Drei Jahrzehnte Frühsport
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Drei Jahrzehnte Frühsport
Nummer 8, 10.12.2006 Drei Jahrzehnte Frühsport Für den Film „Rocky“ lief Sylvester Stallone 1976 quer durch Philadelphia und wurde ein Weltstar. In „Rocky VI“ wird er es wieder tun. Grund genug, schon einmal vorzulaufen. von Knud Kohr Das Drehbuch zu „Rocky“ meinte es nicht gut mit dem jungen, unbekannten Schauspieler Sylvester Stallone. Er konnte sich nicht einmal beklagen, denn es war von ihm selbst geschrieben. Also musste er – in der Titelrolle des Rocky Balboa - an einem trüben Morgen des Jahres 1976 um vier Uhr aufstehen. Ohne gnädigen Zwischenschnitt fünf rohe Eier in ein Glas zerdrücken und in einem Zug herunterschlucken. Um dann seinen Trainingslauf zu beginnen: Durch Kensington, das ärmste Viertel Philadelphias. An der City Hall und am Italian Market vorbei. Den Schuylkill River entlang, hinauf auf die oberste Stufe der Treppe zum Art Museum. Wenn man sich den Stadtplan ansieht, merkt man: Logisch ist diese Strecke nicht, und viel zu weit auch. Aber gut aussehen tut sie. Rocky Balboa hatte allen Grund, sich ins Zeug zu legen. Denn das Drehbuch wollte, dass einige Tage zuvor Schwergewichtsweltmeister Apollo Creed (gespielt von Carl Weathers) in die Stadt gekommen war, um seinen Titel zu verteidigen. Da der eigentliche Herausforderer sich aber kurzfristig verletzte, kam Creed auf einen smarten Gedanken: Ein völlig unbekannter Boxer aus Philadelphia sollte die Titelchance erhalten. Seine Wahl fiel auf Rocky Balboa, der als Knochenbrecher für einen Kredithai arbeitete und nebenbei unter dem Kampfnamen „The Italian Stallion“ in den Ring stieg. Und plötzlich war der Prügelknabe ein Star, angefeuert von einer ganzen Stadt und geliebt von der schüchternen Zoohändlerin Adrian (Talia Shire). In den Seilen Nummer 8, 10.12.2006 Seite 2 von 8 Rocky´s Kiez. In Mighty Mick`s Gym ist jetzt ein Supermarkt. Foto: Susann Sitzler Unterlegt mit der mitreißenden Filmmusik von Bill Conti wurde der Trainingslauf zu einer der bekanntesten Sequenzen der Filmgeschichte: Rocky´s Run. Der Film bekam ein Jahr später drei Oscars, und Stallone wurde ein Weltstar, der immer wieder nach Philadelphia und seiner Lieblingsfigur zurückkehrte: In den Folgen II bis V der Rocky-Reihe wurde Balboa Weltmeister, verlor den Titel und gewann ihn zurück, verteidigte ihn gegen eine sowjetische Bedrohung namens Ivan Drago und endete letztlich wieder in seinem alten Bezirk Kensington. Das war 1990, und die Serie schien beendet. „The greatest underdog story of our time is back – for one final round!“ Unterlegt von einer markigen Männerstimme war im Spätsommer dieses Jahres plötzlich ein Kinotrailer im Internet zu sehen. United Artist kündigte „Rocky VI“ an, mit einem mittlerweile 60jährigen Stallone. Im Winter wird der Film in den USA starten und bald darauf auch in der Schweiz zu sehen sein. Die Geschichte diesmal: Rockys Frau Adrian ist an Krebs gestorben, sein Restaurant steht vor der Pleite. Als dann auch noch im Fernsehen In den Seilen Nummer 8, 10.12.2006 Seite 3 von 8 eine Computersimulation läuft, die scheinbar beweist, dass Rocky Balboa der bessere Boxer als der aktuelle Weltmeister war, ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis beide Männer sich im Ring treffen. Schon nach den ersten Drehberichten über den Film explodierten die FanForen im Netz. Eine der am häufigsten gestellten Fragen lautet: Wird Rocky wieder seinen Lauf machen? Ja. Er wird. Und da der Autor dieser Zeilen zu den Fans gehört, nahm er einen Aufenthalt in Philadelphia zum Anlass, sich die Strecke dreißig Jahre nach dem ersten Film anzusehen. Allerdings mit frischen Muffins im Magen anstelle roher Eier. Hier werden keine Tiere mehr verkauft: Adrians Zoohandlung im weißen Haus mit heruntergelassenen Läden. Foto: Susann Sitzler Kensington, sechs U-Bahn-Stationen von Philadelphias Innenstadt entfernt, ist in der Morgensonne eher pittoresk als trübe. Die Strassen haben fußballgroße Schlaglöcher. Unter der Hochbahn drängen sich die Geschäfte: Billige Möbelgeschäfte. Hochzeitsausstatter, in deren Schaufenster weiße Anzüge und lila Kleider zum Verleih angeboten werden, die sicher von jeglicher Naturfaser verschont geblieben sind. Und mittendrin in diesem Gewimmel: Die Zoohandlung in der 2146 N Front Street, in der Rocky um seine spätere Frau, die schüchterne Adrian, wirbt. In den Seilen Nummer 8, 10.12.2006 Seite 4 von 8 Der Laden ist längst geschlossen. Das Wellblech, mit dem er verrammelt ist, trägt Jahre alten Rost. Direkt gegenüber liegt das rote Eckhaus, das in Stallones Film einst „Mighty Mick´s Boxgym“ war. Immerhin wird das Haus noch gebraucht – ein paar Schilder werben für „Ninni´s Dollar Market“, der hier vor kurzem eingezogen ist. Mit den öffentlichen Verkehrsmitteln dauert es immerhin dreißig Minuten, um eine weitere Etappe des Laufs zu erreichen. Ein kurzer Abstecher über den Italian Market auf der Westseite der Stadt zeigt, dass sich auf Märkten eigentlich nie etwas ändert. Dieser wurde im frühen 20. Jahrhundert von italienischen Einwanderern gegründet und ist bis heute fest in der Hand ihrer Nachfahren. Hier wimmelt es noch genauso wie vor 30 Jahren, die dicht an dicht stehenden Buden unterbinden jeglichen Fahrzeugverkehr, es riecht nach Espresso und Canneloni. Tatsächlich tanzt neben einem Stand ein Mann mit venezianischem Strohhut und spielt auf seinem Akkordeon „Oh sole mio“. Nur der Händler, der Rocky im Film eine Orange zuwirft, ist entweder pensioniert oder hat heute seinen freien Tag. Sechs Blöcke weiter östlich beginnt das Areal der City Hall. Die Stadtplaner demonstrierten geschickt Bürgernähe, indem sie die verkehrsberuhigten Strassen einfach durch Toreinfahrten mitten ins Innere des Verwaltungszentrums zu führten. Wenn man nicht so in Eile ist wie Rocky, sieht man die vielen Beamten, die die Bänke auf dem Innenhof für eine kleine Extrapause nutzen. In einer der Einfahrten steht ein schwarzer Querflötenspieler im Nadelstreifenanzug, der „Star Spangled Banner“ intoniert. Wer ihm Geld in seinen Instrumentenkoffer wirft, wird mit einem kunstvollen Triller bedacht, der so garantiert nicht in der Partitur steht. Der tristeste Teil von Rocky´s Run führte über den Kelly Drive am Schuylkill River entlang. Der Filmmorgen war nebelig, der Blick über den Fluss fast so verwaschen und grau wie Stallones alter Trainingsanzug. An einem schönen Vormittag wie diesem ist die Gegend kaum wieder zu erkennen. Direkt hinter dem Art Museum macht der Fluss einen geradezu eleganten Bogen. An seinem Ufer liegt die „Boathouse Row“, deren In den Seilen Nummer 8, 10.12.2006 Seite 5 von 8 Bootshäuser mittlerweile zu einer Touristenattraktion geworden sind, die nachts von bunten Lichtern angestrahlt werden. Rockys Fußstapfen vor dem Philadelphia Museum of Art. Foto: Susann Sitzler Rocky´s Run ist nicht komplett, wenn man nicht die oberste Stufe der Art Museum-Treppe erklommen hat. Seit einiger Zeit steht zu ihren Füssen auch wieder die Bronzestatue des Boxers, um die es Jahrzehnte langen Streit gegeben hat (siehe Kasten). Der Autor dieser Zeilen tut, was zu tun ist: Er arbeitet sich die Treppe hinauf, insgesamt 72 Stufen. Sucht auf dem obersten Absatz nach den Fußabdrücken von Rockys Laufschuhen, die hier in Metall gegossen wurden. Stellt sich auf die Abdrücke und pumpt die Fäuste in die Luft. Fühlt plötzlich genau, dass er heute Abend der Weltmeister im Schwergewicht keine Chance gegen ihn hätte. Und wird nach ein paar Sekunden gestört, In den Seilen Nummer 8, 10.12.2006 Seite 6 von 8 weil ihn jemand antippt. „Dürfen wir auch mal, Sir?“ Ein paar Schülerinnen sind ebenfalls die Treppe hoch gerannt und wollen jetzt auch das RockyGefühl. Schon okay. Am Seitenflügel des Museums öffnet gerade die Kantine, und nach der langen Tour durch Philadelphia ist es Zeit für ein zweites Frühstück. (Dieser Artikel erschien gekürzt in der NZZ am Sonntag vom 19.11.06) Der Herausgeber hat es ganz nach oben geschafft. Foto: Susann Sitzler In den Seilen Nummer 8, 10.12.2006 Seite 7 von 8 Bewegte Bronze Die Geschichte der Rocky-Statue von Knud Kohr Der Ärger begann 1982. In „Rocky III – The Eye of the Tiger“ wurde auf der Treppe des Philadelphia Art Museum eine Statue zu Ehren des Boxers enthüllt. Bildhauer Thomas Schomberg schuf extra für diese Szene eine knapp drei Meter große Bronzestatue von Rocky als siegreichem Kämpfer, noch in Shorts, mit Handschuhen und jubelnd erhobenen Fäusten. Nach dem Dreh ließ das Team die Statue einfach stehen, und Hauptdarsteller Sylvester Stallone, der die Filme mittlerweile auch produzierte, stiftete sie dem Museum. Die Reaktionen darauf waren durchaus geteilt. Einerseits gab es Befürworter wie den City Commerce Director Dick Doran, der meinte, seit Benjamin Franklin hätte niemand soviel für die Stadt getan wie Sylvester Stallone. Andererseits gingen bei der lokalen Presse kiloweise Briefe ein, die z.B. empfahlen, die Statue in den Schuylkill River zu werfen, der direkt hinter dem Museum fließt. Die Offiziellen des Hauses waren ohnehin entsetzt, weil das Werk so gar nicht ihrem Verständnis von moderner Kunst entsprach. „Ugly movie prop“ lautete ihr vernichtendes Urteil. Aber selbst diese Schöngeister mussten zugeben: Seit den RockyFilmen waren die Besucherzahlen deutlich gestiegen, weil immer mehr Touristen die berühmte Jubelszene auf der Treppe nachstellten und danach in die Ausstellung gingen, weil sie sowieso gerade vor der Tür standen. Letztlich kam man überein, die Statue neben die Spectrum Arena zu stellen, einen Sportkomplex am Rande der Stadt. Die Diskussionen flammten erneut auf, als die Statue in „Rocky V“ (1990) wieder eine Rolle spielte. Für einen Drehtag wurde sie an ihrem alten Platz auf der Treppe aufgestellt. Der mittlerweile völlig verarmte Rocky Balboa schaut in dieser Szene sehnsüchtig auf das Symbol seines vergangenen Ruhms. Bei der Vorbereitung von „Rocky VI“ wurde gar bekannt, dass sie mittlerweile in irgendeinem Lagerraum abgestellt war. In den Seilen Nummer 8, 10.12.2006 Seite 8 von 8 So mochte Philadelphia doch nicht mit dem größten fiktiven Sohn der Stadt umspringen. Seit 9.9.2006 steht die Statue nun wieder zur öffentlichen Besichtigung am Art Museum; allerdings nicht oben auf der Treppe, sondern bescheiden neben der untersten Stufe. Bis zum nächsten Streit.