reduzieren, wenn dieser Betrag abgezogen wird (Joint European NGO
Report 2006).
Der Anstieg der deutschen ODA-Quote 2005 ist primär eine
Folge der Schuldenerlasse für den Irak und Nigeria. Der Anteil
der Schuldenerlasse wird für 2005 mit ca. 32 % der ODA angegeben. Da die Schulden von den Entwicklungsländern meist seit
Jahren nicht mehr bedient werden, führt dies nicht zu einem
zusätzlichen Ressourcentransfer. Dies gilt für die Mehrzahl der
LDCs, die in der HIPC-Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete arme Länder (heavily indebted poor countries, HIPC)
berücksichtigt wurden. Bei den Irak-Schulden kommt hinzu,
dass damit ehemalige kommerzielle Handelsforderungen von
Unternehmen, die über die Hermes-Kreditversicherung in öffentliche Forderungen verwandelt wurden, nachträglich zu
EZ-Leistungen gemacht werden.
Bei der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung im
März 2002 in Monterrey war die Bundesregierung in dieser
Frage schon weiter, denn im unterzeichneten Abschlussdokument werden die Geberländer aufgefordert, auf die Anrechnung von Schuldenerlassen auf die ODA-Quote zu verzichten.
Die NGOs fordern daher, dass die Bundesrepublik und andere
74
Staaten freiwillig auf die Anrechnung verzichten. Ein Vorschlag
ist, die Leistungen aus Schuldenerlassen in einer eigenen Statistik zu dokumentieren. Die Aussagekraft der ODA-Zahlen
würde erhöht, wenn Leistungen ohne Ressourcentransfer ausgeklammert werden und dadurch erlassbedingte Schwankungen entfallen. Das Festhalten der Bundesregierung an der
gängigen Praxis deutet allerdings darauf hin, dass sie die Erreichung des EU-Stufenplans mittels Erhöhung der Haushaltsmittel oder durch die Einführung innovativer Finanzierungsinstrumente eher skeptisch beurteilt und Schuldenerlasse eine
wichtige Funktion bei der Steigerung der ODA-Quote haben.
Wenig Initiative bei innovativen
Finanzierungsinstrumenten
Seit der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung 2002
gibt es eine intensive Debatte zu innovativen Finanzierungsmechanismen, mit denen zusätzliche Mittel aufgebracht werden
sollen, um die Finanzierungslücke zwischen ODA und MDGErfordernissen zu schließen. Im Zentrum stehen internationale
Steuern und Umweltabgaben für globale Gemeinschaftsgüter,
mit denen sowohl Finanzierungs- als auch Lenkungseffekte erzielt werden können. Dazu gehören beispielsweise die Abgabe
auf Flugtickets, die Besteuerung von Flugbenzin, eine Devisenumsatzsteuer (Tobin-Steuer), die Nutzung von Kapitalmarktanleihen, eine Abgabe auf Waffengeschäfte und Abgaben auf
den Kohlendioxidausstoß. Mittlerweile haben 18 Länder, darunter Chile, Frankreich, Großbritannien und Südkorea, eine
Abgabe auf Flugtickets eingeführt. Großbritannien forciert einen Vorschlag, Entwicklungshilfe durch Anleihen am Kapitalmarkt (internationale Finanzfazilität) vorzufinanzieren.
Obwohl sich die Bundesregierung bei der Monterrey-Konferenz durchaus offen für Innovationen zeigte und das BMZ
auf einer Veranstaltung sogar eine Studie über die Machbarkeit
75
einer Devisenumsatzsteuer (Vorschlag von Wirtschaftsprofessor Paul Bernd Spahn) präsentierte, spielte sie in der Folgezeit
international eine zögerliche und wenig aktive Rolle. Sie beteiligt sich lediglich an der Leading Group zur Weiterentwicklung von globalen Abgaben, die auf der Pariser Konferenz zur
Entwicklungsfinanzierung im März 2006 gebildet wurde. Eine
Entscheidung zur Einführung eines bestimmten innovativen
Finanzierungsinstruments steht weiterhin aus. Die Beteiligung
an der Internationalen Finanzfazilität lehnt die Bundesregierung ab, und sie beabsichtigt auch nicht, eine Wertpapierumsatzsteuer oder eine Devisentransaktionssteuer einzuführen
(Deutscher Bundestag 2006).
Als Fazit lässt sich konstatieren, dass die Bundesregierung
seit Monterrey über allgemeine Absichtserklärungen nicht hinausgekommen ist. Gute Chancen zur Profilierung bieten sich
durch die EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 und den
G8-Gipfel 2007 in Deutschland. In einem ersten Schritt sollte
zumindest und umgehend eine Abgabe auf Flugtickets eingeführt werden. Globale Steuern zur Entwicklungsfinanzierung und zur Gestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen sind wichtige Zukunftsthemen. Die Bundesregierung
sollte sich aktiv an dieser Debatte beteiligen und eigene Konzepte unterbreiten, statt nur mitzulaufen, abzuwarten und bestehende Vorschläge abzulehnen.
Entwicklungspolitische Kohärenz3
Die OECD hatte in ihrem Prüfbericht zu Deutschland 2001 im
Bereich Kohärenz institutionelle und konzeptionelle Defizite
konstatiert und Handlungsbedarf angemahnt. Mit dem Ak3
76
In einer allgemeinen Definition wird Kohärenz als das Zusammenwirken
aller im jeweiligen Kontext relevanten Politiken zur Erreichung übergeordneter Entwicklungsziele beschrieben.
tionsprogramm 2015 formalisierte die Bundesregierung ihr
Konzept für ein kohärentes entwicklungsorientiertes Vorgehen
in allen Politikbereichen in Deutschland, in der EU und auf
internationaler Ebene. Aufbauend auf einer Evaluierung der
laufenden Kohärenzaktivitäten durch das DIE im Jahr 2003 erstellte das BMZ eine Kohärenzagenda mit 14 Zielen, die sich
überwiegend auf die Verbesserung der Instrumentarien und
der Verfahren beziehen.
Im Bericht von 2005 würdigt der OECD-Entwicklungsausschuss, die Bundesregierung habe eine solidere Basis zur Förderung verstärkter Politikkohärenz geschaffen. Zugleich unterbreitet er weiterführende Vorschläge in den Bereichen Politik, analytische Kapazität und Monitoring-Mechanismen.
Empfohlen wird unter anderem eine bessere Abstimmung
der Kohärenzagenda mit dem Aktionsprogramm 2015, indem
explizite Kohärenzziele für jeden Prioritätsbereich des Programms formuliert und Umsetzungsstrategien entwickelt werden. Nachholbedarf wird beim Kohärenz-Monitoring gesehen,
da darüber noch nicht systematisch berichtet wird und noch
keine Ergebnisindikatoren festgelegt wurden (OECD 2005).
So behandelt der BMZ-Bericht »Der Beitrag Deutschlands zur
Umsetzung der Millenniums-Entwicklungsziele« das Thema
lediglich auf einer Seite (BMZ 2005a). In allgemeinen Worten
werden Mitbestimmungsmöglichkeiten des BMZ, die Ressortabstimmungen und befristete interministerielle Arbeitsgruppen erwähnt, ohne näher auf Ergebnisse, Strategien oder Konflikte einzugehen.
Die Forderung nach entwicklungspolitischer Kohärenz
wird von den Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen schon seit Jahren erhoben. Schon Anfang der 1990er
Jahre wurde auf die negativen Auswirkungen subventionierter
Rindfleischexporte der EU verwiesen, die mit Dumpingpreisen lokale Märkte in Westafrika zerstören, das Einkommen von
Kleinbauern reduzieren und Entwicklungsprojekte konterkarieren. So schreibt »Brot für die Welt« 2000 in seiner Grundsatz77
erklärung »Den Armen Gerechtigkeit«: »Entwicklungspolitik,
internationale Menschenrechts-, Friedens- und Umweltpolitik
müssen als globale Strukturpolitik einen zentralen Rang erhalten. Das Handeln der politisch Verantwortlichen muss kohärent dem Ziel der Gerechtigkeit verpflichtet sein.« (Brot für die
Welt 2000, 35). Zentrale Forderungen sind gerechte Welthandelsregeln und eine armutsorientierte Handels-, Agrar- und
Wirtschaftspolitik, die im Einklang mit den im internationalen Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte definierten Menschenrechten steht und die internationalen Vereinbarungen und Kernprinzipien des Umweltschutzes respektiert
(VENRO 2006). Die aktuelle Debatte um entwicklungspolitische Kohärenz beinhaltet eine Vielzahl weiterer Themen, zu
denen zivilgesellschaftliche Organisationen und Netzwerke
arbeiten und ihre Positionen und die ihrer Partner aus dem Süden in die Debatte einbringen. Bei allen Unterschieden kann
das Eintreten für einen menschenrechtlichen Ansatz (rightsbased approach), der in diversen UN-Konventionen kodifiziert
ist, als gemeinsamer Nenner der zivilgesellschaftlichen Positionen gelten. Die Instrumentalisierung der Entwicklungspolitik
für außenpolitische, wirtschaftliche oder andere Zielsetzungen
wird abgelehnt.
Schlussbemerkung
Die Anstrengungen der deutschen staatlichen EZ zur Erfüllung der MDGs können bisher als ambivalent bezeichnet werden. Positiv ist zu vermerken, dass die Bundesregierung sich
programmatisch frühzeitig auf die Erfüllung der MDGs bezogen, institutionelle Änderungen vorgenommen sowie Initiativen zur Verbesserung der Armutsorientierung und für ein
besseres Wirkungsmonitoring gestartet hat. Enttäuschend ist,
dass sie ihren Verpflichtungen zur deutlichen Erhöhung der
Mittel für die Entwicklungsfinanzierung bisher kaum nachge78
kommen ist und dass bei der Allokation der Mittel noch erheblicher Nachholbedarf für eine stärkere MDG-Orientierung
besteht. Auf politischer Ebene ist es notwendig, sich stärker für
verbesserte internationale politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen einzusetzen, die den Entwicklungsländern
und armen Bevölkerungsgruppen faire Partizipationsmöglichkeiten bieten und ökologisch nachhaltig sind. Die Umsetzung
einer entwicklungspolitisch kohärenten Politik steht noch aus.
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80
JUTTA KRANZ-PLOTE 1
Chancen und Herausforderungen
bei der operativen Umsetzung der
Millennium-Entwicklungsziele
Eine Innenperspektive
Auf dem UN-Gipfeltreffen im September 2000 hat die Bundesregierung gemeinsam mit 188 anderen Staaten der MillenniumErklärung zugestimmt. Damit hat sie sich verpflichtet, ihren
Beitrag zur Erreichung der darin formulierten Entwicklungsziele einschließlich der später abgeleiteten acht Millennium Development Goals (MDGs) zu leisten. Für alle Unterzeichner der
Millennium-Erklärung – Entwicklungsländer wie Industrienationen – stellt dies eine erhebliche Herausforderung dar. Der
mit der Millennium-Erklärung angestoßene Prozess beinhaltet
aber auch große Chancen, die Entwicklungszusammenarbeit
(EZ) signifikant zu verbessern.
Ein verbindlicher Referenzrahmen für die
strategische Ausrichtung der deutschen
Entwicklungszusammenarbeit
Die acht MDGs definieren Ziele, die für jeden unmittelbar verständlich sind. Hierin liegt ihre besondere Überzeugungskraft
und aus diesem Grund wurden sie so einfach und eindeutig
formuliert. Es wäre aber fatal, wollte man daraus eine ebenso
einfache Strategie für ihre Umsetzung ableiten. Dies würde
dem Charakter der MDGs und ihrem qualitativen Mehrwert
1
Der Beitrag gibt den Standpunkt der Autorin wieder.
81
für die internationale Entwicklungszusammenarbeit nicht gerecht. Es kann daher nicht primär darum gehen, nun möglichst
viele EZ-Mittel in die Bereiche zu lenken, die in den MDGs unmittelbar angesprochen sind, wie zum Beispiel die Grundbildung, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung oder die
Bereitstellung von sauberem Trinkwasser. Schon in den vergangenen Jahrzehnten wurde in diese Sektoren viel investiert,
ohne dass die Ergebnisse zufrieden stellend gewesen wären.
Gerade die Enttäuschung über unzureichende Entwicklungsfortschritte war es ja, die zu den großen Weltkonferenzen der
1990er Jahre und schließlich zum Millenniumsgipfel führte.
Die Gründe für die mangelnden Erfolge sind vielschichtig und
können nicht nur in den unzureichenden Mitteln für die EZ
gesehen werden. Eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung lässt sich weder erkaufen noch importieren. Es hängt
vielmehr ganz wesentlich vom politischen Willen der Partnerund Geberländer ab, die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen zu schaffen.
Welch bedeutende Rolle entwicklungsförderliche Faktoren
wie gute Regierungsführung und faire Handelschancen spielen, ist seit langem bekannt. Mit der Millenniums-Agenda besteht die Chance, hier einen entscheidenden Schritt weiterzukommen. Wenn die Millennium-Erklärung und die MDGs die
Welt tatsächlich verändern sollen, dann muss ihr Potenzial zur
Umsetzung struktureller Veränderungen genutzt werden. Genau das ist die Herausforderung, der sich alle Beteiligten, auch
in der deutschen EZ, zu stellen haben.
Um diese Chance zu nutzen, müssen die MDGs richtig verstanden werden. Die Millenniums-Entwicklungsziele beschreiben Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben:
die Freiheit von Armut und ihre Auswirkungen in den Bereichen Bildung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gesundheit und Schutz natürlicher Ressourcen. Die MDGs stellen aber
keine umfassende Entwicklungsagenda dar, denn sie enthalten nicht den Schutz der Bürger- und Menschenrechte sowie
82
Frieden und Sicherheit als Grundbedingungen menschlicher
Entwicklung. Daher müssen die MDGs immer im Kontext der
Millennium-Erklärung gesehen werden. Diese ist eine umfassende Agenda für die internationale Politik zu Beginn des
21. Jahrhunderts und entspricht dem systemischen Entwicklungsansatz, der sich insbesondere seit den 1980er und 1990er
Jahren in der EZ herausgebildet hat. Die MDGs können nur
verwirklicht werden, wenn es Fortschritte in allen Handlungsfeldern der Erklärung gibt. Aus diesem Grund sind für die
deutsche Entwicklungszusammenarbeit nicht nur die MDGs,
sondern alle Ziele der Millennium-Erklärung der verbindliche
Referenzrahmen.
Die Ziele der deutschen Entwicklungspolitik – Armut mindern, Frieden sichern, Globalisierung gerecht gestalten und
Umwelt schützen – entsprechen dem systemischen Ansatz der
Millennium-Erklärung, wobei Armutsbekämpfung die Kernaufgabe der Entwicklungspolitik ist. Zugrunde liegt dabei ein
mehrdimensionales Armutsverständnis, wie es heute international gültig ist. Demnach bedeutet Armut nicht nur geringes
Einkommen, sondern auch geringe Chancen und mangelnde
Beteiligungsmöglichkeiten am politischen und wirtschaftlichen
Leben, besondere Gefährdung durch Risiken, Missachtung der
Menschenrechte sowie fehlender Zugang zu Ressourcen.
Aus diesem Grund ist es zwar wichtig, dass sich die deutsche EZ in den Handlungsfeldern engagiert, die sich aus den
MDGs ergeben und hierzu wichtige Beiträge leistet (BMZ
2005a)2. Doch eine strukturell wirksame Unterstützung der
Millenniums-Agenda erfordert mehr als das.
2
So werden beispielsweise die Gleichberechtigung der Geschlechter und
der Kampf gegen HIV/AIDS sowohl durch die Verankerung als Querschnittsthemen in der EZ als auch durch spezielle Fördermaßnahmen
unterstützt. Deutschland ist weltweit der zweitgrößte Geber im Wassersektor und setzt sich sehr stark für Umweltbelange ein. Mit Blick auf MDG
8 engagiert sich die deutsche EZ unter anderem für die Umsetzung des
ODA-Stufenplans der EU, die Entschuldungsinitiative sowie Handelsverbesserungen für Entwicklungsländer.
83
Die deutsche EZ im Kontext der internationalen
Prozesse zur Umsetzung der Millennium-Agenda
Als Folge des in New York angestoßenen Prozesses sind seit
dem Jahr 2000 weitere internationale Vereinbarungen getroffen
worden, die den programmatischen Rahmen für die deutsche
Entwicklungspolitik bilden. Als wichtigste sind hier der Konsens der Entwicklungsfinanzierungskonferenz 2002 in Monterrey, der Aktionsplan des Weltnachhaltigkeitsgipfels 2002 in
Johannesburg, die Erklärung von Rom zur Geberharmonisierung aus dem Jahr 2003, die im Frühjahr 2005 verfasste ParisErklärung zur Steigerung der Wirksamkeit der EZ und schließlich der Millennium+5-Gipfel im September 2005 in New York
zu nennen. Die Bedeutung dieses Gipfels für die Arbeit der EZ
muss im Kontext seiner Vor- und Nachbereitung gesehen werden. Der Stufenplan zur Erhöhung der Mittel für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) der EU, der vorsieht, dass alle Mitgliedstaaten gemeinsam bis 2015 0,7 % des
Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe zur Verfügung stellen, sowie die Erweiterung der Entschuldungsinitiative von Gleneagles für sehr arme hoch verschuldete Länder,
stehen hiermit in unmittelbarem Zusammenhang.
Die deutsche EZ gestaltet diese internationalen Prozesse
mit und hat sich den entsprechenden neuen Herausforderungen frühzeitig gestellt. Bereits im April 2001 verabschiedete die Bundesregierung als einer der ersten Geber mit dem
Aktionsprogramm 2015 ihre Strategie zur Umsetzung der Millennium-Erklärung (BMZ 2001). Das Programm umfasst zehn
Ansatzpunkte in den Bereichen Wirtschaft und Landwirtschaft, Handel, Verschuldung, Sozialsysteme, Umwelt- und
Ressourcenschutz, Menschenrechte, Gleichberechtigung der
Geschlechter, Partizipation, Abrüstung und Sicherheit. Es
stellt aber keinen detaillierten Operationsplan dar. Ein solcher
würde zwar den Erwartungen der entwicklungspolitischen
Öffentlichkeit entgegenkommen, er kann aber nicht einsei84
tig von deutscher Seite verwirklicht werden. Die Umsetzung
des Aktionsprogramms 2015 muss in einem kontinuierlichen
Prozess zusammen mit den Partnerländern, bi- und multilateralen Gebern sowie nationalen und internationalen zivilgesellschaftlichen wie wirtschaftlichen Akteuren erfolgen. Daher
wird über den Fortschritt des Aktionsprogramms in regelmäßigen Statusberichten Rechenschaft abgelegt.
Nach der Verabschiedung der Paris-Erklärung im März
2005 hat die deutsche EZ die darin formulierten sehr konkreten
Handlungsvorgaben in einen verbindlichen Operationsplan für
die deutsche EZ umgesetzt. Dieser wurde mit der Strategie zur
Ausrichtung der Verfahren und Instrumente der deutschen EZ
auf die MDGs verknüpft (BMZ 2005b) und wird durch eine
Handreichung ergänzt, die die Umsetzung auf der operativen
Ebene erleichtern sollen.
Die oben genannten internationalen Vereinbarungen der
vergangenen Jahre beinhalten mehrere handlungsleitende
Prinzipien, die den qualitativen Mehrwert der neuen Agenda
gegenüber der EZ früherer Jahre ausmachen: Partnerorientierung, Geberharmonisierung, Wirkungsorientierung und Politikkohärenz. Diese sind nicht unbedingt neu, sie haben aber
im Kontext der Millenniums-Agenda eine wesentlich größere
Verbindlichkeit erhalten.
Eigenverantwortung der Entwicklungsländer
und Partnerorientierung der Geber
Mit den MDGs gibt es erstmals einen gemeinsamen, bindenden
Bezugsrahmen für die internationale Entwicklungszusammenarbeit, der das Ziel der Armutsbekämpfung in den Fokus rückt
und mit überprüfbaren Indikatoren konkretisiert. Dies impliziert eine klare Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen
Entwicklungs- und Industrieländern. Die Ziele 1 bis 7 müssen
in erster Linie von den Partnern selber umgesetzt werden. Sie
85
müssen hierfür die entsprechenden nationalen Politiken und
Strategien definieren sowie soweit wie möglich interne Ressourcen mobilisieren. Der Millennium+5-Gipfel im September
2005 hat diesen Kerngedanken noch einmal bestätigt und die
Entwicklungsländer im Abschlussdokument entsprechend in
die Pflicht genommen. Dies erfordert die Formulierung nationaler Entwicklungsstrategien durch die Partnerländer, die die
globalen Entwicklungsziele im Länderkontext konkretisieren
sowie die Identifizierung der erforderlichen Schritte. Denn so
unterschiedlich wie die Ausgangssituation und die Problemlagen, so unterschiedlich sind die Wege zur Zielerreichung. Bei
der Verbesserung der Gesundheitssituation von Müttern mögen fehlende Entbindungsstationen den entscheidenden Engpass darstellen. Es kann aber auch sein, dass der gesellschaftliche und rechtliche Status der Frauen das eigentliche Problem
und der entscheidende Ansatzpunkt sind. Welche Prioritäten
bei den nationalen Entwicklungszielen zu setzen sind und auf
welchem Weg diese am besten erreicht werden, können letztlich nur die Partner – und das heißt sowohl staatliche wie nichtstaatliche Akteure – entscheiden.
Die Geber müssen ihre Förderstrategien und die diesbezüglichen Maßnahmen aus den nationalen Strategien der Partner ableiten. Dabei erfordern unterschiedliche Ländertypen
auch unterschiedliche Ansätze. Die größte Herausforderung
stellt sich in Ländern mit schlechter Regierungsführung und
in den so genannten fragilen Staaten. Sehr häufig ist die Armut
hier besonders ausgeprägt und der Bedarf an Unterstützung
am größten. Es fehlen aber zentrale Voraussetzungen für eine
wirksame Entwicklungszusammenarbeit. Trotzdem darf sich
die Gebergemeinschaft nicht völlig zurückziehen. Die Bundesregierung, vertreten durch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), nimmt
diese Herausforderung an und arbeitet im Kontext der hierzu
laufenden internationalen Diskussion aktiv daran mit, Förderstrategien für diese Länder zu entwickeln. Die entwicklungs86
politischen Instrumente müssen dazu beitragen, fragile Staatlichkeit und schlechte Regierungsführung zu überwinden und
Prozesse entwicklungsorientierter Transformation zu unterstützen.
Aber auch mit den schon weit entwickelten Ländern darf
die Zusammenarbeit nicht völlig eingestellt werden. Zum einen haben Staaten wie Indien, China oder Brasilien im eigenen Land noch erhebliche Entwicklungsprobleme zu lösen,
zum anderen spielen sie sowohl in ihrer Region, aber auch zunehmend auf der globalen Ebene eine wichtige Rolle. Da diese
»Ankerländer« bedeutenden Einfluss auf die Weltwirtschaft,
auf globale Umweltfragen wie den Klimawandel sowie auf
die politische Entwicklung in ihren Nachbarländern nehmen,
ist es wichtig, eine strategische Partnerschaft mit ihnen fortzusetzen.
Die konsequente Partnerorientierung beschränkt sich aber
nicht nur darauf, dass sich die Geber an den nationalen Politiken und Strategien der Entwicklungsländer ausrichten. Sie
erfordert auch, die Institutionen und Verfahren der Partner
zu nutzen und zu stärken und den Aufbau von Parallelstrukturen zu vermeiden. Die konsequenteste Form der Nutzung
von Partnerstrukturen ist die Bereitstellung von Gebermitteln,
die direkt in die nationalen Budgets einfließen. Diese Art der
Finanzierung wird jedoch nur gewährt, wenn die Voraussetzungen für eine adäquate Verwendung und Kontrolle der Mittel gegeben sind.
In vielen Entwicklungsländern sind die Strukturen derzeit
noch schwach entwickelt und die nationalen Kapazitäten begrenzt, so dass sich die Geber hierauf nicht vollständig stützen
können. Den nationalen Entwicklungsstrategien, insbesondere
zur Armutsbekämpfung, fehlt es beispielsweise häufig an einer
ausreichenden inhaltlichen Prioritätensetzung und einer angemessenen Einbeziehung von Parlamenten und Zivilgesellschaft in den Erstellungs- und Umsetzungsprozess. Die Geber
sind daher gefordert, die Partner bei der Verbesserung der Stra87
tegien zu unterstützen. Die deutsche EZ hat zahlreiche Länder
bei der Erstellung von Armutsbekämpfungsstrategien (Poverty
Reduction Strategy Papers, PRSP) unterstützt. Sie besitzt auf diesem Gebiet viel Erfahrung und ein großes Potenzial, dass zur
Beratung der Partnerländer für unterschiedliche Zielgruppen
und auf unterschiedlichen Ebenen eingesetzt werden kann.
Dieses muss zukünftig noch konsequenter genutzt werden.
Das Prinzip der Partnerorientierung erfordert von den Gebern oft einen schwierigen Balanceakt, um das richtige Maß an
Unterstützung zu finden. Einerseits müssen die Entwicklungserfolge beschleunigt werden, wenn die MDGs bis 2015 noch
erreicht werden sollen – das erwartet auch die kritische Öffentlichkeit. Andererseits brauchen Reformprozesse Zeit, vor allem
wenn sie wirklich aus der Eigenverantwortung der Partnerländer resultieren sollen. Eine Überforderung und Überförderung
der Partnerstrukturen kann diese Prozesse leicht konterkarieren. Auch diese Erfahrung hat man in der EZ schon oft machen
müssen.
Hinzu kommt, dass damit einhergehende Veränderungen
nicht immer gradlinig und konfliktfrei verlaufen. Bei der Millennium-Erklärung und den MDGs handelt es sich um eine
hoch politische Agenda. Es geht nicht nur um die Bekämpfung
von Einkommensarmut und Hunger sowie Verbesserungen
in sozialen Bereichen. Es geht auch um Verteilungsfragen und
den Zugang zu Ressourcen. Hier kommen zwangsläufig unterschiedliche Interessen ins Spiel, die es auszuhalten und auszuhandeln gilt. Dabei sollten Konflikte nicht grundsätzlich
nur negativ gesehen werden, sondern als notwendiger Teil
von Entwicklungsprozessen. Wichtig ist, wie mit ihnen umgegangen wird. Konfliktmanagement, Krisenprävention und die
Förderung von Demokratisierungsprozessen sind daher zentrale Handlungsfelder im Kontext der MDG-Agenda, die auch
im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit immer stärker an Bedeutung gewinnen.
88
Die Unterstützung der Partnerländer bei der Erreichung
der MDGs ist somit eine sehr vielschichtige Aufgabe, deren
Komplexität häufig nur schwer zu vermitteln ist. Zudem ist ein
einzelner Geber wie die deutsche EZ nur ein Akteur unter vielen. Ob die deutsche Entwicklungspolitik einen angemessenen
Beitrag zur Erreichung der MDGs leistet, kann daher nur im
Kontext des Zusammenwirkens aller Geber beurteilt werden.
Die deutsche EZ als Teil der
internationalen Gebergemeinschaft
Komplexe Herausforderungen sind nicht von einzelnen Akteuren zu lösen. Hier müssen alle Beteiligten – Partnerland und
Geber – so effizient wie möglich zusammenwirken. Mit den
MDGs hat daher auch das Prinzip der Geberharmonisierung
eine neue Qualität und Verbindlichkeit erfahren.
Um die Entwicklungsländer von der Vielzahl unterschiedlicher, komplizierter Verfahrensfragen zu entlasten und die
Strukturen der Partnerländer zu stärken, fordert die ParisErklärung eine bessere Abstimmung zwischen den Geberorganisationen. Die Vorgehensweise bei der Planung und Umsetzung von Fördermaßnahmen soll harmonisiert werden. Darüber hinaus sollen sich alle Geber in eine sinnvolle, aus den
Partnerstrategien abgeleitete Arbeitsteilung einfügen. Dieses
Prinzip ist grundsätzlich richtig, stellt aber in der Praxis eine
große Herausforderung dar, denn die erforderliche Abstimmung kostet viel Zeit. Erste Erfahrungen mit gemeinsamen
Länderstrategien der Geber (so genannten Joint Assistance Strategies) zeigen, dass der Zeit- und Ressourcenaufwand hoch ist.
Da aber auch mangelnde Kooperation zu hohen Transaktionskosten führt, gibt es zu einer stärkeren Geberharmonisierung
letztlich keine Alternative. Zudem werden mit zunehmenden
Erfahrungen und gemeinsamen Grundlagen auch die Abstimmungsprozesse leichter werden.
89
Für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat das
Thema Harmonisierung angesichts der sehr differenzierten
Strukturen auf der Durchführungsebene eine besondere Relevanz. Denn im Gegensatz zu vielen anderen Gebern verfügt
Deutschland über eine sehr komplexe Organisationslandschaft. Die unterschiedlichen Instrumente wie Finanzielle Zusammenarbeit (FZ), die Technische Zusammenarbeit (TZ) und
TZ im weiteren Sinne haben zwar alle ihre spezifischen Stärken. Damit sie optimal zusammenwirken und Synergien erzielen, ist aber ein hoher Abstimmungsaufwand erforderlich.
In der Praxis funktioniert dieses Zusammenspiel nicht immer
optimal. Darüber hinaus liegt es in der Natur von Institutionen, auch eigene Interessen zu verfolgen. Dies erschwert die
übergeordnete entwicklungspolitische Steuerung. Die Bundesregierung hat daher im Koalitionsvertrag die stärkere Zusammenführung von TZ und FZ vereinbart und entsprechende
Maßnahmen eingeleitet.
Die Wirksamkeit der EZ als
entscheidendes Qualitätsmerkmal
Die Prinzipien der Partnerorientierung und Geberharmonisierung haben auch erhebliche Auswirkungen auf ein weiteres
zentrales Element der Millenniums-Agenda: die Wirkungsorientierung der EZ. Diese hat mit der Formulierung messbarer und damit auch überprüfbarer Zielmarken für die Armutsbekämpfung einen zentralen Stellenwert erhalten. Oberstes Ziel aller Konferenzen und Beschlüsse, die im Kontext der
Millenniumsziele stehen, ist die Verbesserung der Lebensbedingungen der armen und benachteiligten Menschen. Das bedeutet, dass die Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit
nicht an den investierten Mitteln, sondern an den damit tatsächlich erzielten Wirkungen gemessen werden müssen. Dies
90
ist vom Grundprinzip her unmittelbar einleuchtend, aber nicht
leicht umzusetzen.
Wirkungszusammenhänge sind komplex und das Ergebnis von Entwicklungsvorhaben ist immer das Resultat gemeinsamer Anstrengungen von Partnerland und Geberorganisationen. Je mehr die Prinzipien der Partnerorientierung
und Geberkooperation umgesetzt werden, desto weniger ist
es sinnvoll und möglich, Erfolge einzelnen EZ-Organisationen
zuzuschreiben. Auch die zunehmende Nutzung neuer Instrumente wie Budgetfinanzierung oder die Durchführung gemeinschaftlicher Programme durch mehrere Geber erschweren
die Abgrenzung von Wirkungsbeiträgen. Zudem ändert sich
der gesamte Fokus der Wirkungsbeurteilung. Im Zentrum der
Betrachtung stehen die Entwicklungserfolge der Partner und
deren Informationsbedarf für eine angemessene Steuerung ihrer Programme sowie für die Rechenschaftslegung gegenüber
ihren Parlamenten und der Zivilgesellschaft. Auch das Wirkungsmonitoring muss daher – wie in der Paris-Erklärung gefordert – in der Verantwortung der Entwicklungsländer selber
liegen.
Gleichzeitig besteht in den Geberländern – befördert durch
die MDGs als messbare Zielgrößen – ein starkes Interesse von
Parlamenten und Öffentlichkeit, den Wirkungsbeitrag ihres
Landes zu erfahren. Die dafür erforderlichen Daten zu Entwicklungsfortschritten in den Partnerländern werden aber
von nationalen Institutionen noch zu wenig erfasst und bereitgestellt, so dass Geberorganisationen dazu tendieren, für
»ihre« Fördermaßnahmen eigene Erhebungen durchzuführen.
Hier besteht ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen
Ansprüchen, das von zwei Seiten gelöst werden muss: Einerseits müssen die nationalen Monitoring-Systeme zur Datenerfassung in den Partnerländern verbessert werden, damit sich
die Geber hierauf hinsichtlich ihres Informationsbedarfs stützen können. Andererseits muss aber auch der Anspruch an den
»Wirkungsnachweis« auf ein realistisches Maß gebracht wer91
den. Auf diesem Gebiet werden gerade an die Entwicklungszusammenarbeit mit ihren sehr komplexen Aufgabenstellungen und Rahmenbedingungen Anforderungen gestellt, die in
kaum einem anderen Politikfeld üblich sind – und auch dort
wenig umsetzbar wären.
Einigkeit besteht in der internationalen Diskussion, dass
eine exakte Quantifizierung und Zuordnung des Wirkungsbeitrags einzelner Geber zu nationalen Entwicklungszielen, wie
beispielsweise der Armutsbekämpfung und den MDGs, weder
sinnvoll noch möglich ist. Darüber hinaus besteht Konsens,
dass die Ebene des einzelnen Vorhabens bei einer Wirkungsbeurteilung, die auch Bezug auf solche übergeordneten Entwicklungsziele nehmen soll, nicht ausreicht. Als unit of account
muss daher wesentlich stärker die Länderebene in den Blick
genommen werden. Hinzu kommt, dass viele Wirkungen, vor
allem auf struktureller Ebene, erst mittel- bis langfristig eintreten. Die Überprüfung der tatsächlich erreichten – und nicht nur
der geplanten, erhofften und vermuteten – Wirkungen bleibt
noch immer sehr unzureichend. Ohne eine solche Verifizierung
bleibt die Wirkungsorientierung aber letztlich bei der Formulierung guter Absichten stehen.
Mit der Verschiebung der Referenzziele und der Referenzebenen (also weg vom einzelnen Projekt, hin zu einer aggregierteren Betrachtung) in der Wirkungsanalyse gehen methodische Fragestellungen einher, die auch international noch
nicht befriedigend beantwortet sind. Das enthebt die deutsche
EZ – wie alle anderen Geber auch – aber nicht der Verpflichtung, ihren Beitrag zur Erreichung der MDGs zu erfassen und
hierüber zu berichten. Die Transparenz von Entwicklungsanstrengungen und -erfolgen ist ein zentrales Element der Millenniums-Agenda. Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um den
gesellschaftlichen Druck und den politischen Willen für die Erreichung der Ziele zu verstärken.
Um die Entwicklungszusammenarbeit – auf internationaler und nationaler Ebene – in dem erforderlichen Maß auf eine
92
stärkere Wirksamkeit auszurichten, ist ein umfassender Ansatz notwendig. Dieses Prinzip des Managing for Development
Results (MfDR) wurde auf der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung 2002 in Monterrey erstmals formuliert, und es ist
ein Kernelement der Paris-Erklärung. Damit ist es für Partnerwie Geberländer ein wesentliches und verbindliches Qualitätsmerkmal ihrer Arbeit geworden. MfDR umfasst alle Ebenen der
Entwicklungszusammenarbeit (Land, Sektor und Vorhaben)
sowie alle Phasen, also Planung, Implementierung und Evaluierung. Der Ansatz impliziert den Grundsatz der Partnerorientierung und Geberharmonisierung. Zielsetzung von MfDR ist
es, das institutionelle Lernen zu verbessern, um die Wirksamkeit der EZ zu erhöhen. Es dient außerdem dazu, über diese
Wirksamkeit Rechenschaft ablegen zu können. MfDR erfordert
eine umfassende Ausrichtung der Verfahren und Instrumente
auf Wirkungen sowie die Einrichtung einfacher, kosteneffizienter und nutzerfreundlicher Monitoring- und Berichtssysteme, die auf den diesbezüglichen Strukturen der Partnerländer aufbauen sollen.
Diese grundsätzlichen Anforderungen setzen auch den
Rahmen für eine Verstärkung der Wirkungsorientierung in der
deutschen EZ, die aufgrund ihrer sehr diversifizierten Struktur
vor besonderen Herausforderungen steht. Alle deutschen EZOrganisationen haben zwar in den vergangenen Jahren große
Anstrengungen unternommen, um ihre Arbeit wirkungsorientierter zu gestalten. Dabei sind sie allerdings immer noch sehr
stark auf die Ebene einzelner Vorhaben fokussiert. Es können
zurzeit kaum fundierte Aussagen darüber getroffen werden,
welchen Wirkungsbeitrag die deutsche Entwicklungszusammenarbeit insgesamt zu den Entwicklungsfortschritten eines
Partnerlandes in bestimmten Sektoren oder Schwerpunkten
leistet. Dies erfordert, über die Wirkungsbeurteilung auf der
Ebene einzelner Projekte hinauszukommen und die Verfahren
und Instrumente der Wirkungsanalyse stärker zu harmonisieren. Dabei kommt den Schwerpunkten der deutschen EZ im
93
Partnerland eine zunehmende Bedeutung zu. Hier müssen die
verschiedenen Instrumente der EZ zusammenwirken und Synergien entfalten. Gemeinsam mit den Durchführungsorganisationen arbeitet das BMZ daher daran, das Instrumentarium zur
Wirkungsanalyse weiterzuentwickeln.
Darüber hinaus müssen auch die Planungs- und Steuerungsinstrumente konsequent wirkungsorientiert gestaltet werden.
Entsprechende Anpassungen der Länder- und Sektorkonzepte
sowie der Schwerpunktstrategiepapiere sind in Arbeit. Um die
Effizienz der deutschen EZ zu erhöhen, die Kräfte stärker zu
bündeln und die eigenen komparativen Stärken besser zu nutzen, wird die bereits eingeleitete Länderkonzentration und inhaltliche Schwerpunktsetzung fortgesetzt.
Eine an den internationalen Zielvorgaben ausgerichtete
Wirkungsorientierung erfordert auch eine systematische Verankerung der MDGs in der deutschen Entwicklungspolitik.
Das entscheidende Instrument sind hier die Zielvereinbarungen des BMZ, die seit 2004 die mittelfristige und die kurzfristige (Jahres-) Planung auf allen Ebenen des Ministeriums
bestimmen. In diesen Zielvereinbarungen werden die MDGs
je nach Aufgabenstellung der Arbeitseinheiten berücksichtigt
und operationalisiert.
Allerdings brauchen solche Anpassungen immer eine gewisse Zeit und müssen von denjenigen, die sie umzusetzen
haben, auch absorbiert werden können. Es müssen möglichst
viele der Betroffenen an den Prozessen beteiligt werden, um
alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen. Die Belange
der Partner sind in diesem Kontext ebenfalls ein wichtiger
Faktor. Auch in den Entwicklungsländern werden Veränderungen meist nicht von heute auf morgen umgesetzt. Die deutsche EZ kann nicht unabhängig von den Partnern agieren und
muss sich auf deren Veränderungsprozesse einstellen. Hinzu
kommt, dass gerade im Kontext der Millenniums-Agenda auf
internationaler Ebene ein sehr dynamischer Prozess in Gang
gesetzt wurde, der immer wieder neue konzeptionelle und
94
strategische Anpassungen erfordert. Work in progress ist daher
kein Schlagwort oder Vorwand für ein mangelndes Reformtempo, sondern das tägliche Brot der Entwicklungszusammenarbeit, die sich in einem sehr komplexen Gefüge verschiedener
Akteure und Anforderungen bewegt. Unterschiede zwischen
Theorie und Praxis sind daher ein unvermeidlicher Bestandteil
organisationeller Veränderungsprozesse, auch in der EZ.
Politikkohärenz als Voraussetzung
für erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit
Die Umsetzung der Millenniums-Agenda und der MDGs erfordert aber nicht nur Veränderungsprozesse innerhalb der
deutschen EZ, sondern nimmt alle politischen Akteure in die
Pflicht. Die MDGs sind eine Vorgabe für die Gesamtpolitik,
sprich Armutsbekämpfung ist nicht mehr nur Aufgabe des für
Entwicklungspolitik zuständigen Ministeriums. Die internationalen Entwicklungsziele sind nur durch ein kohärentes Zusammenwirken von Entwicklungspolitik mit Außen-, Sicherheits-,
Finanz-, Handels-, Agrar- und Umweltpolitik erreichbar.
Das Aktionsprogramm 2015 zur Armutsbekämpfung ist daher bewusst ressortübergreifend angelegt und dient als Instrument, entsprechend kohärentes und abgestimmtes Vorgehen
aller Politikfelder einzufordern. Das Programm bekräftigt Armutsbekämpfung als Querschnittsaufgabe der gesamten Bundesregierung und als Kernaufgabe der deutschen Entwicklungspolitik.
Das Aktionsprogramm strebt außerdem eine enge Zusammenarbeit mit Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft an. Die
MDGs sind nicht nur ein gemeinsamer Referenzrahmen für
die Kooperation von Industrie- und Entwicklungsländern,
sondern auch für staatliche Organisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Rollen
und Mandate sind diese doch auf die gleichen Ziele verpflich95
tet. Nichtregierungsorganisationen sind kritische Beobachter
der staatlichen EZ und wichtige Akteure bei der Umsetzung
zentraler Forderungen der Entwicklungspolitik, die speziell
mit MDG 8 eine stärkere Legitimation bekommen haben. Das
Zustandekommen des ODA-Stufenplans der EU und die erweiterte Entschuldungsinitiative des G8-Gipfels von Gleneagles im Jahr 2005 sind sicherlich auch dem starken öffentlichen
Druck zu verdanken.
Die staatliche EZ unterstützt die entwicklungspolitische
Arbeit zivilgesellgesellschaftlicher Organisationen und führt
mit ihnen einen intensiven Dialog. Eine Herausforderung für
die kommenden Jahre wird es sein, auch diesen Dialog den
neuen Fragestellungen und Aufgaben anzupassen. Die durch
die Millennium-Erklärung, die MDGs und die Paris-Erklärung
formulierten Prinzipien wie Partnerorientierung, Geberharmonisierung, Wirkungsorientierung und Kohärenz sind grundlegende Qualitätskriterien der EZ insgesamt, gleich welchen
Typs.
Fazit
Viele Aspekte der Millenniums-Agenda sind nicht völlig neu,
sondern haben sich sukzessive aus den Erfahrungen früherer
Jahre entwickelt. Eine radikale Abkehr von der bisherigen Praxis ist daher weder sinnvoll noch erforderlich. Es darf aber auch
nicht zu einer reinen »Umetikettierung« der Maßnahmen kommen. Es ist verlockend zu glauben, dass Partnerorientierung,
Wirkungsorientierung, Kohärenz und Armutsbekämpfung bereits ausreichend in der EZ verankert sind, weil sich alles, was
gemacht wird, »irgendwie« diesen Kategorien zuordnen lässt.
Doch damit würde die Chance vertan, die EZ strategischer und
wirksamer zu gestalten.
In der EZ – und nicht nur da – gibt es selten einfache Lösungen. Die Herausforderungen, die mit den MDGs einherge96
hen, sind wesentlich komplexer, als dies auf den ersten Blick
erscheint. Wer etwas verändert, betritt Neuland. Welche Erfahrungen mit neuen Ansätzen gemacht werden, kann erst nach
einiger Zeit wirklich beurteilt werden. Das Verharren in alten
Mustern ist jedoch keine Alternative.
Bei allen Veränderungsprozessen muss immer berücksichtigt werden, dass Verfahrensaspekte keinen Selbstzweck haben. Die Umsetzung der Millenniums-Agenda ist nicht in erster Linie eine technische oder administrative Herausforderung.
Was am Ende wirklich zählt, ist die Bekämpfung von Armut
und die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter
Menschen.
Literatur
BMZ, 2001: Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe. Aktionsprogramm 2015, Bonn.
BMZ, 2004: Auf dem Weg zur Halbierung der Armut: 2. Zwischenbericht
über den Stand der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015. Bonn.
BMZ, 2005a: Der Beitrag Deutschlands zur Umsetzung der MillenniumsEntwicklungsziele. Bonn.
BMZ, 2005b: Mehr Wirkung erzielen. Die Ausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit auf die Millenniums-Entwicklungsziele.
Die Umsetzung der Paris Declaration on Aid Effectiveness. Bonn.
97
MICHÈLE ROTH
Armutsbekämpfung
durch Massenmobilisierung?
Die Kampagnen zu den
Millennium-Entwicklungszielen
Dass die Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) nicht wie andere wohlgemeinte internationale Absichtserklärungen in der Versenkung verschwunden
sind, sondern mehr und mehr an öffentlicher Aufmerksamkeit
gewinnen konnten, liegt neben dem Impuls durch die Jahrtausendwende, dem wachsenden Problemdruck und der Griffigkeit der formulierten Ziele auch an einer weltweit betriebenen,
breit angelegten Mobilisierung für die MDGs.
Frühere Kampagnen zu globalpolitischen Anliegen haben gezeigt, welche Wirkung die durch die modernen Informations- und Kommunikationstechnologien erst möglich gewordene weltumspannende Aktivierung und Vernetzung von
gleichgesinnten Kräften haben kann. Prominente Beispiele sind
die internationale Kampagne für das Verbot von Landminen
und die Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof.
Im entwicklungspolitischen Bereich ist eine derart breitenwirksame Mobilisierung, wie sie zurzeit für die MDGs stattfindet,
ein Novum. Als Vorläuferin kann allenfalls die Jubilee 2000Bewegung angesehen werden, die weltweit über 50 Kampagnen und Bündnisse vereinte und einen weit reichenden Schuldenerlass für die armen Länder bis zum Jahr 2000 sowie ein
»internationales Insolvenzrecht« forderte. Die deutsche Kampagne erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung, die bis
heute fortgeführt wird, vereint über 1.000 Organisationen.
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Zwischen Kooperation und Konkurrenz:
die MDG-Kampagnen
Während die genannten Kampagnen das alleinige »Dach« für
ihr jeweiliges Anliegen bildeten, zeigt sich bei den MDGs eine
bunte Kampagnenlandschaft mit mindestens drei Hauptsträngen, die unterschiedlich stark miteinander verwoben sind. Zunächst ist die »offizielle« Kampagne der Vereinten Nationen,
die Millennium Campaign, zu nennen. Die Nichtregierungsorganisationen (NGOs) haben ihre Aktivitäten unter dem Slogan
Global Call to Action Against Poverty gebündelt. Und schließlich
werben private Initiativen prominenter Persönlichkeiten aus
dem Showbusiness für die MDGs – allen voran Bob Geldof mit
seinen Live8-Konzerten.
Werbung in eigener Sache:
die Millennium Campaign der Vereinten Nationen
Die Vereinten Nationen lancierten ihre Millennium Campaign
im Oktober 2002, gut ein Jahr nachdem Kofi Annan in seinem
Bericht »Road map towards the implementation of the United
Nations Millennium Declaration« (2001) alle acht MDGs mit
ihren Zielvorgaben und Indikatoren erstmals aufgelistet hatte.1
Die Kampagne ist beim UN-Entwicklungsprogramm (UNDP)
angesiedelt und wird aus einem Treuhandfonds finanziert. Das
»Gesicht« der Kampagne ist die ehemalige niederländische
Entwicklungsministerin Eveline Herfkens, die vom UN-Generalsekretär zur Sonderbeauftragten für die Millennium Campaign ernannt wurde. Ihre Arbeit wird durch ein kleines Sekretariat unterstützt.
1
Informationen zur Millennium Campaign der Vereinten Nationen finden
sich unter www.millenniumcampaign.org. Die deutsche Millennium Campaign präsentiert sich unter www.millenniumcampaign.de.
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Hauptziel der Kampagne ist es nach eigener Angabe, die
Bürger dabei zu unterstützen, ihre Regierungen aufzufordern,
über das Millennium-Versprechen Rechenschaft abzulegen.
Dieses Ziel fußt auf der Annahme, dass das Know-how und
die Mittel zur Umsetzung der MDGs vorhanden sind und es
allein am Willen der politischen Elite mangelt, ihr Versprechen
zu erfüllen. Als Partner, die die Kampagne unterstützen und
mobilisieren will, werden zivilgesellschaftliche und religiöse
Gruppen, Jugendliche und Kinder, Parlamentarier und lokale
Behörden, Gewerkschaften und Medien, Prominente sowie die
allgemeine Öffentlichkeit genannt. Mit einer Vielzahl von Anregungen und weltweiten Aktionen sollen sie zum Mitmachen
animiert werden. So wurde beispielsweise ein »Campaigning
Toolkit« erstellt, das eine umfassende Anleitung zur Planung
und Durchführung eigener Kampagnen bietet und Beispiele
für gelungene Aktionen präsentiert. Auf dem Plan stehen auch
Brief- und Postkartenaktionen und ein Weltrekordversuch, der
am 15./16. Oktober 2006 – dem Aufruf »STAND UP Against
poverty« folgend – erzielt werden soll.
Um öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, arbeitet die
Kampagne mit Prominenten wie der Sängerin Shakira, dem
Schauspieler Michael Douglas oder dem Nobelpreisträger Elie
Wiesel zusammen, die in Video-Clips – auch versendbar als
elektronische Postkarte – unter dem Motto »Only with your
voice« die Zuschauer dazu aufrufen, ihre Regierungen an das
Millennium-Versprechen zu erinnern.
Neben der direkten Ansprache der Zielgruppen hat die Millennium Campaign nach eigenen Angaben ca. 60 nationale MDGKampagnen angestoßen. Zum überwiegenden Teil handelt es
sich dabei allerdings um zivilgesellschaftliche Verbünde, die
sich selber der Global Call to Action Against Poverty-Bewegung
zurechnen. Entsprechend verwenden nur manche – wie die
deutsche oder die italienische Millennium Campaign2 – auf ihrer
2
www.millenniumcampaign.it
100
Website die gleichen Logos, Werbeslogans und Textbausteine
wie die UN-Kampagne. Andere sind lose oder gar nicht mit
der UN-Kampagne verbunden. Neben der Beteiligung an globalen Aktionen führen die nationalen Kampagnen individuell
lokale Aktivitäten durch und setzen eigene Schwerpunkte. In
den Entwicklungsländern liegt der Fokus überwiegend auf der
Überwachung nationaler Armutsreduzierungs-Strategien und
nationaler Budgets, aber auch fairere internationale Handelsbedingungen sind ein zentrales Thema. In den Industrieländern
bilden die im MDG 8 formulierten Forderungen nach Erhöhung der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, Schuldenerlassen und fairen Handelsbedingungen den Schwerpunkt.
Die deutsche Millennium Campaign – finanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), der UN-Kampagne sowie privaten Sponsoren
und geleitet von Renée Ernst – wurde 2005 lanciert. Sie zielt
vor allem auf die Mobilisierung junger Menschen. Dazu wurden unter anderem spezielle »Only with your voice«-Clips mit
der deutschen Band »Wir sind Helden« und dem Sänger »Gentleman« produziert, die auf MTV Deutschland ausgestrahlt
werden. Auch mit einem bunten Strauss weiterer Aktivitäten
macht die Kampagne auf die MDGs aufmerksam. So war sie
mit Ausstellungen, Filmen, Konzerten und Gesprächen bei der
Nacht der Museen 2006 in Frankfurt/Main präsent, erarbeitete in einem Workshop mit dem Titel »Young Artists united
for the UN-Millennium Development Goals« ein Theaterstück
zu den MDGs, führte in Bonn ein Radioprojekt mit Schülern
durch, organisierte einen »Beats&Lyrics Contest« oder ernennt
MDG-Schülerbeauftragte. Der vielleicht bekannteste Baustein
der Kampagne sind die »UN-Millennium-Gates« des italienischen Architekten Luca Cipelletti, die seit Juli 2005 durch die
Fußgängerzonen deutscher Städte touren und »spielerisch die
ernsten Inhalte der MDGs« vermitteln sollen. Jedes der acht
Tore, gebildet aus einem mit einem Banner verbundenen Figurenpaar, illustriert ein MDG.
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Neben zivilgesellschaftlichen Organisationen mobilisierte
die UN-Kampagne auch andere Zielgruppen. So startete etwa
die transnationale Vereinigung United Cities and Local Governments (UCLG) unter dem Motto »2015: No excuse! The world
must be a better place« die Millennium Cities and Towns Campaign und verabschiedete eine »Local Government Millennium
Declaration«, die die Rolle lokaler Behörden bei der Umsetzung der MDGs betont und dazu aufruft, den MDGs höchste
Priorität einzuräumen.3
Die UN Millennium Campaign wirbt uneingeschränkt für die
MDGs; zumindest auf internationaler Ebene ist augenscheinlich weder eine vertiefende Vermittelung der komplexen Entwicklungsproblematik beabsichtigt noch eine kritische Auseinandersetzung mit den Zielen gewünscht (vgl. den Beitrag
von Herfkens/Bains). Stattdessen ist eine Tendenz erkennbar,
die MDGs zu überhöhen, indem etwa auf der Website der UNKampagne damit geworben wird, dass die extreme Armut auf
dem Planeten durch das Erreichen der MDGs bis 2015 beendet
würde. »Unser Versprechen ist einfach: Wir sind die erste Generation, die die extreme Armut in der Welt beseitigen kann,
und wir weigern uns, diese Gelegenheit zu verpassen«, so der
Werbeslogan, der zu vergessen scheint, dass bereits das vereinbarte Ziel der Halbierung der Armut nur noch noch mit massiv
verstärkten Anstrengungen erreicht werden kann. Die deutsche Millennium Campaign argumentiert hier wesentlich differenzierter und verweist etwa darauf, dass die Halbierung der
Armut auf globaler Ebene dank enormer Fortschritte in China
und Indien zwar erreicht werden dürfte, dass es aber darum
gehen müsse, Menschen auf der ganzen Welt ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen.
Die UN-Kampagne arbeitet eng mit den Initiatoren des Global Call to Action Against Poverty zusammen. Beide Kampagnen
haben sich auf das weiße Band (als Arm- oder Stirnband oder
3
www.cities-localgovernments.org/uclg
102
als Band um bekannte Gebäude etc.) als Symbol für den Kampf
gegen die Armut verständigt. Gemeinsame Aktionstage, so genannte »White Band Days«, bilden in unregelmäßigen Abständen einen Höhepunkt der Aktivitäten (siehe unten).
Vom eigenen Erfolg überrascht:
der Global Call to Action Against Poverty
Über 900 zivilgesellschaftliche Organisationen und Zusammenschlüsse aus über 80 Ländern, die zusammen mehr als
150 Mio. Menschen repräsentieren, haben sich bis dato dem
Global Call to Action Against Poverty (GCAP) mit dem langfristigen Ziel, der Armut ganz ein Ende zu setzen, angeschlossen.
Die nach einem ersten Planungstreffen in Johannesburg im
September 2004 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre (Januar 2005) lancierte Allianz sollte ursprünglich lediglich einer
gemeinsamen Mobilisierung rund um die entwicklungspolitischen Großereignisse des Jahres 2005 dienen. Nach eigener
Aussage entwickelte sich der GCAP jedoch binnen Jahresfrist
zur größten globalen Anti-Armuts-Bewegung, die es jemals gegeben hat. An den drei »White Band Days« hätten sich insgesamt über 36 Mio. Menschen beteiligt. Überrascht von diesem
Erfolg wurde auf einem Planungstreffen in Beirut beschlossen,
den Aufruf zu erneuern und die gemeinsamen Aktivitäten bis
ins Jahr 2007 weiterzuführen (GCAP 2006).
Über die generelle Unterstützung der MDGs hinaus haben
sich die unter dem Dach des GCAP vereinten, sehr heterogenen
Organisationen auf vier zentrale Forderungen verständigt:
• gute Regierungsführung und die Durchsetzung der Menschenrechte,
• gerechter Welthandel,
• umfassende Schuldenerlasse für arme Länder sowie
• eine deutliche Steigerung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit und zwar quantitativ wie qualitativ.
103
Auch diese Kampagne ist dezentral und subsidiär organisiert, das heißt alle beteiligten Organisationen und nationalen
Kampagnen führen ihre eigenen Aktivitäten durch, verbunden durch das gemeinsame Symbol des weißen Bandes und
weltweite Aktionstage. Koordiniert wird der GCAP durch ein
Global Action Forum, das allen interessierten Organisationen offen steht und regelmäßigen Austausch über eine E-Mail-Liste
pflegt, sowie eine kleinere International Facilitation Group (ab
2006 International Facilitation Team), die aus regionalen Repräsentanten und Vertretern der wichtigsten international aktiven
Organisationen zusammengesetzt ist. Höhepunkte im ersten
Kampagnenjahr waren die drei »White Band Days« rund um
die drei entwicklungspolitischen Großereignisse des Jahres.
Auffälligstes Merkmal des ersten »White Band Day« am
1. Juli 2005 war die Anbringung riesiger weißer Bänder an weltberühmten Gebäuden wie dem Brandenburger Tor, der Harbour Bridge in Sydney oder den Trocadero-Gebäuden vor dem
Pariser Eiffelturm. Es folgte eine Aktionswoche, die mit einem
Demonstrationsmarsch in Edinburgh – parallel zum G8-Gipfel
– unter dem Motto »Long Walk to Justice« endete. Der zweite
»White Band Day« am 10. September sollte dazu dienen, die
zum Millennium+5-Gipfel reisenden Regierungschefs »aufzuwecken« und an ihr Millennium-Versprechen zu erinnern.
In Deutschland bekam Bundeskanzler Gerhard Schröder am
9. September 300.000 Unterschriften überreicht, die die deutsche Kampagne bis dahin gesammelt hatte. Vor dem Reichstag wurde ein 800 Meter langes weißes Band ausgelegt. Die
Forderung nach fairen Handelsbedingungen stand schließlich
im Mittelpunkt des dritten »White Band Day«, der am 10. Dezember stattfand, wenige Tage vor der Ministerkonferenz der
Welthandelsorganisation (WTO) in Hongkong. In Deutschland
bekamen politische Entscheidungsträger an diesem Tag Besuch vom Nikolaus, der handelspolitische Forderungen überbrachte.
104
Für 2006 ist ein »Mobilisierungsmonat« geplant, der am
16. September mit den Jahrestagungen von Internationalem
Währungsfonds (IWF) und Weltbank beginnen und am 17. Oktober, dem Internationalen Tag der Ausrottung der Armut, mit
einem weltweiten »White Band Day« enden soll. Höhepunkte
der Aktionen 2007 werden der G8-Gipfel in Deutschland und
die »Halbzeit« der MDGs sein (gedacht wird an das eingängige
Datum 07/07/07).
Das deutsche GCAP-Aktionsbündnis Deine Stimme gegen Armut wird getragen und finanziert vom Verband Entwicklungspolitik deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO)
und von Herbert Grönemeyer und Freunden. Die deutschen
NGOs haben sich damit – wie andere nationale GCAP-Kampagnen, die im angelsächsischen Raum und darüber hinaus
mit dem inzwischen weltbekannten Slogan »Make Poverty
History« auftreten – für die Zusammenarbeit mit Prominenten
entschieden, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen. Allerdings mussten die deutschen NGOs erst »zum Jagen getragen« werden. Meinungsunterschiede über die MDGs, über
das geeignete Verhältnis zwischen Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit sowie Skepsis über die eigenen Fähigkeiten zur Massenmobilisierung hatten zunächst überwogen. Insbesondere die
Zusammenarbeit mit Herbert Grönemeyer kam erst auf Druck
britischer NGOs sowie des U2-Sängers Bono zustande. Über
die Beweggründe der britischen Partner lässt sich freilich spekulieren:
»Inwieweit es sich dabei um genuin zivilgesellschaftliche
Initiativen gehandelt hat oder auch um solche, die von der
britischen Regierung (mit)beeinflusst worden waren, um
den wegen des Irak-Desasters bedrängten Premierminister
Tony Blair zu entlasten und günstige Voraussetzungen für
einen erfolgreichen G8-Gipfel unter britischer Präsidentschaft zu schaffen, bleibt Spekulation.« (Hermle 2006, 37).
Am 31. März 2005 trat Deine Stimme gegen Armut erstmals mit
einer Pressekonferenz in die Öffentlichkeit, bei der gemeinsam
105
mit Herbert Grönemeyer ein Werbespot mit prominenten Unterstützern präsentiert wurde. Alle drei Sekunden schnippt ein
ganz in weiß gekleideter Prominenter – von Claudia Schiffer
über Anne Will, Xavier Naidoo, Bono bis zu Grönemeyer selbst
– mit den Fingern, um darauf aufmerksam zu machen, dass alle
drei Sekunden ein Kind an den Folgen extremer Armut stirbt.
Als letztes Bild erscheint ein ärmlich gekleideter, schwarzer
Junge.4 Der Spot wurde in den folgenden Monaten im deutschen Privatfernsehen, in Kinos und auch an anderen Orten
– zum Beispiel in Mediamarkt-Filialen – ausgestrahlt. Ein weiterer Spot mit Fußballstars wurde vor Spielen der Bundesliga in
Fußballstadien gezeigt. Nach einer – allerdings nicht repräsentativen – Befragung durch Studierende der Universität Münster hat sich jeder Vierte nach Betrachten des Spots mit anderen
darüber unterhalten (Bonse et al. 2006, 372). Deine Stimme gegen
Armut richtete sich auch wiederholt mit ganzseitigen Anzeigen
in Nachrichtenmagazinen und Zeitungen an die Regierenden
und erinnerte sie an ihre Versprechen. Die Aktion präsentierte
sich auf Popkonzerten, bei der Musikmesse Popkomm oder
beim Weltjugendtag. Auch die Fußball-WM im Sommer 2006
wurde für vielfältige Aktionen genutzt. Auf der Fanmeile in
Berlin war Deine Stimme gegen Armut mit einer Torwand präsent, deren acht Tore die acht MDGs symbolisierten.
Eine besondere Herausforderung für die deutsche Kampagne stellt der G8-Gipfel 2007 dar, der unter deutschem Vorsitz in Heiligendamm stattfinden wird. Erklärtes Ziel ist es
dazu beizutragen, mit dem Gipfel ein »historisches Zeichen
für die Armutsbekämpfung« zu setzen. Die in einem VENROPositionspapier (siehe unten) formulierten Teilthemen sollen
4
Aus feministischer Perspektive wurde der Spot als Ausdruck »weiße[r],
westlicher[r] und männliche[r] Überlegenheitsphantasien« kritisiert: »Armut – so lautet die Botschaft dieses Werbefilms – ist ein schwarzes Loch;
Armut, das ist der sprichwörtliche ›schwarze Kontinent‹, der die Befehlsgewalt des weißen Subjekts herausfordert und seine Definitionsmacht bestätigt.« (Mathes 2005, 174).
106
sich auf der G8-Tagesordnung wiederfinden. Um diese Ziele
zu erreichen, wurde eine intensivere Zusammenarbeit mit Herbert Grönemeyer vereinbart, die ab September 2006 in einem
gemeinsamen Aktions-Büro in Berlin ihren Ausdruck finden
wird. Im Vorfeld des Gipfels sollen unter anderem 1 Mio. Unterschriften gesammelt, eine konzertierte Briefaktion der Kampagnenpartner aller G8-Staaten an die deutsche Bundesregierung organisiert und eine Veranstaltungsreihe zur Diskussion
von G8-Themen durchgeführt werden. Auch ist ein neuer
Kampagnen-Spot in Planung. Als mögliche Aktionen während
des Gipfels sind eine von Grönemeyer organisierte Kulturveranstaltung, ein Alternativgipfel in Rostock, eine internationale
Großdemonstration und Blockadeaktionen im Gespräch.
Inhaltlich konzentriert sich die deutsche Kampagne auf die
im MDG 8 nicht mit quantifizierten Zielvorgaben versehenen,
an die Industrieländer gerichteten Forderungen nach mehr
und besserer Entwicklungszusammenarbeit, Entschuldung
und fairen Handelsregeln. Dabei belässt es die Aktion nicht bei
den zwar medial wirksamen, aber einfachen Schlagwörtern. In
einem im Juni 2005 erstmals präsentierten und 2006 aktualisierten Positionspapier formulierte VENRO erst elf, später zwölf
gemeinsame Forderungen der NGOs, die zugleich eine kritische Auseinandersetzung mit den MDGs darstellen. So dürften die MDGs nicht als Ersatz für den umfassenderen Ansatz
einer ökologisch tragfähigen und sozial gerechten Entwicklung verstanden werden (VENRO 2006, 1). Die NGOs fordern
von der Bundesregierung unter anderem einen an den Menschenrechten orientierten Ansatz der Armutsbekämpfung, die
Demokratisierung internationaler Organisationen, verstärkte
Krisenprävention als wichtiges Mittel der Armutsbekämpfung, ein wirksames Vorgehen gegen Steueroasen und internationale Steuerkonkurrenz sowie mehr Engagement beim Klimaschutz. Das Papier war 2005 Gegenstand von Gesprächen
mit dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler, mit Abgeordneten, Parteien und Vertretern von Ministerien.
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Show oder Politik?
Privatinitiativen prominenter Persönlichkeiten
Neben der UN- und der NGO-Kampagne versuchen prominente Einzelpersonen, die Massen für Armutsbekämpfung zu
mobilisieren. Die derzeit bekanntesten Protagonisten solcher
Privatinitiativen sind die Popstars Bob Geldof und Bono von
U2. Geldof hatte bereits 1984 das Projekt Band Aid ins Leben gerufen, um mit einer Vielzahl auf einer Single vereinten Popgrößen für die Opfer einer damaligen Hungersnot in Äthiopien
Geld zu sammeln. 1985 organisierte er zum gleichen Zweck
das Benefiz-Konzert Live Aid, das bis dato größte Rockkonzert der Geschichte, das parallel in London und Philadelphia
stattfand. Auch die am 2. Juli 2005 – im Vorlauf des G8-Gipfels – von Geldof zusammen mit Bono veranstalteten weltumspannenden Live8-Konzerte sind in dieser Tradition zu sehen.
Allerdings wurde dieses Mal ausdrücklich kein Geld gesammelt: »Wir wollen nicht euer Geld, wir wollen eure Stimme«,
so das von Geldof ausgegebene Motto. Insgesamt wurden über
30 Mio. »Stimmen« – überwiegend per SMS – gesammelt und
von den Veranstaltern den Regierungschefs der G8 übergeben.
Damit sollten diese zu einem Schuldenerlass für die armen
Länder gedrängt werden.
Nahezu zeitgleich fanden Konzerte in allen G8-Mitgliedstaaten sowie in Südafrika statt; letzteres allerdings erst aufgrund
von Protesten, es handele sich um eine reine »Nord«-Veranstaltung. Austragungsorte der Konzerte waren Barrie (bei Toronto), Berlin, Johannesburg, London, Moskau, Paris, Philadelphia, Rom und Tokio sowie – als kurzfristig hinzugefügte Sonderaktion unter dem Motto »Africa Calling« – in Cornwall (mit
afrikanischen Künstlern). Ein Zusatzkonzert fand am 6. Juli
parallel zum G8-Gipfel in Edinburgh statt. 150 Bands boten
50 Stunden lang Musik. 140 Fernseh- und 400 Rundfunkstationen übertrugen die Konzerte. Die Veranstalter schätzten, dass
1,7 Mio. Menschen die kostenlosen Einzelkonzerte live miter108
lebten, mehr als 5 Mio. Zuschauer sich in die Liveübertragung
im Internet einklickten und angeblich 2–3 Mrd. Menschen die
Konzerte per Fernseh- oder Radioübertragung verfolgten. Das
wäre fast die Hälfte der Menschheit!
Weniger erfolgreich war die ebenfalls von Geldof geplante
Aktion Sail8.5 In einem Massentransport hätten G8-Demonstranten am 3. Juli 2005 mit Booten von Frankreich nach Edinburgh gebracht werden sollen. Auch aufgrund schlechten Wetters nahmen jedoch nur vier Boote mit weniger als 100 Personen
teil, worauf Geldof den Empfang der Demonstranten absagte.
Doch das Live8-Projekt soll weitergeführt werden. Über das
Internet6 ruft Geldof dazu auf, weiterzumachen und die G8Staaten zu zwingen, die in Gleneagles gegebenen Versprechen
einzulösen. Er fordert zudem weitere Schuldenerlasse für insgesamt 38 Länder, freien Marktzugang für afrikanische Produkte, die Abschaffung von Subventionen, die afrikanischen
Produzenten schaden, und den Verzicht auf jeglichen Liberalisierungszwang für Entwicklungsländer. Vertiefende inhaltliche Erläuterungen sind auf der Website nicht zu finden.
Für sein Engagement, mit dem er eine enorm große Zahl
Menschen erreicht hat, wurde Bob Geldof inzwischen vom
norwegischen Parlamentsabgeordneten Jan Simonsen für
den Friedensnobelpreis nominiert. Dennoch ist seine Aktion,
die nicht mit den anderen MDG-Kampagnen abgestimmt ist,
höchst umstritten, und ihr Erfolg, was den Kampf gegen Armut betrifft, zweifelhaft (zur Kritik an Live8 siehe unten).
Versuche einer Wirkungsanalyse
Für eine Erfolgsanalyse der MDG-Kampagnen ergeben sich
zwei wesentliche Bereiche: erstens das erzeugte allgemeine In5
6
www.sail8.ybw.com/sail8
www.live8live.com
109
teresse und die öffentliche Mobilisierung für die MDGs und
zweitens die tatsächlich erreichten Politikergebnisse. In beiden
Fällen kann über den Einfluss der MDG-Kampagnen nur spekuliert werden. Auch liegen bislang keine Umfragezahlen vor,
die über den Bekanntheitsgrad der MDGs nach dem Kampagnenjahr 2005 Auskunft geben würden. Im Jahr 2004 hatten nur
12 % aller EU-Bürger schon einmal von den MDGs gehört. In
Schweden konnten immerhin 27 % mit dem Begriff etwas anfangen, in Italien 19 % und in Österreich 18 %. Diese etwas höheren Werte in den beiden Ländern wurden von den Verantwortlichen der Umfrage auf die MDG-Kampagne der schwedischen Regierung bzw. auf die NGO-Kampagnen in Italien
(dort unter anderem schon 2004 mit den Millennium Gates) und
Österreich zurückgeführt. Kampagnen der dänischen und niederländischen Regierung hatten allerdings keinen positiven
»Ausschlag« bewirkt (European Commission 2005, 4f.).
Die Kampagnen-Initiatoren selber bewerten die bislang
erzielten Ergebnisse zumeist zurückhaltend. So vermutet der
GCAP, man habe im Jahr 2005 wohl zu einigen Politikerfolgen
»beigetragen«. Explizit genannt werden der Stufenplan der EU
zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit
(Official Development Assistance, ODA), die Erneuerung des G8Versprechens zur ODA-Verdoppelung, der Schuldenerlass für
18 stark verschuldete ärmste Länder und Nigeria sowie das
Versprechen der G8, arme Länder nicht länger zur Liberalisierung ihrer Wirtschaft zu zwingen. »Wir erkennen, dass dieser
politische Wille durch globale Massenaktionen enormen Ausmaßes und einen Wandel in der öffentlichen Meinung bezüglich Armut erzeugt worden ist«, so die Beirut Declaration (GCAP
2006, Abs. 9). Weniger bescheiden geben sich die Live8-Organisatoren, die auf ihrer Website propagieren, die Beschlüsse von
Gleneagles seien durch die Live8-Zuhörer erzwungen worden.
Dies ist schon deshalb abwegig, weil die Ergebnisse im Wesentlichen bereits vor dem Gipfel feststanden.
110
Übereinstimmend werden die erzielten Resultate als insgesamt unzureichend gewertet. Die Erfolge seien in ihrer Bedeutung erst noch auszuloten, so VENRO, manches sei »eher symbolischer Natur, mit Fußangeln oder Handikaps versehen (…).
Auch auf der Grundlage der 2005 erreichten Fortschritte ist die
Verwirklichung der MDGs bis zum Jahr 2015 nicht sehr viel
wahrscheinlicher geworden.« (Hermle 2006, 40). Auch deshalb
werden sowohl die globale wie auch die deutsche GCAP-Kampagne über den zunächst vorgesehenen Zeitraum hinaus bis
2007 fortgesetzt.
Eine zentrale Rolle bei dieser Entscheidung spielte auch,
dass die Initiatoren des Global Call to Action Against Poverty
wie der deutschen Aktion Deine Stimme gegen Armut von ihrem eigenen Mobilisierungserfolg überrascht worden sind.
Nach Reinhard Hermle, bis 2005 VENRO-Vorsitzender, hat die
Aktion »neue Maßstäbe der Kampagnenfähigkeit deutscher
Nichtregierungsorganisationen« gesetzt: »Insbesondere Spot
und Zeitungsanzeigen verhalfen der Aktion in relativ kurzer
Zeit zu einer unerwartet großen Resonanz in der Öffentlichkeit
und Aufmerksamkeit in der politischen Klasse.« (Hermle 2006,
35 u. 37). In wenigen Monaten kamen im Rahmen einer Sammelaktion 300.000 Unterschriften zusammen; die Website der
Kampagne verzeichnete bis Ende 2005 3,8 Mio. Seitenaufrufe;
310.000 weiße Armbänder wurden verkauft. Bei einer internen VENRO-Mitgliederbefragung gaben 88 % aller Befragten
(knapp die Hälfte waren selber an Aktionen beteiligt) an, die
Kampagne habe das Medieninteresse an den MDGs erhöht,
60 % machten einen verstärkten Handlungsdruck auf Politiker
aus, allerdings glaubten nur 43 %, dass neue Zielgruppen für
entwicklungspolitische Themen gewonnen worden seien. Gut
die Hälfte vermutete zudem, dass die Aktionen »politisch etwas bewirkt« haben. 82 % der Befragten stuften die Kampagne
insgesamt als »sehr erfolgreich« oder »erfolgreich« ein, 90 %
plädierten für eine Fortsetzung bis 2007.
111
»Cui bono außer Bono?« –
Zur Kritik an den Kampagnen
Die Kritik an den Millennium-Kampagnen bezieht sich zum
überwiegenden Teil auf die Mitwirkung von Größen des Showbusiness. Sie richtet sich mehrheitlich an die Adresse von Bob
Geldof und Bono sowie ihren Mitstreitern bei den Live8-Konzerten. Viele der vorgebrachten Argumente sind kaum von der
Hand zu weisen.7 Die Rede ist von Inhaltsleere, von Unkenntnis der Materie oder sogar »Kolonialherrenattitüde«. Live8 sei
genauso politisch wie die Love Parade, das eigentliche Thema
gehe in einem »gigantischen Aufmerksamkeitsspektakel« unter, nie habe Armut soviel Spaß gemacht. Das Schlimme sei
allerdings, dass die Veranstalter es mit dem politischen Anspruch ernst meinten. Sie erzeugten die Botschaft, dass acht
Regierungschefs allein über »Wohl und Wehe« der Welt bestimmen könnten. Das vermittelte Weltbild und die angebotenen Lösungen werden als »unterkomplex« oder gar gefährlich
zurückgewiesen – so dass die »schlichte Folgenlosigkeit« solcher Events geradezu als beruhigend gewertet werden müsse.
Auf die Gefahr, die durch solche Großereignisse erzeugte Erwartungen mit sich bringen können, wies Stefan Kornelius in
seinem Zeitungskommentar hin: »Das gute Gewissen mag als
Wochenendbefriedigung für die Instant-Gesellschaft ausreichen – gute Entwicklungspolitik aber kann an überzüchteten
Erwartungen auch scheitern.«8 Wohlgesinnte Stimmen gestehen Geldof & Co. immerhin zu, ihre Prominenz dazu genutzt
zu haben, über die vergangenen Jahrzehnte ein öffentliches In-
7
8
Einen Eindruck vermitteln die Artikel »Hilfe für Afrika? Nix Gutes von
Bono« in der Süddeutschen Zeitung vom 20.12.2005; »Cui bono außer
Bono?« in der TAZ vom 2.7.2005; »Stimmen gegen Armut« in Telepolis
(Online-Magazin) vom 3.7.2005.
Kommentar von Stephan Kornelius »Live8. Denn das Gute liegt so nah«,
in der Süddeutschen Zeitung vom 3.7.2005.
112
teresse für Afrika und seine Probleme zu erzeugen, das es ohne
sie nicht gegeben hätte.9
Den prominenten Philanthropen wird vorgehalten, durch
ihre gut gemeinte, aber unüberlegte Hilfe mehr Schaden als
Nutzen anzurichten. Moeletsi Mbeki, der Bruder des südafrikanischen Präsidenten, warf Bob Geldof in einem offenen Brief
vor, er kuriere nur Symptome und verschärfe damit die eigentliche Krankheit, nämlich den schockierenden Mangel an
Rechenschaft der Regierenden in Afrika.10 Andere vermuten
hinter dem Engagement vor allem Eigenwerbung und Imagepflege. Die TAZ titelte süffisant: »Cui bono außer Bono?«
Die Konzertserie war ohne wirkliche Absprache mit dem
Global Call to Action Against Poverty geplant worden, was bei
den NGOs zu Verärgerung führte. Denn der Live8-Event zog
tagelang die mediale Aufmerksamkeit auf sich, wodurch die
Aktionen zum ersten »White Band Day« am Vortag des Konzertes fast völlig untergingen. Reinhard Hermle warf Bob
Geldof vor, sich zu stark mit Tony Blair verbündet zu haben:
»In dieser Situation konnte er offensichtlich nicht anders,
als ein drittklassiges Ergebnis als grandiosen Erfolg darzustellen, um nicht einräumen zu müssen, dass auch sein gewaltiger Einsatz, der fraglos anzuerkennen ist, nicht die erhofften Resultate zeitigte.« (Hermle 2006, 39).
Dass die Beteiligung Prominenter auch anders und mehr im
Sinne der Sache möglich ist, zeigt die deutsche Aktion Deine
Stimme gegen Armut. Zwar berichten sowohl VENRO als auch
Herbert Grönemeyer von Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit, da zwei offensichtlich sehr verschiedene Welten aufeinander prallten und eine gemeinsame Sprache erst gefunden
9 Vgl. den Artikel »Pennen für den Frieden. Geschichte der engagierten
Pop-Musik«, in der Süddeutschen Zeitung vom 20.6.2005.
10 Vgl. den Artikel »Südafrikaner kritisiert Geldofs ›weiches Herz‹«, in N24.
de vom 6.7.2005.
113
werden musste. In einem ZEIT-Interview sagte Grönemeyer
dazu:
»Wir hätten vieles lieber härter formuliert, aber mit den
entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen
war das nicht so einfach. In deren Dachverband VENRO
wurde alles erst mal abgeklopft bei Ausschüssen und Vorständen.«11
Dennoch wurde eine Arbeitsgrundlage gefunden, die zur Einbindung des Sängers in die NGO-Kampagne führte und somit
Prominenz mit langjährigem entwicklungspolitischen Fachverstand verband. Grönemeyer verhehlte in dem erwähnten
Interview auch nicht seine Missbilligung der engen Zusammenarbeit von Bono und Bob Geldof mit Tony Blair. Er wolle
der Regierung lieber von außen Druck machen und sei auch
kein Fan der Live8-Konzerte: »Wenn Sänger singen, dann haben die Politiker sie da, wo sie hingehören. Man macht Musik,
jeder kriegt seine Streicheleinheiten, und das Thema ist abgefrühstückt.« Grönemeyer plädierte deshalb für Anzeigen oder
sonstige Aktionen als Kampagneninstrumente. Wohl auch aufgrund solcher Äußerungen beurteilen 70 % der VENRO-Mitglieder die Unterstützung durch Prominente mittlerweile als
gut, 22 % als mittel und nur 3 % als schlecht.
Fazit
Als vorläufiges Fazit lassen sich drei Erkenntnisse aus den
diskutierten MDG-Kampagnen ziehen: Erstens ist die Mobilisierung der Öffentlichkeit durch breit angelegte Kampagnen
– auch unter Zuhilfenahme von Prominenten – so lange grundsätzlich positiv zu bewerten, wie die notwendigen Vereinfachungen nicht zu falschen Behauptungen führen oder unrealis11 »Haben die Live-8-Konzerte was gebracht?« – Interview mit Herbert
Grönemeyer in der ZEIT vom 21.12.2005.
114
tische Erwartungen erzeugen. Diese Gefahr besteht besonders
dann, wenn prominente Showgrößen ohne den notwendigen
Sachverstand auf eigene Faust aktiv werden. Aber auch die
Aussagen der UN-Millennium Campaign, die Armut auf dieser
Welt ließe sich mit etwas politischem Willen bis 2015 beseitigen, das Know-how dazu sei vorhanden, gehen in diese Richtung.
Zweitens sind plakative Vereinfachungen so lange akzeptabel, wie sie dazu dienen, die Massen zu mobilisieren und auf
breiter Basis Menschen neu für die Thematik zu interessieren.
Ist das Interesse jedoch geweckt, zeigt sich die Seriosität einer
Kampagne darin, dass sie es auch schafft, sowohl komplexere
Zusammenhänge zu vermitteln – etwa über ausführliche
Informationen auf der Kampagnen-Website mit Hinweisen
auf weiterführende Links und Literatur, als auch zu kritischem
Denken anzuregen und selbst unabhängige Positionen und
Forderungen zu formulieren. Dies ist der Aktion Deine Stimme
gegen Armut recht vorbildlich gelungen.
Schließlich reicht es nicht aus, kurzfristig öffentliches Interesse zu erzeugen und dabei möglicherweise Politikern gar dazu
zu dienen, durch Scheingefechte von eigenen Misserfolgen abzulenken. Nur wenn dauerhaft mehr Menschen für entwicklungspolitische Anliegen gewonnen werden können, besteht
eine Chance, den gewünschten und erforderlichen Druck auf
die politischen Entscheidungsträger zu erzeugen, damit diese
entwicklungsförderliche Entscheidungen treffen, auch wenn
diese schmerzhaft sind, namentlich bei der Neugestaltung der
Handelsbeziehungen. Insofern ist noch nicht entschieden, ob
die MDG-Kampagnen in längerfristiger Perspektive als Erfolg
gewertet werden können.
115
Literatur
Annan, Kofi, 2001: Road Map Towards the Implementation of the United
Nations Millennium Declaration. Report of the Secretary-General,
6. September 2001. New York.
Bonse, Sebastian/Christine Drath/Sonja Ramm/Julia Völker, 2006: Mit
Schnipsen gegen die Armut?, in: Ulrike Röttger (Hg.), PR-Kampagnen. Über die Inszenierung von Öffentlichkeit, Wiesbaden, 3. überarb.
u. erw. Aufl., S. 365–374.
European Commission, 2005: Attitudes towards Development Aid (Special Eurobarometer 222). Brüssel.
GCAP (Global Call to Action Against Poverty), 2006: Renewing the Call:
The Beirut Platform from the Global Call to Action Against Poverty
(Beirut Declaration), 15. März (editor.whiteband.org/Lib/docs/en_
beirut_platform.doc, 9.8.06).
Hermle, Reinhard, 2006: Deine Stimme gegen Armut – Rekonstruktion
und Analyse der Aktion deutscher NRO, in: VENRO (Hg.), Die Millenniumsziele in Reichweite? Eine Bewertung des entwicklungspolitischen Ertrags des Entscheidungsjahrs 2005. Bonn/Berlin 2006, S. 35–
40.
Mathes, Bettina, 2005: Das andere Geschlecht der Armut, in: ZTG Bulletin
29/30, S. 172–183.
VENRO, 2006: Wort halten. Mehr deutsches Engagement für die Millenniums-Entwicklungsziele. Bonn/Berlin.
116
Zweiter Teil:
Nur kurieren an Symptomen?
UWE HOLTZ
Die Zahl undemokratischer Länder
halbieren!
Armutsbekämpfung durch Demokratie,
Menschenrechte und good governance
Die Millennium-Erklärung von 2000, die aus ihr abgeleiteten
Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals,
MDGs) und der UN-Weltgipfel von 2005 haben der politischen
Gestaltung der Globalisierung Leitplanken geliefert, eine inhaltliche Fokussierung der Entwicklungsanstrengungen bewirkt, der internationalen Entwicklungspolitik eine neue Dynamik verliehen und den Druck auf die verschiedenen Akteure
verstärkt.
Die MDGs bieten Orientierung für staatliche und nichtstaatliche, nationale und internationale Akteure und Richtgrößen zur Bewertung von Entwicklungsanstrengungen und
-erfolgen. Sie tragen dazu bei, die internationale Gemeinschaft
auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene zu mobilisieren, und dienen als Handlungsanleitung.
Die MDGs:
Fortschritt, aber fehlende politische Dimension
Die Verständigung auf die acht MDGs ist zweifelsohne ein
großer Schritt in Richtung auf einen »globalen Gemeinwillen«
(volonté générale mondiale), der das »Globalwohl« repräsentiert
und auf der Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Industrieund Entwicklungsländern beruht, von der schon 1980 Willy
118
Brandt und seine Nord-Süd-Kommission in dem Bericht »Das
Überleben sichern« sprachen.
Die MDGs mit ihren Zielvorgaben und Indikatoren benennen angestrebte Ergebnisse von Entwicklungsprozessen, ohne
jedoch die dahin führenden Wege und Instrumente, die von
Land zu Land verschieden sein können, aufzuzeigen. Sie formulieren wichtige Ziele für eine menschenzentrierte Entwicklung; sie stellen aber keine umfassende Vision für eine bessere
Welt dar, weil dafür unerlässliche Elemente wie Demokratie
und Frieden fehlen. Dies ist ein Paradoxon, weil die Staats- und
Regierungschefs in der Millennium-Erklärung einerseits Menschenrechte, Demokratie und good governance wie auch Frieden, Sicherheit und Abrüstung als grundlegende Ziele, denen
sie besondere Bedeutung beimessen, bezeichnen, andererseits
diese Ziele aber keine direkte Berücksichtigung bei den acht
MDGs finden.
Eine von Wolfram Hilz und mir veranstaltete Ringvorlesung über die MDGs an der Universität Bonn im Wintersemester 2005/06 führte zu folgenden Erkenntnissen (Holtz 2006):
1. Die Millennium-Entwicklungsziele sind eng miteinander verbunden: Die Bekämpfung von Armut und Hunger
(MDG 1) erfordert auch den Einsatz für den Umweltschutz
und gegen die Bodenerosion (7); HIV/AIDS-Bekämpfung
(6) ist unmöglich ohne mehr Bildung (2) und die Stärkung
von Macht und Einfluss der Frauen (3).
2. Die acht MDGs sind immer im Zusammenhang mit der
Millennium-Erklärung zu sehen, wodurch einige Defizite
bei den MDGs (wie die weitgehende Abwesenheit konkreter politischer Forderungen nach Demokratisierung)
»kompensiert« werden.
3. Nationale und regionale Parlamente haben eine wichtige
und noch stärkere Rolle bei der Verwirklichung der MDGs
wie auch bei der Reform der Vereinten Nationen zu spielen.
119
4. Entwicklungsfragen sind auch Machtfragen, wie an den
Beispielen eines faireren Welthandels, des Abbaus der
Agrarsubventionen, der Öffnung der Märkte, der Entschuldung oder einer Kontrolle bei den modernen Informationsund Kommunikationstechnologien verdeutlicht werden
kann.
5. Die Verwirklichung der MDGs trägt maßgeblich zur
menschlichen Sicherheit bei und steht für die nicht-militärische Dimension von Sicherheit.
6. Bildung, Wissenschaft und Technologie sind von zentraler
Bedeutung für Entwicklung und die MDGs.
7. Höhere entwicklungspolitische Leistungen und eine bessere Entwicklungszusammenarbeit sind nötig, aber die
Rolle der Entwicklungspolitik im gesamten Entwicklungsprozess darf nicht überschätzt werden. Geld allein verhindert nicht die stillen Tsunamis, wie das tausendfache, alltägliche Sterben von Kindern. Dauerhafte Erfolge sind ohne
ein entwicklungsförderliches Umfeld, für das sich auch zivilgesellschaftliche Organisationen immer mehr einsetzen,
nur schwerlich zu erreichen.
8. Das Entwicklungsparadigma einer menschenwürdigen
und nachhaltigen Entwicklung setzt sich offensichtlich
immer mehr in der internationalen Entwicklungsdebatte
durch und löst zumindest partiell die Washington Consensus-Philosophie ab.
9. In vielen Ländern, vor allem in Afrika südlich der Sahara,
bestehen noch erhebliche Defizite bei der Umsetzung der
MDGs. Eine Reihe von Ländern kann bei einigen MDGs
manche Erfolge aufweisen, so in Lateinamerika, Südostasien oder Nordafrika. Die Erfolgsbeispiele zeigen, wie
viel in kurzer Zeit erreicht werden kann, wenn interne Reformen in den Entwicklungsländern selbst und externe Unterstützung durch Entschuldung, Handelsförderung und
Entwicklungszusammenarbeit mobilisiert werden.
120
10. Entwicklungs- und Industrieländer wie auch die EU müssen ihre Anstrengungen massiv verstärken und für ein national wie international günstigeres Umfeld sorgen, wenn
die Welt als Ganzes die acht MDGs und die grundlegenden
Ziele der Millennium-Erklärung noch während der nächsten zehn Jahre erreichen soll.
Die politische Dimension ist die oft klein geschriebene Dimension einer nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung.
Auch der von Jeffrey Sachs, dem Direktor des UN-MillenniumProjekts, Anfang 2005 vorgelegte Bericht »In die Entwicklung
investieren: Ein praktischer Plan zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele« vernachlässigt in seinen Empfehlungen die politischen Rahmenbedingungen. Sachs setzt – wie
in seinem Buch »Das Ende der Armut« (2005a) – vor allem auf
mehr Geld (»die gegenwärtige öffentliche Entwicklungshilfe
muss verdoppelt werden«) und den gut koordinierten und
differenzierten Einsatz dieser Mittel bei der Armutsbekämpfung. Aber was nützt mehr Geld, mehr staatliche »Entwicklungshilfe«, wenn in den Entwicklungs- und Transformationsländern Diktatoren, Kleptokraten und korrupte Cliquen herrschen?
Diesen Fehler begehen erfreulicherweise weder die EU (Europäische Union 2005) noch das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ 2001).
Die Erkenntnis, dass Willkür, Despotismus und die Diskriminierung der Frauen wichtige Hemmschuhe für Entwicklung
sind, findet eine immer größere Anerkennung (Landes 2004).
Die Weltbank erkannte schon 1989 an, dass Afrikas Malaise
wirtschaftliche und politische Wurzeln hat (World Bank 1989).
Zur volonté générale mondiale müssen auch der Wille und
die Verpflichtung gehören, die Zahl der undemokratischen Regime zu reduzieren. Wer eine solche Forderung erhebt, sollte
zunächst darlegen, was er unter Entwicklung und Demokratie
versteht.
121
Was bedeuten Entwicklung und Demokratie?
Auch wenn es keine allgemein gültige Definition von Entwicklung gibt, dürfte die Erkenntnis weitgehend akzeptiert sein,
dass Entwicklung ein mehrdimensionaler, komplizierter, langwieriger, sozioökonomischer Prozess ist, der auf die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen abzielt, die Freiheit von Mangel und Furcht anstrebt, Frieden und Sicherheit
garantiert und spätestens seit Rio 1992 einer nachhaltigen und
menschenwürdigen Entwicklung verpflichtet ist. Langfristig
gibt es eine solche Entwicklung nicht ohne Demokratie, Menschenrechte, Gleichstellung der Geschlechter und good governance (gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln).
Entwicklung umfasst zumindest folgende Dimensionen:
Politik (Demokratie, Menschenrechte und good governance),
Wirtschaft (Produktivitätssteigerungen, Arbeitsplätze schaffendes und Armut beseitigendes Wirtschaftswachstum, Unternehmen, die ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst nehmen), Soziales (soziale Gerechtigkeit, soziale Grunddienste),
Umwelt (ökologische Nachhaltigkeit) und Kultur (kulturbewusste Entwicklung, die kulturelle Entfaltung ermöglicht und
für den Wandel offen ist). Entwicklung braucht »gute« nationale, regionale und internationale Rahmenbedingungen.
Entwicklung bedeutet immer, etwas von dem, was an Fähigkeiten und Potenzial jedem Menschen und Volk Eigen ist,
zur Entfaltung, zur Ent-Wicklung zu bringen. Insofern kommt
Hilfe von außen vor allem eine Hebammenfunktion zu – auch
bei der Förderung von Demokratie und good governance, wobei
gilt: je größer die interne »Nachfrage«, desto höher die Erfolgsquote. Wenn schon der Entwicklungsprozess ein langwieriger
und schwieriger Prozess ist, dann trifft dies auch auf die Demokratisierung zu. Demokratie und good governance lassen sich
nicht mit Hauruck-Interventionen und imperialen Attitüden in
fremde Länder exportieren; sie von außen behutsam und mit
Augenmaß zu fördern, ist aber auch ein Gebot der Solidarität.
122
Entwicklung ist also auch »ein Prozess, der es den Menschen
ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Selbstvertrauen zu
gewinnen und ein erfülltes und menschenwürdiges Leben
zu führen« – so die Definition des unter Leitung von Julius
Nyerere erstellten Berichts der »Südkommission« von 1990
(SEF 1991, 34). Von daher gewinnt die seit einiger Zeit erhobene Forderung nach ownership Relevanz. Ownership, oft nicht
vollständig mit Eigenverantwortung übersetzt, besagt in der
Entwicklungszusammenarbeit (EZ), dass nicht nur die Verantwortung der Partner im Entwicklungsland für die EZ-Vorhaben gestärkt und ihre Partizipation gesichert werden, sondern
ihnen auch die Vorhaben »gehören« sollen (Eigentümerschaft).
Natürlich steht diese Eigentümerschaft in einem Spannungsverhältnis zu den Einwirkungen von außen – seien es die internationalen Rahmenbedingungen oder die Erwartungen der
Entwicklungspolitik an die Entwicklungsländer. Der ownership-Vorbehalt darf jedoch »kein Feigenblatt für Barbareien« in
den Entwicklungsländern sein (Nuscheler 2005, 429).
Demokratie kennt verschiedene Ausformungen. Reduziert
man sie auf das Wesentliche, dann lassen sich drei Kernelemente in einer Art Demokratie-Dreieck festhalten:
• Freie, faire und regelmäßige Wahlen mit der Möglichkeit,
einen Regierungswechsel herbeizuführen (was eine freie
Presse und das Recht auf Opposition voraussetzt);
• Gewaltenteilung und die Bindung der Gewalten an die verfassungsmäßige Ordnung sowie an Gesetz und Recht (rule
of law – Herrschaft des Rechts und Rechtssicherheit);
• Achtung und Verwirklichung der unveräußerlichen Menschenrechte und der politischen, bürgerlichen Freiheiten
sowie die Wahrung von Minderheitenrechten.
Schlüsselinstitution bzw. Herz der Demokratie ist das Parlament, das gemäß dem »Parlamentarischen Hexagon« idealiter
über folgende sechs Aufgaben und Kompetenzen verfügt:
Gesetzgebung, Budgetrecht inklusive der Entscheidung über
Steuern und Ausgaben, Wahlfunktion /Herrschaftsbestellung,
123
Kontrolle der Regierung und Verwaltung, Mitwirkung an der
Außenpolitik, Forum der Nation/Repräsentation (Holtz 2003,
18f.). Dabei bewegen sich, machtpolitisch gesprochen, die Parlamente auf einem Kontinuum zwischen schwachen »Abnick«und starken »Gestaltungs«-Legislativen, wobei sogar ein und
dasselbe Parlament zu verschiedenen Themen unterschiedliche Positionen auf diesem Kontinuum einnehmen kann.
Die »dritte Welle der Demokratisierung«
1974 galten unter den 150 Staaten der Erde ca. 40 als Demokratien. Vor allem in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat
es einen bemerkenswerten Siegeszug der Demokratie gegeben.
Samuel Huntingtons These einer »dritten Welle der Demokratisierung« scheint sich zu bestätigen. So konstatierte der UNDPBericht über die menschliche Entwicklung 2002, die Welt sei
demokratischer als je zuvor. Doch von den 140 Ländern, die
Wahlen mit konkurrierenden Parteien abgehalten hätten, seien
nur 80 (mit 55 % der Weltbevölkerung) wirklich demokratisch,
und in 106 Ländern würden wichtige bürgerliche und politische Freiheiten nach wie vor eingeschränkt (UNDP 2002, 2).
Heute werden etwa drei Fünftel der über 190 Staaten mit
dem Etikett »demokratisch« versehen. Zwei Fünftel aller Staaten zählen immer noch zu den undemokratisch regierten Ländern. Was die Demokratien angeht, so gehört eine beträchtliche
Anzahl unter ihnen zur Kategorie der defekten, ungefestigten,
illiberalen Demokratien, weil in ihnen individuelle Rechte und
Freiheiten nicht gesichert sind, die Unabhängigkeit der Gerichte nicht gegeben ist, Rechtsstaatlichkeit nur auf dem Papier
steht und Parlamente weitgehend entmachtet sind.
Nach der – nicht unumstrittenen – Klassifizierung von Freedom House (2005) werden derzeit 24 % der Länder als nicht frei,
30 % als teilweise frei und 46 % als frei eingestuft. Laut Bertelsmann-Transformationsindex (BTI) werden 62 % der Weltbevöl124
kerung inzwischen demokratisch regiert; weltweit gibt es aber
immer noch 48 autoritäre/autokratische Staaten in allen Regionen der Welt, die ein großes Beharrungsvermögen aufweisen,
und vornehmlich in diesen Ländern sind bad governance und
bad performance anzutreffen (Bertelsmann Stiftung 2005, 7). Offensichtlich gibt es gleichzeitig Fortschritte auf dem Wege zur
Demokratie und Rückschritte in Richtung auf autokratische
Herrschaftsverhältnisse.
In der Globalisierung kann man nicht nur einen welthistorischen Megatrend erkennen, der sehr viele Wirtschafts- und
Lebensbereiche umfasst, sondern auch ein globales Zivilisationsprojekt, das zur Zivilisierung und Demokratisierung unseres Globus beizutragen vermag; denn neben der Marktwirtschaft wurde auch die Demokratie zu einem universell anerkannten Ordnungskonzept. Allerdings sind auch kritische
Stimmen vernehmbar, die in der »ungezügelten Globalisierung« (Ralf Dahrendorf) eine systemische Gefährdung von Demokratie und Menschenrechten erkennen und gar ein autoritäres Jahrhundert – als Folge einer »schleichenden Erosion der
Demokratie« (Karl Kaiser) – vorhersehen.
Demokratie in der Millennium-Erklärung,
aber nicht in den MDGs
Drei Hypothesen seien im Folgenden untermauert:
1. Armut umfasst verschiedene Dimensionen von Mangel:
an Einkommen und Nahrung, aber auch an Einfluss und
Wahlmöglichkeiten.
2. Demokratie, Menschenrechte und good governance sind
Werte an sich.
3. Demokratie, Menschenrechte und good governance sind für
die Realisierung der MDGs von großer Bedeutung.
Gemäß MDG 1 und den beiden ersten Zielvorgaben sollen die
extreme Armut und der Hunger beseitigt und der Anteil jener
125
Menschen, deren Einkommen weniger als 1 US-$ pro Tag beträgt und die hungern, bis 2015 halbiert werden. Aber Armut
ist mehrdimensional und bezieht sich keineswegs nur auf das
Einkommen und eine unzureichende Ernährung; sie schließt
Machtlosigkeit, Ausgrenzung, Unsicherheit und Aussichtslosigkeit mit ein. Der Mensch lebt nicht von Brot, Reis oder
Kassava allein – er will ebenso frei sein von Furcht und Unterdrückung und die Freiheit zur Mitwirkung an der res publica
haben. Ein wichtiges Element der Armutsbekämpfung besteht
in der Unterstützung der Selbstorganisation der Armen; denn
der Aufbau von Gegenmacht von unten trägt mit dazu bei,
nach oben Druck zu erzeugen, damit die Regierungen und Parlamente das tun, wofür sie da sind, nämlich nachhaltige und
menschenwürdige Politik zu machen.
Deshalb ist es enttäuschend, dass bei den acht MDGs und
den daraus abgeleiteten 18 Zielvorgaben und 48 Indikatoren
weitgehend auf (demokratie-)politische Forderungen verzichtet wird. Offensichtlich war dies auch politisch so gewollt. Bei
lediglich einem Ziel ist eine relevante Forderung auszumachen: MDG 3 spricht von der Förderung der Gleichstellung der
Geschlechter und der Stärkung von Macht und Einfluss der
Frauen. Den Begriff Demokratie sucht man vergeblich.
Dies ist umso unverständlicher, als die Millennium-Erklärung ein klares Bekenntnis zur Demokratie ablegt. Mit ihrem
Bekenntnis zum Recht von Männern und Frauen auf ein Leben
in Würde und Freiheit, zu Demokratie und demokratischer
Staatsführung, zu den verschiedenen Arten von Menschenrechten und Grundfreiheiten sowie zu good governance und zur
Förderung junger Demokratien bietet sie den demokratischen
Unterbau für die MDGs.
Auf dem Millennium+5-Gipfel bekräftigten die 154 Staatsund Regierungschefs die Millennium-Erklärung von 2000 und
erklärten explizit, eine friedlichere, wohlhabendere und demokratischere Welt schaffen zu wollen (Abschlussdokument,
Abs. 16). Zudem erkannten sie an, dass gutes Regierungs- und
126
Verwaltungshandeln, stabile demokratische Institutionen, eine
solide Wirtschaftspolitik wie auch die Herrschaft des Rechts
auf nationaler und internationaler Ebene die Grundlage für
eine nachhaltige Entwicklung, dauerhaftes Wirtschaftswachstum, Armutsbeseitigung und die Schaffung von Arbeitsplätzen bildeten.
Die Millennium-Erklärung und das Weltgipfel-Abschlussdokument sind eine wichtige, wenn auch nicht die alleinige
Grundlage für die Forderung an staatliche und nichtstaatliche,
nationale und internationale Akteure, alles ihnen Mögliche zu
tun, um zur »Halbierung« der Zahl schlecht regierter, undemokratischer Länder bis zum Jahre 2015 beizutragen.1
Demokratie, Menschenrechte und
good governance als Voraussetzung und
Ziel für die Realisierung der MDGs
Die Demokratie ist weltweit als politischer Ordnungsrahmen
anerkannt. In der 1997 angenommenen Allgemeinen Demokratie-Erklärung der Inter-Parlamentarischen Union (IPU)
wird die Demokratie als Ideal, als Regierungsform und als ein
universell anerkanntes Konzept bezeichnet, das auf gemeinsamen Werten beruht (IPU 1998, IIIff).
Zwischen Demokratie und Entwicklung besteht kein automatischer Zusammenhang. Auf der einen Seite fördert Demokratie Entwicklung, auf der anderen Seite ist das bloße Vorhandensein von demokratischen Strukturen noch kein Garant für Fortschritt. Erst durch die zusätzliche Bildung von
rechenschaftspflichtigen, funktionierenden Institutionen, die
ihr Handeln nach dem Prinzip des guten Regierungs- und Verwaltungshandelns ausrichten, kann Demokratie zu einem Er1
Von »Halbierung« wird hier in Analogie zur Halbierung von Armut und
Hunger gesprochen.
127
folgskriterium für Entwicklung werden. Freie Wahlen allein
führen nicht automatisch zu mehr Entwicklung und Sicherheit; sie können in gespaltenen Gesellschaften Nationalismus,
ethnische Konflikte und sogar gewalttätige Konflikte schüren. Dennoch: »Wenn Politik und politische Institutionen die
menschliche Entwicklung fördern und die Freiheit und Würde
aller Menschen sichern soll, muss die Demokratie ausgeweitet
und vertieft werden.« (UNDP 2002, 2).
Auch viele Nichtregierungsorganisationen setzen sich verstärkt mit den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für Entwicklung auseinander, weil sie erkennen, dass
»die Reichweite von Einzelprojekten und Programmen – so
wichtig diese sind – begrenzt ist und ihre Wirkung oft durch
schlechte Regierungsführung, Korruption, Kriege und Konflikte, externe wirtschaftliche Schocks oder die internationale
Politik beeinträchtigt oder konterkariert wird«. (Hermle 2006,
39).
Diese Erfahrung stützt die These des Bertelsmann Transformation Indexes, dass die erfolgreiche Bekämpfung der Armut
sowie ein umfassender und zukunftsfester Wandel zu Demokratie und Marktwirtschaft nur mit strategisch denkenden und
eigenverantwortlichen Reformern, Akteuren und »Antreibern«
(agents, drivers of change) bei den Regierenden, den übrigen Eliten und der Zivilgesellschaft gelingen können. Dabei dürfen
die Besonderheiten von Gesellschaften, die durch informelle
Strukturen geprägt sind, nicht außer Acht gelassen werden.
Menschenrechte sind dem Menschen und seinem Handeln
inne wohnende Werte. Sie machen die Essenz dessen aus, was
Entwicklung eigentlich ist. Sie sind die Kompassnadel für Entwicklung – und im Übrigen auch für eine humane Globalisierung. Wer Menschenrechte unterdrückt, behindert Entwicklung.
Was good governance betrifft, so spiegelt sich dabei eine Erfahrung wider, die seit Ende der 1980er Jahre die internationale Zusammenarbeit in wachsendem Maße prägt: Fortschritte
128
auf dem Wege zu einer nachhaltigen und menschenwürdigen
Entwicklung sind nicht nur eine Frage wirtschaftlicher Erfolge.
Auch »schwache« Regierungen, willkürliche Rechts- und Justizsysteme, schlecht funktionierende Verwaltungen und Korruption sind Ursachen für Armut und maldevelopment.
Das Ende des Kalten Krieges öffnete den Raum für eine
breite internationale Diskussion über die Bedeutung von politischen Rahmenbedingungen und effizienten Staats- und Verwaltungsstrukturen. Seitdem setzte sich die Erkenntnis durch,
dass entwicklungspolitische Zusammenarbeit nur bei guten
politischen Rahmenbedingungen in den Partnerländern langfristig positive Wirkungen zeitigen kann.
Das für mehr als hundert Staaten völkerrechtlich verbindliche, 2003 in Kraft gesetzte Partnerschaftsabkommen von
Cotonou zwischen den afrikanischen, karibischen und pazifischen Staaten sowie den Mitgliedstaaten der EU hat good governance als fundamentales Element der Kooperation verankert,
wobei darunter die »verantwortungsvolle Staatsführung, die
transparente und verantwortungsbewusste Verwaltung der
menschlichen, natürlichen, wirtschaftlichen und finanziellen
Ressourcen und ihr Einsatz für eine ausgewogene und nachhaltige Entwicklung« verstanden wird (BMZ 2002, 28).
Auf der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung in Monterrey im März 2002 wurde ein Richtung
weisender Rahmen für eine globale Entwicklungspartnerschaft
mit dem Ziel festgelegt, die Armut zu bekämpfen, dauerhaftes
Wirtschaftswachstum zu erzielen und nachhaltige Entwicklung zu fördern. Die Partnerschaft zwischen reichen und armen Ländern soll auf guter Regierungs- und Verwaltungsführung, erweitertem Handel, Entwicklungszusammenarbeit sowie Schuldenerleichterung aufbauen.
Der in Monterrey erzielte Konsens bezeichnet explizit good
governance durch Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Achtung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung am politischen Prozess, eine marktwirtschaftlich orien129
tierte Wirtschaftspolitik und makroökonomische Stabilität als
Kernelement entwicklungsförderlicher Rahmenbedingungen,
zu denen auch die allgemeine Verpflichtung auf eine gerechte
und demokratische Gesellschaft gehört (UN 2002).
Good governance ist inzwischen zu einem wichtigen Förderkriterium für die EZ geworden. In Deutschland kommt dies
zusammen mit dem Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten in den 1991 formulierten fünf Kriterien für die EZ zum
Ausdruck: Beachtung der Menschenrechte, Beteiligung der
Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit, marktwirtschaftlich und sozial orientierte Wirtschaftsordnung, Entwicklungsorientierung staatlichen Handelns (BMZ 1995, 48). Good governance ist sowohl
Voraussetzung als auch eigenständiges Ziel von Entwicklung.
Für das BMZ (2006, 1f.) geht es dabei
»um einen Staat, der sich an der Gewährleistung der Menschenrechte sowie an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit
orientiert, der transparent und leistungsfähig arbeitet, eine
nachhaltige, armutsorientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik verfolgt und sich in der internationalen Staatengemeinschaft kooperativ verhält. (…) In der Realität können nur
wenige Länder durchgängig in die Kategorien ›Bad‹ oder
›Good‹ Governance eingeordnet werden. In den meisten
Ländern findet man eine Vielzahl von abgestuften Situationen und z.T. widersprüchlichen Entwicklungen vor.
Regierung und öffentliche Verwaltung sind keine monolithischen Blöcke.«
Die Bundesregierung betrachtet Frieden und Sicherheit, Demokratie, gute Regierungsführung und die Verwirklichung der
Menschenrechte als Voraussetzungen für die Erreichung der
MDGs in einem Land (Kortmann 2006, 22). Und der Deutsche
Bundestag vertritt in seiner Entschließung »Auf dem Weg zur
Erreichung der Millennium Development Goals« vom 30. September 2004 die Auffassung, die MDGs seien nur realisierbar,
wenn alle Kapitel der Millennium-Erklärung hinreichend be130
achtet und die auf der Grundlage von Konventionen bestehenden Verpflichtungen umgesetzt würden.
Die EU hält in ihrem entwicklungspolitischen Europäischen Konsens vom Herbst 2005 fest, ein besonderer Vorrang
gelte den Menschenrechten und der Demokratisierung, der
Unterstützung für notwendige Reformen zur Verhütung und
Bekämpfung der Korruption, der Unterstützung der Dezentralisierung sowie der Stärkung der Rolle der Parlamente.
Um diese Stärkung bemühen sich vor allem auch die deutschen politischen Stiftungen. Zu ihr gehören:2
• (Mehrparteien-)Parlamente und ihre Gremien mit ihren
verschiedenen Funktionen aufzuwerten (vgl. das »Parlamentarische Hexagon«);
• Abgeordnete zu qualifizieren (capacity building) und so zur
Professionalisierung ihrer Arbeit beizutragen;
• die Gemeinwohlorientierung parlamentarischen Handelns
zu betonen, zum Beispiel durch entsprechende Verhaltenskodizes;
• die Rechenschaftspflicht und Transparenz parlamentarischer Verfahren zu fördern, um das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit des Parlaments zu entwickeln;
• die Gesetzgebung und das politische Handeln an das Leitbild einer nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung zu binden, an rechtsstaatliche international anerkannte
Grundsätze sowie internationale und regionale Menschenrechtsabkommen;
• zur Kooperation nationaler Parlamente untereinander wie
im Rahmen der IPU anzuhalten;
• parlamentarische Netzwerke zu fördern, etwa das Parlamentarische Netzwerk der UN-Konvention zur Bekämpfung der Wüstenbildung.
2
Vgl. auch die Anhörung des Bundestags-Ausschusses für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (AwZ) zum Thema »Regierungsführung als Herausforderung für die Entwicklungszusammenarbeit« am
28.6.06.
131
Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten Parlamente und
andere Akteure in Staat und Wirtschaft in Koalitionen für good
governance ergänzen, aber nicht ersetzen.
Plädoyer für eine Ergänzung des MDG-Zielkatalogs
Die bisherigen Ausführungen laufen darauf hinaus, dass die
acht MDGs durch ein weiteres Ziel ergänzt werden sollten:
Diktaturen zu überwinden und Demokratien zu stärken. Damit würden die Vereinten Nationen der politischen Orientierung des Entwicklungsparadigmas einer nachhaltigen und
menschenwürdigen Entwicklung, der Millennium-Erklärung
und dem Weltgipfel 2005 folgen, der nicht nur die Demokratie
als universellen Wert bekräftigte, sondern auch die Gründung
eines neuen UN-Demokratiefonds guthieß.
Zwei Zielvorgaben sind diesem neuen Oberziel beizugeben (vgl. Tabelle 1): 1) Bis 2015 ist die Zahl der undemokratischen, menschenrechtsverletzenden Regime zu halbieren;
2) die Grundsätze einer nachhaltigen und menschenwürdigen
Entwicklung sind in einzelstaatliche Politiken und Programme
umzusetzen (sie umfassen die Verpflichtung auf Demokratie,
Menschenrechte und good governance).
Sechs Indikatoren sollen der Erreichung der beiden Zielvorgaben und der Fortschrittsüberwachung dienen:
1. Die Zahl der Länder, die als unfrei gelten (freie Wahlen,
konstitutioneller Liberalismus, Gewaltenteilung). Dieser
Indikator lässt sich an Hand des Freedom House-Indexes
überprüfen, der die Länder der Welt bei der Bewertung der
politischen und bürgerlichen Freiheiten in frei, teilweise frei
und unfrei einteilt (www.freedomhouse.org) oder durch
das World Democracy Audit Overall Ranking, das 150 Länder der Welt einem Demokratierang zuordnet (www.world
audit.org).
132
Tabelle 1
Neues Millennium-Entwicklungsziel:
Diktaturen überwinden
ein neues
Ziel
zwei Zielvorgaben
sechs Indikatoren
Diktaturen
überwinden
und Demokratien stärken
1. Bis 2015 die Zahl der
undemokratischen,
menschenrechtsverletzenden Regime halbieren
1. Zahl der Länder, die als
unfrei gelten
2. Die Grundsätze einer nachhaltigen und
menschenwürdigen
Entwicklung in einzelstaatliche Politiken und
Programme umsetzen
3. Zeichnung und Ratifikation internationaler
Menschenrechtsabkommen
2. Parlamente mit echten
Befugnissen und einer
Frauenquote von 30 %
4. Politische Gestaltungsleistung auf dem Weg
zur Demokratie
5. Korruption
6. ODA-Quote für Demokratie und good governance fördernde, Parlamente stärkende und
menschenrechtsorientierte Programme
2. Parlamente mit echten Befugnissen gemäß dem »Parlamentarischen Hexagon« und einer Frauenquote von 30 %
in allen Parlamenten3 – von der lokalen bis zur kontinentalen Ebene.4 Die Interparlamentarische Union (www.ipu.
3
4
Das Panafrikanische Parlament hat für alle Mitgliedstaaten Maßnahmen
gefordert, die sicherstellen, dass mindestens 30 % aller gewählten Positionen Frauen zukommen.
Insofern wird der alte dem MDG 3 zugeordnete Indikator 12 (Anteil der
Frauen in nationalen Parlamenten) erweitert.
133
3.
4.
5.
6.
5
org) liefert Daten sowohl über Rolle und Struktur von 188
nationalen Parlamenten (www.ipu.org./parline-e/parlinesearch.asp) als auch über Frauenquoten. Mit Stand vom
Mai 2006 nahmen Frauen weltweit 16,8 % aller Parlamentssitze ein (www.ipu.org/wmn-e/world.htm). Hinsichtlich
der »echten Befugnisse« von Parlamenten fehlt jedoch bislang eine »indexierte« globale Aufbereitung der Daten.
Zeichnung und Ratifikation der relevanten internationalen Menschenrechtsabkommen. Das mit Unterstützung der
Ford Foundation gegründete entsprechende Internet-Portal
(www.bayefsky.com) ist dazu eine wertvolle Informationsquelle.
Die politische Transformations- und Gestaltungsleistung
auf dem Weg zur (marktwirtschaftlichen) Demokratie. Sie
wird in dem alle zwei Jahre erscheinenden Bertelsmann
Transformation Index (BTI) für 119 Entwicklungs- und
Transformationsländer am besten dokumentiert (www.
bertelsmann-transformation-index.de). Sie würde auch dadurch unterstrichen und glaubwürdiger, wenn – auf Afrika
bezogen – möglichst alle Länder den NEPAD-African Peer
Review Mechanism akzeptierten (www.nepad.org).
Korruption. Der wichtigste Index, der Korruptionswahrnehmungsindex, wird von Transparency International jährlich neu erstellt (www.transparency.org).
Die ODA-Quote5 für Demokratie und good governance fördernde, die Parlamente stärkende und menschenrechtsorientierte Programme. Erste Daten bietet die vom Entwicklungsausschuss (DAC) der Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) neu eingeführte
übersektorale Kennung Participatory development/good governance (www.oecd.org/dac).
Anteil der öffentlichen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit (Official
Development Assistance, ODA).
134
Schlussfolgerungen
Schlussfolgerungen und Orientierungen für das politische
Handeln sind:
• Diktaturen sind nicht akzeptabel, weil sie grundlegenden
menschlichen Werten widersprechen.
• Langfristig gibt es keine nachhaltige und menschenwürdige
Entwicklung ohne demokratische Freiheiten und ohne Respektierung, Schutz und Förderung der Menschenrechte.
• Vornehmste Aufgabe der Entwicklungspolitik ist es, zu einer demokratieorientierten und menschenrechtsbasierten
Entwicklung beizutragen.
• Die dauerhafte Erreichung der meisten MDGs wird durch
diktatorisch regierte Staaten, durch bad governance und
Missachtung der Freiheitsrechte der Menschen behindert,
wenn nicht sogar verhindert.
• Die Erreichung der MDGs muss mit der Förderung von
Demokratie, Menschenrechten und good governance verbunden werden. Dabei lehrt die Erfahrung, dass beim Verfolgen dieser Ziele Erfolge nicht kurzfristig zu erreichen
sind, Rückschritte immer wieder vorkommen und bei der
Kooperation mit Regierungen oft Kompromisse eingegangen werden müssen, weil deren Reformorientierung nicht
realistisch eingeschätzt werden kann (vgl. Messner/Scholz
2005, 36).
• Bei konfligierenden Interessen (etwa Verfolgung eigener
wirtschaftlicher Interessen oder Transfers umweltfreundlicher Technologien in das kommunistische China) muss gegenüber Diktatoren und bad performers dennoch eine klare
Sprache gesprochen und gegebenenfalls auch zu Sanktionen
gegriffen werden. Dazu kann auch der Stopp der entwicklungspolitischen Zusammenarbeit gehören; die Unterstützung der Not leidenden Bevölkerung, von Reformkräften
oder Organisationen der Zivilgesellschaft sollte gleichwohl
aufrechterhalten werden.
135
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137
KARIN KÜBLBÖCK
Schmerztherapie statt
Ursachenbekämpfung?
Eine strukturelle Kritik an den
Millennium-Entwicklungszielen
Die Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development
Goals, MDGs) bilden heute eine der wesentlichen Grundlagen
für Entwicklungszusammenarbeit. Sie werden sowohl von offizieller Seite als auch von zahlreichen Akteuren der Zivilgesellschaft als Rahmen für entwicklungspolitische Strategien
anerkannt. Das Ausmaß der Weltarmut als »größtes Verbrechen gegen die Menschlichkeit« (Pogge 2004) wird damit wieder stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Dieser Artikel
stellt die Frage, ob die MDGs etwas zur Beseitigung der strukturellen Ursachen von Armut beitragen werden; er kommt
zum Schluss, dass die Chance hierfür gering ist, da die Strategien zur Erreichung der MDGs die wesentlichen Ursachen von
Armut ausblenden. Die Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf Ziel 1, die Halbierung der absoluten Armut, da
dieses das zentrale Ziel darstellt, an dem man die Erfüllung des
Gesamtprojektes im Jahr 2015 messen wird.
Entstehung der Ziele
Der UN-Millenniumgipfel in New York im Jahr 2000 bildete
den Höhepunkt der in den 1990er Jahren organisierten acht
großen Weltkonferenzen, die sich mit den zentralen Problemen der Welt befassten, darunter der »Erdgipfel« in Rio 1992,
der Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995, die Weltfrauenkon138
ferenz in Beijing 1995 und der Welternährungsgipfel in Rom
1996. Die wesentlichen Inhalte der in diesem Jahrzehnt formulierten Deklarationen wurden auf dem New Yorker Gipfel
zur Millennium-Erklärung zusammengeführt. Armutsbeseitigung, Friedenserhaltung und Umweltschutz wurden als die
vordringlichsten Aufgaben der internationalen Gemeinschaft
im neuen Jahrhundert bestätigt. Die Vereinten Nationen (UN),
der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank sowie
die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) einigten sich in der Folge auf der Grundlage
des Kapitels »Entwicklung und Armutsbeseitigung« der Millenium-Erklärung auf die MDGs, die von allen Mitgliedstaaten
unterzeichnet wurden. Damit wurde erstmals auf internationaler Ebene ein gemeinsamer und überprüfbarer Zielkatalog
mit konkreten Zeitvorgaben geschaffen.
Die MDGs können als ein Versuch gesehen werden, die entwicklungspolitische Resignation der 1990er Jahre zu überwinden und eine neue Dynamik für konzertierte Aktionen zu erzeugen. Die Rechnung scheint aufzugehen: Nicht nur die Vereinten Nationen in ihrer Millennium Campaign, sondern auch
zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure machten die MDGs
weltweit zum Gegenstand von Aufrufen und Aktionen (vgl.
den Beitrag von Roth). Das Ausmaß der Armut und die dringende Steigerung der Mittel für Entwicklungsfinanzierung
rücken durch die Mobilisierung rund um die MDGs wieder
vermehrt ins öffentliche Bewusstsein.
Die gesteigerten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit,
die seit Beginn des neuen Jahrtausends zu verzeichnen sind,
sind sicherlich auch auf den durch die MDGs wachsenden internationalen Druck zurückzuführen. Von großen Veränderungen zu sprechen wäre bis jetzt dennoch übertrieben: Nach
einem Jahrzehnt sinkender Mittel für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (ODA) der Mitglieder des Entwicklungsausschusses (DAC) der OECD erreichten diese mit 0,33 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) im Jahr 2005 wieder das Niveau
139
vom Beginn der 1990er Jahre. Zurückzuführen sind die Erhöhungen im Jahr 2005 jedoch hauptsächlich auf Schuldenerlasse
für den Irak und Nigeria sowie auf die Tsunami-Hilfe – also
nicht auf unmittelbare Strategien zur MDG-Erreichung. Für
die beiden Folgejahre prognostiziert die OECD wieder einen
ODA-Rückgang (OECD 2006).
Fortschritt oder Rückschritt?
Der sowohl zeitlich als auch quantitativ überprüfbare Zielkatalog kann im Vergleich zu vorherigen Willensäußerungen der
internationalen Gemeinschaft als klarer Fortschritt bezeichnet
werden. Kommentatoren verweisen jedoch auf Rückschritte auf
anderen Ebenen: So sei im Kontrast zur UN-Tradition die Formulierung ohne den üblichen Diskussionsprozess in den verschiedenen Gremien erfolgt. Eine Errungenschaft der Konferenzen der 1990er Jahre war zudem die Einbindung von zivilgesellschaftlichen Organisationen in die Vorbereitungsprozesse.
Eine solche Beteiligung gab es im Vorfeld der Formulierung
der Millennium-Erklärung nicht (Amin 2006). Insbesondere feministische Organisationen kritisieren den Rückschritt bei Zielen, die die Geschlechtergerechtigkeit betreffen. So kommen
sexuelle und reproduktive Rechte nicht vor, und kein Indikator betrifft die Einkommensverteilung zwischen Männern und
Frauen (Antrobus 2004; vgl. den Beitrag von Wittmann).
Ein aufschlussreiches Beispiel dafür, dass der Teufel oft im
(statistischen) Detail steckt, ist die Formulierung des ersten
Zieles: War in der Abschlussdeklaration des Welternährungsgipfels von Rom (1996) noch das Ziel der Halbierung der aktuellen Anzahl der an Hunger leidenden Menschen bis zum Jahr
2015 enthalten, ist in der Millennium-Erklärung nur noch vom
Anteil der Bevölkerung die Rede. Statt der Angabe »aktuell«
(sprich: 2000) haben die MDGs das Jahr 1990 als Referenzjahr.
Da die Gesamtbevölkerung im Vergleich zu 1990 bis zum Jahr
140
2015 beträchtlich steigen wird, ist der tolerierbare Anteil der
Armen wesentlich höher, als die Hälfte der 1996 in absoluter
Armut lebenden Personen. Außerdem war weltweit gesehen
die Armut zwischen 1990 und 2000 durch die wirtschaftliche
Entwicklung Chinas und Indiens bereits zurückgegangen:
Diese zehn Jahre werden nun schon in die angestrebte Reduktion eingerechnet. Durch diese beiden Änderungen wird die
tolerierbare Zahl der absolut Armen im Vergleich zur RomDeklaration von 550 auf 880 Mio. erhöht und die zu reduzierende Anzahl der absolut armen Menschen um mehr als 60 %
gesenkt (Pogge 2003; Reddy/Pogge 2005; Wade 2003a).
Auch die Verwendung der 1 US-$ pro Tag-Grenze – bezogen auf die Kaufkraft eines Dollars in den USA im Jahr 1999
(vor 1999 war das Referenzjahr 1985) – als Definition für absolute Armut wird weithin als willkürlich und viel zu niedrig
eingeschätzt (Pogge 2004; Woodward/Sims 2006; Wade 2003a;
Socialwatch 2005). Allein die Änderung des Bezugsjahres von
1985 auf 1999 hat in 77 von 92 untersuchten Ländern die Armutsgrenze signifikant gesenkt und somit auch die Anzahl der
Menschen, die darunter lagen (Pogge 2003). Da das Bezugsjahr
der MDGs das Jahr 1990 ist, hat diese Änderung der Statistik
wesentliche Auswirkungen. Auf ihrer Basis verkündete der damalige Weltbankpräsident Wolfensohn im Jahr 2001 eine Reduktion der Armen um 200 Mio. zwischen 1980 und 2000. Kalkuliert man stattdessen mit der (immer noch niedrigen) Grenze
von 2 US-$ pro Tag, ist die Anzahl der Armen zwischen 1980
und 2001 um 12 % gestiegen. Statt die zu niedrige Grenze von
1 US-$ pro Tag zu verwenden, wäre es deshalb aussagekräftiger, höhere Grenzen zu verwenden und nationale Armutsindikatoren mit einzubeziehen, die eher die reale Lebenssituation
widerspiegeln.
Die beschriebenen Details der statistischen »Anpassung«
werfen die Frage auf, wie sehr die »Erreichung« der MDGs
vorrangig der politischen Legitimation des derzeitigen Weltwirtschaftssystems zu dienen hat. Denn die Tatsache, dass in
141
einer Welt mit Nahrungsmittelüberproduktion, hohem technologischen Fortschritt und Produktivitätszuwächsen die Hälfte
der Bevölkerung ihre dringendsten Grundbedürfnisse nicht
erfüllen kann, stellt eben dieses Weltwirtschaftssystem zunehmend in Frage und ist eine Hauptursache für soziale und politische Instabilität.
Quick fixes für Armut?
Wie stark dieser Legitimationsbedarf ist, zeigt auch der Abschlussbericht des UN-Millenniumprojektes (UN Millennium
Project 2005), der von Jeffrey Sachs koordiniert wurde, sowie die
Publikation The End of Poverty desselben Autors (Sachs 2005).
Sachs wird nicht müde, über einen big push – also eine drastische Erhöhung der Finanzmittel – das Ende der big problems
(Easterly 2006) bewirken zu wollen. »Das Ende der Armut ist
in Reichweite – innerhalb unserer Generation – aber nur, wenn
wir die vor uns liegende Gelegenheit ergreifen.«1 (Sachs 2005,
25). Die Basis für die big push-Theorie ist die Idee der »Armutsfalle«, beruhend auf den Annahmen fehlenden Sparvolumens
der Armen, hohen Bevölkerungswachstums und steigender Ertragsraten bei geringer Kapitalausstattung.2 Der Bericht erinnert damit stark an die modernisierungstheoretischen Ansätze
der 1950er und 1960er Jahre (Martens 2005; Easterly 2006).3
Eine signifikante Erhöhung der ODA soll laut Jeffrey Sachs
den Kapitalstock in den Entwicklungsländern erhöhen und
eine Entwicklungsdynamik in Gang setzen. Des Weiteren
schlägt Sachs eine Reihe von quick win-Initiativen vor, wie bei1
2
3
Übersetzung durch die Redaktion.
Nach Annahme der neoklassischen Theorie sind gerade bei geringem Kapitalbestand aufgrund der großen Produktivitätssteigerungen, die durch
Investitionen erreicht werden, die Erträge aus diesen Investitionen höher.
Ein Referenzwerk ist zum Beispiel »Stages of Economic Growth« von Walt
Whitman Rostow (1960).
142
spielsweise die Verteilung von Moskitonetzen an alle Kinder
in Malariagebieten oder die Abschaffung des Schulgelds in
Grundschulen. Diese Vorschläge sind zweifellos wichtig und
sollten umgesetzt werden – strukturelle Ursachen von Armut
bleiben dabei jedoch ausgeblendet.
Armut als technisches Problem –
Entpolitisierung der Armutsdebatte
Zahlreiche Untersuchungen in den vergangenen Jahrzehnten
konnten keinen kausalen Zusammenhang zwischen höheren
ODA-Mitteln und steigendem Wachstum feststellen (einen
Überblick über diverse Studien gibt Easterly 2003). Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung hat Afrika in den vergangenen Jahrzehnten die meisten Mittel erhalten, die Wachstumsraten waren jedoch die niedrigsten weltweit. Daraus ist zu schließen,
dass ein höherer Mittelzufluss allein für den big push nicht ausreicht. Fehlendes Wachstum und hohe Armutsraten sind auf
viele komplexe wirtschaftliche, politische und soziale Faktoren
zurückzuführen. Dabei sind sowohl interne als auch externe
Rahmenbedingungen ausschlaggebend.
Armut ist kein technisches Problem, wie es der SachsReport nahe legt. Die Formulierung und Umsetzung von Armutsminderungsstrategien ist mehr als eine Frage von fehlenden Mitteln – sie ist vor allem eine politische Angelegenheit. Es
geht um Macht und Einfluss, um die Fragen, wie einflussreiche
Gruppen (einschließlich Geberorganisationen) einer Veränderung gegenüberstehen, welche Interessen die Regierung vertritt, welche Akteure durch bestimmte Maßnahmen gewinnen
bzw. verlieren, etc. Die Darstellung der Armutsproblematik
als technische statt gesellschaftspolitische Frage trägt wesentlich zu einer Entpolitisierung der Debatte um Armutsminderung bei und zeugt damit paradoxerweise gleichzeitig von ihrem hoch politischen Charakter: Die Gewinner des derzeitigen
143
Weltwirtschaftssystems – die reichsten Staaten und ihre Transnationalen Unternehmen – haben genügend Einfluss, um der
Formulierung von Forderungen nach strukturellen Veränderungen vorzubeugen.
Armut getrennt von Reichtum?
Ein wesentliches Merkmal der weltweiten Entwicklung der
vergangenen 20 Jahre ist der enorme Anstieg der Ungleichheit
– sowohl zwischen als auch innerhalb einzelner Länder – dieser Anstieg betrifft zwei Drittel der Länder mit verfügbaren Daten (WIDER 2004a). Rund 70 % der globalen Einkommensungleichheit ist auf Einkommensunterschiede zwischen Ländern
zurückzuführen (UN/DESA 2006). Das Pro-Kopf-Einkommen
der reichsten Länder ist mit fast 28.000 US-$ 94-mal höher als
das Pro-Kopf-Einkommen der 48 ärmsten Länder (298 US-$),
wobei das Pro-Kopf-Einkommen der reichsten Länder in den
1990er Jahren um 6.000 US-$ gestiegen, in den ärmsten Ländern in der gleichen Zeit um 30 US-$ gesunken ist (UNDP
2003). Doch auch innerhalb einzelner Länder ist die Verteilungsungleichheit frappierend, insbesondere in Lateinamerika
und Afrika (Fues 2006).
Das UNDP weist seit Jahren auf das groteske Ausmaß dieser Situation hin: So hätten etwa die zehn reichsten Personen
der Welt 2002 mit einer 5 %-igen Rendite auf ihr Vermögen
das gesamte Einkommen der 37 Mio. Einwohner in Tansania
in diesem Jahr erwirtschaftet (WIDER 2004b). Diese beunruhigende Entwicklung wird – nach einer Zeit, in der das Thema
aus der akademischen und politischen Debatte weitgehend
ausgeklammert war – durch zunehmende Forschungsanstrengungen dokumentiert.4
4
Einen Überblick über verschiedene Forschungsstränge geben Kanbur/
Lustig (1999).
144
Die lange Ausblendung des Themas ist auch darauf zurückzuführen, dass ungleiche Verteilung lange Zeit als wachstumsförderlich angesehen wurde,5 da dadurch die Investitionsbereitschaft steige (wohlhabende Schichten investieren eher
als Arme, die ihr Einkommen für Konsum aufwenden) und
in Folge auch das Einkommen der ärmeren Schichten (trickle
down-Ansatz). Zudem vergrößere sich der Anreiz für Menschen am unteren Ende der Einkommensskala zu mehr Leistung, um ein höheres Einkommen zu erlangen. Oder, um es mit
Margaret Thatcher zu sagen: »Es ist unsere Aufgabe, Ungleichheit zu glorifizieren, und dafür zu sorgen, dass sich Talente
und Fähigkeiten zu unser aller Nutzen ›Luft machen‹ und ihren Ausdruck finden.« (zit. n. Wade 2004, 582).
Mittlerweile hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass
Ungleichverteilung nicht nur ein moralisches, sondern auch ein
ökonomisches Problem darstellt. Empirische Untersuchungen
kommen zunehmend zu dem Ergebnis, dass ein hohes Ausmaß an Einkommensungleichheit Wachstum bremst (Stewart
2000).6 Ein Grund hierfür ist, dass bei einem hohen Ausmaß an
Ungleichheit große Teile der Bevölkerung vom Zugang zu produktiven Tätigkeiten ausgeschlossen sind (UNDP 2002), unter
anderem durch fehlende Bildungs- und Kreditmöglichkeiten.
Wenn Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft sehr
ungleich verteilt sind, schmälert dies aber nicht nur das Wachstumspotenzial, sondern das erreichte Wachstum trägt auch viel
weniger zur Armutsminderung bei als in egalitäreren Gesellschaften (WIDER 2004a).
In internationale Politikformulierungen hält diese Erkenntnis bisher jedoch keinen Einzug. Auch in den MDGs finden
Verteilungsindikatoren trotz der ökonomischen Sinnhaftigkeit
5
6
Sehr einflussreich waren in diesem Zusammenhang die Thesen des Ökonomen Simon Kuznets (1955).
Auch die Weltbank kommt mittlerweile zu diesem Schluss, auch wenn sie
Ungleichheit auf Chancenungleichheit beschränkt (Weltbank 2005).
145
keinen Platz. Neben der personellen Einkommensverteilung
wäre ein genauerer Blick auf die Verteilung zwischen den Produktionsfaktoren lohnenswert. Durch die gestiegene Mobilität
des Produktionsfaktors Kapital im Vergleich zum Faktor Arbeit ist die Verhandlungsmacht des ersteren massiv verstärkt
worden (UNDP 2002), real sichtbar in weltweit sinkenden Unternehmenssteuern trotz steigender Gewinne sowie sinkenden Reallöhnen auch im Falle von Produktivitätssteigerungen
(zum Beispiel in Mexiko und der Türkei) (Onaran 2005).
Für die Integration von Verteilungszielen in die MDGs gäbe
es eine Reihe von Möglichkeiten: Sinnvoll wäre etwa die Berücksichtung des Gini-Koeffizienten7 als traditionelles Maß
der Einkommensverteilung innerhalb eines Landes. Kaushik
Basu (2004) schlägt als weitere Messgröße das Einkommenswachstum der ärmsten 20 % der Bevölkerung vor. Um die Einkommensverteilung zwischen den Produktionsfaktoren zu berücksichtigen, könnte die Entwicklung der Lohn- und Gewinnquote sowie der Reallöhne bzw. der Lohnstückkosten in die
Zielformulierungen miteinbezogen werden.
Ausblendung weltwirtschaftlicher
Rahmenbedingungen
Auf den Weltkonferenzen der 1990er Jahre wurde eine Vielfalt
von Themen behandelt, die in der Folge auch Eingang in die
Millennium-Erklärung fanden. Auffallend dabei ist, dass das
Thema Weltwirtschaft systematisch ausgespart wurde. Dagegen wurde noch in den 1970er Jahren im Rahmen der UN-Kon7
Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß für Verteilungsgleichheit.
Der Wert kann beliebige Größen zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher der
Gini-Koeffizient an 1 ist, desto größer ist die Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient alleine ist allerdings auch nur bedingt aussagekräftig und sollte mit
anderen Indikatoren kombiniert werden (siehe zum Beispiel http://www.
umverteilung.de/verteilung.htm).
146
ferenzen die Debatte über eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung und deren notwendige Neugestaltung mit einiger Intensität geführt (vgl. die Resolution der UN-Generalversammlung
zur Herstellung einer neuen Weltwirtschaftsordnung aus dem
Jahr 1974). Die Gründung der UN-Konferenz für Handel und
Entwicklung (UNCTAD) sowie die Formierung der G77 im
Jahr 1964 waren Ausdruck dieser politischen Konjunktur, in der
viele ehemalige Kolonien und nun autonome Staaten Selbstbewusstsein gewannen und auf eine neue weltwirtschaftliche Arbeitsteilung drängten.
Für die Entwicklungsländer ging es in diesen Debatten unter anderem um
• die Anerkennung des Anspruchs, über ihre natürlichen
Ressourcen selbst zu bestimmen und ausländische Unternehmungen zu regulieren;
• die Zusage der Industrieländer für einen Technologietransfer zu günstigen Konditionen;
• Vereinbarungen zur Stabilisierung der Exporterlöse, unter
anderem durch den Abschluss von Rohstoffpreisabkommen;
• ein größeres Mitspracherecht in IWF und Weltbank (UN
1974; Brock 2001).
Die Aktualität dieser Forderungen ist heute um nichts geringer
als vor 30 Jahren. Die ökonomische Situation der am wenigsten
entwickelten Länder (least developed countries, LDCs) ist zumeist
noch von fehlender Diversifizierung der Wirtschaft, hoher Arbeitslosigkeit und der Abhängigkeit von wenigen Exportprodukten gekennzeichnet. Dennoch sind die strukturellen Fragen der internationalen Arbeitsteilung aus der internationalen
Debatte verschwunden und bei der »zweiten Generation« der
Weltkonferenzen vernachlässigt worden.
Die Abkehr von der Debatte über die ungerechte Weltwirtschaftsordnung erfolgte in den 1980er Jahren durch einen ideologischen und politischen Umschwung. Dieser ist auf zahlreiche Faktoren zurückzuführen, die in der Literatur ausrei147
chend dokumentiert sind (Schui/Blankenburg 2002; Harvey
2005; Onaran 2005). Als Hebel für eine Politikänderung von
Seiten der Industrieländer wurde insbesondere die Verschuldungskrise Anfang der 1980er Jahre genutzt. Sie schwächte die
internationale Verhandlungsposition der Entwicklungsländer
und stellte einen Wendepunkt in der Nord-Süd-Auseinandersetzung dar. Die UNCTAD büßte ihre Rolle als Forum für Verhandlungen über die Gestaltung der Weltwirtschaft ein (Brock
2001). An ihre Stelle traten IWF und Weltbank, die allein durch
die ungleiche Stimmverteilung von den großen Industrieländern zur Durchsetzung ihrer Interessen genutzt werden konnten. Die von der G77 initiierte Debatte über eine gerechtere
Weltwirtschaft wurde abgelöst durch die von IWF und Weltbank verordnete Anpassung an die Anforderungen des Weltmarktes. Der Zusammenbruch der realsozialistischen Länder
beschleunigte zusätzlich noch die ideologische und diskursive
Fixierung auf Marktöffnung und Weltmarktorientierung als
einzig praktikablem Entwicklungsmodell.
Während in den 1960er und 1970er Jahren die endogenen
Ursachen fehlender Entwicklung zu wenig Berücksichtigung
fanden, drehte sich die Debatte in der Folge einseitig um Eigenverantwortung. Gute Regierungsführung und Weltmarktintegration wurden zu zentralen Faktoren für Entwicklung stilisiert. So wird man auch im Zusammenhang mit den MDGs
nicht müde, die Selbstverantwortung der Entwicklungsländer
in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Auch der
erwähnte Abschlussbericht des Millenniumprojekts Investing
in Development, ein »praktischer Plan, um die Millenniumsziele
zu erreichen« (UN Millennium Project 2005), sieht die Hauptverantwortung für das bisherige Verfehlen der MDGs im Versagen der Regierungen und mangelndem Problembewusstsein
der Entwicklungsländer.
Unerwähnt bleibt, dass der eigenverantwortliche Handlungsspielraum der ärmsten Länder durch ein enges Korsett
an wirtschaftspolitischen Vorgaben – geschnürt von den Inter148
nationalen Finanzinstitutionen, der Welthandelsorganisation
(WTO) und durch bilaterale Handels- und Investitionsabkommen – erheblich eingeschränkt ist. So werden Entschuldung und
neue Kredite der internationalen Finanzinstitutionen an wirtschaftspolitische Reformen wie etwa die Privatisierung von Infrastruktur und die Liberalisierung des Außenhandels und des
Finanzmarkts geknüpft. Auch die WTO-Verträge verhindern
durch die festgeschriebene Öffnung der Güter- und Dienstleistungsmärkte in vielen Fällen eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete Wirtschaftspolitik (Wade 2003b). Die stark wachsende
Anzahl bilateraler Investitionsabkommen in den vergangenen
Jahren führte in vielen Fällen zu einer Bevorzugung internationaler gegenüber heimischen Investoren (Bellak/Küblböck
2004). Dieses enge wirtschaftspolitische Korsett wird trotz
zahlreicher empirischer Ergebnisse und Erfahrungen (vgl. Kasten »Entwicklungserfahrungen«) als Ursache für mangelnde
Entwicklungsfortschritte beständig ignoriert. Während also einerseits die Interdependenzen in einer globalisierten Weltwirtschaft vielfältig thematisiert werden, werden diese im aktuell
dominanten Entwicklungsdiskurs ausgeblendet.
Beschränkte Partnerschaft
Die in Ziel 8 (Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung) formulierten Versprechen der Industrieländer in Bezug
auf ODA-Steigerung, Entschuldung, Marktzugang und Technologietransfer sind im Hinblick auf die internationalen Rahmenbedingungen zwar wichtig, werden jedoch – selbst wenn
sie erfüllt werden – kaum dazu beitragen, die strukturellen Ursachen der Armut zu beseitigen. Höhere Finanzmittel werden
ohne begleitende Industriepolitik nicht zu höherem Wachstum
führen. Die mehr als notwendige Entschuldung wird an die
Durchführung von ökonomisch nachteiligen Konditionalitäten
geknüpft, wie zum Beispiel die Liberalisierung des Agrarsek149
tors (Gaynor 2005). Von der versprochenen Marktöffnung werden insbesondere die ärmsten Entwicklungsländer aufgrund
der mangelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte nicht
profitieren können.
Entwicklungserfahrungen
Ein Blick auf die Entwicklung der heute reichen Länder
zeigt, dass kein einziges Land die heute propagierten Rezepte selbst befolgt hat (Chang 2002; Reinert 2006). Die beiden Länder, die den meisten Protektionismus betrieben, um
ihre Wirtschaft zu entwickeln, sind Großbritannien und die
USA selbst. Von 1830 bis 1945 hielten die USA ihre Zolltarife
auf einem Niveau, das zu den höchsten der Welt gehörte.
Erst nachdem die unbestrittene Vorherrschaft gesichert war,
wurden die Handelsbeziehungen liberalisiert. Wie die Auseinandersetzungen in der WTO um die Agrarsubventionen
zeigten, werden bis heute nicht konkurrenzfähige Sektoren
geschützt bzw. unterstützt. Auch kannte beispielsweise die
Schweiz bis zum Jahr 1907 kein Patentrecht. Die Niederlande
schafften 1869 ihr Patentrecht mit der Begründung wieder
ab, Patente seien auf politischem Wege geschaffene Monopole und daher mit den Grundsätzen des freien Marktes unvereinbar (Chang 2002). Diese geschichtliche Evidenz wird
bei den aktuellen WTO-Verhandlungen geflissentlich ignoriert.
Auch die südostasiatischen Tigerstaaten, die immer wieder als Vorbild für Entwicklung durch Freihandel für Länder des Südens herhalten müssen, sind einen anderen Weg
gegangen. Bevor Märkte geöffnet wurden, wurde die nationale Industrie durch staatliche Maßnahmen geschützt und
aufgebaut; der Export unverarbeiteter Produkte war nie ein
Entwicklungsziel. Die Finanzmärkte waren bis in die 1990er
Jahre strikt staatlich kontrolliert. Diese Strategien wurden
auch deshalb von den westlichen Industrieländern gedul150
det und sogar massiv subventioniert, da es galt, die Gefahr
des Kommunismus zu bekämpfen.
Auch China und Indien haben eine eigenständige Entwicklungsstrategie verfolgt und sich keineswegs an die Vorgaben der internationalen Finanzinstitutionen gehalten. Den
ärmsten afrikanischen Ländern steht diese Möglichkeit aufgrund ihrer finanziellen Abhängigkeit jedoch nicht offen.
Schlussfolgerungen
Mit den öffentlichkeitswirksamen MDGs ist es gelungen,
Armutsminderung wieder auf die internationale politische
Agenda zu rücken. Die Erfolge, die durch die entstandene Dynamik in etlichen Ländern bei verschiedenen Teilzielen erreicht
werden, sind positiv zu bewerten. Gleichzeitig reflektieren die
Ziele den aktuell dominanten Entwicklungsdiskurs, in dem
Armut als ein technisches Problem dargestellt wird, das unabhängig von nationalen und internationalen Rahmenbedingungen gelöst werden kann. Statt struktureller Veränderungen
in den Nord-Süd-Wirtschaftsbeziehungen und in den ärmsten
Ländern geht es um die Linderung der Schmerzen ihrer ökonomischen Misere (Reinert 2006).
Millennium-Entwicklungsziele, die diesen Namen verdienen, müssten alternative weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen anstreben. Wichtig dafür wäre eine internationale Politikkoordinierung (Pollin 2002; Onaran 2005; Wade 2003b),
die Regulierung der Finanzmärkte, internationale Steuerstandards, Standards für Arbeitsmärkte, verbindliche Regeln für
Transnationale Unternehmen und für entwicklungsfördernde
Investitionen (Bellak/Küblböck 2004). Dadurch erst könnten
Freiräume für die Formulierung von lokalen Entwicklungsstrategien sowie für verteilungspolitische Maßnahmen geschaffen werden. Die Einführung dieses politischen Rahmens
wäre möglich – Voraussetzung dafür ist die Herstellung eines
151
politischen Willens. Dafür wird ein gesteigerter sozialer Druck
und Mobilisierung durch eine starke Zivilgesellschaft nötig
sein, deren Ambitionen weit über die Erfüllung der aktuellen
MDGs hinausgehen.
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154
FRANZ NUSCHELER
Sinnentleerung des
Prinzips Nachhaltigkeit
Die Millennium-Entwicklungsziele
haben eine ökologische Lücke
Die internationale Entwicklungspolitik konzentriert sich seit
Beginn des 21. Jahrhunderts auf drei miteinander verflochtene
Megaprojekte:
• erstens die MDG-Agenda zur Reduzierung extremer Armut;
• zweitens eine auf der Erfahrung, dass es ohne Frieden und
Rechtssicherheit keine Entwicklung geben kann, aufbauende Sicherheitsagenda zur Konfliktprävention, zum Konfliktmanagement und zur politischen Stabilisierung fragiler Staaten, die zum Sicherheitsproblem ganzer Regionen
werden;
• drittens die Rio-Agenda, die auf der Erkenntnis beruht,
dass es enge Wechselwirkungen zwischen Umweltkrisen
und Armut gibt und die Stabilisierung des Weltklimas zu
den vorrangig schutzbedürftigen globalen öffentlichen Gütern (global public goods) zählt. Diese Erkenntnis erforderte
eine stärkere Verzahnung von Entwicklungs- und Umweltpolitik, die schon im Begriff der nachhaltigen Entwicklung
(sustainable development) angelegt ist.
Der UN-Generalsekretär Kofi Annan betonte in seinem Grundsatzbericht »In größerer Freiheit«, den er dem im September
2005 veranstalteten Millennium+5-Gipfel vorlegte, die Interdependenz dieser drei Megaprojekte, für deren Realisierung
er eine besondere Verantwortung der Vereinten Nationen beanspruchte.
155
Das Umweltproblem ist ein Kernproblem
internationaler Entwicklung
Die entwicklungspolitische Diskussion über die MDGs übersieht häufig einen elementaren Zusammenhang: Die MDGs
1–6 können nicht erreicht werden, wenn das siebente MDG,
nämlich der Schutz der Umwelt und die nachhaltige Nutzung
der knapper werdenden natürlichen Ressourcen, vernachlässigt wird. Inzwischen wurde auch eine sicherheitspolitische
Dimension des globalen Klimawandels erkannt. In einem öffentlich gewordenen Bericht des Pentagon wurden seine Auswirkungen auf die westliche Sicherheit zum Missfallen der
Pentagon-Führung sogar als bedrohlicher eingeschätzt als
der internationale Terrorismus. Der Bestseller-Autor Jared
Diamond (2005) machte in einem voluminösen Buch über den
»Kollaps« nicht Kriege, sondern den Klimawandel, Umweltschäden und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen für
den Untergang ganzer Völker verantwortlich. Dieser Prophet
der Umwelt-Apokalypse mag biblische Horrorszenarien ausmalen, kann sich aber dabei auf wissenschaftlich fundierte Prognosen stützen.
Umwelt- und Entwicklungsforscher haben die Gefährdung
der menschlichen Sicherheit (human security) durch Umweltkrisen erkannt. Viele Menschen und besonders Frauen und
Kinder sind inzwischen existenziell durch Umweltkrisen mehr
betroffen als durch Kriege. Die »Feminisierung der Armut«
hat neben Strukturen der Geschlechterungleichheit (vgl. den
Beitrag von Wittmann) auch ökologische Ursachen. Die Zahl
der Umweltflüchtlinge, die der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen zu entfliehen versuchen, übersteigt inzwischen die Zahl
der Kriegsflüchtlinge. Prognosen des UN-Umweltprogramms
(UNEP) sehen in der Umweltflucht den künftig stärksten pushFaktor von internationalen Migrationsströmen. Die United Nations University prognostiziert schon für das Jahr 2010 rund
50 Mio. Umweltflüchtlinge (UNU-EHS 2005). Ob Umwelt-,
156
Wirtschafts- oder Kriegsflüchtlinge: Alle werden in den potenziellen Zielländern zunehmend als Sicherheitsproblem perzipiert. Das Umweltproblem ist also kein Randproblem, sondern
ein Kernproblem internationaler Entwicklung und der internationalen Politik.
Analyse der Problemlage,
die dem MDG 7 zugrunde liegt
Die Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED)
von 1992, die bereits Entwicklung mit dem Schutz der Umwelt
in einen unauflösbaren Zusammenhang gebracht hatte, rückte
den Tatbestand der ökologischen Gefährdung des Planeten
und der Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen ins Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Die wissenschaftlichen
Erkenntnisse von internationalen Expertengruppen, die in die
von UNCED verabschiedete Agenda 21 eingeflossen waren,
wurden durch die Berichte des International Panel on Climate
Change (IPCC), die GEO-Berichte des UN-Umweltprogramms
(UNEP) und durch das Millennium Ecosystem Assessment aktualisiert und dramatisiert.
Diese Erkenntnisse lagen auch dem Jahresgutachten 2004
des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale
Umweltveränderungen (WBGU) mit dem richtungweisenden
Titel »Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik« zugrunde
(WBGU 2005). Im Hinblick auf die Untergewichtung der Umweltpolitik im MDG-Zielkatalog ist der Hinweis wichtig, dass
dieses Gutachten der Umweltpolitik eine strategische Schlüsselrolle bei der Armutsbekämpfung zuwies. Seine Handlungsempfehlungen, die wesentlich konkreter als die Zielvorgaben
und Indikatoren des MDG 7 sind, beruhten auf einer Analyse
des systemischen Zusammenhangs von Armutsdimensionen
und Umweltveränderungen, den die MDGs ebenfalls nicht erkennen lassen.
157
Die wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig und
können selbst von ökologischen Dinosauriern kaum noch bestritten werden: Die Eingriffe des Menschen in das Ökosystem
gefährden bereits heute in vielen Teilen der Erde die natürlichen
Lebensgrundlagen, vor allem der Armutsgruppen und hier
wiederum der Frauen. Sie sind gegenüber Umweltkrisen (Wassermangel, Bodendegradation) besonders verwundbar und
existentiellen Risiken (Ernteverlusten, Hunger, Krankheiten)
besonders ausgesetzt; sie leiden besonders unter Naturkatastrophen, deren Häufigkeit und Intensität nach Berichten von
internationalen Organisationen und Versicherungsunternehmen zunimmt (Scholz 2006); sie verfügen auch über geringere
Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten (coping capacities).
Deshalb unterscheidet die natur- und sozialwissenschaftliche
Vulnerabilitätsforschung die soziale Vulnerabilität von der geophysikalischen Vulnerabilität, die auf die Exposition einer Region oder Bevölkerungsgruppe gegenüber Naturkatastrophen
abhebt. Allerdings können auch aus Naturkatastrophen – etwa
bei Erdbeben oder bei der Tsunami-Katastrophe – soziale Katastrophen oder so genannte class-quakes entstehen.
Für die geo- oder biophysikalische Vulnerabilität legte das
International Panel on Climate Change (IPCC) umfassende Analysen und Prognosen vor. Es untersuchte vor allem Folgen des
globalen Klimawandels, die in der Zunahme von Wetterextremen, Veränderungen der Wasserkreisläufe und im Ansteigen des Meeresspiegels liegen und unterschiedliche Auswirkungen auf einzelne Regionen und Länder haben (Dietz 2006).
Das UNDP (2004) veröffentlichte unter dem Titel »Disaster
Risk« einen umfassenden Vulnerabilitätsbericht, der die besondere Verwundbarkeit von Armutsgruppen und indigenen
Volksgruppen, zu denen immerhin 350 Mio. Menschen gezählt
werden, durch Umweltkrisen belegte. Der Heidelberger Public
Health-Experte Rainer Sauerborn (2006) veranschaulichte die
vielfältigen Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheitssysteme der Welt (vgl. Abbildung 1).
158
159
Klimawandel
Quelle: Sauerborn 2006.
• Ansteigen des
Meeresspiegels
• Temperaturanstiege
• Hitzewellen
• regionale Wetterveränderungen
• Wetterextreme
Folgen des
Klimawandels
Anpassung
Sozioökonomische
und demographische
Krisen
Veränderungen
der Hydrologie/
Agrarsysteme
Mikrobiologische
Veränderungen
Abmilderung
(Mitigation)
• Mentale
Krankheiten
• Übertragung durch
Vektoren (Infektionskrankheiten)
• Wasser- und Nahrungsmittelmangel
• Luftverschmutzung
• Wetterextremen
• Temperaturanstiegen
Folgen von:
Auswirkungen
auf Gesundheit
Abbildung 1:
Wie der Klimawandel die Gesundheit beeinflusst
Allerdings hatten weder die internationale Entwicklungspolitik noch die internationale Umweltpolitik die Integration
und Kohärenz der beiden Politikbereiche, wie sie die Rio-Konferenz gefordert und in ihrer Agenda 21 ausgearbeitet hatte,
hinreichend in Strategien und Programme umgesetzt. Die Weltbank lieferte in ihrem Weltentwicklungsbericht 2003 zwar eine
überzeugende Vision von nachhaltiger Entwicklung, konnte
aber selbst nicht verschweigen, dass diese medienwirksame
Rhetorik wenig Einfluss auf ihre operativen Abteilungen hat,
die über Programme und Projekte entscheiden.
Statt gemeinsamer »globaler Verantwortung«
ein Feilschen um Positionsvorteile
Die Millennium-Erklärung von 2000 betonte geradezu emphatisch die »globale Verantwortung« staatlicher und privater Akteure für das Überleben der Menschheit in einer gesunden Umwelt. Philosophen und Ethiker beschwören eine planetarische
Verantwortungsethik, aber die internationale Politik, auch die
internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik, orientieren
sich nicht an einem wie auch immer definierbaren Weltgemeinwohl, sondern an je eigenen Interessen der Akteure und
Akteursgruppen. Auch das aufgeklärte Eigeninteresse tut sich
schwer, dem in vielen UN-Dokumenten angemahnten Imperativ kollektiven Handelns Folge zu leisten.
Warum die Imperative der Nachhaltigkeit im Ranking der
MDGs eher den Stellenwert einer pflichtschuldigen Marginalie
denn eines dem Problem angemessenen Stellenwerts erhielten,
liegt auch an der unterschiedlichen Interessenlage von Industrie- und Entwicklungsländern. Letztere halten den Umweltschutz noch immer für einen postmaterialistischen Luxus der
reichen Länder und können mit guten Gründen darauf verweisen, dass die OECD-Länder für den Klimawandel und für
die Verschwendung knapper Ressourcen hauptverantwortlich
160
sind und dass sie deshalb nach dem in der Rio-Erklärung bekräftigten Prinzip der Verantwortung mehr für die Abmilderung der negativen Auswirkungen des Klimawandels auf andere Weltregionen und künftige Generationen tun müssten.
Während in Rio, damals unter dem Druck der OECDLänder, der Umweltschutz im Vordergrund stand, gaben die
Entwicklungsländer auf dem Johannesburger Weltgipfel über
nachhaltige Entwicklung (WSSD) den sozialpolitischen Zielen und Forderungen der ersten sechs MDGs Priorität. Damit
konnten sich auch die Schwellenländer arrangieren, die zwar
nicht zur Zielgruppe der MDGs gehören, aber ihren stark wachsenden Energie- und Ressourcenverbrauch hinter sozialpolitischen Forderungen verstecken konnten. Den vielen anderen
Entwicklungsländern gelang es mit ihrem numerischen Stimmenübergewicht bei UN-Konferenzen, das im MDG 7 postulierte Prinzip der Nachhaltigkeit durch Forderungen nach einer besseren Wasserversorgung und Abwasserentsorgung aufzuweichen. Sie gewannen auf internationalen Umwelt- und
Entwicklungskonferenzen mehr Einfluss als auf Handelskonferenzen, weil die OECD-Länder beim Versuch, internationale
Regelwerke zu schaffen, auf ihre Kooperation angewiesen sind
(Biermann 1998). Bei der Bewertung des MDG-Zielkatalogs
müssen also diese unterschiedlichen Interessenlagen und Verhandlungspositionen im diplomatischen Poker um Problemlösungen berücksichtigt werden.
Die Millennium-Erklärung als Referenzdokument
Die Millennium-Erklärung zählt den »Schutz der gemeinsamen
Umwelt« zu den vier prioritären Handlungsfeldern der internationalen Entwicklungspolitik und bekennt sich ausdrücklich
zu den von der Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung
(UNCED) formulierten Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung (sustainable development). Sie verengt aber in den nachfol161
genden Absichtserklärungen und Handlungsempfehlungen
den diffusen Begriff der Nachhaltigkeit auf den Umweltschutz,
der in der Agenda 21 nur einen, obgleich prioritären Eckpunkt
in der Dreifaltigkeit von wirtschaftlicher Dynamik, sozialer
Gerechtigkeit sowie dem Schutz der Umwelt und schonender
Ressourcennutzung bildet. Unzählige Publikationen, Konferenzberichte, Erklärungen von Regierungen und nationalen
Nachhaltigkeitsräten und zuletzt die Abschlussdokumente
des Johannesburger Weltgipfels über nachhaltige Entwicklung (WSSD) von 2002 haben diese Mehrdimensionalität von
sustainable development hervorgehoben. Dagegen beschränkt
die Millennium-Erklärung die »ersten Schritte« einer »neuen
Ethik« des Naturschutzes (conservation) und der Fürsorge (stewardship) auf die folgenden umweltpolitischen Schwerpunkte:
• die Inkraftsetzung des Kioto-Protokolls zur Reduzierung
der für den globalen Klimawandel hauptverantwortlichen
CO2 -Emissionen – eine Forderung, die sich allerdings die
USA als größter CO2 -Emittend nicht zu Eigen machten und
die bei Emissionen von klimaschädigenden Gasen aufholenden »asiatischen Elefanten« China und Indien noch nicht
verpflichtete;
• die nachhaltige Nutzung von Wäldern;
• die Umsetzung der Konventionen über die Biodiversität
und die Bekämpfung der Desertifikation (»Wüstenkonvention«) in Ländern, die besonders unter Dürren und der Degradation von agrikulturell nutzbaren Böden leiden;
• die Beendigung der Wasserverschwendung durch ein besseres Wassermanagement auf regionaler, nationaler und lokaler Ebene sowie die Förderung eines für alle erschwinglichen und gerecht verteilten Wasserangebots;
• die Verstärkung der internationalen Kooperation zur Verringerung natürlicher und vom Menschen gemachter Katastrophen und zur Abmilderung ihrer Auswirkungen auf
die Menschen;
162
• Sicherung des freien Zugangs zu Informationen über die
menschliche Genom-Sequenz.
Wichtiger als diese Einzelforderungen ist die hohe Gewichtung
des »Schutzes der gemeinsamen Umwelt« im Quartett der vier
prioritären entwicklungspolitischen Handlungsfelder. Deshalb ist es wichtig, den MDG-Zielkatalog im Kontext der Erklärung zu interpretieren, die mehr Substanz als das quantifizierte
MDG 7 enthält. Sie lässt auch erahnen, warum im Jahr 2004
der Friedensnobelpreis an die kenianische Menschenrechtsund Umweltaktivistin Wangari Maathai vergeben wurde: weil
Frauen bei der Ernährungssicherung, bei der Versorgung mit
Trinkwasser und Brennholz im Besonderen von lokalen Umweltkrisen betroffen sind und sich deshalb umso stärker für
den Naturschutz engagieren.
Der diffuse Inhalt des MDG 7: Verflüchtigung des
Leitbildes der globalen nachhaltigen Entwicklung
Die in der Erklärung erhobenen Forderungen tauchen nur teilweise im MDG 7 wieder auf und werden durch einige Zielvorgaben ergänzt, die nicht gerade zur Präzisierung des Kernziels
beitragen, das lautet: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit (environmental sustainability). Die Zielvorgabe 9 fordert
ganz allgemein die Integration von Prinzipien der nachhaltigen Entwicklung in Länderprogramme, ohne diese Prinzipien
zu präzisieren, sowie ein Zurückdrehen des Verlusts von natürlichen Ressourcen. Die Zielvorgaben zehn und elf fordern
die Halbierung der Anzahl der Menschen, die keinen Zugang
zu sauberem Trinkwasser und zu elementaren sanitären Einrichtungen haben sowie eine Verbesserung der Lebensbedingungen von wenigstens 100 Mio. Slumbewohnern. Als das eigentlich Neue der MDGs in der Geschichte der internationalen
Umwelt- und Entwicklungspolitik wurde häufig hervorgehoben, dass die Verwirklichung der Ziele an konkreten Ziel- und
163
Zeitvorgaben orientiert und mit Hilfe von Indikatoren überprüfbar gemacht wurde. Deshalb ist es aufschlussreich, welche Zielvorgaben und Indikatoren zur Operationalisierung
und Konkretisierung des Oberziels ausgewählt wurden. Bei
der Auswahl von Indikatoren geht es auch darum, für welche
Messversuche einigermaßen zuverlässige Daten vorliegen. Für
das MDG 7 sammelt das UN Department of Economic and Social
Affairs alle verfügbaren Daten. Die UN Statistics Division baute
eine umfassende Millennium Indicators Database auf.
Als messbare Indikatoren für den »Schutz der gemeinsamen
Umwelt« dienen der Anteil von Waldflächen und von Schutzflächen zur Bewahrung der Biodiversität und genetischen Ressourcen an der Gesamtfläche eines Landes sowie die Pro-KopfEmissionen von Kohlendioxid. Dies sind aussagefähige Indikatoren, obgleich das Messbare nicht immer das Wichtigste
erfasst. Weil die Produktion und der Verbrauch von Energie
die Hauptquelle von Treibhausgasen und damit die Hauptursache der Erderwärmung mit ihren multiplen Auswirkungen
(Häufung von Wetterextremen, Ansteigen des Meeresspiegels,
Überflutung von tief liegenden Inseln und Siedlungsgebieten)
bildet, wurde das Bruttoinlandsprodukt pro Einheit des Energieverbrauchs als Maßstab für die Energieeffizienz hinzugefügt. Hinter solchen statistischen Operationen steht der Sachverstand von Statistikabteilungen der internationalen Organisationen, hier des oben erwähnten UN Department of Economic
and Social Affairs.
Diese UN-Behörde fügte einen wichtigen Indikator hinzu,
der unter den MDG-Indikatoren nicht auftaucht: nämlich die
Belastungen durch die häusliche Luftverschmutzung, die
durch das Verbrennen von Biomasse (Holz, Dung etc.) zum
Kochen und Heizen entstehen. Nach Schätzungen der WHO
fallen dieser Vergiftung von Innenräumen jährlich 900.000 Kinder und 700.000 Erwachsene, vorwiegend Frauen, zum Opfer.
Eigentlich hätte dieser Tatbestand von den MDGs 3 + 4 erfasst
werden müssen, wird dort aber nicht aufgegriffen. Es gibt also
164
nicht nur eine Energieverschwendung, die für eine nicht-nachhaltige Produktions- und Lebensweise steht, sondern auch eine
Energiearmut bzw. einen Mangel an sauberer Energie, der die
Entwicklung behindert, das tägliche Leben erschwert und die
Gesundheit gefährden kann.
Es kommt nicht zusammen, was zusammen gehört
Man kann darüber streiten, ob die Indikatoren zum MDG 7
hinreichend Fort- oder Rückschritte beim Umweltschutz messen können. Eine Vermehrung und Verfeinerung von Indikatoren hätte kaum einen größeren Erkenntnisgewinn gebracht.
Unverständlich ist dagegen, warum die zehnte Zielvorgabe,
nämlich die Halbierung des Anteils von Menschen ohne Zugang zu sauberem Trinkwasser, unter dem MDG 7 und nicht
unter dem zentralen MDG 1 auftaucht, das den Dreh- und Angelpunkt des MDG-Zielkatalogs bildet. Hier fordert die zweite
Zielvorgabe die Halbierung des Anteils von Menschen, die unter Hunger leiden.
Hunger und der mangelnde Zugang zu Trinkwasser, der
eine Vielzahl von Syndromen verursacht, welche die MDGs 4
bis 6 aufzählen, sind elementare und zusammenhängende Manifestationen von Armut. Der Zugang zu Trinkwasser und zu
elementaren sanitären Anlagen ist eine unverzichtbare Komponente der Gesundheitsfürsorge und des Kampfes gegen Armut. Wasser ist die Grundlage allen Lebens und deshalb gilt
der Zugang zu ihm als Menschenrecht. Das nachhaltige Wassermanagement kann zwar dem im MDG 7 geforderten Ressourcenschutz zugeordnet werden, aber in dessen Systematik,
die den Umweltschutz im MDG-Zielkatalog verankern soll, ist
die zehnte Zielvorgabe ein Fremdkörper.
165
Es kommt zusammen, was nicht zusammen gehört
Noch kritikwürdiger ist die elfte Zielvorgabe, das – wohlgemerkt unter dem Oberziel der environmental sustainability – die
Verbesserung der Lebensbedingungen von 100 Mio. Slumbewohnern bis zum Jahr 2020 fordert. Schon jetzt hausen nach
Schätzungen von UN Habitat über 900 Mio. Menschen in Slums
und bis zum Stichjahr 2020 wird diese Zahl im Gefolge der
rasanten Urbanisierung in vielen Entwicklungsländern auf
1,4 Mrd. anwachsen. Die Indikatoren 30+31 weisen darauf hin,
dass die Slumbewohner unter völlig unzureichenden sanitären
Anlagen, deren Fehlen Slums in stinkende Kloaken verwandeln, und unter ungesicherten Besitz- und Nutzungsrechten
leiden. Aber dies gilt nicht nur für die Minderheit von 100 Mio.
Es ist nicht zu erkennen, warum dieses sozialpolitische Ziel im
Kontext des MDG 7 auftaucht, auch wenn die häufig im Dreck
und Gestank versinkenden Slums ein gravierendes Umweltproblem darstellen, vor allem dann, wenn die Umwelt im umfassenden Sinne als livelihood verstanden wird.
Das MDG 7 verengt einerseits den Begriff der Nachhaltigkeit auf den Umweltschutz und überfrachtet es andererseits
mit sozialpolitischen Forderungen, die nicht zu seinen konstitutiven Begriffsinhalten zählen. Die Zielvorgaben zehn und elf
sowie die dazu gehörenden Indikatoren vermitteln den Eindruck, dass Nachhaltigkeit für die Konstrukteure des MDGZielkatalogs als eine Allerweltsformel ohne spezifische Konturen herhalten musste. Eine Nachhaltigkeitspolitik ist auch
im engeren Sinne der Umweltpolitik für die nachhaltige Bekämpfung der Armut so wichtig, dass sie nicht zum konturlosen Konglomerat von sozialpolitischen Forderungen, für die
andere Ober- und Teilziele zur Verfügung standen, hätte abgewertet werden dürfen. Auf diese Weise verflüchtigte sich im
MDG-Zielkatalog das Leitbild der globalen nachhaltigen Entwicklung.
166
Vorschläge zur Verkoppelung
von Umwelt- und Entwicklungspolitik
Es war eine Kernthese des WBGU-Gutachtens »Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik«, dass die MDGs 1–6 nicht erreicht werden können, wenn der Schutz der Umwelt und der
natürlichen Lebensgrundlagen vernachlässigt wird. Deshalb
gehören Umwelt- und Entwicklungspolitik untrennbar zusammen, müssen zusammen gedacht und in kohärente Strategien umgesetzt werden. Nur eine integrative und kohärente
Verknüpfung der beiden institutionell noch immer getrennten
Politikbereiche kann dem in Rio entworfenen Leitbild einer
nachhaltigen, das heißt wirtschaftlich zukunftsfähigen, aber
zugleich umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung gerecht werden. Das vom WBGU konstruierte »Rio-Rad« (vgl.
Abb. 2) verdeutlicht die teilweise schon funktionierenden, aber
der Verstärkung bedürftigen Kopplungen zwischen globaler
Umwelt- und Entwicklungspolitik und die Wechselwirkungen
zwischen den beiden Politikbereichen.
Weil der MDG-Zielkatalog das Resultat diplomatischer Verhandlungen war, die auf einen größtmöglichen Konsens abzielten und deshalb strittige Punkte ausklammerten, drückt er
sich auch darum, institutionelle Konsequenzen aus dem Imperativ der Nachhaltigkeit zu ziehen. Dazu gehört die von vielen
europäischen Regierungen geforderte Aufwertung des personell unterbesetzten und mit einem schwachen Handlungsmandat ausgestatteten UN-Umweltprogramms (UNEP) zu einer
dem Problemdruck eher angemessen UN-Sonderorganisation.
Weil die Umwelt- und Entwicklungspolitik auf allen Politikebenen noch von verschiedenen Organisationen und nicht
nur in Deutschland auch von verschiedenen und häufig miteinander konkurrierenden Ressorts behandelt werden, muss
über ihre institutionelle Verzahnung nachgedacht werden,
die über eine statuarische Aufwertung des UNEP hinausgeht.
Umwelt- und Entwicklungsfragen sind Zukunftsfragen der
167
168
Schuldenerlass
Nachhaltige
Konsum- und
Produktionsmuster
Quelle: WBGU 2005.
Schutz natürlicher
Kohlenstoffspeicher
und -senken:
Waldprotokoll
Vermeidung gefährlicher
Klimaänderungen:
Starkes Post-KiotoRegime
Bewahrung ökologischer
Integrität und Vielfalt
Finanzierungs- und
Lenkungsinstrumente
GLOBALE
UMWELTPOLITIK
Entschädigungszahlungen
Steigerung der
GLOBALE
Funktionsfähigkeit
ENTWICKLUNGSvon Märkten
POLITIK
Abbau
Katalysator:
großer
Transfer emissionsarmer
Disparitäten
Katalysator:
Technologien
Entwicklungszusammenarbeit
Krisen- und
Bekämpfung
Konfliktprävention
Good
absoluter Armut
governance
Förderung
nachhaltigen
Wirtschaftswachstums
Reduktion von
Vulnerabilität
Nachhaltige
Investitionen,
z.B. Energie
Abbildung 2:
Das Rio-Rad des WBGU
Menschheit, deren Bewältigung für die Bewahrung der global
common goods oder für die Vermeidung von global common bads
unverzichtbar ist. Sie sollten deshalb im UN-System ebenso
hoch verankert werden wie Sicherheitsfragen. Der UN-Sicherheitsrat kümmert sich jedoch nicht um Probleme, die für die
Mehrheit der Menschheit von existenzieller Bedeutung sind,
und der eigentlich zuständige UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) ist ein handlungsunfähiges Diskussionsforum,
das viele Resolutionen produziert, aber keine relevanten Entscheidungen treffen kann. Für die Bearbeitung von Entwicklungsfragen wurde ein Wildwuchs von UN-Organisationen
geschaffen, die mit mehr oder weniger Effizienz spezielle Problemfelder bearbeiten, dabei aber schwerwiegende Koordinations- und Kohärenzprobleme schaffen.
Der WBGU (2005) entwarf deshalb die Vision eines Global
Council for Development and Environment, der den moribunden
ECOSOC ablösen und im UN-System institutionell zusammenführen sollte, was die Rio-Konferenz von 1992 unter dem
Konferenztitel »Environment and Development« bereits programmatisch angedacht hatte. Diese Vision stößt zwar bei Industrie- und Entwicklungsländern noch auf viele Widerstände,
zumal es im UN-System noch viele andere Baustellen gibt. Visionen können jedoch langfristigen Überlegungen zu Problemlösungen eine Orientierung geben. Und die ökologische Gefährdung des Planeten ist ebenso ein Menschheitsproblem ersten Ranges wie das Armuts- und Sicherheitsproblem. Sie bilden
zusammen die eingangs erwähnte Triade der Megaprojekte.
Fazit: Wider den Ungeist der
ökologischen Bedenkenlosigkeit
Auf dem im September 2005 im New Yorker UN-Hauptquartier
veranstalteten Millennium+5-Gipfel konnte sich der US-Präsident George W. Bush nur ein sehr halbherziges Bekenntnis zu
169
den MDGs abringen. Sein UN-Botschafter versuchte sogar, den
respect for nature aus dem Resolutionsentwurf zum Abschluss
des Gipfels zu streichen. Zwar sperrt sich die mit Ölinteressen
verbandelte US-Regierung inzwischen nicht mehr gegen die
Einsicht, dass der globale Klimawandel von menschlichen Produktions- und Lebensweisen verursacht wird und eine globale
Bedrohung für alle Gesellschaften darstellt, aber der Imperativ
der Nachhaltigkeit wird nur in Sonntagsreden rezitiert. Auch
der Rio+10 genannte Johannesburger Weltgipfel über nachhaltige Entwicklung von 2002 reanimierte nicht den »Geist von
Rio«, sondern konzentrierte sich unter dem Druck der Entwicklungsländer auf sozialpolitische Forderungen, vor allem
auf die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung von
Abwässern. Allenfalls das starke Plädoyer für die Förderung
erneuerbarer Energien zur Verringerung der Energiearmut
und zugleich der weltweiten CO2 -Emissionen hatte einen starken umweltpolitischen Bezug.
Das MDG 7 trug nicht dazu bei, der Umweltpolitik einen
höheren Stellenwert in der internationalen Entwicklungspolitik zu verschaffen und ihren unverzichtbaren Beitrag zur Armutsbekämpfung zu verdeutlichen. Weil eine zielgerichtete
Politik der Nachhaltigkeit auf allen politischen Handlungsebenen die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung der
Armut ist, ist die Untergewichtung der ökologischen Nachhaltigkeit im Prioritätenkatalog der MDGs inkonsequent und
fällt hinter den Erkenntnisstand der Rio-Konferenz zurück, die
vor nun 14 Jahren stattfand. Die relativ positive Bilanz zur Verwirklichung der sozialpolitischen MDGs (vgl. den Beitrag von
Fues) gilt nicht für das MDG 7, obwohl das UN Department of
Economic and Social Affairs auch hier bei einzelnen Indikatoren –
unter anderem bei der Erweiterung von Schutzflächen zur Bewahrung der biologischen Diversität – Fortschritte entdeckte.
Es ist deshalb dringend geboten, den von den MDGs verdrängten »Geist von Rio« zu reanimieren, um dem Ungeist
der ökologischen Bedenkenlosigkeit, wie ihn China in seiner
170
Wachstumsmanie pflegt, zu begegnen. China erzielt zwar große
Erfolge bei der Armutsbekämpfung, die die weltweite Armutsquote deutlich senkte, ist aber dabei, durch die selbstzerstörerische ökologische Rücksichtslosigkeit die eigene Zukunftsfähigkeit zu verspielen. Die Kosten der Umweltverschmutzung
verzehren bereits ein rundes Zehntel des chinesischen Bruttosozialprodukts (Scholz 2006). Weil die Schwellenländer bzw.
»Ankerländer« (nach der Sprachregelung des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik), allen voran China und Indien,
beim Ressourcenverbrauch und bei CO2 -Emissionen zu den
OECD-Ländern aufschließen und die meisten von ihnen bald
überholen werden, müssen sie stärker als bisher in die globale
Umweltpolitik einbezogen werden. Der Beitrag Chinas und Indiens zu den weltweiten CO2 -Emissionen könnte im Jahr 2030
schon bei etwa 50 % liegen, wenn nicht die Abkoppelung des
Wirtschaftswachstums von CO2 -Emissionen gelingen sollte.
Die ökologische Wende, die eine Energiewende voraussetzt
(WBGU 2003), erfordert allerdings nicht nur viel politische
Weitsicht und Energie, sondern wird auch viel Geld kosten.
Nach Schätzungen des WBGU müssten allein die OECD-Länder
jährlich rund 1 % ihres Bruttosozialprodukts investieren, um
die voranschreitende Zerstörung des globalen Ökosystems
durch eine globale Umwelt- und Entwicklungspolitik aufzuhalten. Was sie bisher in diese Zukunftssicherung zu investieren bereit waren, wurde im Sachs-Report sehr kritisch kommentiert. Weil auch auf die Entwicklungs- und Schwellenländer große umweltpolitische Herausforderungen zukommen,
ist es offensichtlich, dass neue Finanzierungsinstrumente –
wie die Tobin-Steuer oder eine globale CO2 -Steuer – geschaffen werden müssen. Ein weiteres Abwarten und Hinauszögern
würde den ökologischen point of no return vorziehen, der auch
die Armutsbekämpfung in die Sackgasse führen würde.
171
Literatur
Biermann, Frank, 1998: Weltumweltpolitik zwischen Nord und Süd.
Baden-Baden.
Diamond, Jared, 2005: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen. Frankfurt/M.
Dietz, Kristina, 2006: Vulnerabilität und Anpassung gegenüber Klimawandel aus sozial-ökologischer Perspektive (Diskussionspapier 01/06
des Projekts »Global Governance und Klimawandel«). Berlin.
IPCC, 2001: Climate Change 2001: Impacts, Adaptation and Vulnerability.
Cambridge.
Sauerborn, Rainer, 2006: Klimawandel und globale Gesundheitsrisiken,
in: Tobias Debiel, Dirk Messner, Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends
2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt, hg. v. Stiftung Entwicklung
und Frieden. Frankfurt/M., i. E.
Scholz, Imme, 2006: Globale Umweltkrisen und »asiatische Elefanten«, in:
Tobias Debiel/Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends
2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt, hg. v. Stiftung Entwicklung
und Frieden. Frankfurt/M., i. E.
UNDP, 2004: Reducing Disaster Risk. A Challenge for Development. New
York.
UNU-EHS, 2005: As Ranks of »Environmental Refugees« Swell Worldwide, Calls Grow for Better Definition, Recognition, Support, Presseerklärung, 12. Oktober (http://www.ehs.unu.edu/index.php/article:
130?menu=44, 3.8.06).
WBGU, 2003: Welt im Wandel – Energiewende zur Nachhaltigkeit. Berlin.
WBGU, 2005: Welt im Wandel – Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik. Berlin.
Weltbank, 2000: World Development Report 2000/2001: Attacking Poverty. Washington, D.C.
Weltbank, 2003: World Development Report 2003: Sustainable Development in a Dynamic World. Washington, D.C.
172
VERONIKA WITTMANN
Gender und die
Millennium-Entwicklungsziele
Empowerment ohne
Veränderung der Machtstrukturen?
Die Verabschiedung der Millennium-Erklärung im Jahr 2000
durch die Staats- und Regierungschefs aller UN-Mitgliedstaaten sowie die von ihr abgeleiteten Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) bedeuteten eine
Zäsur in der entwicklungspolitischen Debatte und Praxis. Ob
sie auch im Hinblick auf Gender-Gerechtigkeit eine solche darstellen, wird jedoch von vielen bezweifelt.
Die feministische Kritik an den MDGs
Unter dem Gender-Blickwinkel sticht insbesondere das MDG 3
hervor, das die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern
thematisiert, wobei der Fokus auf die Bildung, den formellen
Arbeitsmarkt und die Gesetzgebung gerichtet ist. Feministen
und Feministinnen erkennen es zwar als Erfolg der internationalen Frauenbewegung an, dass die Förderung der Gleichstellung der Geschlechter und das Empowerment von Frauen als
eigenes Ziel und an prominenter Stelle innerhalb der MDGs
positioniert wurde. Sowohl von zahlreichen zu gender-spezifischen Themen arbeitenden Nichtregierungsorganisationen
(NGOs) als auch von Seiten bekannter Frauenrechtler und
Frauenrechtlerinnen – wie etwa Peggy Antrobus vom internationalen Frauennetzwerk Development Alternatives for Women of
a New Era (DAWN) – und von feministischen Journalisten und
173
Journalistinnen gab es jedoch auch heftige Kritik an den MDGs.
Sie bezeichnen sie als »(…) dürres Gerüst zielgerichteter Handlungsanweisungen an die Regierungen«, eine »Schmalspuragenda, die Frauen auf die stereotypen Rollen als (Schul-)Mädchen im Zusammenhang mit Bildung, Schwangere und Mütter
im Zusammenhang mit Kinder- und Müttersterblichkeit reduziert« (Wichterich 2005, 23); die MDGs seien ein »Täuschungsmanöver« (Neuhold 2005, 6) oder sogar ein »Schwindel« (Antrobus 2004, 14). Zahlreiche kritische Bewertungen weisen darauf hin, dass politisch kontrovers diskutierte Themen wie die
reproduktiven und sexuellen Rechte von Frauen sich nicht im
Zielkatalog finden und das Massenproblem psychischer und
physischer Gewalt gegen Frauen gänzlich ausgeblendet wird.
Der Gender-Begriff
Die Gender-Forschung unterscheidet zwischen dem biologischen Geschlecht »Sex« und dem soziokulturellen Geschlecht »Gender«. Die analytische Unterscheidung dient
dazu, sozio-historisch entstandene weibliche und männliche Geschlechtsidentitäten sichtbar zu machen, wobei im
alltäglichen doing gender die Geschlechterdifferenz dadurch
erzeugt wird, dass die Menschen sich kontinuierlich zu
Frauen und Männern machen bzw. machen lassen. Gender
drückt auch aus, dass die Zuweisung von Menschen zum
weiblichen oder männlichen Geschlecht, welche zugleich
eine hierarchische ist, als auch die inhaltliche Festlegung
von Weiblichkeit und Männlichkeit durch gesellschaftliche
Machtmechanismen entstehen. Gender zielt somit auf die
soziale Konstruktion von Rollen und Attributen ab, die als
geschlechtsspezifisch normiert werden. Sowohl Geschlecht
als auch ethnische Zugehörigkeit waren und sind in vielen
Gesellschaften Indikatoren von sozialer Ungleichheit. Es
existieren daher historisch und ethnographisch unterschiedliche Konfigurationen von Geschlechterverhältnissen.
174
Frauen werden bei den MDGs primär als Zielgruppe für Investitionen in die sozio-ökonomische Infrastruktur betrachtet.
Problematisch ist hierbei, dass ihre Rolle als Hauptakteurinnen
von Entwicklung – dies ist spätestens seit der UN-Weltfrauendekade (1975–1985), in der drei Weltfrauenkonferenzen stattfanden, bekannt – nicht zum Tragen kommt und das im Ziel 3
angeführte Empowerment zu einem unwesentlichen Nebenelement mutiert. Eine Vielzahl an Entwicklungsorganisationen
richtete in den vergangenen Jahrzehnten eigene Abteilungen
zur Förderung von Frauen ein. Frauen wurden durch diese
Vorgehensweise zu einer speziellen Zielgruppe im Rahmen
der Entwicklungspolitik; finanzielle Unterstützung erhielten
oft Entwicklungsorganisationen, die mit ihren Projekten diese
Zielgruppe adressierten.
Empowerment beschäftigt sich nicht nur mit bestehenden
Machtstrukturen und -verhältnissen zwischen den Geschlechtern, sondern auch mit jenen, die aufgrund von Ethnizität
und Schichtzugehörigkeit bestehen. In einer Publikation von
DAWN wird Empowerment als die Strategie für eine »strukturelle Transformation der ökonomischen, politischen und kulturellen Herrschaftsformen auf internationaler, nationaler, lokaler und der Ebene des Haushalts« bezeichnet (Neuhold 1994,
18f.). Eine nachhaltige Verbesserung der Situation von Frauen
ist nur dann zu erreichen, wenn damit zugleich eine Veränderung der bestehenden Machtverhältnisse auf sämtlichen Ebenen einhergeht. Gerade diese Veränderbarkeit von Hierarchien
und Machtverhältnissen ist für die Analyse von Entwicklungsgesellschaften wichtig, wird aber vom MDG-Zielkatalog ausgeblendet.
Bei den MDGs werden Frauen – im Kontrast zu den Beschlüssen der vierten UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in
Beijing – nicht primär als Rechtssubjekte angesprochen, sondern als Unterstützungsbedürftige und Zielgruppe von Investitionen. Die für die MDGs zentrale Grundbedürfnisstrategie, steht im Widerspruch zur Wahrnehmung von Frauen als
175
jener Hälfte der Menschheit, die einen Anspruch darauf hat,
dass geschlechtsspezifische Diskriminierungen – ob auf politischer, ökonomischer, rechtlicher oder sozialer Ebene – beendet werden.
Im Unterschied zu der von der Grundbedürfnisstrategie
den Frauen zugewiesenen Rolle begründet der Gender and Development (GAD)-Ansatz eine Sichtweise, die Frauen nicht als
passive Rezipientinnen von Entwicklung, sondern deren aktive Agentinnen sieht. Eine feministische Kritik muss darüber
hinaus die MDGs auch als »alten Wein in neuen Schläuchen«
qualifizieren, denn die meisten der Ziele finden sich bereits
in entwicklungspolitischen Erklärungen der 1970er Jahre, als
die »Dekade der Grundbedürfnisstrategie« mit dem Anspruch
eingeleitet wurde, extreme Armut und Hunger zu beseitigen.
Inhaltlich sind die MDGs also keine neuen Forderungen. Auch
die Erkenntnis, dass das weibliche Geschlecht »Hauptbetroffene« von Armut ist, stellt keine Neuigkeit dar.
Nicht die Ziele waren das Originelle an den MDGs, sondern
dass sich erstmals alle Mitgliedstaaten der UN zur »globalen
Verantwortung« bekannt und sich dazu verpflichtet haben, die
Zielsetzungen zu verwirklichen. »Die Millenniums-Entwicklungsziele sind die am breitesten unterstützten, umfassendsten und konkretesten Vorgaben zur Verringerung der Armut,
die die Welt je aufgestellt hat«, heißt es in dem im Januar 2005
präsentierten Bericht des UN-Millenniumprojektes Investing
in Development unter der Leitung des US-Ökonomen Jeffrey
Sachs (2005, 2). In der internationalen Entwicklungspolitik
gab es bisher kein vergleichbares Momentum, Absichtserklärungen auch Taten folgen zu lassen. Die Einigkeit unter den
verschiedenen Akteuren – von den UN-Organisationen, über
den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank,
die Triade Europa, Nordamerika und Japan, die Länder des
Südens, die staatlichen Entwicklungsorganisationen bis hin zu
den NGOs – war bei keinem anderen entwicklungspolitischen
Zielkatalog so groß wie bei den MDGs. Viele der Ziele und
176
Forderungen, welche die MDGs zusammenfassen, wurden
bereits in Beschlüssen von Weltkonferenzen der 1990er Jahre
wie auch in zahlreichen Strategiepapieren formuliert. In Bezug
auf die Gender-Gerechtigkeit fallen sie jedoch einige Schritte
zurück. Hier war das Aktionsprogramm der Weltfrauenkonferenz von Beijing wesentlich konkreter und weit reichender
(Fues/Hamm 2001).
Gender in der Millennium-Erklärung:
ein rudimentärer Bereich
Betrachtet man die Millennium-Erklärung im Hinblick auf
ihre gender-spezifischen Komponenten und geschlechterblinden Flecken, ergibt sich folgendes Bild: Sie beginnt mit der
Feststellung, dass die zentrale Herausforderung der Gegenwart darin liege, die Globalisierung zu einer positiven Kraft
für alle Menschen zu machen. Diese eröffne zwar große Chancen, ihre Vorteile wie auch ihre Kosten seien jedoch sehr ungleich verteilt. Einleitend wird festgehalten, dass die internationalen Beziehungen von den Werten und Grundsätzen der
»Freiheit«, »Gleichheit«, »Solidarität«, »Toleranz«, »Achtung
vor der Natur« und einer »gemeinsam getragenen Verantwortung« geprägt sein sollten. Frauen werden explizit in den
Punkten »Freiheit« und »Gleichheit« erwähnt. Der Grundsatz
der »Gleichheit« beinhaltet die Forderung nach Gleichberechtigung von Männern und Frauen sowie nach Chancengleichheit
im Entwicklungsprozess. Bei den anderen vier Grundwerten
werden frauenspezifische Themen und Gender-Gerechtigkeit nicht angesprochen. Frauen finden auch keine eigene Erwähnung im zweiten Teil der Erklärung zu »Frieden, Sicherheit und Abrüstung«. Die Feststellung, dass Bürgerkriege und
Kriege zwischen Staaten im vergangenen Jahrzehnt über fünf
Millionen Menschenleben gefordert haben, übergeht die Tatsa-
177
che, dass Frauen weltweit am stärksten von kriegerischen Auseinandersetzungen und Migration betroffen sind.
Der dritte Abschnitt »Entwicklung und Armutsbeseitigung« behandelt viele der Bereiche, die in den MDGs aufgegriffen wurden: In der Auflistung der Themen finden sich
gender-spezifische Punkte bei der Grundbildung für alle Mädchen und Jungen, bei der Senkung der Müttersterblichkeit um
drei Viertel sowie bei der Förderung der Gleichstellung der
Geschlechter. Bei den Aspekten Armut, Verfügbarkeit von sauberem Trinkwasser und lebenswichtigen Medikamenten, Verbesserung der Lebensbedingungen von Slumbewohnern und
Slumbewohnerinnen, Aufbau von Partnerschaften mit dem
Privatsektor und den Organisationen der Zivilgesellschaft sowie der Nutzung der neuen Technologien, insbesondere der
Informations- und Kommunikationstechnologien, nimmt die
Millennium-Erklärung keine geschlechtsspezifischen Unterscheidungen vor. Keine explizite Erwähnung finden Frauen
auch im vierten Abschnitt zum »Schutz unserer gemeinsamen
Umwelt«, in dem es hauptsächlich um die Sicherheit der nachfolgenden Generationen vor der Gefahr einer irreversibel verschmutzten Natur geht.
Einen gender-sensitiven Teil enthält jedoch Teil fünf der Erklärung zu »Menschenrechten, Demokratie und Good Governance«, in dem die Umsetzung des Abkommens zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW)
wie auch die Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen
Frauen gefordert wird (VN 2000, Abs. 25). Dieser Aspekt wird
in den MDGs nicht angesprochen. Auch Rassismus und Ausländerfeindlichkeit wird ausgeklammert. Während die Millennium-Erklärung noch Maßnahmen zum Schutz von Migranten
und Migrantinnen, gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit sowie zur Förderung der Toleranz in allen Gesellschaften
forderte (VN 2000, Abs. 25), fehlen diese in den MDGs vollständig (Nazombe/Barton 2004, 40). Der im sechsten Punkt angemahnte »Schutz der Schwächeren« wird zwar auf Zivilper178
sonen in komplexen Notsituationen bezogen, Frauen bleiben
aber als besonders verwundbare Gruppe unerwähnt.
Die Entmystifizierung der MDGs
durch den Gender-Blick
Auf den ersten Blick sind die MDGs nicht mehr als quantifizierte internationale Vorgaben, die an einen konkreten Zeitrahmen gebunden sind, um die extreme Armut in ihren verschiedenen Dimensionen (Hunger, Einkommensarmut, Krankheit
etc.) zu reduzieren und die Gleichstellung der Geschlechter,
die Bildung, die ökologische Nachhaltigkeit und die globale
Zusammenarbeit zu fördern. Betrachtet man sie aus einer
gender-sensitiven Perspektive, so ergibt sich jedoch ein anderes Bild. In den drei wichtigen MDGs 4, 5 und 6 kommen
Frauen lediglich als Mütter bzw. als von Krankheit Betroffene
vor. Für das MDG 2 sollen geschlechterdifferenzierte Datenerhebungen vorgenommen werden. Die MDGs 1, 7 und 8 enthalten keinerlei Hinweise auf Gender-Themen und Geschlechterverhältnisse. Die Thematik von Gender und Empowerment von
Frauen wird zwar im Ziel 3 – »Förderung der Gleichstellung
der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen« – angesprochen, hier jedoch auf die Bereiche Bildung, formelle Arbeit
und Politik verengt.
Aus feministischer Sicht kommt hinzu, dass die mehrheitlich quantitativen acht Entwicklungsziele, 18 Zielvorgaben
und 48 Indikatoren nichts über die Qualität von Entwicklung
auszusagen vermögen, weil sie lediglich nach deren Mess- und
Überprüfbarkeit fragen. Ein einfaches Beispiel zeigt, dass in
gender-spezifischer Hinsicht eine quantitative Verbesserung
nicht zwangsläufig zu einer qualitativen beiträgt: Die Einschulungsrate von Mädchen sagt etwas über ihre Möglichkeiten
aus, eine Schule besuchen und abzuschließen. Aber geschlechtergerechte Unterrichtsmethoden und -inhalte sind ebenso
179
wichtig. Selbst wenn ein Mädchen seine Grundschuljahre absolviert hat – und damit MDG 2 erreicht wird – kann sie in dieser Zeit geschlechterstereotypen Darstellungen bei den Lehrinhalten ausgesetzt gewesen sein. Da quantitative Zielvorgaben allein nicht ausreichen, um Geschlechterungleichheiten zu
reduzieren, fordern Feministen und Feministinnen die Hinzufügung von qualitativen Messmethoden bei der Überprüfung
der MDGs (UNDP 2003, 24f.).
Die »Feminisierung der Armut« hat viele Ursachen und Dimensionen, die weder im Ziel 1 erwähnt, noch in den anderen
sieben MDGs ausreichend erfasst werden. Ein zentraler Kritikpunkt ist, dass die Gender-Thematik kein Querschnittsthema
darstellt. Mit Ausnahme von Ziel 3, das sich explizit auf Frauen
und deren Empowerment bezieht, kommen Frauen nicht als besonders benachteiligte Gruppe vor. Ein derartig geschlechterblindes Vorgehen geht nicht nur an der Realität vorbei, sondern zeugt auch von einem geringen Problembewusstsein.
Eine wichtige Innovation enthalten hingegen die Strategiepapiere zur Armutsminderung (Poverty Reduction Strategy Papers, PRSP), die ein Instrument zur Umsetzung der MDGs sind.
Ihr Ziel ist unter anderem die gesellschaftliche Partizipation
bei der Verwendung der bei Schuldenerlassen frei werdenden
Mittel. Partizipation ist ein Wert an sich; sie ist dann am wirkungsvollsten, wenn sich auch Frauen als hauptsächlich von
Armut betroffene Gruppen beteiligen können. So stellte der
UN-Generalsekretär Kofi Annan (2005, 15) fest: »Ermächtigte
Frauen können zu den wirksamsten Antriebskräften der Entwicklung gehören.«
Für Christa Wichterich (2005, 21) sind die MDGs jedoch
einem anderen Ansatz verpflichtet:
»Die Dynamik, die die MDGs in Gang setzen, ist (…) TopDown und entspricht nicht einem Empowerment der
Machtlosen. Insofern stellen die MDGs einen Gegenentwurf zu den entwicklungspolitischen Ansätzen von Partizipation und Selbsthilfe dar.«
180
Das den MDGs zugrunde liegenden Verständnis von Entwicklung beruht auf dem »Recht auf Entwicklung« und betont zugleich wirtschaftspolitische Werte wie Freihandel und Marktöffnung. Diese haben jedoch selten zur Verringerung von Geschlechterungleichheiten beigetragen. »Armutsbekämpfung
steht ganz im Zeichen neoliberaler Globalisierungspolitik, der
unterstellte Entwicklungsbegriff ist das bisherige lineare, nach
westlichen Wertmaßstäben ausgerichtete Modell.« (Neuhold
2005, 9).
Der Verdacht, dass die MDGs lediglich Symptome der Armut kurieren, wird durch das Faktum erhärtet, dass sie soziale
Ungleichheit und damit die strukturellen Ursachen von Armut
gänzlich tabuisieren. Armut kann nicht losgelöst von sozialer
Ungleichheit, die geschlechtsspezifische Charakteristika aufweist, betrachtet werden. Hinzu kommt, dass Armut mit ungerecht verteilten Ressourcen und Machtpositionen zwischen
den Geschlechtern unmittelbar in Zusammenhang steht. Diesen Punkt vernachlässigen jedoch die MDGs. Caroline Moser
(1999, 144) hat in diesem Zusammenhang die Unterscheidung
zwischen Practical Gender Needs und Strategic Gender Needs entwickelt. Erstere betreffen alltägliche Bedürfnisse wie den Zugang zur Gesundheits- und Wasserversorgung, zu Arbeit etc.
Strategic Gender Needs beinhalten den Zugang zu Macht und
Kontrolle über diese Ressourcen und fordern damit die Umgestaltung bestehender Geschlechterverhältnisse. Diese Bedürfnisse werden bei den MDGs jedoch gravierend unterbelichtet.
Die entwicklungspolitischen Anstrengungen der vergangenen Jahrzehnte haben gezeigt, dass Gender-Gerechtigkeit
die Voraussetzung für eine nachhaltige Reduzierung von Armut ist. Aus diesem Grund ist die defizitäre Erwähnung der
Geschlechterfrage im Prioritätenkatalog der MDGs nicht nur
inkonsequent, sie geht auch an den Realitäten vorbei. Entwicklungspolitik und die Gleichstellung der Geschlechter sind untrennbar miteinander verbunden; sie müssen nicht nur zusam-
181
men gedacht, sondern auch in handlungsorientierte Strategien
umgesetzt werden.
Eine zielgerichtete Politik der Armutsbekämpfung stellt für
eine nationale und internationale Entwicklungspolitik, die an
Legitimation und Glaubwürdigkeit gewinnen möchte, sicherlich die Probe aufs Exempel dar. Von hoher Relevanz ist dabei,
dass die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich
bei den Armutsgruppen in Entwicklungsländern – und dies
sind mehrheitlich Frauen – ankommen. Hierzu bedarf es jedoch der Anerkennung der simplen Tatsache, dass Armut ein
weibliches Gesicht hat.
Die MDGs haben der Reduzierung von Armut eine Priorität verschafft, die sie bisher in der Entwicklungspolitik nicht
hatte. Die MDGs erlangten nicht nur beträchtliche internationale Aufmerksamkeit, sondern hatten auch zur Folge, dass
zahlreiche andere entwicklungspolitische Zielsetzungen derzeit hintangestellt werden. So stehen für die Umsetzung der
Aktionsplattform von Beijing nur noch geringe Finanzmittel
zur Verfügung. Dies bedeutet einen Rückschlag für die internationale feministische Bewegung.
Fort- und Rückschritte bei der
Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit
Bei unerschütterlichen Optimisten und Optimistinnen mögen
die MDGs die Zuversicht geweckt haben, dass die acht Ziele im
anvisierten Zeithorizont tatsächlich erreicht werden können,
dass es also bis 2015 trotz einer wachsenden Weltbevölkerung
eine Halbierung der in extremer Armut lebenden Menschen
geben wird. Doch die Zahl der Skeptiker und Skeptikerinnen
wächst, auch und gerade nach der ernüchternden Zwischenbilanz auf dem UN-Gipfel im September 2005. Insbesondere
jene Zwischenziele, die geschlechtsspezifische Ungleichheiten
reduzieren sollten, blieben zum großen Teil unerfüllt.
182
2006 stehen wichtige Weichenstellungen an. Quick ImpactInitiativen (Sachs 2005, 66), die noch 2006 verwirklicht werden
sollen, wurden für die Bereiche beschlossen, in denen sich mit
ausreichender Ressourcenausstattung schnell Erfolge erzielen
lassen. Unter ihnen finden sich auch gender-spezifische Bereiche, etwa die Durchsetzung von Rechten für Frauen, Kampagnen zur Verringerung von Gewalt gegen Frauen sowie ihr
Empowerment, insbesondere auf kommunalpolitischer Ebene.
Der Sachs-Bericht geht davon aus, das die MDGs bis zum
Jahr 2015 noch erreichbar sind, wenn bereits 2006 die Ausgaben
für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) verdoppelt werden und verstärkte
Anstrengungen sofort beginnen. Er zählt mehrere im Zeitraum
zwischen 1990 und 2000 erzielte Fortschritte bei den MDGs
auf, die allerdings in den Weltregionen sehr unterschiedlich
ausfallen (vgl. den Beitrag von Fues).
Die Geschlechtergleichheit ist eines der unerreichten Ziele.
Betrachtet man die vier Indikatoren von MDG 3 (UNDESA
2004, 3), so ergibt sich ein tristes Bild. In den zehn Weltregionen
Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Ostasien, Südostasien,
Südasien, Westasien, Ozeanien, Lateinamerika und Karibik, in
der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in Europa sowie in GUS-Asien wurde nur insgesamt elfmal eine der vier
Vorgaben erreicht – die Umsetzungsquote liegt damit lediglich
bei einem Viertel.
Gender-Gerechtigkeit bei der Bildung
Beim Verhältnis von Mädchen zu Jungen in Primarschulen
wurde die Zielvorgabe der Beseitigung der Ungleichheit nur
in Ostasien und GUS-Europa erreicht, alle anderen Weltregionen befinden sich auf dem Weg der Zielerreichung oder weisen schleppende Fortschritte auf. Die Geschlechterdiskriminierung ist vor allem in Süd- und Westasien erheblich, wo 2001/02
183
184
Jungen
100,3
97,0
–
84,0
86,6
89,0
54,4
104,21
78,9
88,8
82,9
63,4
53,4
59,1
73,2
100,0
96,3
93,1
80,7
89,0
85,5
49,4
104,81
71,8
87,9
77,2
62,7
48,5
53,7
73,5
99,6
95,6
–
77,2
91,5
81,8
44,4
105,41
64,3
87,0
71,1
61,9
43,5
48,1
73,8
Mädchen
98,8
97,9
93,9
83,0
98,0
85,5
52,8
104,2
75,4
92,7
76,3
63,3
50,1
57,4
78,4
Gesamt
–
98,7
94,0
85,9
97,2
87,1
57,0
104,1
81,5
92,8
81,1
64,5
54,0
63,4
77,8
Jungen
2001/02
–
97,0
93,8
79,8
98,9
83,9
48,6
104,2
68,9
92,6
71,3
62,0
46,1
51,3
78,9
Mädchen
Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends. Millennium Indicators Database
(http://millenniumindicators.un.org, 06.2005); basierend auf Daten der UNESCO.
1. Daten beziehen sich auf 1999/2000.
Industrieländer
GUS, Asien
GUS, Europa
Entwicklungsregionen
Lateinamerika & Karibik
Nordafrika
Afrika südlich der Sahara
Ostasien
Südasien
Süd-Ostasien
Westasien
Ozeanien
Am wenigsten entwickelte Länder
Binnenländer
Kleine Inselstaaten
Gesamt
1998/99
Prozentsatz der Schüler und Schülerinnen in Abschlussklassen der Primarschulbildung
Tabelle 1
Abschlussrate bei der Primarschulbildung nach Geschlechtern in den Weltregionen
der Anteil der Jungen um 12 bzw. 10 Prozentpunkte höher als
jener der Mädchen war. Eine große Kluft gibt es auch in Afrika
südlich der Sahara, wo der Anteil der Jungen den der Mädchen um 7 Prozentpunkte überstieg. In Nordafrika stieg die
Rate von 82 auf 93 Mädchen pro 100 Jungen, und in Südasien
erhöhte sie sich von 76 auf 85. In einigen Ländern beträgt der
Anteil von Schülerinnen in den Grundschulen jedoch lediglich
75 % oder weniger (UN Statistic Division 2005a). Die Vorgabe
der gleichen Einschulungsquote in Sekundarschulen weist
Nordafrika, Südostasien und GUS-Europa als jene Weltregionen aus, in denen das Ziel erfolgreich umgesetzt wurde. Eine
einzige Region – Lateinamerika und die Karibik – befindet sich
auf dem Weg der Zielerreichung, während es in Afrika südlich der Sahara, Süd- und Westasien sowie Ozeanien nur sehr
schleppende Fortschritte gab (UNDESA 2004, 3).
Geschlechterparität bei der Alphabetisierungsrate
Laut Statistiken der UNESCO für 2000–2004 sind zwei Drittel
der weltweit 800 Mio. Analphabeten Frauen. Von den 137 Mio.
jugendlichen Analphabeten sind 85 Mio. Frauen, also 63 %
(UNESCO 2004). Die größte Kluft weist die Region Südasien
auf, wo die Alphabetisierungsrate bei Frauen um 19 Prozentpunkte geringer ist als bei Männern. In Ländern wie Benin,
Tschad und Liberia beträgt die Differenz über 30 Prozentpunkte (UN Statistic Division 2005b). Gleichwohl gab es bei
der Angleichung der Alphabetisierung von jungen Frauen und
Männern die größten Fortschritte. Ostasien, Südostasien, Lateinamerika und die Karibik, GUS-Europa und GUS-Asien erreichten die gesetzten Vorgaben. Nur sehr schleppend geht die
auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis bezogene Alphabetisierung in Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Süd- und
Westasien sowie Ozeanien voran (UNDESA 2004, 3).
185
Tabelle 2
Geschlechterdisparitäten bei der Alphabetisierungsrate
(15–24 Jährige) 1990 und 2000/04
Region
Industrieländer
GUS, Asien
Entwicklungsregionen
Nordafrika
Afrika südlich der Sahara
Lateinamerika/Karibik
Ostasien
Südasien
Süd-Ostasien
Westasien
Ozeanien
1990
2000/04
Alphabetisierungsrate 15–24
Alphabetisierungsrate 15–24
Frauen
Männer
Frauen
Männer
99,6
97,7
75,8
55,8
59,8
92,7
93,3
51,0
93,1
71,5
68,0
99,7
97,7
85,8
76,3
74,9
92,7
97,6
71,1
95,5
88,2
78,5
99,7
98,8
80,7
72,5
69,3
95,9
98,6
62,8
95,1
80,3
78,1
99,7
98,8
89,0
84,1
79,0
95,2
99,2
81,6
96,4
90,7
84,4
Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends,
Millennium Indicators Database (http://millenniumindicators.un.org,
06.2005); basierend auf Daten der UNESCO.
Gender-Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt
In der formellen Wirtschaft gibt es noch immer sehr große
Gender-Disparitäten. Trotz geringer Fortschritte haben Frauen
in Süd- und Westasien sowie in Nordafrika weiterhin nur einen Anteil von etwa 20 % der bezahlten Arbeitsplätze außerhalb des Agrarsektors. In Lateinamerika und der Karibik liegt
ihr Anteil bei 40 % (UNSTATS 2005). Die informelle Wirtschaft
ist für Frauen nach wie vor der wichtigste Bereich, in dem sie
Beschäftigung finden. Ihr prozentualer Anteil in diesem Sektor
ist im Allgemeinen höher als der von Männern. Dieser Unter186
schied ist besonders ausgeprägt in Afrika südlich der Sahara,
wo 84 % der Frauen im informellen Sektor arbeiten, verglichen
mit 63 % der Männer. In Nordafrika und im Mittleren Osten
kehrt sich dieses Muster jedoch um; dort ist die Beschäftigung
im informellen Sektor für Männer wichtiger als für Frauen
(UNSTATS 2005). Frauen repräsentieren auch die Mehrheit
der Working Poor: Von 550 Mio. weltweit sind etwa 330 Mio.
Frauen; das entspricht 60 % (ILO 2004, 2).
Gender-Gerechtigkeit in nationalen Parlamenten
Geschlechter-Parität gibt es weltweit in keinem Nationalparlament. Mit Stand von 1. Januar 2005 haben nur 17 Länder das
vom UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) 1990 gesetzte
Ziel von 30 % oder mehr Frauenanteil bei den Abgeordnetensitzen in Nationalparlamenten erreicht. Frauen sind in den
Parlamenten von Mikronesien, Kuwait und Nauru überhaupt
nicht vertreten. Dagegen wurden bei den ersten Parlamentswahlen nach dem Krieg in Ruanda 2003 mit 48,8 % überwältigend viele Frauen gewählt (UN Statistic Division 2005b). In
keinem anderen nationalen Parlament ist der Frauenanteil so
hoch. Ostasien und GUS-Asien weisen sogar rückläufige Tendenzen auf; in Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Südostasien, Ozeanien sowie in Lateinamerika und der Karibik gibt es
sehr schleppende Fortschritte. In Westasien ist der Frauenanteil unverändert gering, und GUS-Europa hat erst in jüngster
Zeit Forschritte gemacht (UNDESA 2004, 3).
187
Tabelle 3
Länder mit einem Anteil von 30 % an weiblichen
Abgeordneten in nationalen Parlamenten (Stand: 1.1.2005)
Prozentsatz der
Parlamentssitze
von Frauen
Zahl der Parlamentssitze von
Frauen
Absolute Zahl
an Parlamentssitzen
Ruanda
Schweden
48,8
45,3
39
158
80
349
Norwegen
38,2
63
165
Dänemark
38,0
68
179
Finnland
37,5
75
200
Niederlande
36,7
55
150
Kuba
36,0
219
609
Spanien
36,0
126
350
Costa Rica
35,1
20
57
Mosambik
34,8
87
250
Belgien
34,7
52
150
Österreich
33,9
62
183
Argentinien
33,7
86
255
Deutschland
32,8
197
601
Südafrika
32,8
131
400
Guyana
30,8
20
65
Island
30,2
19
63
Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends.
Millennium Indicators Database (http://millenniumindicators.un.org,
06.2005); basierend auf Daten der Inter-Parliamentary Union.
188
Ausblick auf 2015: Ohne Empowerment von Frauen
wird kein MDG-Ziel erreicht werden
In den 1990er Jahren gelang es den UN erstmals, den vielfältigen Herausforderungen der Entwicklung einen normativen
Rahmen zu geben und gemeinsame Entwicklungsprioritäten
zu setzen. Diese bildeten das Fundament für die MDGs, die
weltweit akzeptierte Richtwerte für Entwicklung sind.
Das den MDGs zugrunde liegende Verständnis von Entwicklung basiert auf der Grundbedürfnisstrategie, das tragende Konzept ist jenes der geschlechterblinden Reduzierung von Armut. Der Ansatz »Integration der Frauen in die
Entwicklung« zielt auf die Einbeziehung von Frauen in einen
nicht weiter hinterfragten Entwicklungsprozess ab. »Integration in Entwicklung« bedeutet jedoch nicht zugleich die Aufhebung von (anderen) Diskriminierungsverhältnissen. Dieser
Umstand, der nach den Resultaten der UN-Frauendekade von
Gender-Aktivisten und -Aktivistinnen artikuliert wurde, wird
auch bei der Analyse der MDGs sichtbar.
Insbesondere die Tatsache, dass die Ziele eher mit dem
trickle down als mit dem bottom up-Ansatz arbeiten, erschwert
Gender Empowerment-Aktivitäten. Wissenschaft und Frauenbewegungen kritisieren deshalb den Ansatz »Integration der
Frauen in die Entwicklung« nachdrücklich. Es gehe nicht
darum, Frauen in eine (vorgezeichnete) Entwicklung zu integrieren, sondern darum, die Macht von Frauen zusammen mit
anderen benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen in ökonomischen, politischen und kulturellen Entscheidungsprozessen
zu stärken. Es geht also um eine Neudefinition von Entwicklung, die die Veränderbarkeit von Machtverhältnissen in den
Blick nimmt, kurz: um Empowerment.
Auch die Ursachen geschlechtsspezifischer Ungleichheit
bleiben ausgeklammert. Die Welt erscheint mehr oder weniger
als eine weitgehend geschlechterneutrale Tabula rasa. Fragen
nach der Entstehung und Ausbreitung patriarchaler Herrschaft
189
verweilen in der historischen Dunkelkammer. Unerwähnt bleiben auch diejenigen, die in Zeiten des Neoliberalismus von
sexistischer Diskriminierung und von ungleich gestalteten Geschlechterverhältnissen – von der Ausbeutung der Frauen in
den Weltmarktfabriken bis hin zum interkontinentalen Frauenhandel – profitieren.
Der Sachs-Bericht (2005, 45f.) spricht die in den MDGs systematisch vernachlässigten Bereiche an. Einer der wichtigsten
ist die Gleichstellung der Geschlechter, im ökonomischen Jargon: Investitionen in die Überwindung weit verbreiteter geschlechtsspezifischer Benachteiligungen durch einen gleichberechtigten Zugang zu Wirtschaftsgütern, Grund und Boden,
Wohnraum, Steigerung der Grundschulabschlussquote, ein
besserer Zugang zu weiterführender Bildung, Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt, Freiheit von Gewalt und verstärkte
Vertretung von Frauen auf allen politischen Ebenen. Unabdingbar ist auch die Mitwirkung der verschiedenen Frauenorganisationen, die die Bedürfnisse der Menschen (vor allem
auch der Armen) kennen und damit eine effektive Umsetzung
der MDGs gewährleisten können.
Die MDGs bilden mittlerweile den Dreh- und Angelpunkt
der internationalen Entwicklungspolitik. Das Erreichen der
Ziele wird von sektorübergreifenden gender-bezogenen Maßnahmen abhängen. Eine Grundvoraussetzung ist dabei, dass
jede Frau über die Mittel für ein menschenwürdiges Leben
verfügt. Zu diesen gehört der Zugang zu ökonomischen, politischen und sozialen Ressourcen, Machtpositionen und
Rechten.
Gegenwärtig setzen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen
von UN-Organisationen und nationalen Entwicklungsagenturen sowie zivilgesellschaftliche Netzwerke dafür ein, die
MDGs nach dem Motto »ein bisschen Gender ziert jedes MDGZiel« geschlechtergerechter zu gestalten. Eine wichtige Forderung ist hierbei, die MDGs mit der Aktionsplattform von Beijing
und der Frauenrechtskonvention CEDAW zu verbinden. In ei190
ner Welt, in der Armut ein weibliches Gesicht hat, wird es keine
Reduzierung von Armut geben können, ohne dass Geschlechterungleichheiten sichtbar gemacht, beim Namen genannt und
verändert werden. In gender-politischer Hinsicht dürfen die
MDGs kein Ersatz für die Aktionsplattform von Beijing und
CEDAW sein.
Die Zwischenberichte der UN deuten nicht darauf hin,
dass die MDGs in ihren gender-spezifischen Punkten erreicht
werden. Die Worte des uruguayischen Journalisten Eduardo
Galeano (1973, 197) »Entwicklung ist eine Reise mit mehr
Schiffbrüchigen als Seefahrern« werden aller Voraussicht nach
im Hinblick auf die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern
auch 2015 noch ihre Gültigkeit haben.
Zur Erreichung der geschlechterbezogenen MDGs sind
enorme Anstrengungen der von Hunger und Elend betroffenen Länder sowie grundlegende Reformen auf internationaler Ebene in den Bereichen Politik, Bildung, Gesetzgebung
und Ökonomie erforderlich. Es geht um gemeinsame Anstrengungen sowohl von Seiten der politisch Verantwortlichen als
auch um eine unermüdliche Lobbyarbeit von Feministen und
Feministinnen, um die Welt bis 2015 geschlechtergerechter zu
gestalten.
Literatur
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Barton/Laurie Prendergast (Hg.), Seeking Accountability on Women’s
Human Rights: Women Debate the Millennium Development Goals.
Mumbai, S. 14–16.
191
Fues, Thomas/Brigitte Hamm (Hg.) 2001: Die Weltkonferenzen der 90er
Jahre: Baustellen für Global Governance (Reihe EINE Welt der Stiftung
Entwicklung und Frieden, Bd. 12). Bonn.
Galeano, Eduardo, 1973: Die offenen Adern Lateinamerikas. Wuppertal.
ILO (International Labour Organization), 2004: Global Employment
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Moser, Caroline, 1999, zitiert nach Commission on Gender Equality/Parliamentary Women’s Group/Gender Equity Unit/Gender Advocacy
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in: Carol Barton/Laurie Prendergast (Hg.), Seeking Accountability on
Women’s Human Rights: Women Debate the Millennium Development Goals. Mumbai, S. 40.
Neuhold, Brita, 1994: Women on their way to empowerment. Wien.
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the Millennium Development Goals (UN Millennium Project). New
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praktischer Plan zur Erreichung der Millenniums-Entwicklungsziele
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1990–2005, Summary, in: http://unstats.un.org/unsd/mi/mi_coverfinal.htm, 26.06.2006.
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Wichterich, Christa, 2005: Ein entwicklungspolitischer Katechismus, in:
iz3w Nr. 285, S. 20–23.
192
Dritter Teil:
Herausforderungen
STEPHAN KLINGEBIEL
Mit einem big push aus der Armutsfalle?
Der Sachs-Bericht ist kein Patentrezept
Vor dem Hintergrund ungenügender bzw. ausbleibender Entwicklungserfolge, die sich derzeit in der (Nicht-)Erreichung
der Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development
Goals, MDGs) widerspiegeln, findet eine intensive Debatte
über die Strategien der Entwicklungspolitik vor allem im Hinblick auf den afrikanischen Kontinent statt. Die Gründe für die
gestiegene internationale Aufmerksamkeit für Afrika südlich
der Sahara sind vielschichtig und erstrecken sich von geostrategischen Interessen über Fragen der internationalen Energieversorgung bis hin zu einer größeren Beachtung der afrikanischen Konflikte und der afrikanischen Sicherheitsarchitektur
(Klingebiel 2005).
Afrika im Mittelpunkt der Debatte
über eine neue Entwicklungspolitik
Das gestiegene entwicklungspolitische Interesse an Afrika
südlich der Sahara hängt zu einem erheblichen Teil mit den
entwicklungspolitischen »Großereignissen« im Jahr 2005 zusammen. Die wichtigsten waren zum einen der G8-Gipfel in
Gleneagles mit der im Vorfeld von der britischen Regierung
eingesetzten Commission for Africa (CFA), die einen vielbeachteten Bericht herausgegeben hat, und zum anderen der Millennium+5-Gipfel, der im September 2005 eine Zwischenbilanz zur Umsetzung der MDGs zog. Grundlage dafür war ein
umfassender Bericht unter der Leitung von Jeffrey Sachs (UN
194
Millennium Project), der zu Beginn des Jahres 2005 veröffentlicht worden war.
In den Debatten rund um diese Großereignisse sind verschiedene Kontroversen zutage getreten:
• Erstens stellt sich die Frage nach Erklärungsansätzen für
die bestehenden Entwicklungsdefizite. Hier kommt es zunehmend zu einer Polarisierung zwischen Ansätzen, die in
den bestehenden governance-Problemen und solchen, die
in »Armutsfallen« und klassischen Strukturdefiziten (hohe
Transportkosten etc.) die zentralen Ursachen und dementsprechend die relevanten Handlungsfelder sehen.
• Zweitens hat die massive Aufstockung der Mittel für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development
Assistance, ODA) – die sich 2004 auf knapp 26 Mrd. US-$
für Afrika südlich der Sahara beliefen – einen prominenten
Platz in den Schlussfolgerungen wichtiger Analysen erhalten. Gerade der Umfang der ODA für Afrika südlich der Sahara wird von vielen – nicht zuletzt von Jeffrey Sachs und
der Commission for Africa – als völlig unzureichend erachtet.
Den Plädoyers für eine höhere ODA stehen allerdings Argumente gegenüber, die auf mögliche Fehlanreize (abnehmende Notwendigkeit, eigene Ressourcen aufzubringen
etc.), negative Begleitwirkungen und die technisch-administrative Absorptionsfähigkeit hinweisen.
• Drittens betrifft die Debatte grundsätzliche Fragen einer
ODA-Reform mit dem Ziel, ihre Qualität und Wirksamkeit
zu steigern. Hier bildet der im Februar 2005 erreichte Konsens von Gebern und Partnervertretern in Form der Paris
Declaration on Aid Effectiveness einen internationalen Meilenstein. Die Erklärung übt einen echten Handlungsdruck
aus, weil sie quantifizierte Ziele enthält. Weitere Vorschläge
etwa im Hinblick auf eine Ausweitung der Programmfinanzierung und eine Reform der Technischen Zusammenarbeit
werden diskutiert.
195
Die Ereignisse des Jahres 2005 markierten einen Höhepunkt in
der internationalen Debatte. Verschiedene Hinweise sprechen
dafür, dass diese Aufmerksamkeit auch künftig erhalten bleiben kann. Die britische Regierung, die schon 2005 (politisch
nicht ganz uneigennützig) eine entscheidende treibende Kraft
für die Afrika-Aufmerksamkeit war, will sich weiterhin mit
der Region profilieren. Ein Jahr nach dem G8-Gipfel in Gleneagles initiierte der britische Premierminister Tony Blair ein
Africa Progress Panel, das jährlich für die G8, die UN und das
so genannte Africa Partnership Forum einen Bericht über Umsetzungsfortschritte seit 2005 erstellen will. UN-Generalsekretär
Kofi Annan hat sich bereit erklärt, das Panel zu leiten.
Aus entwicklungspolitischer Sicht ist es enorm wichtig, die
bislang einmalige Dynamik für das Thema zu nutzen. Die laufende Debatte bietet die Chance einer Ausweitung der externen Unterstützung für den Kontinent. Anderseits sollte die politische Schubkraft für das Thema nicht zu einer Einengung auf
vereinfachende, möglicherweise sogar falsche Erklärungsansätze und Handlungsoptionen führen, die mit Konzepten wie
der »Armutsfalle«, dem big push oder der Verdoppelung der
ODA verbunden sein könnten. Risiken bestehen auch darin,
dass der potenzielle Einfluss externer Akteure überbewertet
und die mögliche Geschwindigkeit, mit der Erfolge erreicht
werden können, überschätzt werden. Es könnte eine langfristige Frustration aufgrund von überzogenen Erwartungen
drohen.
Damit die kontroversen Debatten nicht in einen unfruchtbaren »Schulenstreit« münden, ist es sinnvoll, vorrangig auf
Länderebene die zentralen Problemursachen zu benennen:
Sind es bestimmte Politiken der Länder, die verhindern, dass
sich die gewünschten Wirkungen entfalten? Oder sind konkrete Finanzierungsengpässe das Kernproblem? In der Summe
wird es wichtig bleiben, dass einerseits die afrikanischen Partner die zentralen governance-Defizite (kleptokratische Systeme,
gewaltsame Konflikte, mangelhafte Rechtstaatlichkeit etc.)
196
verstärkt bearbeiten, andererseits aber auch die Geber ihre Verpflichtungen zur ODA-Erhöhung einhalten und zugleich Maßnahmen zur Steigerung der ODA-Effektivität verstärken.
Die »Armutsfalle«:
Ein Erklärungsansatz für Afrika südlich der Sahara?
Afrika südlich der Sahara hinkt den sozialen und ökonomischen Entwicklungen aller anderen Entwicklungsregionen
deutlich hinterher. Im Hinblick auf die Erreichung der MDGs
ist der Kontinent off track; das heißt, er kann bislang die gesteckten Ziele nicht erreichen. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei nur 46 Jahren (2003). Rund die Hälfte aller
Menschen lebt in absoluter Armut, wobei die Zahl der Armen
von 313 Mio. (2001) bis 2015 auf voraussichtlich 340 Mio. ansteigen wird.
Allerdings weisen einzelne Länder und Regionen vom
Durchschnitt stark abweichende oder sogar widersprüchliche
Entwicklungen auf. Ökonomische Besonderheiten zeigen das
wirtschaftlich leistungsfähige Südafrika, relativ erfolgreiche
kleinere Länder (wie Mauritius und die Seychellen) sowie die
Erdöl- (Angola, Äquatorialguinea, Nigeria, Tschad etc.) und
Bergbauökonomien (Botswana und andere).
Afrika südlich der Sahara befindet sich derzeit in einer
Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Nachdem die Region
etwa zwei Jahrzehnte lang das geringste Wachstum aller Entwicklungsregionen aufwies, ist in den vergangenen fünf Jahren ein vergleichsweise günstiges Pro-Kopf-Wachstum erreicht
worden. Der World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds geht für das Jahr 2005 von einem realen Wachstum in Höhe von 5,3 % aus, was einem Wachstum pro Kopf
von rund 3,4 % entspricht (IMF 2006). Darüber hinaus seien die
weiteren wirtschaftlichen Aussichten vergleichsweise günstig.
Allerdings ist zu beachten, dass die derzeitige und zu erwar197
tende wirtschaftliche Erholung überdurchschnittlich stark auf
die afrikanischen Erdölökonomien zurückgeht, das Wachstum
in den meisten Fällen von einer geringen wirtschaftlichen Leistungskraft startet und trotz der positiven Entwicklungen nicht
damit zu rechnen ist, dass die Wachstumsraten ausreichen, die
MDGs zu erfüllen.
In der Debatte darüber, wie sich die Entwicklungsdefizite
der Region erklären lassen und welche Schlussfolgerungen
hieraus zu ziehen sind, bilden sich zunehmend zwei »Lager«
heraus:
1. Die von Jeffrey Sachs identifizierte »Armutsfalle« (poverty
trap) – eine inhaltlich auch von der Commission for Africa
(CFA) geteilte Diagnose (Kielwein 2005) – geht von der Kombination einer geringen Sparrate mit einem hohen Bevölkerungswachstum aus, was zu einer Stagnation bei der Kapitalakkumulation führt, wodurch wiederum das Wirtschaftswachstum nicht eine sich selbsttragende Dynamik erreicht.
Sachs sieht vorrangig fünf strukturelle Gründe, warum
Afrika südlich der Sahara die verwundbarste Weltregion
ist: (1) Hohe Transportkosten und kleine Märkte, (2) geringe
landwirtschaftliche Produktivität (fehlende »grüne Revolution«), (3) hohe Belastungen durch Krankheiten (HIV/AIDS,
Malaria etc.), (4) »Geschichte ungünstiger Geopolitik« (unter
anderem durch europäische und arabische Sklaverei, Belastungen aufgrund des Kalten Krieges etc.) und (5) langsame
Verbreitung von ausländischen Technologien (zur Krankheitsprävention, Steigerung der Agrarproduktivität etc.).
Der Armutsfallen-Ansatz geht von der Notwendigkeit einer breit angelegten Gegenstrategie – eines big push – aus.
Bildlich gesprochen: ein Feuerwehrmann reicht nicht aus,
um einen Großbrand unter Kontrolle zu bringen. Dieser big
push sei nicht mit den eigenen Ressourcen des Kontinents
möglich. Erforderlich sei daher ein massives Aufstocken
der ODA für die Region.
198
2. Die Kritik am big push-Konzept und an der Forderung nach
einer ODA-Verdoppelung setzte rasch ein. Sie verweist auf
die lange Tradition des big push-Ansatzes und einer außenfinanzierten Strategie (Asche 2006). Beides habe sich nicht
als sinnvoll erwiesen. Insbesondere aus einer governancePerspektive werden Gegenargumente vorgebracht. Demnach sind es vor allem Schwächen im Regierungshandeln
der betroffenen Länder, die dazu führen, dass Fortschritte
nicht stattfinden. Nicht fehlende finanzielle Ressourcen,
sondern falsche Politiken verhinderten Entwicklungserfolge. Dies treffe unter anderem für Länder mit bewaffneten Konflikte oder grundlegenden governance-Problemen
zu (etwa Simbabwe). Außerdem verfügt eine Reihe von
Ländern über beträchtliche Einkommen (etwa aufgrund
von Erdöl), die allerdings nicht in allen Fällen sinnvoll verwendet würden.
Sowohl die Argumente der big push- als auch der governanceBefürworter werden in aller Regel nicht ohne Berücksichtigung der jeweils anderen Debatten vorgebracht. So bezieht
der CFA-Bericht vergleichsweise intensiv governance-Fragen
ein und umgekehrt wird ein ausreichendes wirtschaftliches
Wachstum von den meisten governance-Vertretern als eine notwendige (wenn auch nicht hinreichende Bedingung) für Entwicklungserfolge anerkannt.
Allerdings sind die inhaltlichen Differenzen von prinzipiellem Charakter: Zum einen findet in den Debatten vielfach
eine Verengung des governance-Begriffes auf Aspekte der administrativen governance (effizientes und transparentes Verwaltungssystem etc.) statt, während der Stellenwert der politischen governance (Respektierung demokratischer Prinzipien,
Einhaltung politischer Menschenrechte etc.) vernachlässigt
wird (Kielwein 2005). Zum anderen sind die angenommenen
Wirkungsketten grundsätzlich unterschiedlich. So argumentiert Sachs, dass viele Teile Afrikas südlich der Sahara »besser
regiert« würden als dies die Einkommenssituation vermuten
199
lasse. Diesem Argument wird allerdings von einigen Teilnehmern der Debatte ausdrücklich widersprochen. Empirische
Auswertungen zeigen demnach, dass die unterstellte positive Wirkung eines höheren Einkommens auf die governanceQualität unzulässig ist (vielmehr in umgekehrter Richtung
wirkt) und die governance-Qualität in der Region im Durchschnitt keinesfalls im Hinblick auf die Einkommenshöhe »relativ gut« ist (Kraay 2005, 12).
Wie viel Hilfe hilft Afrika südlich der Sahara?
Im Jahr 2004 stellte die internationale Gebergemeinschaft nach
Angaben des Entwicklungsausschusses (DAC) der Organisation für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit
(OECD) insgesamt 79,5 Mrd. US-$ ODA zur Verfügung; auf
Afrika südlich der Sahara entfielen hiervon 25,5 Mrd. US-$.
Dies entspricht einem Anteil von 32 %, wobei der Anteil Afrikas
südlich der Sahara eine zunehmende Tendenz aufweist (OECD
2006, 212ff.). Die wichtigsten bi- bzw. multilateralen Geber in
der Region waren 2003/2004 in dieser Reihenfolge: die USA,
Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die Niederlande
bzw. die International Development Association (IDA) der
Weltbank und die EU-Kommission. Einige Geber stellen den
größten Teil ihrer ODA für Afrika südlich der Sahara zur Verfügung, was sich etwa bei Frankreich mit den kolonialen Beziehungen erklären lässt, zum Teil aber auch einem armutsbasierten Ansatz folgt. Der ganz überwiegende Teil der bilateralen
und etwa 40 % der multilateralen ODA wird als nicht-rückzahlbarer Zuschuss (grant) bereitgestellt.
Die ODA-Abhängigkeit der Region ist sehr hoch. Diese Abhängigkeit belegen verschiedene Indikatoren:
• ODA ist die wichtigste externe Finanzierungsquelle für
Afrika südlich der Sahara. Die Finanzzuflüsse setzen sich
zu 55 % aus ODA, zu 25 % aus ausländischen Direktinvesti200
tionen (die sich auf sehr wenige Länder und Sektoren konzentrieren) und zu rund 15 % aus Überweisungen von Arbeitsmigranten in die Region (sowie 5 % sonstigen privaten
Zuflüssen) zusammen.
• Das Verhältnis der ODA zum Bruttonationaleinkommen
(BNE) ist mit 6,24 % hoch (1,16 % für alle Entwicklungsländer). Für eine Reihe von Ländern liegt dieser Anteil sogar
deutlich über 20 % (Mosambik 60,3 %; Sierra Leone 47,0 %;
Guinea-Bissau 30,5 %). Der ODA-Anteil an den öffentlichen
Budgets ist nochmals höher und beträgt teilweise deutlich
mehr als 50 %.
• Rechnerisch entfällt ein Pro-Kopf-Betrag von 34,5 US-$
(2003) auf Afrika südlich der Sahara (im Durchschnitt für
alle Entwicklungsländer: 14,2 US-$).
Die derzeitige internationale Diskussion geht überwiegend
davon aus, dass das ODA-Niveau für Afrika südlich der Sahara völlig unzureichend ist. Im Hinblick auf die Erreichung
der MDGs wird mehrheitlich eine massive Erhöhung für notwendig erachtet. Der CFA-Bericht errechnet einen zusätzlichen
jährlichen Bedarf von 25 Mrd. US-$ bis 2010 und weiteren jährlichen 25 Mrd. US-$ bis 2015. Der Sachs-Bericht geht von einem
ODA-Bedarf (für alle Regionen) in Höhe von 135 Mrd. US-$ bis
zum Jahr 2006 und von 195 Mrd. US-$ bis zum Jahr 2015 aus.
Grundsätzlich sind die Argumente der Befürworter einer
ODA-Aufstockung plausibel. Allerdings gilt es, auch die möglichen Risiken einer solchen Strategie zu beachten. Probleme,
die mit einer hohen ODA-Abhängigkeit bzw. einer massiven
ODA-Erhöhung verbunden sind, können vielfältig sein (Kraay
2005; Bräutigam/Knack 2004; Faust/Leiderer 2006; Asche 2006;
Kielwein 2005):
• Ein höherer Ressourcenzufluss von außen kann nationale
Mobilisierungsbemühungen schwächen. Es kann gegebenenfalls leichter sein, ODA einzuwerben, als eigene Finanzierungssysteme aufzubauen und zu unterhalten.
201
• Mangelnde finanzielle Ressourcen müssen nicht das Kernproblem eines Landes oder in einem Bereich sein. Erfolgreiche Politiken und die Funktionsfähigkeit von Institutionen hängen nicht von den zur Verfügung stehenden materiellen Ressourcen ab.
• Der relative Nutzen von ODA nimmt ab, wenn das Verhältnis von ODA zum BNE ein bestimmtes Verhältnis erreicht.
Dieser Grenznutzen wird bei etwa 25–30 % des BNE gesehen. Der Sinn solcher Grenzwerte ist allerdings umstritten.
• In Ländern mit schlechter governance können massiv höhere
ODA-Zuflüsse dysfunktional wirken (Stützung neopatrimonialer Strukturen etc.), vergleichbar etwa mit möglichen
negativen Konsequenzen durch hohe Erdöl- oder Diamanteneinnahmen.
• Untersuchungen (unter anderem des Internationalen Währungsfonds) zeigen höhere Schwankungen und eine geringere Verlässlichkeit von ODA im Vergleich zu anderen Ressourcenzuflüssen. ODA kann daher tendenziell die Budgetmanagementfähigkeiten der Partnerländer und ihre
Planungsbemühungen untergraben.
• Massive Finanzzuflüsse können die Exportkonkurrenzfähigkeit mindern, indem sie zu einer Wechselkursaufwertung beitragen (dutch disease).
Mit höheren ODA-Zuflüssen sind also auch Risiken verbunden. Diese sprechen nicht prinzipiell gegen eine Aufstockung,
wohl aber für eine ausreichende Beachtung der politischen,
institutionellen und technischen Absorptionsfähigkeit.
Wie wichtig ist Governance
in Afrika südlich der Sahara?
Untersuchungen zeigen, dass good governance die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit (Wachstum) positiv beeinflusst und in
einem engen konstruktiven Wechselverhältnis zur Anfälligkeit
202
für Gewaltkonflikte steht. Die Bemühungen um Transparenz
der governance performance haben in den vergangenen Jahren
zugenommen. Neben Instrumenten wie dem Country Policy
and Institutional Assessment (CPIA) der Weltbank hat die UNWirtschaftskommission für Afrika (UNECA) 2004 einen ersten
empirischen Governance Report vorgelegt. Der Bericht kommt
– ähnlich wie andere – zu dem Ergebnis, dass im Durchschnitt
Fortschritte erkennbar sind (etwa im Hinblick auf demokratische Transition, politische Inklusion, Rechenschaftsstrukturen und öffentliches Budgetmanagement), aber weiterhin unbefriedigende Bereiche (etwa bei demokratischen governanceStrukturen, administrativen Kapazitäten, der Unabhängigkeit
der Justiz) existieren.
Eine besondere Rolle hat der so genannte African Peer Review Mechanism im Rahmen von NEPAD (New Partnership for
Africa’s Development), zu dem sich bislang 26 afrikanische Länder verpflichtet haben und dessen erste Ergebnisse seit Anfang
2006 vorliegen.
Wirksamere Entwicklungspolitik
Alle relevanten Dokumente, die eine Steigerung der ODAZuflüsse nach Afrika südlich der Sahara empfehlen, betonen
gleichzeitig die Notwendigkeit, ihre Qualität und Wirksamkeit
zu verbessern. Mit der Paris Declaration haben die Geber einen
Konsens in dieser Diskussion erarbeitet. Verschiedene Empfehlungen, etwa von Jeffrey Sachs und der CFA, gehen über
diesen Konsens hinaus.
Es erweist sich zunehmend eine Doppelstrategie als notwendig: Länder mit schwierigen Rahmenbedingungen – insbesondere aufgrund von bewaffneten Konflikten oder besonders
schlechter governance (auto- und kleptokratische Regime) – sind
dabei von solchen Fällen zu unterscheiden, die glaubwürdige
Bemühungen vor allem zur Erreichung der MDGs unterneh203
men. Allerdings sind die meisten Länder weder ausschließlich
und eindeutig als »negative« oder »positive« Fälle einzuordnen; es zeigen sich eine Vielzahl von abgestuften Situationen
und vielfach sogar widersprüchliche Entwicklungen innerhalb
eines Landes (gute Armutspolitik bei gleichzeitigen politischen
Legitimitätsdefiziten etc.).
In Systemen mit schwierigen Rahmenbedingungen können
solche entwicklungspolitischen Ansätze im Vordergrund stehen, die eine direkte Bereitstellung von sozialen Grunddienstleistungen verfolgen oder über nationale zivilgesellschaftliche
Akteure (Kirchen etc.) Maßnahmen fördern sowie gleichzeitig
Anreize zur Verbesserung der governance-Qualität etablieren.
Unter günstigen Voraussetzungen ist es dagegen zunehmend wichtig, die Eigenanstrengungen der Partner direkt zu
unterstützen und damit ein neues Grundverhältnis der Geberund Partnerseite zu etablieren. In diesen Fällen können Programmfinanzierungen eine wichtige Rolle spielen. Die bereits
existierenden Strukturen der Partner für Planung (beispielsweise Budgetplanungsprozesse), Umsetzung (zum Beispiel
Ausschreibungsverfahren) und Monitoring (Evaluierungen
etc.) sollten der Weg sein, über den ODA eingesetzt wird.
Parallelstrukturen und projektbezogenes Vorgehen sind vor
diesem Hintergrund nicht sinnvoll, weil die damit verbundenen Transaktionskosten hoch sind und die Partnerseite in ihrer
Fähigkeit geschwächt wird, die Vielzahl der Akteure und unterschiedlichen Ansätze sinnvoll zu koordinieren. Empfehlungen
beziehen sich hier unter anderem auf die Notwendigkeit zum
pooling der Mittel verschiedener Geber, zum Abbau der Personalentsendung aus den Geberländern sowie zur Nutzung von
Mitteln der Technischen Zusammenarbeit für direkte Anreize
der lokalen Lohnstrukturen (salary enhancement programmes).
Entwicklungspolitik ist mit Blick auf viele Länder Afrikas
südlich der Sahara das wichtigste Gestaltungselement für externe Akteure. ODA ist in den meisten Ländern der Region ein
zentraler Hebel. Sie kann eine wichtige Rolle bei der Überwin204
dung der Entwicklungsdefizite und bei der Annäherung an die
MDGs spielen. Insofern ist die Debatte über erhöhte Ressourcenzuflüsse in die Länder der Region wichtig und grundsätzlich richtig.
ODA kann einen wichtigen Beitrag leisten, um leistungsfähige Länder (capable states) in Subsahara-Afrika zu unterstützen. Die zentrale Frage besteht darin, wie durch ODA Anreize
für good governance geschaffen und für bad governance vermieden werden. Ressourcenzuflüsse allein stellen nicht sicher,
dass Entwicklungsdefizite in einem Land besser gelöst werden
können. Vielmehr besteht die Gefahr falscher Anreize. Die derzeitige Debatte geht dagegen von der Annahme besserer governance durch Ressourcenzuflüsse aus. Diese Argumentationskette ist irreführend, weil sie die entscheidende Bedeutung des
Einflusses von governance einzugrenzen versucht.
Höhere Leistungen sind damit nicht prinzipiell in Frage gestellt, sondern die Betonung liegt auf dem »richtigen« und ggf.
schrittweisen Einsatz von mehr ODA. Ein höherer Anteil von
Afrika südlich der Sahara an der gesamten ODA – mindestens
50 % wurde von der G8-Gruppe im Jahr 2002 empfohlen – ist
eine durchaus sinnvolle Vorgabe. Vor diesem Hintergrund hat
die Debatte über eine wirksamere ODA eine große Berechtigung. In den Ländern, die über verantwortliche governanceStrukturen verfügen, deren eigene Politiken gefördert werden
können, geht es darum, die jeweiligen Strukturen zu nutzen
und nicht durch eine Vielzahl unterschiedlicher Geber mit eigenen Ansätzen und Apparaten zu überfordern.
Zukünftig wird es noch wichtiger werden, für Länder mit
schlechter governance und fragilen Strukturen sinnvolle andere
Ansätze für ODA zu finden (Klingebiel 2006). Dies gilt zum
einen, weil diese etwa ein Drittel der Länder der Region ausmachen. Zum anderen sind die Folgen eines Disengagements
für die Länder selbst und für die jeweilige Region kritisch. Hier
sind andere Ansätze und Instrumente erforderlich, etwa die
Nutzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder die Schaf205
fung direkter Dienstleistungen für Zielgruppen, um eine wirksame Entwicklungspolitik zu betreiben.
Literatur
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Bewertung der neuen Afrika-Debatte (DIE Discussion Paper 5/2006).
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206
ROSS HERBERT
Wachstumsziele statt Entwicklungsziele
Afrika braucht eine andere Reformagenda
Mit Begeisterung haben die Vereinten Nationen, Geberländer
und -organisationen, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten die Millennium-Entwicklungsziele (Millennium Development Goals, MDGs) als wichtiges Instrument im weltweiten
Kampf gegen die Armut begrüßt. Doch eine grundlegende
Frage wurde weder gestellt noch beantwortet: Wird die Verfolgung der MDGs Entwicklung unterstützen oder ihr schaden,
insbesondere in Afrika?
Die Begründung für die Festsetzung von Zielen zur Verringerung von Armut scheint ebenso einfach wie einleuchtend.
Die Welt hat eine Vorliebe für große Versprechungen – um
sie dann nicht zu erfüllen. Und ein Großteil der öffentlichen
Entwicklungsgelder nützt den Vertragspartnern aus der entwickelten Welt, fließt in verschwenderische, nicht nachhaltige Projekte oder wird von den Empfängerregierungen veruntreut. Im Ergebnis hat insbesondere Afrika für die mehr als
eine Billion US-$, die es seit der Unabhängigkeit an Hilfe und
Krediten verbraucht hat, wenig vorzuweisen. Die Festsetzung
von Zielen und die Bewertung von Ländern nach ihrer Zielerreichung ist eine Möglichkeit, um die Entwicklungsindustrie
dazu zu bringen, sich auf tatsächliche Ergebnisse und nicht
nur auf Versprechungen und die Höhe vergebener Gelder zu
konzentrieren. Mit diesem Gedanken haben der Internationale
Währungsfonds (IWF), die Weltbank, UN-Organisationen und
die Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD) die
MDGs als einen Wegweiser für Entwicklungsausgaben und als
Messgröße ihrer Wirksamkeit begrüßt.
207
Die positive Konnotation der MDGs in der entwicklungspolitischen Rhetorik ist als Reaktion auf die als herzlos und
ineffizient empfundenen Strukturanpassungsprogramme des
IWF der 1990er Jahre zu verstehen. Um das bedenkenlose
deficit spending und kleptokratische Gebaren der 1970er und
1980er Jahre zu beenden, hatte der IWF fiskalische Disziplin
verordnet und verlangt, die staatlichen Ausgaben drastisch zu
kürzen, die Inflation nicht durch ungehemmtes Geldmengenwachstum anzuheizen, staatliche Betriebe zu privatisieren und
die Märkte zu liberalisieren. Auch wenn sie notwendig waren,
hat die abrupte Art der Umsetzung der IWF-Reformen bekanntermaßen einen Rückschlag für die Armen bewirkt. Der IWF
und andere Geber begannen daraufhin, die Verringerung von
Armut als das Hauptziel zu verkünden. Die MDGs waren der
Kulminationspunkt eines Richtungswandels im Denken – weg
von der Korrektur makroökonomischer Größen hin zur Linderung der Auswirkungen von Armut.
Zweifellos haben die MDGs zu einer konstruktiven globalen Debatte darüber beigetragen, wie die Entwicklungszusammenarbeit effektiver gemacht werden kann. Die Ära des Kalten
Krieges, als Loyalitäten im Kampf zwischen Ost und West häufig trotz offensichtlicher Verschwendung und Korruption über
die Vergabe von Entwicklungsgeldern entschieden, ist vorüber. Dennoch haben die MDGs negative Auswirkungen auf die
Entwicklungsanstrengungen.
Die MDGs können Afrikas
wirkliche Probleme nicht lösen
Das übergeordnete Problem ist, dass die MDGs eine Art politische Tarnung bieten, die die Aufmerksamkeit von der wichtigeren Frage ablenkt, warum Entwicklungsorganisationen
keine langfristigen Ergebnisse erzielen. Um die Diskussion
und Verfolgung der MDGs ist eine regelrechte Industrie ent208
standen. Websites und Bücher widmen sich ihnen. Mitarbeiter
von Hilfsorganisationen sind für sie verantwortlich, Statistiker
messen sie. Eine Google-Suche ergab 7.130.000 Internetseiten
zu diesem Thema. All dies verbindet sich zu einem Nebelvorhang, hinter dem die realen Fragen von Entwicklungszusammenarbeit und Entwicklung verschwinden.
Auf politischer Ebene erleichtern es die MDGs Politikern
und Entwicklungsorganisationen, den harten Fragen auszuweichen. Anstatt zu diskutieren, warum die Organisationen
schlecht konzipierte Projekte auswählen, oder die Anreize für
Mitarbeiter zu überdenken, die zu unangemessenen Projektentscheidungen führen, bläst die Hilfsindustrie ihre Arbeit mit
immer neuer Armutsbekämpfungsrhetorik auf.
Doch leider konzentrieren sich die MDGs eher auf Symptome als auf Ursachen; sie halten Regierungen an, Erfolge über
die sichtbaren Zeichen von Armut – niedrige Einkommen,
Hunger, Krankheit – zu messen. Die MDGs haben enorme Entwicklungsanstrengungen ausgelöst. Aber numerische Ziele
führen stets zu unbeabsichtigten Verhaltensweisen. Wenn beispielsweise ein Händler auf der Grundlage der Anzahl seiner
Verkaufsabschlüsse unabhängig von deren Wert bezahlt wird,
wird er mehr kleine als große Abschlüsse anstreben und so
möglicherweise höhere Gesamterlöse verfehlen. Wird er nur
für seinen Gesamterlös entlohnt, wird er kleine Kunden vielleicht als Zeitverschwendung ignorieren. Abhängig von der
Branche können sich beide Anreizsysteme als verheerend erweisen. Genauso ist es mit der Armut.
In schlecht verwalteten Ländern, deren Bürokratien über
Generationen hinweg ihre Leistung niemals bewerten lassen
mussten, erscheint eine solche Messung zunächst als gute Idee.
Doch die MDGs vereinfachen übermäßig. Gelingt es beispielsweise Ländern, Mädchen in die Schule zu bringen, heißt das,
dass sie die Gleichheit der Geschlechter und die Stärkung von
Frauen erfolgreich gefördert haben? Solch eine Vereinfachung
209
kann dazu führen, dass voreilig Erfolge verkündet werden, es
kann aber auch die Fehlleitung von Ressourcen bedeuten.
Im Fall von Bildung erscheint beispielsweise das Ziel allgemeiner Grundschulbildung politisch attraktiv, doch führt
es zwangsläufig zu Entwicklung? Könnte Afrika nicht mehr
Wachstum erreichen, wenn einige der Finanzmittel für die
Grundschulbildung in technische Schulen umgeleitet würden,
um jene Maurer, Zimmerleute und Elektriker hervorzubringen,
die auf dem Kontinent chronisch knapp sind? In einer Welt unbegrenzter Ressourcen ist mehr Bildung besser als weniger.
Sind die Ressourcen aber begrenzt, ist es nötig, die Primärbildung gegen die sekundäre, berufliche und tertiäre Bildung auszubalancieren. Durch die Fokussierung auf die Bruttoschülerzahl vernachlässigt Afrika ein noch wichtigeres Problem: Seine
Schulen weisen bei der Wissensvermittlung an die Schüler
eine ärmliche Bilanz auf. Viele Faktoren tragen hierzu bei, unter anderem unqualifizierte Lehrer, schlechte Lehreraus- und
-fortbildung, niedrige Gehälter, unfähige Verwaltungen, Versorgungsmangel, schlechte Bücher und Lehrmittel, Unterricht
in nicht vertrauten Kolonialsprachen sowie Lehrmethoden, die
auf Auswendiglernen beruhen.
Das Beispiel Sambia veranschaulicht das Problem falscher
Schwerpunktsetzung. In der Kolonialzeit wurde an den Eliteschulen für die Kinder von Kolonialbeamten in Englisch unterrichtet, während so genannte Eingeborenenschulen sich der
einheimischen Sprachen bedienten. Als Ausdruck politischer
Symbolik verfügte Sambias erste Regierung, dass alle Kinder
in Englisch unterrichtet werden sollten. Niemand wies darauf
hin, dass es zu wenig Lehrer gab und auf dem Lande nur sehr
wenige Familien Englisch sprachen. Dreißig Jahre vergingen,
bevor systematische Bemühungen unternommen wurden, die
Alphabetisierung zu messen. Dann wurde ermittelt, dass drei
Viertel der Grundschulabsolventen funktionale Analphabeten
waren, weil sie den Unterricht in einer Fremdsprache nur über
sich hatten ergehen lassen.
210
Um die Angemessenheit der MDGs zu ermitteln, muss man
zuerst fragen, welches genau die Entwicklungsprobleme sind,
die Afrika aufhalten. Ist der Kontinent weniger konkurrenzfähig, weil ihm Geld fehlt, oder fehlt ihm Geld, weil es an Produkten mangelt, die die Leute kaufen wollen, sowie an den
Technologien, die es bräuchte, um mehr aus den natürlichen
Ressourcen zu machen? Unterentwicklung führt zu Müttersterblichkeit, Tod durch vermeidbare Kinderkrankheiten und
andere Leiden, doch die Heilung dieser Symptome würde
Afrika nicht zwangsläufig das Know-how geben, um als entwickelter Kontinent dazustehen.
Die MDGs werden Afrika nicht entwickeln, weil sie nicht
auf Wachstum und Produktivität gerichtet sind. Ohne Wachstum wird Afrika der Armut niemals entkommen. Stattdessen
wird es einer ewigen Eindämmung der schlimmsten Auswirkungen von Armut durch Almosen entgegensehen. Das ist
kein Rezept für erfolgreiche Eigenständigkeit.
Selbst wenn man annimmt, dass alle MDGs bis zum Zieljahr
2015 erreicht werden, ist es möglich und sogar wahrscheinlich,
dass Afrika dann wirtschaftlich weiter zurückliegt als heute.
Selbst wenn Afrika die MDGs übertreffen und sich seinen Konflikten, Ordnungs- und Bildungsproblemen zuwenden würde,
ist anzunehmen, dass sich die übrige Welt in weit schnellerem
Tempo entwickeln und Afrika auf den wenigen Märkten, die
der Kontinent hat, ausstechen würde. China hat die nötige
Kapazität, niedrige Löhne und eine solide Infrastruktur, um
Afrikas bescheidene verarbeitende Industrie auszulöschen.
Und die konkurrenzfähigen tropischen Landwirtschaftsproduzenten in Lateinamerika und Südostasien könnten Afrika
die Märkte für Kaffee, Tee, Kakao, Sisal und Gemüse wegnehmen, auf denen Afrika einen halbwegs festen Stand hat.
Die MDGs haben sich des entwicklungspolitischen Denkens bemächtigt, weil die marktorientierten Strukturreformen
des IWF kein schnelles Wachstum auslösten und in vielen Fällen die Arbeitslosigkeit erhöhten. Viele Politiker und Analyti211
ker folgerten fälschlich, Afrika sei ein Sonderfall und die Konzentration auf Wachstum könne hier nicht wie überall sonst auf
der Welt funktionieren.
Die Ära der strukturellen Anpassung erwies die Wachstumsstrategien aber nicht als falsch. Vielmehr zeigte sie, dass
strukturelle Anpassung notwendig, aber nicht hinreichend ist.
Sie konzentrierte sich auf die Wiederherstellung finanzwirtschaftlicher Gesundheit, doch es hätte zusätzlicher Reformen
bedurft, um Verschwendung, Bürokratie, schlechte Infrastruktur, bad governance und unzureichende Fertigkeiten anzugehen,
die Afrikas Wirtschaft lähmen.
Die Ausrichtung der afrikanischen Entwicklungs- und Regierungsaktivitäten auf die simplifizierenden MDGs wird mit
hohen Opportunitätskosten einhergehen. Der Kontinent wird
das nächste Jahrzehnt und alle verfügbaren Ressourcen aufwenden – und dennoch nicht mit den Gesundheits-, Hungerund Bildungssymptomen der Armut fertig werden. Die MDGs
werden die Aufmerksamkeit von Investitionen ablenken, die
das Wachstum und den Arbeitsmarkt direkt ankurbeln und somit in Zukunft mehr Ressourcen für Sozialprogramme schaffen könnten.
Kernpunkte für afrikanische
Millennium-Wachstumsziele
Wie aber könnten stärker wachstumsorientierte Ziele aussehen?
Um die Debatte anzufachen, folgt hier ein erster Entwurf eines
solchen Sets afrikanischer Millennium-Wachstumsziele.
1. Stärkung der gewerblichen Infrastruktur:
• Verdoppelung der Zahl schlaglochfreier und dem AStandard entsprechender Straßen. Investoren führen
immer wieder die schlechte Qualität und die hohen Kosten des afrikanischen Transportwesens als ein Haupthin212
dernis für die Konkurrenzfähigkeit auf dem Kontinent
und auf den Exportmärkten an.
• Investitionen in neue Elektrizitätswerke und die Verteilungsinfrastruktur, um innerhalb von fünf Jahren
die Lastverteilung zu gewährleisten und alle Stromausfälle zu beseitigen. Firmen im Allgemeinen und
verarbeitende Betriebe im Besonderen verweisen auf
die häufigen Energieausfälle in afrikanischen Ländern
als ein wirtschaftliches Hindernis. Eine Untersuchung in
Uganda ergab, dass 25 % des Investitionskapitals in den
Kauf privater Generatoren floss, weil die staatlichen Versorger zu unzuverlässig waren.
• Verdoppelung der Hafenkapazitäten und des Tempos
bei der Zollabfertigung bis 2010. Afrikanische Häfen
sind chronisch langsam, ineffizient und haben eine unberechenbare Zollabfertigung. Eine Erhöhung der Effizienz würde den Umschlag erhöhen, die Transportkosten
senken, die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte steigern
und die Kapitalkosten für die im Transit befindlichen
Güter senken.
2. Investitionen in die ländliche Wirtschaft:
• Verdoppelung der operativen Ausgaben und der Reallöhne in landwirtschaftlichen Forschungseinrichtungen. Viele Jahre lang hat Afrika die Investitionen in
landwirtschaftliche Forschung und die Aus- und Weiterbildung von Bauern gekürzt. Angesichts der Tatsache,
dass zwei Drittel aller Afrikaner in ländlichen Gebieten
leben, können Investitionen in Forschung und Entwicklung von neuen landwirtschaftlichen Verfahren die Nahrungsmittelsicherheit direkt unterstützen, ländliche Einkommen steigern und die Exporte erhöhen.
• Verdoppelung der Kapazitäten für die Lagerung von
Getreide. Afrika leidet unter chronischer Nahrungsmittelunsicherheit; wechselweise verderben Rekordernten
213
oder es werden hohe Ausgaben für NahrungsmittelNotlieferungen in Dürrezeiten notwendig. Investitionen
in gut organisierte Nahrungsmittellager- und -sicherheitssysteme könnten die Preise stabilisieren und bäuerliche Investitionen ermutigen, da die Preise für Bauern
voraussehbarer würden. Verlässlichere Einkommen erlauben es den Bauern, stärker in produktive Landwirtschaftstechnologien zu investieren.
• Subventionierung des Verkaufs kleiner Bewässerungsanlagen auf kommerzieller Basis. Indien, Bangladesch, Malawi und andere Länder haben dramatische
Erhöhungen der Produktivität und Wohlfahrt von Kleinbauern durch den kommerziellen Verkauf subventionierter Kleinbewässerungsanlagen erreicht. Sie ermöglichen auch in trockenen Jahren die Produktion, erlauben Mehrfachernten und höhere Ernteerträge.
• Steuerliche Anreize für Exporteure und verarbeitende
Industrie mithilfe von contract farming. Viele kommerzielle Agrarerzeugnisse müssen vor dem Export zentral
weiterverarbeitet werden. Während Regierungen sich
damit abmühen, landwirtschaftliche Aus- und Weiterbildung, Vorleistungen und Kredite bereitzustellen, bieten kommerzielle Verarbeitungsbetriebe eine effizient
arbeitende zentrale Anlaufstelle, die Kleinbauern beim
Einstieg in die kommerzielle Landwirtschaft hilft. Diese
Firmen bilden Bauern aus, sorgen für das richtige Maß
an Vorleistungen und bieten Kredite sowie Marktzugang zu vereinbarten Preisen. Diese Kombination hat
große Zuwächse bei den ländlichen Einkommen gebracht. Contract farming sollte durch steuerliche Anreize
und infrastrukturelle Unterstützung gefördert werden.
Erfolgreiche Beispiele gibt es in der Tabak-, Kaffee- und
Teeindustrie. South African Breweries bedient sich in
Uganda eines solchen Modells für die Produktion des
für sein Bier benötigten Getreides. Zu anderen erfolg214
reichen Firmen gehören Clark Cotton in Sambia, die Blue
Skies-Fruchtexporteure in Ghana und verschiedene Verarbeitungsbetriebe in Kenia und Südafrika.
• Investitionen in Molkereibetriebe, Kühllager und
Vermarktung, um den Wert von Afrikas großen Viehbeständen zu erschließen. Afrika verfügt über ein erhebliches heimisches Wissen beim Management von
Viehbeständen und großen Herden, realisiert bei Milchprodukten aber nur sehr wenig von ihrem Wert. Investitionen in Molkereigenossenschaften könnten die ländlichen Einkommen und die Nahrungsmittelsicherheit
verbessern.
• Schaffung oder Ausweitung von Forschungs- und
Zertifizierungseinrichtungen, um Bauern zu unterstützen, die geforderten Standards bei Agrarexporten
(Pflanzengesundheit, Qualität und Verpackung) zu
erfüllen. Afrikas Klima bietet das Potenzial für erheblich größere Agrar-, Vieh- und Fischexporte, doch fehlt
Kleinbauern die Möglichkeit, den Nachweis zu führen,
dass ihre Produkte den Standards der Importländer entsprechen. Investitionen in genossenschaftliche nationale
oder regionale Prüfzentren und von ihren Mitgliedern
getragene Vermarktungsorganisationen könnten Kleinbauern helfen, sich über lukrative ausländische Märkte
zu informieren und Zugang zu ihnen zu erhalten. Während sich staatliche Vermarktungs- und Prüfmonopole
als schwerfällig und unflexibel gezeigt haben, können
Bauernorganisationen und Genossenschaften mit staatlicher Unterstützung bei Prüf- und Forschungszentren
das ungenutzte Potenzial afrikanischer Bauern durchaus erschließen.
• Verdoppelung der Investitionen in ländliche Zubringerwege. Kleinbauern können den Wert ihrer Erzeugnisse nur realisieren, wenn sie diese auf den Markt bringen können. Investitionen in ländliche Zubringerwege
215
können den Marktzugang erweitern und die ländliche
Entwicklung vorantreiben.
3. Investitionen in Ausbildung und Forschung: Die MDGKonzentration auf Grundschulbildung wird wenig dabei
helfen, Afrika wettbewerbsfähig zu machen. Afrika kann
nur zum Rest der Welt aufschließen und die Konkurrenzfähigkeit seiner Produkte erhöhen, wenn es in technische
Fähigkeiten investiert. Ein konzertiertes Programm zur Ermittlung und Korrektur des Mangels an Fertigkeiten wird
das Wachstum fördern.
• Verdreifachung des jährlichen Ausstoßes an qualifizierten und angelernten Arbeitskräften. Afrikanische
Firmen berichten von einem großen Mangel an technischen Arbeitskräften, darunter Elektriker, Zimmerleute, Maurer, Installateure und Mechaniker, die sie für
den Auf- und Ausbau ihrer Unternehmen bräuchten.
Direktinvestitionen in technische Schulen sowie steuerliche Anreize zur Ausbildung für Unternehmen können
die Zahl dieser wertvollen Arbeitskräfte steigern.
• Verdreifachung der Zahl von Universitätsabsolventen
in Buchhaltungswesen und Projektmanagement. Das
UN-Millennium-Projekt und die Commission for Africa
stellten, neben anderen, einen erheblichen Kapazitätsmangel beim Finanz- und Projektmanagement und im
Buchhaltungswesen fest. Dies vermindert Afrikas Fähigkeit, Entwicklungsgelder nutzbar zu machen, und ist
ein Hindernis für das Wachstum von Unternehmen.
• Verabschiedung von Gesetzen zur gemeinsamen Nutzung von Patenten und Lizenzen, damit Hochschulen
mit der Privatwirtschaft in der industriellen und landwirtschaftlichen Forschung zusammenarbeiten können. Der Erfolg der elektronischen, chemischen, pharmazeutischen, landwirtschaftlichen und anderer Industrien in den USA, Europa, Brasilien und Asien basierte
216
auf enger Zusammenarbeit zwischen Universitäten und
der Industrie. Sie wurden durch Gesetze dazu gebracht,
die die gemeinsame Verwendung von Lizenzen und Patenten sowie Joint Ventures zulassen. Afrika sollte dasselbe tun.
• Halbierung der Studiengebühren für technische, natur- und ingenieurwissenschaftliche Fächer. Afrika
bringt zu viele Absolventen in den Geistes- und Sozialwissenschaften hervor, während an technischen und naturwissenschaftlichen Fähigkeiten Mangel herrscht. Anreize und differenzierende Studiengebühren könnten
mehr Studenten dazu bringen, für die wirtschaftliche
Entwicklung wichtige Studienfächer zu wählen.
• Steigerung der Investitionen in den Mathematik- und
naturwissenschaftlichen Unterricht auf Sekundarschulebene. Der Mangel an naturwissenschaftlichen
Universitätsabsolventen ist die Folge von mangelndem
und mangelhaftem Unterricht in den Sekundarschulen.
Höhere Investitionen in Mathematik und Naturwissenschaften auf Sekundarschulebene werden sich für Afrika
auszahlen.
4. Erhöhung von Krediten und Ersparnissen: Schätzungsweise 40 % von Afrikas Einnahmen werden im Ausland
investiert, während es afrikanischen Firmen an Krediten
mangelt. Afrika kann das Wachstum durch Strategien zur
Förderung von Ersparnissen steigern, aus denen Kredite für
produktive Investitionen vergeben werden können.
• Zinssenkung auf 15 % oder weniger innerhalb von
fünf Jahren. Überall auf der Welt senken Regierungen
Zinsen, um Investitionen und Wachstum zu steigern.
Doch die afrikanischen Zinsen sind aufgrund von hohen Inflationsraten, deficit spending und dem Versuch,
den Außenwert der Währungen zu verteidigen, unerschwinglich hoch. Ein konzertiertes Programm zur Be217
schränkung von Defiziten, Begrenzung von Inflation
und Zinssenkungen würde das Kreditvolumen für die
industrielle Expansion erhöhen.
• Stärkung der Bankenaufsicht, um faule Kredite abzuschreiben, politische Kreditvergabe zu vermeiden und
das Kreditvolumen für produktive Investitionen zu
erhöhen. Afrikanische Banken sind schwach, schlecht
reguliert und oft wegen uneinbringlicher Forderungen
an politisch mächtige Schuldner vom Zusammenbruch
bedroht. Eine bessere Aufsicht würde die Abschreibung
fauler Kredite erleichtern und eine gesunde Kreditvergabepraxis gewährleisten.
• Schaffung eines computergestützten Erfassungssystems und Registrierung säumiger Schuldner. Banken
scheuen die Kreditvergabe, weil faule Kredite schwer
einzutreiben und Problemschuldner kaum auffindbar
sind. Helfen kann eine computergestützte Erfassung
und ein Register säumiger Schuldner. Beides kann Kreditverluste verringern und Banken zur verstärkten Darlehensvergabe veranlassen.
• Investition nationaler Pensionsgelder in Afrika statt
in der entwickelten Welt. Afrikanische Pensionsfonds
investieren Milliarden US-$, die auf dem Kontinent produktiv investiert werden könnten, außerhalb Afrikas.
Einer Schätzung zufolge verfügen die Pensionsfonds für
Staatsangestellte in 14 afrikanischen Ländern über einen
Gesamtwert von 127 Mrd. US-$.
5. Erhöhung der Inlandseinnahmen: Afrika leidet chronischen Mangel an Mitteln für die Entwicklungsfinanzierung, könnte aber viel mehr unternehmen, um Mittel für
Wachstum zu mobilisieren.
• Besteuerung von Luxusgütern einschließlich teurer
Autos und Konsumelektronik zur Finanzierung zusätzlicher Investitionen. Werden Luxusautos, Heimki218
nosysteme und importierte Nahrung sowie alkoholische
Getränke für Gourmets wirklich gebraucht? Die Erhebung hoher Steuern auf solche Waren würde die Einnahmen erhöhen und helfen, Mittel für produktivere Ausgaben bereitzustellen.
• Halbierung der Regierungsausgaben für die Nutzung
von Mobiltelefonen, für Fahrzeuge und internationale
Reisen. Regierungen verschwenden ungeheure Summen für Luxus. Hier kann gespart werden.
Die politische Reformagenda
1. Förderung von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit: Die
mangelnde Bereitschaft der Banken, Kredite zu vergeben
und das Zögern ausländischer Firmen, zu investieren ist
auch auf das Versagen afrikanischer Gerichte zurückzuführen, gerechte und schnelle Urteile zu fällen. Investitionen
in die Kompetenz und Effizienz der Gerichte könnten auch
das Vertrauen der Bürger in das Gemeinwesen verbessern,
denn derzeit sind sie vielerorts mit Bestechungsforderungen
konfrontiert, wenn sie bei der Polizei oder bei Gericht um
Hilfe nachsuchen.
• Verdopplung der Kapazität der Gerichte und Drittelung
der Zeit und Kosten für Urteile in Wirtschaftssachen.
2. Abbau von Bürokratie: Die jährliche Übersicht der Weltbank zu den Auswirkungen von Regulierung auf Unternehmen weist Afrika als den schwierigsten Kontinent für
unternehmerische Aktivitäten aus. Im Durchschnitt dauert es 433 Tage und erfordert 35,4 Vorgänge, um in Afrika
südlich der Sahara einen Vertrag durchzusetzen.1 Ein Un1
Für die Zahlen vgl. World Bank Doing Business 2005 Online Database:
http://www.doingbusiness.org/CustomQuery (2.8.2006).
219
ternehmen zu eröffnen erfordert durchschnittlich 10,84 Vorgänge und dauert 62 Tage, wobei die Kosten das Dreifache
des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens betragen.2
• Verringerung der für die Unternehmenseröffnung nötigen Anzahl von Schritten und des Zeitaufwandes um
zwei Drittel.
• Verringerung der notwendigen Schritte und des Zeitaufwandes, um Grundstücke für Wirtschaftsaktivitäten zu
erwerben, um zwei Drittel.
• Umwandlung des Grundbesitzes vom gewohnheitsrechtlichen in freie Rechtstitel bis 2015.
3. Herstellung gleicher Bedingungen für alle wirtschaftlichen Akteure durch Korruptionsbekämpfung: Korruption wird regelmäßig als wichtiges Investitionshindernis
in Afrika angeführt. Sie verhindert effiziente unternehmerische Aktivitäten, verzerrt und verzögert Regierungsentscheidungen und lenkt Geld aus der produktiven Nutzung
in private Taschen um.
• Verdopplung der finanziellen und personellen Ausstattung von Anti-Korruptions-Behörden, der Rechungshöfe, Ausschreibungsgremien und Rechnungsprüfungsabteilungen.
2
In China, Afrikas wahrscheinlich größtem Konkurrenten bei Investitionen
und verarbeiteten Produkten, erfordert es nur 13 Vorgänge und 48 Tage,
um ein Unternehmen zu eröffnen, sowie 25 Vorgänge und 241 Tage, um
einen Vertrag durchzusetzen. Der Durchschnitt für die Länder der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt
bei 6,5 Vorgängen und 19,5 Tagen für eine Unternehmenseröffnung sowie
19,5 Vorgängen und 225,7 Tagen, einen Vertrag durchzusetzen. In Ostasien
braucht man 8,88 Vorgänge und 34,5 Tage, um ein Unternehmen zu eröffnen, sowie 26,38 Verfahren und 265,5 Tage, um einen Vertrag durchzusetzen. (Zu Ostasien zählen hier China, Hongkong, Malaysia, die Philippinen, Singapur, Thailand, Taiwan und Vietnam.)
220
• Einführung von Ausschreibungsgesetzen, die zu Transparenz verpflichten.
• Verabschiedung von Gesetzen, die Interessenkonflikte
für Staatsangestellte klar benennen und Angehörigen
von Politikern und Staatsdienern die Teilnahme an staatlichen Ausschreibungen verbieten.
• Verabschiedung von Gesetzen, die die vollständige Offenlegung der Privatvermögen von Parlamentariern,
Ministern, Präsidenten, Richtern und Angehörigen des
höheren öffentlichen Dienstes vorschreiben. Die Informationen müssen für die Allgemeinheit und die Medien
zugänglich sein.
• Verpflichtung aller Unternehmen, alle direkten oder
über Mittelsmänner vorgenommene Zahlungen an Regierungsbeamte offen zu legen.
• Verabschiedung von Gesetzen, die Bürgern und Medien
den zeitnahen Zugang zu allen Ausschreibungsdokumenten ermöglichen.
• Abschaffung von Zulassungsvoraussetzungen für Journalisten und Medieneinrichtungen und Entkriminalisierung von »Ehrverletzungen«.
• Zulassung unabhängiger kommerzieller Radio- und
Fernsehanstalten im gesamten Staatsgebiet.
Afrika braucht eine andere Reformagenda
Die MDGs sind nicht nur zu einem globalen Leistungsmaß,
sondern zunehmend auch zu einem Wegweiser für Entwicklungsprogramme geworden. Die Ziele werden als politisches
Mantra verwendet, das verhindert, die Fokussierung der Entwicklungszusammenarbeit zu überprüfen. Afrika hat mehr
Bedürfnisse als es finanzielle Mittel hat – auch angesichts der
jüngsten Versprechungen, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit zu verdoppeln. Wenn alle neuen Gelder auf die
221
MDGs umgelenkt würden, könnte der Kontinent die schlimmsten Aspekte seiner Armut mildern – schlechte Gesundheitsversorgung, unzureichende Bildung und weit verbreiteten Hunger. Ein solcher Ansatz wird aber nichts dazu beitragen, etwas
an den tiefer liegenden Ursachen der afrikanischen Armut zu
ändern: Der Kontinent ist arm, weil seine Industrien nicht wettbewerbsfähig und die Kosten zu hoch sind. Steigende Mittel
für die Entwicklungszusammenarbeit stellen eine seltene Gelegenheit für Afrika dar, in Dinge zu investieren, die seine produktive Kapazität und Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Statt
sich auf Gesundheitsversorgung, Bildung und Hunger zu konzentrieren, muss Afrika eine alternative Strategie verfolgen,
die auf die Förderung von Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit abzielt. Dieses Alternativrezept sollte sich auf
konkrete Verbesserungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen konzentrieren, die den Zugang für Investoren erleichtern, die Kosten senken, grundlegende, von der Wirtschaft benötigte öffentliche Dienstleistungen verbessern, die Korruption bekämpfen und die Rechtsstaatlichkeit stärken können.
Afrika sollte nicht seine Sozialprogramme kürzen, aber darf
für sie nicht Maßnahmen hintanstellen, die es zu einem besseren Wirtschaftsstandort mit mehr Arbeitsplätzen machen.
Übersetzung: Henning Boekle
222
EVELINE HERFKENS, MANDEEP BAINS
Damit die Millennium-Entwicklungsziele
nicht nur eine Vision bleiben
Herausforderungen für den Norden
Als sich im September 2000 Staats- und Regierungschefs aus
aller Welt bei den Vereinten Nationen trafen, herrschte Aufbruchstimmung. Die 189 politischen Führer betrachteten es als
dringend, »unsere Mitmenschen – Männer, Frauen und Kinder – aus den erbärmlichen und entmenschlichenden Lebensbedingungen der extremen Armut zu befreien«.1
Dringlich war und ist dieses Anliegen tatsächlich: 1,1 Mrd.
Menschen leiden unter derart extremer Armut, dass sie gezwungen sind, mit weniger als 1 US-$ am Tag zu überleben.
Millionen Menschen haben nicht genug zu essen, um ein aktives Leben führen zu können, und mehr als 100 Mio. Kinder
gehen nicht zur Schule. Und obwohl das Recht auf Leben und
Sicherheit zu den grundlegenden Menschenrechten gehört,
wird dieses Recht durch bewaffnete Konflikte in der ganzen
Welt systematisch verletzt.
Vor diesem Hintergrund unterzeichneten die Staats- und
Regierungschefs die Millennium-Erklärung, mit der sie sich
verpflichteten, gemeinsam gegen Armut und Hunger, die Ungleichheit der Geschlechter, Umweltverschmutzung und HIV/
AIDS zu kämpfen. Sie versprachen auch, den Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und sauberem Trinkwasser
deutlich zu verbessern, und dies alles bis zum Jahr 2015. Mit
1
Millenniums-Erklärung der Vereinten Nationen, Resolution der Generalversammlung, UN/DOC/A/RES/55/2. New York 8. September 2000.
223
der Erklärung gaben sie den Bürgern der Welt ein feierliches
Versprechen, das sich insbesondere in den acht MillenniumEntwicklungszielen (Millennium Development Goals, MDGs)
manifestierte.
Mit der Einigung auf die MDGs zeigten die politischen Führer ein enormes Maß an visionärer Kraft: sie entwickelten die
Vision, unsere Welt wahrhaftig zu verändern, und dies innerhalb einer Generation. Doch Visionen sind ohne ihre Verwirklichung nur Illusionen. Wo stehen wir also bei der Verwirklichung?
Fortschritte bei der Umsetzung der MDGs
Nach sechs Jahren der 15-jährigen Umsetzungsperiode kann
man nur von einem langsamen und ungleichmäßigen Fortschritt sprechen. Wenn es weitergeht wie bisher werden wir –
auf globaler Ebene – nur einige der Ziele erreichen. Und selbst
wenn es Erfolge auf globaler Ebene geben sollte, werden die
ärmsten Länder und die verwundbarsten Bevölkerungsteile
zurückbleiben.
Ein Beispiel hierfür ist das medienwirksame Ziel, den Anteil
der Weltbevölkerung, der von weniger als 1 US-$ am Tag leben
muss, bis 2015 zu halbieren. Wir sind auf gutem Wege, dieses
Ziel auf globaler Ebene zu erreichen. Obwohl dies eine bedeutende Leistung darstellt und nicht unterschätzt werden sollte,
wird dieses Ziel hauptsächlich durch Entwicklungen in den bevölkerungsreichen Ländern Indien und China erreicht werden.
Viele Länder – vor allem in Afrika südlich der Sahara – sind
vom erforderlichen Fortschritt weit entfernt.
Das Bild erscheint noch weniger rosig, wenn wir die anderen Ziele betrachten. Keine Region ist auf dem Weg, alle Ziele
zu erreichen, und weder Südasien noch Afrika südlich der Sahara sind dabei, auch nur eines der auf menschliche Entwicklung gerichteten Ziele zu erfüllen, also der Ziele 2 bis 6.
224
Dennoch sollten wir nicht die Hoffnung verlieren. Auch
wenn das Gesamtbild keineswegs befriedigend ist, gibt es einige ermutigende Zeichen. Beispielsweise können Mosambik
und eine Reihe anderer afrikanischen Länder südlich der Sahara das Armutsziel erreichen, auch wenn es die Region als
Ganzes verfehlen wird. Zehn afrikanische Länder südlich der
Sahara – einschließlich Ruanda, Uganda, Mali, Mosambik und
Tansania – sind auf dem Wege, das Ziel allgemeiner Grundschulbildung bis 2015 zu erreichen. Hinzu kommen in Ostasien
und Lateinamerika eine Zunahme der Impfraten bei Kindern
und eine steigende Zahl der Geburten, die von ausgebildetem
Personal begleitet werden. Dies wird bei der Erreichung der
auf Kinder- und Müttersterblichkeit gerichteten Ziele helfen.
Und schließlich haben einige hauptbetroffene Länder die HIVInfektionsrate erfolgreich verringert, obwohl sich HIV/AIDS
weltweit weiterhin ausbreitet.
Diese Erfolge zeigen, dass selbst die ärmsten Länder die
Ziele erreichen können. Das Geheimnis hinter diesen Erfolgen
ist, dass sowohl die Empfänger- als auch die Geberregierungen
ihren Teil dazu beitrugen: Die Regierungen der Entwicklungsländer trafen die richtigen Entscheidungen, indem sie der Entwicklung und den Bedürfnissen der Armen Priorität einräumten, während die Geber mehr und qualitativ bessere Entwicklungszusammenarbeit (EZ) sowie Schuldenerlasse gewährten.
Trotz dieser positiven Anzeichen dürfen wir nicht verkennen, dass das gegenwärtige Fortschrittstempo keinesfalls ausreicht, um alle MDGs bis 2015 zu erreichen. Keine noch so
große Zahl positiver Beispiele darf verdecken, dass das der
Welt gegebene Versprechen nach gegenwärtigem Stand aller
Voraussicht nach gebrochen werden wird.
Aber wir sollten daraus nicht schließen, dass die MDGs selbst
das Problem sind. Natürlich sind die Ziele nicht perfekt. Und es
gibt auch sicher mehr, was Entwicklung ausmacht, als die acht
MDGs. Trotzdem haben sie gegenüber vorangegangenen internationalen Entwicklungszielen zahlreiche Vorteile.
225
Mit den MDGs entstand zum ersten Mal eine gemeinsame
Vision der Entwicklungsgemeinschaft, die über nahezu vier
Jahrzehnte von Meinungsverschiedenheiten geprägt war. Während der 1990er Jahre entwickelte sich eine bemerkenswerte
Übereinstimmung über die entwicklungspolitischen Erfordernisse. Auch wenn wir noch keine Antworten auf alle Probleme
der Welt besitzen, so haben wir doch ein ausreichendes Einvernehmen darüber, was getan werden muss, um direkt und massiv auf das Leben der Ärmsten einwirken zu können.
Die Ziele sind ergebnisorientiert, quantifiziert und zeitgebunden. Fortschritt lässt sich dadurch direkt verfolgen. Erstmals benannten die Länder Ziele, über deren Erreichung sie
Rechenschaft ablegen müssen. Anders als in der Vergangenheit sind die Ziele messbar und können kontrolliert werden.
Dadurch wurden die MDGs zu den zentralen Parametern für
die Messung von Fortschritt bei den globalen Entwicklungsanstrengungen.
Die MDGs sind aber nicht nur wichtige Parameter auf globaler Ebene, sondern auch Richtgrößen für politische Strategien und Planungen in den Entwicklungsländern. Die Ziele
und ihre Indikatoren können an die jeweilige nationale, regionale und lokale Situation und dortige Prioritäten angepasst
werden. In manchen Fällen wurde bestimmten Zielen gegenüber anderen Priorität gegeben, in anderen haben Länder oder
Regionen Ziele hinzugefügt oder Zielvorstellungen erweitert.
Auch sind die MDGs sehr umfassend; sie schließen eine
große Zahl verschiedener Aspekte der Armut ein, wie sie von
den verwundbarsten Bevölkerungsteilen in den Entwicklungsländern erfahren werden. Die umfassende Natur der Ziele ermöglicht wichtige Synergien. Wenn wir etwa in Sambia, wo
Schulen wegen an AIDS erkrankten Lehrern geschlossen wurden, Fortschritte beim AIDS-Ziel machen, wird dies auch dabei
helfen, die Bildungsziele zu verwirklichen.
Noch wichtiger ist, dass die MDGs auf einem menschenrechtlichen Ansatz basieren. Dieser Ansatz erinnert daran, dass
226
es bei Entwicklung um Freiheit geht: Freiheit von Elend und
Leiden, von Hunger, von Analphabetismus, von Krankheit,
von schlechten Wohnverhältnissen und von Unsicherheit. Er
verweist auch darauf, dass es bei Entwicklungsanstrengungen
nicht um Mildtätigkeit geht, sondern um Rechte und gerechtfertigte Ansprüche – traditionelle Menschenrechte, aber auch
soziale und wirtschaftliche Rechte – auf der Grundlage der Anerkennung struktureller Ursachen von Armut.
Doch die Ziele tragen im Kern nicht nur die Rechte der
einzelnen Bürgerinnen und Bürger armer Länder, sondern reflektieren auch das, wonach sie streben. Und das sind Bestrebungen, auf die sich Menschen überall auf der Welt beziehen
können – wie etwa Zugang zu Gesundheitsversorgung oder
Bildung. So konnten die Ziele zu einer gemeinsamen Forderung für verschiedene Gruppen werden. Die Einfachheit, Klarheit und Messbarkeit der MDGs hatte einen katalytischen Effekt auf die globalen Entwicklungsanstrengungen.
Die Einzigartigkeit der Ziele liegt aber vor allem darin, dass
sie – insbesondere durch das achte Ziel – ausdrücklich anerkennen, dass die Ausrottung der Armut die gemeinsame Verantwortung sowohl der reichen als auch der armen Welt ist
und dass die Ziele nur durch eine globale Partnerschaft für
Entwicklung erreicht werden können.
Die Anerkennung gemeinsamer Verantwortung reifte aus
der Einsicht, dass unsere Nationen voneinander abhängig
sind – sei es durch unsere gemeinsame Umwelt, durch Migrationsströme oder durch die Ausbreitung von Krankheiten oder
Konflikten. Diese globalen Interdependenzen machen Armut
und Ungleichheit zu unseren gemeinsamen Feinden. Heute bezeichnen wir sie als Globalisierung; Willy Brandt sprach schon
in den 1970er und 1980er Jahren von diesen Interdependenzen
und unterstrich, dass zunehmend offene Volkswirtschaften einer regelbasierten Global Governance bedürfen.
Auch wenn wir von einer umfassenden und fairen Weltordnung noch weit entfernt sind, geben uns die MDGs die
227
Möglichkeit, eine inklusivere Weltgemeinschaft zu errichten,
die auf eine sicherere und bessere Welt hinarbeitet. Denn die
Ziele stellen eine Vereinbarung für Entwicklung zwischen reichen und armen Ländern und einen brauchbaren Handlungsrahmen dar.
Der von den Zielen skizzierte Rahmen weist armen und reichen Ländern eine klare Arbeitsteilung zu. Die Entwicklungsländer – sie haben die Hauptarbeit zu verrichten – müssen die
politischen Bedingungen schaffen, damit die ersten sieben Ziele
erreicht werden können. Darüber hinaus haben sie sich verpflichtet, ihr Regierungshandeln, dessen Transparenz und Verantwortlichkeit zu verbessern. Damit erhöht sich die Chance,
dass die Regierungen die eingegangenen Verpflichtungen auch
umsetzen, und es wird die Fähigkeit der Zivilgesellschaft und
der Parlamente gestärkt, Fortschritte zu kontrollieren. Die reichen Länder haben sich dagegen verpflichtet, globale Bedingungen zu schaffen, die den Entwicklungsländern die Erfüllung ihrer Aufgaben erleichtern.
Obwohl Entwicklung mehr beinhaltet als die MDGs, bieten
sie doch einen auf Arbeitsteilung gründenden globalen Handlungsrahmen für Entwicklungsfragen. Das ist neu. Selbst wenn
sie nicht perfekt sind, bleibt uns keine Zeit für weitere Reflektionen. Wir müssen uns schnell ihrer entschlossenen Umsetzung zuwenden.
Gegenwärtig fehlt es an schnellem Handeln seitens der Regierungen – und es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür. Wir
verfügen über die Technologie, das Wissen und die Ressourcen, die für die Umsetzung der Ziele nötig sind. Warum also
liegen wir zurück?
Es fehlt an der Aufbruchstimmung, wie man sie im September 2000 in New York spürte. Es fehlt an der Entschlossenheit,
diese Ziele in den Mittelpunkt lokaler, nationaler und internationaler Politiken zu stellen. Es fehlt der politische Wille, nach
dieser Vision zu handeln. Wir müssen die Aufbruchstimmung
228
wiederherstellen, und wir müssen Regierungen zum Handeln
bringen.
Reiche und prosperierende Länder – etwa in Europa – liegen
genauso weit zurück wie die ärmsten Länder, und dafür gibt
es keine Entschuldigung. Die Versprechen der reichen Länder
sind im achten MDG enthalten. Diese verpflichten sie zu mehr
und qualitativ besserer EZ, zum Schuldenerlass für die ärmsten Länder und zur Schaffung eines Welthandelssystems, das
es Produzenten in den Entwicklungsländern erlaubt, sich ihren
eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften.
Das achte MDG ist genauso erreichbar, wie die übrigen
Ziele: Es bedarf hierzu des Politikwandels und der politischen
Entschlossenheit auf höchster Ebene. Bürger müssen Druck auf
ihre Regierungen ausüben, damit diese ihre Versprechen halten. Es kommt darauf an, dass normale Bürger zu sagen beginnen: »Wir müssen unsere Zusagen mit Blick auf die Hilfeleistungen halten und unsere schädlichen Handelspolitiken ändern, um die MDGs zu erreichen.« Politischer Wille kann nur
entstehen, wenn Politiker politischen Druck seitens der Bürger
verspüren – die Angst, Wahlen zu verlieren, ist ein machtvoller
Ansporn.
Mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit
Im Jahr 2005 beschlossen die Mitgliedsländer der EU-15, bis
2015 endlich gemeinsam ihr 35-jähriges Versprechen umzusetzen, 0,7 % ihres Bruttoinlandseinkommens als Mittel für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance, ODA) zur Verfügung zu stellen. Obwohl 1970 nahezu
alle reichen Länder dieses Versprechen gegeben hatten, wird es
gegenwärtig gerade von fünf Ländern – allesamt in Europa –
erfüllt (und übererfüllt). Für die übrigen gilt, dass sie nun einen
Zeitplan für die Umsetzung des Versprechens aufstellen und
zügig mehr ODA-Ressourcen bereitstellen müssen. Eine Erhö229
hung der ODA-Budgets bedarf nicht nur der Überwindung finanzieller Hürden, sondern auch erheblicher Anstrengungen
bei Verwaltung und Management. Dies kann nicht über Nacht,
sollte aber sobald wie möglich geschehen.
Deutschland ist ein Beispiel für ein Land, das endlich für
die Umsetzung seines 0,7 %-Versprechens tätig werden muss.
2005 entsprach Deutschlands ODA lediglich 0,35 % seines Nationaleinkommens, doch ergab sich dieser relativ hohe Wert
aus den Schuldenerlassen von 2005. 2004 lag Deutschlands
ODA bei nur 0,28 %; zieht man die Schuldenerlasse ab, so nahm
die ODA von 2004 auf 2005 um nahezu 10 % ab! Dies bedeutet, dass das tatsächliche ODA-Niveau nach wie vor weit von
der 0,7 %-Zielmarke entfernt ist. Und nicht nur das: Anders als
andere Länder hat die deutsche Bundesregierung nicht einmal
einen eigenen Zeitplan für die ODA-Erhöhungen bekannt gegeben – obwohl Kanzlerin Angela Merkel ihr Bekenntnis zum
0,7 %-Ziel im schweizerischen Davos im Januar 2006 erneuert
hat.
Kanzlerin Merkel betonte, dass 2006 ein wichtiger Zwischenschritt auf dem Weg zur Zielmarke von 0,7 % sei. Für
dieses Jahr haben Deutschland – und alle anderen Staaten der
EU-15 – beim EU-Gipfel 2002 in Barcelona vereinbart, mindestens 0,33 % ihres Inlandseinkommens für ODA aufzuwenden.
Für die Umsetzung der Mittelzusagen sind neue Finanzierungsquellen vonnöten. Mittlerweile gibt es darüber in Europa
zahlreiche Diskussionen. Doch solche Diskussionen sind Zeitvergeudung, solange die Regierungen nicht das tun, was sie
aus eigener Kraft zu tun versprochen haben. Das Gerede von
innovativen Finanzierungsmechanismen ist eher geeignet, einen Nebelvorhang aufzuziehen, hinter dem sich die Regierungen untätig verstecken können.
Innovative Finanzierungsquellen, die von einem einzelnen
Land umgesetzt werden können, sind letztlich wenig mehr als
eine Zweckbindung bestehender Steuereinnahmen. Es ist nicht
klar, ob sie signifikante zusätzliche Mittel aufbringen können.
230
Und indem spezielle Gruppen von Steuerzahlern – Passagiere
oder andere – herausgegriffen werden, mindern diese Mechanismen die Zahl der Bürger, die eine höhere ODA befürwortet.
Internationale Arrangements über neue Finanzierungsquellen, die tatsächlich erhebliche Mittel aufbringen, werden nur
in langwierigen, möglicherweise Jahre andauernden Verhandlungen vereinbart werden können. Doch dafür haben wir keine
Zeit, wenn wir die MDGs erreichen wollen.
Qualitativ bessere Entwicklungszusammenarbeit
Auch wenn die Quantität der ODA wichtig ist und wir die moralische Verpflichtung haben, dass unsere Regierungen Versprechen halten, die sie vor Jahrzehnten gegeben haben, ist die
Qualität der EZ genauso wichtig, möglicherweise sogar noch
wichtiger. Dies wurde von Premierminister Tony Blairs Commission for Africa hervorgehoben, der auch neun Mitglieder
aus Afrika angehörten.2 Ohne Verbesserungen der EZ-Qualität
kann die Armut nicht beseitiget werden.
Zusammen mit anderen großen Geberländern hat Deutschland zugesagt, die Erklärung von Rom zur Geberharmonisierung von 2003 sowie die Erklärung von Paris zur Steigerung
der Wirksamkeit der EZ von 2005 umzusetzen. Die Erklärung
von Paris – die umfangreichste ihrer Art – basiert auf fünf Prinzipien. Um die Art der Veränderungen zu bennen, die die Geberländer in ihrer EZ vornehmen müssen, seien hier einige erwähnt.
Ownership über Entwicklungspolitiken sollte – erstens – in
den Händen der Entwicklungsländer liegen. Die Geberländer
dürfen nicht ihre eigene Entwicklungsprioritäten setzen, sie
müssen sich EZ-Methoden bedienen, die auf lokale ownership
2
»Our Common Interest: Report of the Commission for Africa«. London,
März 2005.
231
abzielen. Die Geberländer müssen – zweitens – ihre Unterstützung in höchstmöglichem Maße in die Strategien, Institutionen
und Verfahren der Empfängerregierung integrieren. Die Regierungen der Entwicklungsländer müssen für die Entwicklung
ihrer Länder verantwortlich gemacht werden – schließlich sind
es nicht die Geber, die die Länder entwickeln, sondern die Länder selbst. Deshalb müssen die Entwicklungsländer eine wirksame Kontrolle über und Verantwortung für Ressourcen ausüben und die Umsetzung ihrer Entwicklungspolitiken und
-programme selbst organisieren.
Dies ist von besonderer Bedeutung für das Erreichen der
MDGs, schließlich geht es bei vielen Zielen um die dauerhafte
Sicherstellung öffentlicher Dienstleistungen, sei es Gesundheitsversorgung, Bildung oder Trinkwasser.
Das dritte Prinzip, das der Erklärung von Paris zugrunde
liegt, ist Harmonisierung auf Seiten der Geberländer. Es gibt
viele Wege, auf denen die Geberländer mehr und besser zusammenarbeiten können, so dass das Management der EZ
für das Empfängerland weniger belastend ist. Zu oft führen
die Geberländer Kleinprojekte durch – oft viele gleichzeitig in
einem Bereich –, ohne sich miteinander zu koordinieren. Sie
alle wollen Monitoring-Berichte, Evaluierungen, Rechnungsprüfungen sowie ihr Projekt mehrmals im Jahr besuchen, wobei sie oft genau dieselben Fragen stellen wie andere. Kurz:
unzählige Geberanforderungen absorbieren erhebliche administrative Kapazität, die für die Erreichung der MDGs besser
eingesetzt wäre. Deshalb ruft die Erklärung von Paris – und
die ihr vorausgehende von Rom – die Geber dazu auf, ihren
Partnern in den Entwicklungsländern weniger Lasten aufzubürden, etwa indem sie sich gemeinsamer Arrangements bei
der Planung, Finanzierung und Umsetzung der EZ bedienen.
Obwohl die Geberländer die Erklärungen von Paris und
Rom unterzeichnet haben, sind sie bei der Erfüllung ihrer Zusagen zögerlich. Die neue deutsche Bundesregierung hat ihr
Versprechen bekräftigt, die Effektivität ihrer EZ zu erhöhen.
232
Zusätzlich hat Deutschland in den vergangenen Jahren eine
Reihe von Pilotvorhaben durchgeführt, in denen einige – für
Deutschland neue – EZ-Modalitäten getestet werden (vgl. den
Beitrag von Kranz-Plote). Die Organisation für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat angeregt, die
deutsche Regierung solle auf diesen Erfahrungen aufbauen
und die neuen Verfahren in das Management der EZ integrieren.3 Dies sollte von einer stärkeren Zusammenarbeit und einer
besseren Arbeitsteilung mit anderen Gebern begleitet werden.
Die neue Bundesregierung bekennt sich auch zur stärkeren Integration von Deutschlands Technischer und Finanzieller Zusammenarbeit (TZ/FZ). Die deutsche EZ war lange
Zeit entlang dieser Unterscheidung institutionell aufgeteilt,
jede Organisation mit getrennten Finanzierungsinstrumenten,
-bedingungen und Berichtspflichten. Für die Regierungen der
Entwicklungsländer bedeutet dies hohe Verwaltungskosten.
Während es bei der Modernisierung und Integration dieser
Organisationen Fortschritte gibt, vermutet die OECD, dass die
Möglichkeiten für weitere Effektivitätsgewinne innerhalb der
existierenden Struktur beschränkt sind und rät der Bundesregierung deshalb, eine grundlegendere Umstrukturierung in
Betracht zu ziehen.
Außerdem erleichtern die deutschen EZ-Mechanismen
nicht gerade die ownership. Zum einen sind deutsche EZOrganisationen vor Ort nur eingeschränkt präsent. Zum anderen zeigt sich Deutschland bei der Übergabe des finanziellen Managements an die Empfängerregierungen oder an von
den Geberländern verwaltete Fonds zögerlich. Deutschland
muss die Aktivitäten seiner Durchführungsorganisationen vor
Ort integrieren sowie die Beschäftigung lokaler und regionaler
Kräfte verstärken, insbesondere bei der Technischen Zusammenarbeit.
3
OECD, DAC Peer Review of German Aid. Paris 2005.
233
Der Sündenfall der EZ heißt Lieferbindung. Man mag zunächst denken, dass sowohl das Empfänger- als auch das Geberland auf seine Kosten kommen, wenn die EZ-Mittel dazu
verwendet werden, Güter und Dienstleistungen aus dem
Geberland zu beziehen. Doch das ist grundfalsch! Nur das Geberland ist der Gewinner. Die Erfahrung zeigt, dass das Empfängerland in der Regel Güter kaufen muss, die teurer sind,
als wenn sie regional gekauft würden, und es muss obendrein
noch Transportkosten zahlen (die sehr hoch sein können). Und
die gekauften Güter entsprechen durchaus nicht immer den
Bedürfnissen des Empfängerlandes – oft sind sie technologisch
nicht angepasst und verursachen hohe oder gar nicht aufzubringende Instandhaltungskosten. Dies alles kann den Wert
der gewährten Mittel erheblich verringern. Und schließlich
gibt es häufig zusätzlichen Verwaltungsaufwand für das Empfängerland. Die OECD hat festgestellt, dass Lieferbindung das
Potenzial für Korruption erhöht. Dennoch wird sie in der EZ
weiterhin praktiziert.
Deutschland ist eines dieser Länder. Obwohl es in den vergangenen Jahren den Umfang seiner gebundenen Mittel erheblich reduziert hat, hat Deutschland die Lieferbindung noch
nicht vollständig aufgegeben. Andere Länder – etwa Großbritannien – haben den Schritt zur vollständigen Aufhebung bereits getan. Eines der Kernprobleme ist der hohe Anteil deutscher EZ, die als Technische Zusammenarbeit geleistet wird
und traditionell an deutsche Experten gebunden ist.
Schuldenerlasse
Das achte MDG verpflichtet die reichen Länder zu mehr und
umfassenderen Schuldenerlassen. Entscheidend ist, dass sie
zusätzlich zu bereits gegebenen ODA-Zusagen gewährt werden. Gegenwärtig werden Schuldenerlasse – gemäß der offiziellen ODA-Definition der OECD – in die ODA eingerechnet.
234
Dies ermöglicht es Ländern, ihre ODA-Quote in die Höhe zu
treiben und so ihre Zusagen einzuhalten, ohne neue Ressourcen für den Kampf gegen Armut zur Verfügung zu stellen.
Gleichzeitig können sie sich ihrer Schuldenerlasse rühmen. In
den vergangenen Jahren war dies wiederholt der Fall, so 2005
beim großen Schuldenerlass zugunsten Nigerias.
Deutschlands ODA-Zahlen für 2005 zeigen deutlich, wie
Schuldenerlasse dazu benutzt werden können, Hilfszahlen in
die Höhe zu treiben. Laut OECD entfielen im Jahr 2005 mehr
als 3 der insgesamt 10 Mrd. US-$ deutscher ODA auf Schuldenerlasse.
Gerechtere Handelsregeln
Das vielleicht wichtigste Versprechen, das die reichen Länder unter dem achten MDG gegeben haben, ist das Welthandelssystem für die armen Länder und deren Produzenten gerechter zu machen. Doch die Handelspolitiken reicher Länder
verweigern armen Ländern und Menschen weiterhin einen
gerechten Anteil am globalen Reichtum – und weichen so der
Millennium-Erklärung aus. Mehr als EZ hat Handel das Potenzial, den Anteil der ärmsten Länder und Menschen an der
globalen Wohlfahrt zu erhöhen. Die Beschränkung dieses Potenzials durch ungerechte Handelspolitiken widerspricht dem
Bekenntnis zu den MDGs. Mehr noch, sie ist ungerecht und
verlogen.
Gegenwärtig befindet sich der Welthandel in einer Schieflage zugunsten der reichen Länder, und die Europäische Union
trägt dafür ebenso Verantwortung wie alle anderen. Die größten Probleme mit dem EU-Handelsregime liegen im Agrarsektor, und gerade dieser Bereich ist für die Verringerung von Armut am wichtigsten. Denn nahezu 70 % der Armen in der Welt
leben nach wie vor in ländlichen Gebieten und sind für ihren
235
Lebensunterhalt direkt oder indirekt von der Landwirtschaft
abhängig.
Ende Juli 2006 scheiterten die Gespräche über ein neues
Handelsabkommen bei der Welthandelsorganisation (WTO).
Die Verhandlungsrunde wurde »Doha-Entwicklungsrunde«
genannt, weil sie die Ungleichgewichte im globalen Handelssystem angehen sollte, das sich momentan in einer starken
Schieflage zu Gunsten der reichen Länder auf Kosten der armen befindet. Die Gespräche scheiterten, weil die Verhandlungspartner in der gegebenen Zeit ihre Differenzen in Schlüsselfragen nicht überwinden konnten. Die Zeit drängte, weil es
für die aktuelle Verhandlungsrunde eine feste Deadline gibt:
ein endgültiges Handelsabkommen muss vom US-Kongress
ratifiziert werden, bevor die Trade Promotion Authority (eine Art
Handelsvollmacht) von US-Präsident George W. Bush im Juli
2007 ausläuft. Nach diesem Datum wird es dem US-Kongress
möglich sein, detaillierte Änderungen als Bedingung für eine
Ratifizierung des verhandelten Abkommens zu verlangen; dies
könnte das Aus für jedes verhandelte Dokument bedeuten.
Während wir dies schreiben – im August 2006 – versuchen
einige Parteien, das Abkommen zu retten. Zwar ist alles möglich – auch frühere Handelsabkommen wurden erst fünf vor
zwölf geschlossen –, doch wir sind sehr skeptisch, dass diese
Zeilen zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung überholt sein
werden. Sie könnten sogar noch relevant sein, wenn ein neues
Handelabkommen abgeschlossen wird.
Unsere Skepsis speist sich aus Erfahrung. Seit vielen Jahren verspricht die EU eine bessere »Kohärenz« zwischen ihren
(löblichen) Entwicklungszielen und anderen EU-Politiken, insbesondere Handel und Landwirtschaft. Kohärenz ist seit dem
Maastricht-Vertrag von 1991 sogar eine vertragliche Zusage –
trotzdem ist nichts geschehen.
Um die von der europäischen Handels- und Landwirtschaftspolitik verursachten Probleme zu beheben, bedarf es
erheblicher Anstrengungen. Zunächst muss die EU sämtliche
236
Subventionen für Agrarexporte abschaffen. Diese Subventionen entschädigen die europäischen Bauern für die niedrigen
Preise, die sie auf dem Weltmarkt für Agrarprodukte erhalten,
die sie in Europa nicht verkaufen können. Die Preise sind vor
allem deshalb so niedrig, weil die EU ihre Überproduktion
auf dem Weltmarkt zu Dumpingpreisen verkauft! Schlimmer
noch, zur Überproduktion wird überhaupt erst durch andere
Subventionen ermutigt. Wir bezahlen die EU-Bauern dafür, zu
viel zu produzieren, die Produkte auf dem Weltmarkt billig
zu verkaufen und den Preis für alle zu drücken – und so die
eigentlich konkurrenzfähigen armen Bauern in den Entwicklungsländern um ihren Lebensunterhalt zu bringen. Und dann
bezahlen wir die Bauern ein zweites Mal, um sie für die niedrigen Preise zu entschädigen, die wir überhaupt erst geschaffen haben!
Bei den WTO-Verhandlungen hat die EU versprochen, alle
Subventionen für Agrarexporte bis 2013 abzuschaffen. Dies ist
kein großes Zugeständnis, denn aufgrund des EU-Budgetabkommens entfallen die meisten dieser Subventionen zu diesem
Termin ohnehin. Die EU muss auch ihre handelsverzerrenden
internen Agrarsubventionen kürzen, also die Subventionen,
die zu Überproduktion ermutigen. Als Handelsblock mit den
höchsten internen Subventionen fördern gerade die EU-Subventionen jene Art von Großproduktion, die der Umwelt schadet und das Argument, unsere Agrarpolitik bewahre unsere
Landschaft, ad absurdum führt.
Zusätzlich sollte die EU ihre Agrarmärkte durch die Senkung von Zöllen auf landwirtschaftliche Produkte für Exporteure aus den Entwicklungsländern öffnen. Das Zögern der
EU war einer der Gründe, warum die Agrarverhandlungen
und die Verhandlungen in anderen Bereichen ins Stocken gerieten. Die Angebote der EU, die Zölle zu senken, sind völlig
unzureichend. Wir brauchen drastische Senkungen der hohen,
nach dem WTO-Abkommen zulässigen Zoll-Höchstsätze. Andernfalls wird die EU in der Lage sein, genau dieselben Zölle
237
zu erheben wie zuvor, denn gegenwärtig liegen sie (trotz ihrer
Höhe) in vielen Fällen weit unterhalb der zulässigen Höchstgrenzen! Darüber hinaus versucht die EU, einen großen Teil
landwirtschaftlicher Produkte von jeder Kürzung auszunehmen und argumentiert, es handle sich um »sensible« Güter.
Dies würde es der EU ermöglichen, weiterhin gerade jene Exporte zu verhindern, mit denen die Entwicklungsländer konkurrenzfähig sind.
Weiterhin muss die EU auch ihre nichtlandwirtschaftlichen
Märkte für alle Länder mit geringem Einkommen öffnen. Gegenwärtig werden Exporte – sogar im Rahmen der Everything
but Arms-Initiative, gemäß der die ärmsten Länder nahezu alles in die EU zollfrei exportieren können – durch komplizierte
und übermäßig strikte Regeln behindert. Diese Regeln betreffen auch den Bereich der Nahrungsmittelsicherheit, in dem die
EU weit über internationale Standards hinausgeht.
Offensichtlich setzen die notwendigen Veränderungen der
EU-Politik einen starken politischen Willen voraus, doch es ist
nur schwer zu verstehen, weshalb er nicht aufgebracht wird.
Denn von der gegenwärtigen Landwirtschaftspolitik profitieren nur eine Hand voll großindustrieller Betriebe, wohingegen
die eingeforderten Veränderungen immerhin für jede europäische Durchschnittsfamilie eine Steuererleichterung von rund
100 € monatlich bedeuten würden.
Zusammengefasst: Die EU muss ihre Märkte für Exporte
aus den Entwicklungsländern ohne Einschränkungen öffnen,
ohne dafür Zugeständnisse von den armen Ländern zu fordern. Der vorige Handelskommissar der EU, Pascal Lamy, versprach den am wenigsten entwickelten Ländern und Afrika
»gratis« Handelsöffnungen. Doch dieses Versprechen materialisiert sich nicht. Die EU stellt weiterhin aggressive Forderungen an die Entwicklungsländer und hält sie an, die Bereiche
Dienstleistungen und verarbeitendes Gewerbe im Gegenzug
für die lange überfälligen Änderungen beim landwirtschaftlichen Handelsregime zu öffnen.
238
Auch wenn die EU-Handelspolitik von der Europäischen
Kommission initiiert und umgesetzt wird, ihre Richtung wird
von den Mitgliedstaaten bestimmt. Und hier hat Deutschland
eine Schlüsselrolle. Deutschlands eigene Politik und Haltung
ist richtig, und Deutschland gehört auch nicht zu jenen Ländern, die von der gegenwärtigen Landwirtschaftspolitik profitieren. Dennoch gelingt es Deutschland nicht, eine Änderung
der Landwirtschaftspolitik gegenüber jenen Ländern durchzusetzen, die am gegenwärtigen Modell festhalten wollen.
Deutschland sollte sich mit anderen gleichgesinnten Mitgliedstaaten zusammentun und sich auch hinter den Kulissen engagieren, um andere – etwa Frankreich – davon zu überzeugen, dass die gegenwärtige EU-Landwirtschaftspolitik unhaltbar und schädlich ist. Wir plädieren nicht dafür, dass die
EU die Unterstützung ihrer Bauern oder ihrer Landwirtschaft
einstellt, sondern dass sie die Art und Weise ändert, in der sie
dies tut. Sie muss sich künftig Mechanismen bedienen, die die
Lebensbedingungen armer Produzenten in den Entwicklungsländern nicht verschlechtern.
Wie oben skizziert gibt es eine lange Liste von Aufgaben,
die die Regierungen in Europa, insbesondere die deutsche
Bundesregierung, sofort anpacken sollten, um die Umsetzung
der MDGs in den ärmsten Ländern zu erleichtern. Deutschland hat 2007 zwei wichtige Möglichkeiten, diese Agenda zu
befördern und sein Engagement in Entwicklungsfragen unter
Beweis zu stellen: Deutschland übernimmt die Präsidentschaft
der G8 und die der Europäischen Union. Eine starke Führungsrolle Deutschlands in Entwicklungsfragen ist gefordert!
Fazit
Wir brauchen keine weiteren Diskussionen und Analysen darüber, ob die MDGs den idealen Weg für die Entwicklungspolitik darstellen. Wir müssen dringend zum Handeln kommen.
239
Wir haben zwar nicht die Antwort auf alle Probleme der Welt,
aber ausreichende Analysen und Einvernehmen darüber, was
getan werden muss, um die Lebensbedingungen der Ärmsten
zu verbessern. Die MDGs bieten einen idealen Rahmen für koordiniertes Handeln, um die globale Ungleichheit zu überwinden.
Wir brauchen politische Entschlossenheit. Dafür muss energischer Druck der Bürger erzeugt werden, der entwicklungspolitisches Handeln für die Regierungen zu einer politischen
Notwendigkeit macht. Ein erster Schritt ist die Unterrichtung
der Bürger. Aber nur wenn die Bürger aktiv werden – etwa
durch die Teilnahme an Demonstrationen oder durch Briefe an
ihre Abgeordneten –, werden sich Politiker überzeugen lassen,
dass den Wählern Entwicklungsfragen am Herzen liegen. Die
Angst nicht wiedergewählt zu werden, ist eine wichtige Motivation. Wir brauchen einen Politikwandel – darauf müssen
sich die gesellschaftlichen Entwicklungsgruppen in Europa
konzentrieren.
Wir sind die erste Generation, die über die Ressourcen verfügt, die Armut zu beseitigen. Die fehlende Schlüsselzutat hierfür ist der politische Wille, die MDGs und den Kampf gegen
die Armut zum Herzstück politischer Prioritäten zu machen.
Wir müssen den politischen Druck für Wandel erzeugen.
Übersetzung: Henning Boekle
240
Anhang
Die Millennium-Entwicklungsziele mit
Zielvorgaben und Indikatoren
Die Millennium-Entwicklungsziele
Ziele und Zielvorgaben
Indikatoren
Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers
Zielvorgabe 1
Zwischen 1990 und 2015
den Anteil der Menschen
halbieren, deren Einkommen weniger als 1 US-$ pro
Tag beträgt
Zielvorgabe 2
Zwischen 1990 und 2015
den Anteil der Menschen
halbieren, die Hunger
leiden
1. Anteil der Bevölkerung mit weniger als 1 US-$ pro Tag
2. Armutslückenverhältnis
(poverty ratio gap, Armutsvorkommen x Armutstiefe)
3. Anteil des ärmsten Fünftels am
nationalen Konsum
4. Verbreitung von Untergewicht bei
Kindern unter fünf Jahren
5. Anteil der Bevölkerung unter dem Mindestniveau des
Nahrungsenergieverbrauchs
Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung
Zielvorgabe 3
Bis zum Jahr 2015 sicherstellen, dass Kinder in der
ganzen Welt, Jungen wie
Mädchen, eine Grundschulbildung vollständig
abschließen können
242
6. Nettoeinschulungsquote im
Primarschulbereich
7. Anteil der Erstklässler, die das
fünfte Schuljahr erreichen
8. Alphabetisierungsquote bei den
15- bis 24-Jährigen
Ziel 3: Gleichstellung der Geschlechter und Empowerment der
Frauen
Zielvorgabe 4
Das Geschlechtergefälle in
der Grund- und Sekundarschulbildung beseitigen,
vorzugsweise bis 2005 und
auf allen Bildungsebenen
bis spätestens 2015
9. Verhältnis Mädchen/Jungen
in der Primar-, Sekundar- und
Tertiärausbildung
10. Verhältnis weibliche/männliche
Alphabeten (15- bis 24-Jährige)
11. Anteil der Frauen an den nichtselbständig Erwerbstätigen im
Nicht-Agrarsektor
12. Sitzanteil der Frauen in nationalen Parlamenten
Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit
Zielvorgabe 5
Zwischen 1990 und 2015
die Sterblichkeitsrate von
Kindern unter fünf Jahren
um zwei Drittel senken
13. Sterblichkeitsrate von Kindern
unter fünf Jahren
14. Säuglingssterblichkeitsrate
15. Anteil der Einjährigen, die gegen
Masern geimpft wurden
Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern
Zielvorgabe 6
16. Müttersterblichkeitsrate
17. Anteil der von medizinischem
Zwischen 1990 und 2015
Fachpersonal begleiteten
die Müttersterblichkeitsrate
Geburten
um drei Viertel senken
243
Ziel 6: Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderen
Krankheiten
Zielvorgabe 7
Bis 2015 die Ausbreitung
von HIV/Aids zum Stillstand bringen und eine
Trendumkehr bewirken
Zielvorgabe 8
Bis 2015 die Ausbreitung
von Malaria und anderen
schweren Krankheiten zum
Stillstand bringen und eine
Trendumkehr bewirken
244
18. Verbreitung von HIV bei
Schwangeren (15- bis 24-Jährige)
19. Anteil der Kondombenutzung
bei der Empfängnisverhütung
a. Kondombenutzung beim
letzten risikoreichen
Geschlechtsverkehr
b. Prozentsatz der 15- bis 24Jährigen mit umfassenden
korrekten Kenntnissen über
HIV/Aids
c. Empfängnisverhütungsrate
20. Schulbesuchsquote von Waisen
im Verhältnis zu Nichtwaisen
(10- bis 14-Jährige)
21. Malariaverbreitung und Sterblichkeitsraten im Zusammenhang mit Malaria
22. Anteil der Bevölkerung in malariagefährdeten Gebieten, der
wirksame Malariaverhütungsund -bekämpfungsmaßnahmen
ergreift
a. Anteil der Kinder unter 5 Jahren, die unter Moskitonetzen
schlafen
23. Tuberkuloseverbreitung und
Sterblichkeitsraten im Zusammenhang mit Tuberkulose
24. Anteil der diagnostizierten und
mit Hilfe der direkt überwachten
Kurzzeittherapie DOTS (Directly
Observed Treatment Short Course)
geheilten Tuberkulosefälle
Ziel 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit
Zielvorgabe 9
Die Grundsätze nachhaltiger Entwicklung in einzelstaatliche Politiken und
Programme überführen
und dem Verlust von Umweltressourcen Einhalt
gebieten
25. Anteil der Flächen mit
Waldbedeckung
26. Verhältnis der geschützten Flächen zur Erhaltung der biologischen Vielfalt zur Gesamtfläche
27. Energieverbrauch (Kilogramm Erdöläquivalent) pro
US-$ Bruttoinlandsprodukt in
Kaufkraftparitäten
28. CO2 -Ausstoß pro Kopf und Verbrauch von ozonabbauenden
FCKW
29. Anteil der feste Brennstoffe nutzenden Bevölkerung
30. Anteil der städtischen und ländlichen Bevölkerung mit dauerBis 2015 den Anteil der
haftem Zugang zu einer verbesMenschen halbieren, die
serten Wasserquelle
keinen dauerhaften Zugang
31. Anteil der städtischen und ländzu einwandfreiem Trinklichen Bevölkerung mit Zugang
wasser und zu elementaren
zu Sanitärversorgung
sanitären Einrichtungen
haben
Zielvorgabe 10
Zielvorgabe 11
Bis 2020 die Lebensbedingungen von mindestens
100 Mio. Slumbewohnern
deutlich verbessern
32. Anteil der Haushalte mit
sicheren Nutzungs- und
Besitzrechten
245
Ziel 8: Aufbau einer globalen Entwicklungspartnerschaft
Öffentliche Entwicklungshilfe
Ein offenes, regelgestütztes, (ODA)
33. Netto-ODA, insgesamt und für
berechenbares und nichtdie am wenigsten entwickelten
diskriminierendes HanLänder (LDCs), als prozentualer
dels- und Finanzsystem
Anteil am Bruttonationaleinkomweiterentwickeln;
men (BNE) der Geber, die dem
dies umfasst die VerpflichOECD-Entwicklungsausschuss
tung zu guter Regierungs(DAC) angehören
und Verwaltungsführung
(good governance), Entwick- 34. Anteil der gesamten bilateralen,
lung und Armutsreduziesektoral aufschlüsselbaren ODA
rung auf nationaler und
der DAC-Geber für die soziale
internationaler Ebene
Grundversorgung (GrundbilZielvorgabe 12
Zielvorgabe 13
Den besonderen Bedürfnissen der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs)
Rechnung tragen;
dies umfasst einen zollund quotenfreien Zugang
für die Exportgüter der
LDCs, erweiterte Schuldenerleichterung für die hochverschuldeten armen Länder (HIPCs), die Streichung
von bilateralen Schulden
sowie die Gewährung
großzügiger öffentlicher
Entwicklungshilfe (Official Development Assistance,
ODA) für Länder, die sich
zur Armutsbekämpfung
verpflichten
246
dung, Basisgesundheitsversorgung, Ernährung, sauberes Wasser und Sanitärversorgung)
35. Anteil der ungebundenen bilateralen ODA der DAC-Geber
36. Von Binnenländern empfangene
ODA als Anteil an ihrem BNE
37. Von kleinen Inselentwicklungsländern empfangene ODA als
Anteil an ihrem BNE
Marktzugang
38. Anteil der zollfreien Gesamtimporte der entwickelten Länder
(nach Wert und unter Ausschluss
von Waffen) aus den Entwicklungsländern und den LDCs
39. Von den entwickelten Ländern erhobene Durchschnittszölle für Agrarprodukte, Textilien und Kleidung aus den
Entwicklungsländern
Zielvorgabe 14
Den besonderen Bedürfnissen der Binnen- und
kleinen Inselentwicklungsländer Rechnung tragen
(durch das Aktionsprogramm für nachhaltige
Entwicklung der kleinen
Inselstaaten unter den Entwicklungsländern und auf
der Grundlage der Ergebnisse der 22. Sondertagung
der Generalversammlung)
Zielvorgabe 15
Die Schuldenprobleme der
Entwicklungsländer durch
Maßnahmen auf nationaler
und internationaler Ebene
umfassend angehen und
so die Schulden langfristig
tragbar gestalten
Zielvorgabe 16
In Zusammenarbeit mit
den Entwicklungsländern
Strategien zur Schaffung
menschenwürdiger und
produktiver Arbeitsplätze
für junge Menschen erarbeiten und umsetzen
40. Geschätzte Agrarsubventionen in
den OECD-Ländern als prozentualer Anteil an ihrem BIP
41. Anteil der ODA, die für den Aufbau von Handelskapazität gewährt wird
Schuldentragfähigkeit
42. Gesamtzahl der Länder, die den
Entscheidungs- und Erfüllungszeitpunkt im Rahmen der HIPCSchuldeninitiative erreicht haben
(kumulativ)
43. Schuldenerleichterung im Rahmen der HIPC-Schuldeninitiative
44. Schuldendienst als Prozentwert der Güter- und
Dienstleistungsexporte
45. Arbeitslosenquote bei den 15- bis
24-Jährigen nach Geschlecht und
insgesamt
247
Zielvorgabe 17
In Zusammenarbeit mit
den Pharmaunternehmen
unentbehrliche Arzneimittel zu erschwinglichen Preisen in den Entwicklungsländern verfügbar machen
Zielvorgabe 18
In Zusammenarbeit mit
dem Privatsektor dafür
sorgen, dass die Vorteile
neuer Technologien, insbesondere der Informationsund Kommunikationstechnologien, genutzt werden
können
46. Anteil der Bevölkerung mit
dauerhaftem Zugang zu erschwinglichen unentbehrlichen
Arzneimitteln
47. Telefonanschlüsse (Fest- und
Mobilnetz) je 100 Personen
48. Genutzte Personalcomputer
und Internetnutzer jeweils je
100 Personen
Quelle: United Nations Statistic Division: Millennium Development Goals
Indicators, Effective 8 September 2003 (http://mdgs.un.org/unsd/mdg/
Host.aspx?Content=Indicators/OfficialList.htm, 18.8.2006).
Die deutsche Übersetzung ist weitgehend übernommen aus: Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), 2005:
Millenniums-Entwicklungsziele. Herausforderungen zu Beginn des dritten
Jahrtausends. Bonn, S. 4–5 (www.bmz.de/de/service/infothek/buerger/
beihefter_MDG.pdf, 18.8.2006).
248
Autorinnen, Autoren und Herausgeber
MANDEEP BAINS
Politikberaterin bei der Millennium Campaign der Vereinten Nationen in New York. Zuvor unter anderem Management von
Hilfsprogrammen sowie wirtschaftspolitische Beratung von
Entwicklungsländern im Auftrag der Europäischen Kommission
und des britischen Department for International Development
(DFID).
RICHARD BRAND
Entwicklungspolitischer Referent mit Schwerpunkt MillenniumEntwicklungsziele und Armutsbekämpfung auf einer gemeinsamen Stelle von Brot für die Welt und des Evangelischen Entwicklungsdienstes (EED), Bonn.
THOMAS FUES
Dr., Dipl.-Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn; aktueller
Forschungsschwerpunkt: Vereinte Nationen und Global Governance aus entwicklungspolitischer Perspektive.
ROSS HERBERT
Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu Afrika und Manager des
NEPAD- und Governance-Projektes am South African Institute
of International Affairs (SAIIA), Johannesburg; aktuelle Forschungsschwerpunkte: NEPAD, Afrikanische Union, Wirksamkeit von Entwicklungshilfe, Korruption und Konditionalität.
249
EVELINE HERFKENS
Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für die Millennium
Campaign, New York. Zuvor unter anderem niederländische Ministerin für Entwicklungszusammenarbeit, Botschafterin der
Niederlande bei den Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation in Genf sowie Exekutivdirektorin der Weltbank.
UWE HOLTZ
Prof. Dr., Hochschullehrer am Institut für Politische Wissenschaft
und Soziologie der Universität Bonn und Senior Fellow am Bonner Zentrum für Entwicklungsforschung; freiberuflicher Development Consultant. Von 1974–1994 Vorsitzender des entwicklungspolitischen Ausschusses des Deutschen Bundestages.
STEPHAN KLINGEBIEL
Dr., Leiter der Abteilung »Governance, Staatlichkeit, Sicherheit«
am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn; aktuelle Forschungsschwerpunkte: bilaterale und multilaterale
Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere mit Afrika südlich
der Sahara; Krisenprävention.
JUTTA KRANZ-PLOTE
Referentin im Referat 310 »Armutsbekämpfung; Aktionsprogramm 2015; Sektorale und thematische Grundsätze« des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) in Bonn. Zuvor von Oktober 2004 bis Juni 2006
Referentin in der MDG-Stabsstelle des BMZ.
KARIN KÜBLBÖCK
Wissenschaftliche Referentin für Internationale Entwicklungspolitik und Weltwirtschaft bei der Österreichischen Forschungs-
250
stiftung für Entwicklungshilfe (ÖFSE) und Lektorin am Institut
für Internationale Entwicklung der Universität Wien.
FRANZ NUSCHELER
Prof. em., Dr., Stv. Vorstandsvorsitzender der Stiftung Entwicklung und Frieden (SEF) und Senior Fellow am Institut für Entwicklung und Frieden (INEF), Duisburg. Von 1974–2003 Professor
für Internationale und Vergleichende Politik an der Universität
Duisburg-Essen und von 1990–2006 Direktor des INEF.
MICHÈLE ROTH
Dr., Geschäftsführerin der Stiftung Entwicklung und Frieden
(SEF), Bonn, und Mitglied im Vorstand des Global Policy Forum
Europe.
VERONIKA WITTMANN
Dr., Universitätsassistentin am Institut für Soziologie /Abteilung
für Politik- und Entwicklungsforschung an der Johannes Kepler
Universität Linz.
251
Jochen Hippler (Hg.)
Nation-Building
Ein Schlüsselkonzept für
friedliche Konfliktbearbeitung?
Reihe EINE WELT
Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Bd. 20
276 Seiten | Broschur
Euro 12,70 | ISBN 3-8012-0338-7
Die Eroberungen Afghanistans und des Irak verbunden mit
dem Versuch, dort neue Staaten zu etablieren, haben den Begriff
»Nation-Building« (Nationenbildung) so populär werden lassen,
dass er heute selbst von Ministern und dem Bundeskanzler
verwendet wird. In einer Zeit, die von ökonomisch-politischer
Globalisierung, zahlreichen ethnischen Konflikten und drohenden
oder akuten staatlichen Zusammenbrüchen gekennzeichnet
ist, gewinnt die Frage der Bildung neuer Nationalstaaten eine
herausragende Bedeutung.
Dieses Buch erweitert und systematisiert, das Verständnis von
Prozessen der Nationenbildung. Fallstudien aus Afrika, dem
Nahen und Mittleren Osten und dem Balkan illustrieren wie viele
Aspekte dieses Themas hat. Als Ausblick entwickeln Praktiker und
Wissenschaftler konkrete Strategien, wie Nation-Building-Prozesse
durch kluge und behutsame politische Strategien externer Akteure
unterstützt werden können.
Verlag J. H. W. Dietz Nachf.
Dreizehnmorgenweg 24 – 53175 Bonn
www.dietz-verlag.de
E-Mail: [email protected]
Franz Nuscheler
Lern- und Arbeitsbuch
Entwicklungspolitik
656 Seiten | Broschur
Euro 16,80 | ISBN 3-8012-3050-6
Was ist Unterentwicklung? Wird sie durch Entwicklungshilfe
verstärkt? Kann die Verelendung der Dritten Welt aufgehalten
werden oder bleibt am Ende nur Resignation? Welche Folgen
haben die Terroranschläge vom 11. September für die NordSüd-Beziehungen? Was bedeutet »nachhaltige Entwicklung«,
»Feminisierung der Armut« oder »globale Strukturpolitik«?
Ist die Globalisierung für die Dritte Welt Heilsversprechen
oder Teufelswerk?
Antworten gibt Franz Nuscheler in seinem völlig neu
bearbeiteten »Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik«.
Er verbindet nüchterne Analyse mit engagierter Kritik und
bringt die Unmenge von Zahlen, Begriffen und Theorien in
eine ordnende Zusammenschau.
Eine gut verständliche Einführung in die Entwicklungspolitik
– auch für interessierte Laien.
Verlag J. H. W. Dietz Nachf.
Dreizehnmorgenweg 24 – 53175 Bonn
www.dietz-verlag.de
E-Mail: [email protected]