Die Welt, 21. Oktober 2007 - des Boulevard der Bänke eV

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Die Welt, 21. Oktober 2007 - des Boulevard der Bänke eV
21. Oktober 2007, 17:53 Uhr
Von Michael Behrendt und Axel Lier
Unterwegs im Kiez
Sex, Schüsse und Alkohol: Die wilde Nacht
von Schöneberg
Unterwegs im Kiez rund um die Potsdamer Straße – WELT-ONLINE-Reporter haben
Zivilpolizisten auf Streife begleitet
Foto: dpa, Viele Freier woll Sex in einer Kabine eines Sex-Kinos haben
Der Bordellbetreiber an der Dominicusstraße in Schöneberg zieht ein langes Gesicht. „Die
dritte Razzia in zwei Wochen, hätte ich mal lieber 'nen Gemüseladen aufgemacht.“ Es ist 1.20
Uhr, als uniformierte Bereitschaftspolizisten und Zivilbeamte des Streifendienstes
Verbrechensbekämpfung (VB) des Abschnitts 41 die Räume betreten. Eine dunkelhäutige
Prostituierte nestelt verlegen an ihrer Handtasche herum. Sie sei ja eigentlich gar nicht in dem
Gewerbe, sondern habe hier lediglich ihren Ex-Mann abholen wollen. „Dann hat sich das so
ergeben. Eigentlich lebe ich von Hartz IV“, sagt die junge Frau in schlechtem Deutsch.
Ein Freier verschwindet schnell auf der Toilette, die Barfrau zwinkert den Beamten zu. Für
die drei Zivilbeamten ist dieser Einsatz zu Ende, den Verstoß gegen die Gewerbeordnung
müssen nun die Uniformierten bearbeiten.
Polizeioberkommissar Micha zündet sich im VW-Bus eine Zigarette an. „Der Kiez hat sich
verändert“, sagt der erfahrene Beamte. Er und seine Kollegen wollen nicht erkannt werden.
„Auch wir haben Familie.“
Schnelle Drogengeschäfte
Der Kampf, den sie jeden Tag zu bewältigen haben, findet auf einem Gebiet von 3,16
Quadratkilometern statt. 60.000 Menschen leben hier, 28 Prozent von ihnen sind Ausländer.
Schon seit Jahrzehnten gilt die Gegend rund um die „Potse“, wie die Potsdamer Straße
genannt wird, als Anziehungspunkt für bezahlbaren Sex und schnelle Drogengeschäfte. Micha
drückt die Zigarette aus. Er ist der Teamführer in dieser Nacht. Der bullige Mann mit den
grauen Haaren und der alten Schimanski-Jacke haut seinen Kollegen Krausinger und Thomas
auf die Schulter: „Auf geht's.“ Auf der anderen Straßenseite stehen junge Frauen, unterhalten
sich auf Rumänisch. Grell geschminkt sind sie, mit hochhackigen Lackstiefeln, prallen
Dekolletés und Miniröcken, unter denen sich die Hüftknochen abzeichnen. Sie rauchen Kette,
streiten sich um die besten Plätze und warten auf ihre Freier. „Die sind heute mit einem
Schlag um 22 Uhr hier erschienen“, sagt Krausinger. Normale „Prostis“ seien das nicht. „Die
machen es teilweise für fünf Euro ohne Kondom gleich um die Ecke.“
Beliebt sind aber auch die Kabinen eines Sex-Kinos. Dort ist es warm, man bleibt ungestört,
und die Freier kommen wegen der laufenden Filme schneller zum Orgasmus. „So schaffen sie
mehr Freier in einer Schicht“, sagt Micha.
Das große Geld ist an der „Potse“ längst nicht mehr zu machen, jedenfalls nicht für Huren.
Irina kommt aus Stettin in Polen. Und sie ist eine von denen, die den Traum vom Studium
und damit vom Schritt in ein normales Leben jenseits der Drogen und des schnelles SexGeschäfts schaffen will. „Die Kleine ist echt 'ne Liebe, zieht keine Freier ab, setzt sich gegen
den Missbrauch minderjähriger Prostituierter ein“, berichtet Thomas. Der Beamte winkt ihr
zu. „Aber sie ist heroinabhängig, und wenn sie es pro Nacht auf 100 Euro bringt, ist das für
sie wie ein Sechser im Lotto. Natürlich muss auch sie dann auf Kondome verzichten, wenn es
die Männer verlangen.“ Und das tun viele. Durch alle Schichten. Banker, Bäcker, Anwälte,
Manager.
Sex in der Filmkabine
Micha hat inzwischen eine weitere Zigarette geraucht. Er und seine Kollegen öffnen die Tür
zum Sexkino. Es ist warm, es riecht nach Reinigungsmitteln. An den Wänden hängen Poster
von Pornostars. Zwischen den Kabinen steht der Mitarbeiter des hauseigenen Wachschutzes.
Er erkennt die Beamten sofort, auch er zieht ein Gesicht – schon wieder eine Razzia. Eine
forsche Hure aus Rumänien, etwa 18 Jahre alt, zieht einen Freier hinter sich her zu einer
freien Film-Kabine. Sein Blick ist verstohlen. Der Wachmann nickt den beiden zu und schaut
weg. Fünf Minuten später werden sie wieder herauskommen. Der Mann hat ein rotes Gesicht,
die Frau nestelt an ihrer Strumpfhose. „Kann man nichts machen“, sagt Micha. Wieder im
Wagen schnappt sich Krausinger das Fernglas, er beobachtet die Szene rund um die
Kurfürstenstraße.
Junge mit 1,64 Promille
Dann kommt ein Funkspruch herein. Die Bundespolizisten des Bahnhofes Südkreuz haben
einen dem Aussehen nach Zehnjährigen in einem Zug entdeckt, der bewusstlos am Boden lag
und kaum noch atmete. Beim Eintreffen von Micha und seinen Kollegen auf der Wache der
Bundespolizei kniet der Kleine vor der Schüssel und übergibt sich. Er hat Angst. Wegen der
vielen Sanitäter, der Uniformierten, der Zivilfahnder – und Angst vor dem Wutanfall seines
Vaters. Der hatte ihm eigentlich verboten, die Wohnung zu verlassen. Jetzt ist es mitten in der
Nacht, und der Kleine hat 1,64 Promille im Blut. „Wir haben doch nur ein bisschen Sekt
getrunken“, sagt der Junge mit zitternder Stimme, der laut Ausweis dann doch 15 Jahre alt ist.
Dann dreht er sich wieder um und muss erneut würgen. Die Feuerwehr wird ihn zur
Beobachtung ins Krankenhaus bringen – und seinen Vater alarmieren müssen.
Wieder rauscht es im Funkgerät. Eine Anruferin hat gemeldet, dass in einer Seitenstraße der
„Potse“ Jugendliche mit einer Brechstange unterwegs sein sollen. „Hier wird viel geklaut und
eingebrochen, wir müssen uns beeilen“, macht Micha seinen Leuten Dampf. Der VW-Bus rast
durch die Nacht, das Blaulicht zuckt über Schaufenster und Häuserfassaden. Ein Mofa-Fahrer
macht trotzdem keinen Platz. „Scher Dich zur Seite, Du überdachte Zündkerze“, flucht
Krausinger. Vor einer Hinterhof-Bowlingbahn stellen die Beamten vier junge Männer. Sie
sprechen kaum deutsch, sind aggressiv, bauen sich bedrohlich auf. „Nehmt die Hände aus den
Taschen, ich will Eure Hände sehen“, schreit Micha und leuchtet dem Rädelsführer ins
Gesicht. Die Männer müssen immer damit rechnen, plötzlich mit einem Messer angegriffen
zu werden. Auch Schusswaffen sind an der Tagesordnung. Der Tod ihres Kollegen Uwe
Lieschied an der Hasenheide in Neukölln ist ihnen noch gut in Erinnerung. Alle tragen
Schutzwesten. Die Halbstarken werden überprüft. Ja, einer von ihnen ist als brutaler Schläger
bekannt. Aber sie sind nicht zur Fahndung ausgeschrieben und haben auch keine Brechstange
dabei. „Wir hatten wohl die Falschen, so ist das manchmal.“
Schüsse in der Winterfeldtstraße
Weiter geht es durch die Nacht. Vorbei am KaDeWe, wo gerade gefeiert wird. Zwei
Fahrminuten weiter werden die Beamten Zeugen, wie ein Transvestit mit einem Freier auf
einem Kinderspielplatz verschwindet. „Und morgens finden die Kinder die benutzten
Kondome“, sagt Krausinger angewidert.
Der nächste Funkspruch lässt den Adrenalinspiegel hoch schießen. Ein Mann meldet vier
Schüssen an der Winterfeldtstraße. Plötzlich wimmelt es von Polizisten. Uniformierte streifen
schnell ihre kugelsicheren Westen über, die Beamten verteilen sich, suchen in Hinterhöfen
nach Schützen oder Zeugen. Eine Wohnung kommt in Frage, im vierten Stock scheint eine
Scheibe zerstört zu sein. Wurde in sie hinein oder aus ihr heraus geschossen?
Fall bleibt ungeklärt
Krausinger stürmt die Treppe hoch, die Hand an der Waffe. Er und ein Unformierter
hämmern gegen die Tür. „Aufmachen, Polizei. Bitte öffnen Sie.“ Eine verschlafene Libanesin
im weißen Nachthemd öffnet verstört die Tür. „Is alles okay bei mir, nix Scheibe kaputt.“ Der
Fall bleibt ungeklärt. Der Rest der Nacht ist ruhig, die Männer fahren gegen halb vier zurück
zur Wache – Kaffee und ein mit Wurst belegter Doppeldecker. „Dinger gibt's, die glaubt dir
keiner, nicht mal die Kollegen“, berichtet Krausinger und erzählt von dem verstörten
Verkehrspolizisten, der sie einmal zu Hilfe rief. Damals hatte ein Transvestit seinen
Haussklaven am Hundeshalsband auf allen Vieren durch den Kiez ausgeführt und ihm an der
nächsten Curry-Bude sein Essen im Napf unter den Tisch gestellt. „Was hätten wir denn
machen sollen? Wegen Tierquälerei ermitteln?“