Gutachten_Der_Kernstadt-Umland

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Gutachten_Der_Kernstadt-Umland
Der Kernstadt-Umland-Ausgleich im kommunalen Finanzausgleich des Landes Mecklenburg-Vorpommern nach dem Urteil des
Landesverfassungsgerichts MecklenburgVorpommern vom 23. Februar 2012
(LVerfG 37/10)
Rechtsgutachten
von
Prof. Dr. Stefan Korioth
Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Kirchenrecht
Juristische Fakultät der Ludwigs-MaximiliansUniversität München
April 2013
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I.
Fragestellung
Mit Urteil vom 23. Februar 2012 hat das Landesverfassungsgericht MecklenburgVorpommern Art. 1 § 24 des Gesetzes zur Neugestaltung des Finanzausgleichsgesetzes
und zur Änderung weiterer Gesetze vom 10. November 2009 (GVOBl. M-V S. 606 ff.),
geändert durch Art. 4 Nr. 8 des Gesetzes zur Schaffung zukunftsfähiger Strukturen der
Landkreise und kreisfreien Städte des Landes Mecklenburg-Vorpommern vom 12. Juli
2010 (GVOBl. M-V S. 366), wegen Verstoßes gegen Art. 72 Abs. 1 S. 1, Art. 73 Abs. 2
LV M-V für verfassungswidrig und nichtig erklärt. Aufgrund der beanstandeten Vorschrift wurde seit dem 1. Januar 2010 von kreisangehörigen Gemeinden zugunsten der
Städte Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Stralsund, Greifswald und Wismar eine
Umlage erhoben, wenn die kreisangehörige Gemeinde entweder unmittelbare Nachbargemeinde dieser Kernstädte ist oder nach dem Landesraumentwicklungsprogramm dem
Stadt-Umland-Raum dieser Städte angehört. Im letzteren Fall musste die sonstige benachbarte Gemeinde zwischen dem 1. Januar 1995 und 31. Dezember 2001 ein Bevölkerungswachstum mehr als 30 Prozent und am 30. Juni 2000 einen Anteil von Auspendlern von mehr als 40 Prozent in die jeweilige Kernstadt aufweisen. Die Umlage betrugt 5 Prozent der Umlagegrundlagen nach § 23 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 und 2 FAG M-V
(Steuerkraftmesszahlen gemäß § 12 FAG M-V, bezogen auf die Steuerkraft des vergangenen Jahres, und die Schlüsselzuweisungen des Vorjahres). 25 Prozent der zu zahlenden Umlandsumlage des laufenden Jahres wurden bei der Ermittlung der Kreisumlage in Abzug gebracht (§ 23 Abs. 2 S. 3 Nr. 4 FAG M-V). Die Umlandumlage wurde
durch das Statische Landesamt errechnet und durch das Innenministerium festgesetzt (§
28 Abs. 1 FAG M-V).
Die Nichtigerklärung des § 24 FAG M-V wirkt ex tunc. Das bedeutet zum einen: Soweit die Umlandumlage bereits erhoben wurde, ist dies rechtsgrundlos geschehen; die
bereits gezahlten Beträge sind zurückzuerstatten oder es ist ein Nachteilsausgleich
durchzuführen. Es bedeutet zum zweiten: wenn zukünftig ein (horizontaler) StadtUmland-Ausgleich innerhalb des Gesamtsystems des kommunalen Finanzausgleichs
stattfinden soll, muss der Gesetzgeber eine Neuregelung unter Beachtung der Vorgaben
des Landesverfassungsgerichts schaffen.
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Welche Möglichkeiten sich hier eröffnen, ist Gegenstand des folgenden Gutachtens,
mit dem mich das Innenministerium des Landes Mecklenburg-Vorpommern beauftragt
hat. Das Gutachten untersucht zunächst die Aussagen des Urteils vom 23. Februar 2012
(unter II.), um sodann verschiedene Optionen einer Neuregelung darzustellen und verfassungsrechtlich zu bewerten (III.). Das Gutachten schließt mit einem Vorschlag zur
Neufassung des § 24 FAG M-V (IV.).
II.
Die Vorgaben des Urteils des Landesverfassungsgerichts
vom 23. Februar 2012
1.
Allgemeines
Zur verfassungsrechtlichen Kontrolldichte bei finanzausgleichsrechtlichen Normen betont das Gericht zunächst, in Kontinuität zur eigenen Rechtsprechung und in Übereinstimmung mit der Auffassung anderer Landesverfassungsgerichte, den weiten Gestaltungs- und Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers.
LVerfG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 22-24; zuvor etwa LVerfG MV, Nord ÖR 2011, S. 391, 392; vgl. auch LVerfG LSA DVBl. 2012, S. 1494,
1495; VerfGH NRW, Urteil vom 9. Juli 1998 (Az. 16/96, 7/97), juris Rdnr. 63.
Das Verfassungsgericht hat nicht zu prüfen, ob der Gesetzgeber - nach welchen Kriterien auch immer - die gerechteste oder bestmögliche Lösung der Finanzbedarfsermittlung und Finanzverteilung gewählt hat. Die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers umfasst die Einschätzung, wie er den generellen und die speziellen Finanzbedarfe der
kommunalen Gebietskörperschaften ermittelt und in welcher Weise und in welchem
Grade er Differenzlagen ausgleicht. „Die Einschätzungen des Gesetzgebers sind […]
vom Landesverfassungsgericht grundsätzlich nur daraufhin zu überprüfen, ob sie unter
dem Gesichtspunkt der Sachgerechtigkeit nachvollziehbar und vertretbar sind […]. “
LVerfG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 23; vgl. auch LVerfG M-V,
LVerfGE 17, 297 (318); VerfGH NRW, Urteil vom 1. Dezember 1998 (Az.
5/97), juris Rdnr. 38.
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Gestaltungsgrenzen gibt es dort, wo der kommunale Anspruch auf finanzielle Mindestausstattung in den Grenzen der Leistungsfähigkeit des Landes verletzt oder die Aufgabenangemessenheit der kommunalen Finanzausstattung verfehlt wird.
„In diesem Zusammenhang ist der Gesetzgeber dem interkommunalen Gleichbehandlungsgebot und damit zugleich dem Grundsatz der Systemgerechtigkeit verpflichtet.
Das interkommunale Gleichbehandlungsgebot verbietet, bei der näheren Ausgestaltung
des Finanzausgleichs bestimmte Gemeinden oder Gemeindeverbände sachwidrig zu
benachteiligen oder zu bevorzugen […]. Es ist verletzt, wenn für die getroffene Regelung ein sachlicher Grund fehlt. […] Der Grundsatz der Systemgerechtigkeit verlangt,
dass die vom Gesetzgeber gewählten Maßstäbe, nach denen der Finanzausgleich erfolgen soll, nicht im Widerspruch zueinander stehen und nicht ohne einleuchtenden Grund
verlassen werden […].“
LVerfG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 23 f.
Mit dieser eingeschränkten Ergebniskontrolle anhand der doppelten finanzausgleichsrechtlichen Entfaltung des auch innerhalb des Staatsaufbaues geltenden Gleichheitssatzes
BVerfGE 89, 132 (141).
steht das Gericht in Einklang mit den meisten anderen Landesverfassungsgerichten. Es
folgt insbesondere nicht der davon abweichenden und nur vereinzelt verfolgten Linie,
auf eine Ergebniskontrolle weitgehend zu verzichten und diese durch eine strenge Kontrolle des gesetzgeberischen Verfahrens zu ersetzen.
So StGH BW, DVBl. 1999, S. 1351, 1355 ff.; BayVerfGH, BayVBl. 2008, S.
172, 177. Kritisch Dietrich Roßmüller, Schutz der kommunalen Finanzausstattung durch Verfahren, 2009, S. 158 ff.
2.
Die Kernstadt-Umland-Umlage
Auf dieser Grundlage hält das Landesverfassungsgericht Mecklenburg-Vorpommern
das Instrument einer „Umlandumlage an sich”, mit der spezifische horizontale Umverteilungen im Verhältnis von Kernstadt und Umlandgemeinden verfolgt werden, für ver-
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fassungsrechtlich zulässig. Insoweit ist dem Gericht uneingeschränkt zu folgen; diese
Rechtsprechung steht auch im Einklang mit der des Bundesverfassungsgerichts zu Umlagen im kommunalen Bereich.
BVerfGE 83, 363 (391).
Ob Art. 73 Abs. 2 LV M-V für eine solche Umlage zwischen kommunalen Gebietskörperschaften die Ermächtigungsgrundlage darstellt
So LVerG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 24 f.
oder vielmehr Art. 72 Abs. 1 S. 1 LV M-V, kann dabei dahinstehen. Entscheidend ist,
dass Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG als eine das gesamte Landesrecht bindende Vorgabe des
Bundesverfassungsrechts auch horizontale interkommunale Umlagen auf der Grundlage der Realsteuern und des Gemeindeanteils vom Aufkommen der Einkommensteuer
erlaubt, wenn das Aufkommen der Umlage vollständig im kommunalen Raum verbleibt.
Dazu eingehend das BVerfGE 83, 363 (391).
Umlagen sind herkömmlich und allgemein horizontale oder vertikale von unten nach
oben erfolgende Zahlungen zwischen Gebietskörperschaften, die von einer übergeordneten Gebietskörperschaft angeordnet werden, dieser aber nicht zwingend zugute
kommen müssen.
Die Umlage stellt ein im deutschen bundesstaatlichen und kommunalen Finanzausgleich insgesamt eher selten verwendetes Instrument dar. Am geläufigsten
sind die Gewerbesteuerumlage (vgl. Art. 106 Abs. 4 und 5 GG) und die
Kreisumlage. Die Formulierung des Art. 106 Abs. 6 S. 6 GG zeigt allerdings,
dass es im kommunalen Finanzausgleich keinen numerus clausus von Umlagen
gibt. Zumindest häufiger anzutreffen ist die Finanzausgleichsumlage, dazu
SächsVerfGH, Urteil vom 29. Januar 2010, Umdruck S. 23 ff; NdsStGH, Urteil
vom 16. Mai 2001 (StGH 6/99) - Juris Rdnr. 130; LVerfG M-V, Urteil vom 26.
Januar 2012, Umdruck, S. 18 ff. Von der Umlage zu unterscheiden ist das finanzausgleichsrechtliche Instrument der Zuweisung, das im vertikalen Verhältnis von Gebietskörperschaften immer von oben nach unten Finanzmittel zuteilt,
dazu Stefan Korioth, Der Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern, 1997,
S. 377 ff.
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Wichtig ist sodann die Aussage des Landesverfassungsgerichts, dass einer im Auswahl- und Gestaltungsermessen des Gesetzgebers liegenden Stadt-Umland-Umlage die
Vorwegabzüge in der Finanzausgleichsmasse für überörtliche Aufgaben (§ 10 Abs. 1
FAG M-V) nicht entgegenstehen, obwohl beide Instrumente mit dem Ausgleich
überörtlicher Funktionen der Zentralstädte sich überschneidende – wenngleich nicht
vollständig deckende – Ausgleichsziele haben. Da die Zuweisungen nach § 10 Abs. 1
FAG M-V das für die Schlüsselzuweisungen insgesamt zur Verfügung stehende Finanzvolumen mindern, werden alle Gemeinden des Landes bei den Vorwegabzügen
zur Finanzierung überörtlicher Aufgaben herangezogen. „Dass der Gesetzgeber dann
für den Nahbereich einer Kernstadt davon ausgeht, die Einwohner benachbarter Gemeinden hätten weitergehende Vorteile durch diese als die Einwohner entfernt liegender Gemeinden”, sei im Grundsatz nicht zu beanstanden.
LVerfG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 25.
Dem Grunde nach anerkennt das Gericht also Vorteile der Umlandgemeinden und Belastungen der Kernstädte, die (horizontal) ausgleichsfähig sind. Auch die regionale
Festlegung des Vorteilsbereichs in Anknüpfung an den planungsrechtlichen Raumtyp
des Stadt-Umland-Raumes (§ 16a LPlG) billigt das Gericht, so dass sich die Problematik auf das Umfeld der enumerativ aufgezählten Städte Rostock, Schwerin, Neubrandenburg, Stralsund, Greifswald und Wismar beschränkt, wie dies auch der Gesetzgeber
des § 24 FAG M-V vorsah.
Nicht ganz klar ist in diesem Zusammenhang, ob das Gericht den einheitlichen Prozentsatz, mit dem die Umlandgemeinden zur Umlage herangezogen werden, kritisiert,
oder dies allein im Zusammenhang mit der Anknüpfung an die Bemessungsgrundlage
der Kreisumlage (vgl. § 23 Abs. 2 S. 3 Nr. 1 und 2 FAG M-V) für problematisch hält.
LVerfG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 31.
Nach Auffassung des Gerichts ist aber § 24 FAG M-V aus (mindestens) zwei Gründen
der konkreten Ausgestaltung der Umlage mit den Geboten der interkommunalen
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Gleichbehandlung und der Systemsgerechtigkeit unvereinbar. Zum einen seien die Anknüpfungspunkte der Umlage (unmittelbare Nachbarschaft, Einwohnerwachstum,
Pendlerströme) in ihrer Beziehung zu den Vorteilen der Umlandgemeinden und den
Ausgleichszwecken nicht nachvollziehbar dargelegt und in den Datengrundlagen zudem veraltet. Zum anderen sei es im Gesamtsystem des Finanzausgleichs nicht folgerichtig, für die Bemessung der Umlage an die Summe von Steuerkraftmesszahl und
Schlüsselzuweisungen anzuknüpfen, weil diese Finanzkraft zum Ausdruck bringen,
nicht aber Umlandvorteile; dass ferner die Höhe der Umlage gerade auf 5 v. H. festgelegt sei, erschließe sich im Zusammenhang von Vorteilen nicht. Im Weiteren habe der
Gesetzgeber die Auswirkungen der Kreisgebietsreform auf Vorteile der Umlandgemeinden und Belastungen der Kernstädte nicht untersucht.
3.
Zwischenfazit
Diese Begründungslinien sollen im Folgenden im Grundsatz als Grundlage für Neuregelungsoptionen übernommen werden. Sie sind nur dann zu hinterfragen, wenn einzelne Möglichkeiten der Neuregelung entscheidend davon abhängen, ob die Begründungen des Gerichts vollständig überzeugen. Diese Vorgehensweise ist möglich, weil der
Gesetzgeber – nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts – der gestaltende Erstinterpret der Verfassung ist, das Verfassungsgericht der kontrollierende
„Zweitinterpret“.
BVerfGE 101, 158.
Eine strikte Bindungswirkung für künftige Gesetzgeber gilt hinsichtlich des Tenors der
Normenkontrollentscheidung, nicht aber für die Verfassungsinterpretation des Verfassungsgerichts.
Damit lautet die Aufgabe, eine Neugestaltung des Stadt-Umland-Ausgleichs zu finden,
die für das Land kostenneutral ist, die materiellen Vorgaben des Gerichts beachtet,
durch entsprechende Begründung und Darlegung justiziabel ist und zugleich die finanzausgleichsrechtlichen Gestaltungsspielräume des Gesetzgebers nutzt.
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III.
Lösungen
Der Dreh- und Angelpunkt aller denkbaren Lösungen liegt darin, die dem Grunde nach
unstreitigen und vom Gericht ausdrücklich anerkannten besonderen Vorteile der Umlandgemeinden, also derjenigen „mit besonders intensiven Verflechtungsbeziehungen“
(§ 16a LPlG) zu den sechs Kernstädten, und die Belastungen der Kernstädte zu identifizieren und mit den zur Verfügung stehenden Instrumenten des kommunalen Finanzausgleichs möglichst zielgenau auszugleichen.
Die Belastungen der Kernstädte, aus denen (nicht zwangsläufig spiegelbildliche) Vorteile der Umlandgemeinden resultieren, beruhen auf Einrichtungen der Infrastruktur im
weiteren Sinne (in den Bereichen Kultur, Soziales, Verkehr, Wirtschaftsförderung,
Tourismus, Sport, Bildung), die in den Kernstädten vorgehalten werden und auch von
den Bewohnern der Umlandgemeinden genutzt werden. Bei solchen Einrichtungen
kommt es für die Ausgleichsrelevanz nicht darauf an, ob sie in der Klassifikation des
Kommunalrechts dem freiwilligen oder pflichtigen Selbstverwaltungsaufgaben oder
den übertragenem Aufgabenkreis angehören. Entscheidend ist allein die Mitnutzungsmöglichkeit
durch
Umlandbewohner.
Die
besondere
Stadt-Umland-
Problematik in Mecklenburg-Vorpommern besteht dabei auch darin, dass sowohl
Kernstädte als auch Umlandgemeinden im Vergleich mit anderen Ländern relativ einwohnerschwach sind. Daraus folgt: bestimmte Einrichtungen können – erstens – sinnvollerweise überhaupt nur in den Kernstädten vorgehalten werden. Zweitens können
auch die Kernstädte aufgrund von Wegzügen typischerweise einkommensstärkerer
Einwohner in das Umland unter Umständen eine kritische Untergrenze an Einwohnern
und Finanzkraft zum wirtschaftlichen Betrieb solcher Einrichtungen erreichen. Drittens
aber sind Kernstädte samt Umland die regionalen Träger der Wirtschaftsentwicklung,
so dass Stadt-Umland-Räume als Einheit zu sehen sind, innerhalb derer keine Gefälle
an kommunaler Handlungskraft entstehen oder vertieft werden dürfen.
Zur Problemanalyse aus ökonomischer Sicht auch Wolfgang Voß, Nutzenspillover-Effekte als Problem des kommunalen Finanzausgleichs, Diss. Göttingen
1990, S. 9 ff.
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1.
Einführung einer Einwohnergewichtung bei den Kernstädten?
Der Gesetzgeber könnte zunächst erwägen, bei den Schlüsselzuweisungen an die Gemeinden den besonderen Bedarf ausschließlich der Kernstädte durch eine gleichmäßige
Vervielfältigung ihrer Einwohnerzahl (etwa durch einen Ansatz zwischen 105 v. H.
und 120 v. H.) zu berücksichtigen, während alle anderen Gemeinden mit ihrer tatsächlichen Einwohnerzahl an der Vergabe der Schlüsselzuweisung partizipieren. Derzeit
verwenden – in verschiedener Form – alle Flächenländer mit Ausnahme von Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und Mecklenburg-Vorpommern solche Hauptansatzstaffeln.
Dazu Christina Falken-Grosser, Aufgabenorientierung in der Finanzbedarfsbestimmung im kommunalen Finanzausgleich, 2011, S. 88 ff.
Die traditionelle und noch heute primäre Begründung geht zurück auf die in der Weimarer Republik entwickelte These der „progressiven Parallelität zwischen Ausgaben
und Bevölkerungsmassierung“
Arnold Brecht, Internationaler Vergleich der öffentlichen Ausgaben, 1932, S. 6
ff.; ders., Three Topics in Comparative Administration, in: C. J. Friedrich/E. S.
Mason (Ed.), Public Policy, 1941, S. 289 ff.
und die Behauptung, der städtischen Einwohner verlange mehr an Infrastrukturleistungen als der ländliche.
Johannes Popitz, Der künftige Finanzausgleich zwischen Reich, Ländern und
Gemeinden, 1932, S. 266 ff.
In neuerer Zeit ist dem die – für den vorliegenden Zusammenhang relevante – weitere
Annahme zur Seite getreten, dass städtische Sonderlasten aus der freiwilligen und/oder
unfreiwilligen, landespolitisch verordneten Funktion der Städte folgten, Arbeits- und
Versorgungszentren nicht nur für die eigenen Einwohner, sondern auch für die des
Umlandes zu sein.
Kritisch zu dieser Legitimierung aus der Sicht der Kreise Hans-Günter Henneke, Der Finanzbedarf kommunaler Gebietskörperschaften, in: NdsVBl. 1994, S.
49, 56.
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Wenn dennoch eine gezielte und selektive Einwohnergewichtung ausschließlich für
Kernstädte oder zentrale Städte bislang in den Finanzausgleichssystemen der Länder
kaum zur Bewältigung der „Speckgürtel-Vorteile“ zur Anwendung kam, hat dies seinen Grund insbesondere darin, dass andere Länder die häufig anzutreffende Problematik bevorzugt durch Eingemeindungen lösen; auch auf diese Weise lassen sich positive
Spillover-Effekte internalisieren. Wenn in Mecklenburg-Vorpommern der Weg der
Eingemeindung nicht gewählt wurde und auch zukünftig nicht gewählt werden sollte,
so liegt dies in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Verfassungsrechtlich ist dies
zu respektieren; es gibt keinen Vorrang von Neugliederungen vor finanzausgleichsrechtlichen Maßnahmen. Gerade umgekehrt gilt: Der Gesetzgeber, der SpilloverEffekte im Finanzausgleich lösen will, kann nicht auf die Option der Neugliederung
verwiesen werden. Eingemeindungen sind als schwerwiegende Eingriffe in die kommunale Selbstverwaltungsgarantie (Art. 3 Abs. 2, Art. 72 LV M-V) ultima ratio für den
Gesetzgeber.
Ähnliches gilt im bundesstaatlichen Finanzausgleich im Verhältnis der Art.
106, 107 zu Art. 29 GG: Der Finanzausgleichsgesetzgeber hat die angemessene
Finanzausstattung der Länder in ihrem jeweiligen Bestand zu sichern, BVerfG
E 116, 327 (386 f.); Stefan Korioth, Neuordnung der Bund-LänderFinanzbeziehungen? in: ZG 2007, S. 1, 15; Peter M. Huber, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Kommentar zum Grundgesetz, Bd. 3, 6. Auflage 2010, Art.
107, Rdnr. 30.
Dennoch sollte im Ergebnis nicht versucht werden, Sonderlasten aus der Versorgungsfunktion der Kernstädte für das Umland durch eine Einwohnergewichtung zu bewältigen. Ganz allgemein steht die Einwohnergewichtung nicht nur im kommunalen, sondern auch im Bund-Länder-Finanzausgleich seit längerem in der Kritik.
Zu letzterem, wenn auch im Ergebnis die Gewichtung dort akzeptierend, BVerfGE 72, 330 (413 f.); 86, 148 (236 f.); stenger BVerfGE 101, 158 (229 f.) –
Pflicht zur Prüfung anhand „objektivierbarer“ und „ökonomisch rationaler Indikatoren“. Dazu Stefan Korioth, Nachhaltigkeit und Finanzausgleich, in: W.
Kahl (Hrsg.) Nachhaltige Finanzstrukturen im Bundesstaat, 2011, S. 188, 195
ff.
Jüngst hat als erstes Verfassungsgericht das Landesverfassungsgericht Sachsen-Anhalt
eine unterschiedliche Einwohnergewichtung im kommunalen Finanzausgleich verworfen.
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LVerfG LSA, DVBl. 2012, S. 1491, 1495 f. Kritisch zum Fall der „negativen
Einwohnergewichtung“ (95 v. H. bei einer Einwohnerzahl unter 500) LVerfG
M-V, Urteil vom 30. Juni 2011 (LVerfG 10/10).
Unabhängig davon, ob den Kritikpunkten an Hauptansatzstaffeln zu folgen ist,
Der Landesrechnungshof Mecklenburg-Vorpommern hat in seinem Kommunalbericht 2007, S. 39, die Gegenposition vertreten: „Aus der Sicht des Landesrechnungshofes bestehen weiterhin gute Gründe für die Einführung von nach
Größenklassen gewichteten Einwohnern als Hauptansatz zur Verteilung von
Schlüsselzuweisungen.“ So auch – bezogen auf die jeweiligen Länder – VerfGH NRW, DVBl. 1998, S. 1280, 1285; VerfG Bbg, LVerfGE 17, 103 (118
ff.): „Dass der Gesetzgeber den funktionsbedingten Bedarf der Zentralorte bereits im Hauptansatz berücksichtigt, ist jedenfalls solange verfassungsrechtlich
unbedenklich, wie er andere bedarfserhöhende Gesichtspunkte […] ebenfalls
angemessen berücksichtigt.“
wäre in einem Land, das wie Mecklenburg-Vorpommern über eine große Fläche, eine
insgesamt geringe Einwohnerzahl und vergleichsweise wenige größere Städte verfügt,
eine Hauptansatzstaffel im kommunalen Finanzausgleich insgesamt zweischneidig.
Mecklenburg-Vorpommern verfügt bei 780 Gemeinden über lediglich neun
Städte mit mehr als 20.000 Einwohnern und hat mit 71 Einwohnern/km² die geringste Bevölkerungsdichte aller Länder.
Sie könnte überdies nicht isoliert eingeführt werden, sondern bedürfte der Austarierung
im Zusammenhang sämtlicher vorhandener Finanzausgleichsinstrumente. Schließlich
könnte eine Einwohnergewichtung im Hinblick auf die Stadt-Umland-Problematik in
horizontaler Ausgleichsrichtung nicht so zielgenau sein wie eine Umlage, die einen
partiellen Ausgleichskreis innerhalb des umfassenden kommunalen Finanzausgleichs
schaffen kann. Deshalb soll an dieser Stelle auch die grundlegende Frage nicht weiter
verfolgt werden, wo die spezifischen Bedarfe oder Sonderlasten liegen könnten, die
über eine Einwohnergewichtung abgegolten werden könnten. Festzuhalten ist allerdings, dass eine Einwohnergewichtung die Folgen der Suburbanisierung (nicht ausgelastete oder zu teure Infrastruktur der Kernstädte, zunehmende soziale Segregation,
steigende finanzielle Belastungen der Städte bei erodierender Steuerbasis) abmildern
könnte.
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2.
Erhöhung der Vorwegabzüge in der Finanzausgleichsmasse (§ 10 Abs. 1
FAG M-V)
Im Ergebnis ähnlichen Bedenken begegnete eine Erhöhung der Vorwegabzüge für
überörtliche Aufgaben in der Finanzausgleichsmasse (§ 10 Abs. 1 FAG M-V) oder die
Normierung neuer Bedarfstatbestände für die Kernstädte. Auch wenn der Einwand, der
Finanzausgleich insgesamt weise bereits jetzt eine „verfassungsrechtlich bedenkliche
Unwucht zu Gunsten der kreisfreien Städte [jetzt wohl: Kernstädte]“ auf,
So Hubert Meyer, in: Litten/Wallerath (Hrsg.) Verfassung des Landes Mecklenburg-Vorpommern, 2007, Art. 73 Rdnr. 25.
nicht zutrifft, weil die Vorwegabzüge auch nach der Auffassung des Landesverfassungsgerichts den Finanzbedarf für überörtliche Aufgaben nicht ausgleichen,
Vgl. LVerfG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 25.
so sollten die ungebundenen Schlüsselzuweisungen die Bedarfs- und/oder Zweckzuweisungen bei der Einteilung der Finanzausgleichsmasse deutlich übertreffen. Nur ungebundene Zuweisungen tragen dem Grundsatz Rechnung, in der Finanzverteilung
möglichst solche Instrumente zu wählen, die der kommunalen Finanzautonomie nach
Art. 72 Abs. 1 LV M-V am stärksten Rechnung tragen. Die Ausgabenautonomie der
Gemeinden wird durch ungebundene Zuweisungen besser berücksichtigt als durch alle
anderen Formen der Zuweisungen.
3.
Pauschalabzüge von den Finanzkraftmesszahlen der Kernstädte
Der Länderfinanzausgleich kannte bis 2005 ein besonderes Instrument für den Ausgleich besonderer Belastungen einzelner Länder, die allen anderen Ländern zumindest
potentiell, besonders aber den benachbarten Ländern zugutekommen. Insofern gibt es
hier eine Parallele zur kommunalen Stadt-Umland-Problematik. Nach § 7 Abs. III FAG
a. F. wurden bei den Ländern mit Seehäfen bei der Ermittlung der Finanzkraftmesszahlen Pauschalbeträge abgezogen. Die dadurch erreichbaren Ausgleichswirkungen bezo-
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gen sich auf eine Belastung, die in manchem der Stadt-Umland-Problematik vergleichbar ist. Seehäfen mit ihren Kostenbelastungen können nur in den Küstenländern anfallen, die ihrerseits allenfalls theoretisch in der Lage sind, Seehäfen nicht weiter auszubauen oder zu schließen. In ökonomischer Hinsicht handelt es sich bei den Seehafenlasten – ähnlich der überörtlichen Infrastruktur- und Versorgungsfunktion der Kernstädte – um einen Sonderbedarf aufgrund externer Effekte bei der zugrundeliegenden
Aufgabenerfüllung: Die Nutzung der Einrichtungen steht allen Wirtschaftsubjekten offen, die Kosten der Vorhaltung der Einrichtungen lassen sich aber, auch unter Berücksichtigung spezieller Entgelte, nicht auf alle Nutzer abwälzen. Der Zurechnungszusammenhang der fiskalischen Äquivalenz, wonach die Entscheidung über eine Einrichtung, die Tragung der Kosten und die Vorteile bei einer Gebietskörperschaft liegen sollen, ist gestört. Ein Ausgleich ist nicht distributiv (verteilungspolitisch), sondern aus
Gründen allokativer Effizienz begründet.
Vgl. auch die ökonomische Problembeschreibung bei Wolfgang Voß, Nutzenspillover-Effekte als Problem des kommunalen Finanzausgleichs, Diss. Göttingen 1990, S. 7: „Intergemeindliche Nutzenspillover-Effekte sind eine Folge von
Nutzungen der über Gemeindebudgets bereitgestellten Güter und Leistungen
durch gemeindeexterne Wirtschaftssubjekte, insbesondere durch Einwohner
von Nachbargemeinden. […] Reichen kommunale Versorgungsleistungen über
die Grenzen der sie bereitstellenden Gemeinden hinaus, so ist ohne weitere
Vorkehrungen keine ‚fiskalische Äquivalenz‘ mehr gegeben.“
Dennoch wird es sich nicht empfehlen, die besonderen Leistungen der Kernstädte
durch einen Pauschalabzug bei der Finanzkraftmesszahl zu berücksichtigen. Der
Hauptnachteil bestünde darin, dass wiederum alle Gemeinden des Landes zur Mitfinanzierung herangezogen würden, obwohl die Nutzen der besonderen Einrichtungen
der Kernstädte nicht über das gesamte Land gleichmäßig streuen.
Hier endet die Parallele zu Seehäfen, die grundsätzlich allen Bundesländern zugutekommen.
Der Effekt wäre also den Vorabbeträgen aus der Schlüsselmasse vergleichbar, allein
der Ausgleich verzöge sich ausschließlich horizontal. Eine zielgenaue Abgeltung von
Vorteilen und Belastungen wäre nicht möglich. Außerdem wäre der Pauschalabzug von
den Finanzkraftmesszahlen ein Instrument, dessen genaue Ausgleichswirkung erst
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durch die jährlich schwankende Ermittlung aller gemeindlichen Finanzkraftmesszahlen
ermittelbar ist. Auch hier fehlt es an Zielgenauigkeit.
Dies hat im Länderfinanzausgleich den Bundesgesetzgeber bewogen, die Seehafenlasten seit 2005 aus dem horizontalen Ausgleich herauszulösen und mittels vertikaler Zuweisungen des Bundes nach Art. 104a GG a. F. (jetzt Art.
104b GG) zu bewältigen.
4.
Neugestaltung der Umlandumlage
Die vorstehenden Überlegungen haben gezeigt, dass es zwar Alternativen zur Umlandumlage gibt, diese aber Nachteile, vor allem erhebliche Zielungenauigkeiten aufweisen.
An der vom Landesverfassungsgericht gebilligten Grundentscheidung des Gesetzgebers für eine Stadt-Umland-Umlage sollte also festgehalten werden. Damit stellt sich
die Frage, nach welchen Maßstäben diejenigen Gemeinden, die aus ihrer Belegenheit
im Umland einer Kernstadt besondere Vorteile erzielen, an den Kosten der Leistungserbringung in der Kernstadt beteiligt werden können. Dabei sind zwei Aspekte zu unterscheiden. Erstens geht es darum, den Kreis der pflichtigen Gemeinden zu bestimmen, zweitens um die Höhe der Bemessung der Abgabe.
a) Pflichtige Gemeinden
Im ersten Punkt hat der Gesetzgeber des § 24 FAG M-V zwei Gruppen von Umlandgemeinden unterschieden, alle direkt benachbarten und alle weiteren unter den Voraussetzungen eines bestimmten Bevölkerungswachstums und hoher Einpendlerquoten.
Hier könnte es sich empfehlen, nur eine Gruppe zu bilden. Dies müsste dann in Aufnahme der vom Landesverfassungsgericht gebilligten Anknüpfung an Raumtypen des
Landesraumentwicklungsprogramms alle Gemeinden im jeweiligen Stadt-UmlandRaum gleichmäßig erfassen. Wenn hier raumordnungspolitisch eine Einheit gesehen
wird, dann auch deshalb, weil die infrastrukturelle Bereitstellungsfunktion der Kernstädte für alle Gemeinden im Umlandraum – genauer alle Einwohner dieser Gemeinden – grundsätzlich dieselbe Bedeutung hat. Zwar mag die Nutzung bestimmter Einrichtungen mit der räumlichen Entfernung abnehmen können, wenn aber bestimmte
Einrichtungen nur in der Kernstadt vorhanden sind, dürfte der Nutzenunterschied im
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gesamten Umlandraum zu vernachlässigen sein. Ausschlaggebend ist dann die Angewiesenheit des gesamten Umlandgebietes auf diese Einrichtung.
Wenig empfehlenswert dürfte es sein, bei allen Umlandgemeinden (also auch den direkt benachbarten) nach dem Maßstab des Bevölkerungswachstums und der Einpendlerquote vorzugehen. Beiden Parametern ist zwar eine Verbindung zur Nutzung der
Infrastruktur der Kernstadt nicht abzusprechen, diese Verbindung ist aber eher mittelbar und wenig spezifiziert. Für die Nutzung der Infrastruktur der Kernstadt kommt es
weniger auf das Bevölkerungswachstum an als auf die tatsächliche Einwohnerzahl der
Umlandgemeinde, da davon auszugehen ist, dass der Nutzungsgrad bei allen Einwohnern des Umlandes im Schnitt derselbe ist. Bei den Einpendlern liegt die Nutzung zwar
nahe, es gibt aber keinen Grund, warum alle Pendler die besonderen sozialen und kulturellen Einrichtungen der Kernstadt stärker nutzen als die nichteinpendelnden Einwohner. Sollten dennoch beide Parameter auch zukünftig Verwendung finden, dann
müssten aktuelle Zahlengrundlagen herangezogen werden. Das Bevölkerungswachstum müsste sich dann auf den Zeitraum zwischen 1995 (also ungefähr den Beginn des
verstärken Zuzugs in die Umlandgemeinden) und 2010 bezogen werden. Das letztere
Datum würde mögliche Tendenzen der Rückwanderung in die Kernstädte berücksichtigen. Bei den Einpendlerzahlen müssten die jeweils aktuell verfügbaren Daten verwendet werden.
Gegenüber diesen Maßstäben bleiben aber die Gleichbehandlung aller Gemeinden und
die Gleichbehandlung aller Einwohner im Stadt-Umland-Raum vorzugswürdig. Sie
entspräche auch der Überlegung des Verfassungsgerichts, wonach die Annahme naheliege, „dass statistisch gesehen jeder Einwohner der Umlandgemeinden dort [scil.: in
der Kernstadt] die gleiche Belastung verursacht.“
LVerfG M-V, Urteil vom 23. Februar 2012, S. 32.
b) Vorteile und Belastungen
Sehr viel schwieriger ist die Frage zu beantworten, wie die Höhe der Belastungen der
Kernstadt und die Vorteile der jeweiligen Umlandgemeinden zu messen sind, die dann
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auch durch die Umlage auszugleichen sind. Letztlich geht es um Bedarfskriterien aufgrund von Aufgaben und Ausgaben, die – wie immer im kommunalen Finanzausgleich
– nicht exakt in Summen ausgedrückt werden können. Worum es allein im Lichte der
Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers gehen kann, sind plausible und in sich folgerichtige Annahmen, bei denen der Gesetzgeber auf der Zeitachse zur regelmäßigen Beobachtung der Angemessenheit und gegebenenfalls zur Korrektur verpflichtet ist.
Auch hier gelten die eingangs dieses Gutachtens genannten Aspekte zum Verhältnis von Verfassung, Gesetz, Gesetzgeber und Verfassungsgericht. „ Im
Rahmen seiner Gestaltungsfreiheit obliegt es dem Landesgesetzgeber, den Finanzbedarf von Gemeinden und Gemeindeverbänden zu gewichten, Unterschiede hinsichtlich des Finanzbedarfs und der vorhandenen Finanzausstattung
auszumachen und festzulegen, wie die Differenzlagen auszugleichen sind.“ So
exemplarisch VerfG NRW, NW VBl. 2008, S. 223, 224.
Die Umlagehöhe muss sich an den Vorteilen der Umlandgemeinden pro Einwohner
orientieren, ferner daran, dass die Kernstädte unter Berücksichtigung der weiteren
Elemente ihrer Finanzausstattung in der Lage sind, Einrichtungen der Infrastruktur mit
Umlandbedeutung auch tatsächlich vorzuhalten.
Eine juristische Untersuchung kann hierzu nur die relevanten Faktoren auflisten; eine
Bemessung kann nur durch eine empirisch-finanzwissenschaftliche Untersuchung vorbereitet werden. Bei den Faktoren der Bemessung gilt zunächst: Unberücksichtigt bleiben Aufwendungen der Kernstädte im sozialen und kulturellen Bereich, deren Kosten
durch besondere zweckgebundene vertikale Zuweisungen innerhalb und außerhalb des
Finanzausgleichs voll abgegolten werden. Soweit solche Aufwendungen zumindest
teilweise durch Vorabbeträge nach §§10 Abs. 1 Nr. 1 b, 16 FAG aufgefangen werden,
müssen sie in diesem Umfang unberücksichtigt bleiben. Hierbei ist allerdings eine differenzierte Betrachtung der Zuweisungsanteile erforderlich, die die Kernstädte als
Oberzentrum (dies gilt nicht für Wismar), Mittelzentrum und Grundzentrum erhalten.
Daraus folgt, dass für jede Kernstadt eine eigenständige Ermittlung durchzuführen ist.
Eine exakt saldierende Berechnung ist dabei allerdings aus zwei Gründen für keine
Kernstadt möglich oder erforderlich. Zum einen stellt die Umlage auf den StadtUmland-Raum nach dem Landesentwicklungsplan ab und damit auf Kriterien, die sich
nur zum Teil mit der Zentrumsfunktion überschneiden, die Grund- und Gegenstand der
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Vorabzuweisungen nach §§ 10 Abs. 1 Nr. 1 b, 16 FAG sind. Zum anderen ist eine Umlage keine Abgabe im Sinne einer Vorzugslast; nur bei einer solchen wäre ein genaues
Verhältnis von Leistung und Gegenleistung nach den Prinzipien spezieller Entgeltlichkeit und Äquivalenz zu ermitteln.
Zu den Vorzugslasten Stefan Korioth, Finanzen, in: Wolfgang Hoffmann-Riem u.a.
(Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. III, 2. Auflage 2013, § 44 RdNr.
34, 37 ff.
Bei Instrumenten des Finanzausgleichs ist der Einschätzungs- und Gestaltungsraum des
Gesetzgebers ungleich größer.
Auf dieser Grundlage können dann die Umlandgemeinden – nach Berücksichtigung
weiterer, noch zu erörternder Faktoren – mit einem für den Umkreis der jeweiligen
Kernstadt einheitlichen Pro-Kopf-Betrag zu der Umlage herangezogen werden.
Es verbleiben damit Einrichtungen der Gesundheitsvorsorge, ferner Theater, kommunale Bibliotheken, Kinos, Schwimmbäder und Sportstätten, Tierparks, Einrichtungen
für den Tourismus, aber auch Beratungsstellen, Senioreneinrichtungen, Obdachlosenunterkünfte, Frauenhäuser, Beratungsstellen und Volkshochschulen, ferner die Verkehrsinfrastruktur, die für die Ermittlung der Umlage relevant sind. Bei diesen Einrichtungen lässt sich durchgehend ermitteln, ob sie, bezogen auf den jeweiligen StadtUmland-Bereich, allein in der Kernstadt vorgehalten werden, was bei höherwertigen
Infrastruktureinrichtungen durchgehend der Fall sein wird. „Die Organisation des Zentralitätsausgleichs hat auf differenzierte Weise die faktischen ,Lieferbeziehungen’ zwischen Zentralorten und ihren partizipierenden Umlandgemeinden aufgabenspezifisch
vollständig nachzuzeichnen.“
Wolfgang Voß, aaO, S. 342 f.
Dann kann der Gesetzgeber die Annahme zugrundelegen, dass statistisch gesehen die
Bewohner des gesamten Umlandbereichs diese Einrichtungen quantitativ ebenso nutzen wie Bewohner der Kernstädte. Zu berücksichtigen ist hierbei weiterhin, dass nach
der Kreisgebietsreform die Kernstädte von zwei kreisfreien Städten und vier großen
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kreisangehörigen Städten gebildet werden. Da die großen kreisangehörigen Städte zur
Zahlung einer – reduzierten – Kreisumlage nach § 23 FAG M-V verpflichtet sind, zugleich in allen diesen sich der Sitz des Landkreises befindet (vgl. §§ 3 Abs. 3, 5 Abs. 3,
6 Abs. 3, 7 Abs. 3 LNOG M-V), muss bei diesen vier Städten ermittelt werden, inwieweit die Umlandgemeinden bereits über die Kreisumlage soziale oder kulturelle Einrichtungen mitfinanzieren (und natürlich auch, inwieweit diese Mitfinanzierung durch
die Kernstädte erfolgt).
Dann wären die nach Abzug anderer Finanzierungen (Zuweisungen, Gebühren) verbleibenden Aufwendungen im Verhältnis der Einwohnerzahl der Kernstadt und der
Umlandgemeinden (durchgehend besteht derzeit etwa ein Verhältnis von 5 zu 1) aufzuteilen. Zugunsten der Umlandgemeinden wäre dann noch einmal ein pauschaler Abschlag für solche Vorteile vorzunehmen, die der Kernstadt durch die Nutzung entstehen, etwa durch erhöhte Steuereinnahmen durch den Konsum der externen Nutzer in
der Kernstadt. Das Verfassungsrecht verlangt hier keine exakte Rechnung, sondern allein eine plausible Abschätzung.
Der BayVerfGH, BayVBl. 1997, 336 f., hat dazu, allerdings im Zusammenhang
der Einwohnergewichtung, ausgeführt: „Bei der verfassungsrechtlichen Prüfung
[…] ist weiter zu berücksichtigen, dass das Spannungsverhältnis zwischen
Großstadt und Umland kein lediglich in Zahlen fassbares Problem darstellt.
Den unbestreitbaren Nachteilen für die Kernstädte stehen nämlich andererseits
auch Vorteile für diese Beeinträchtigungen gegenüber. So stärken die Einpendler auch die Wirtschafts- und Steuerkraft der Stadt, Einkäufer aus dem Umland
bewirken Kaufkraftzuflüsse und Steigerungen der städtischen Einnahmen.“
Auf diese Weise ließe sich eine Summe pro Einwohner aller Umlandgemeinden einer
Kernstadt ermitteln, die dann multipliziert mit der Einwohnerzahl der Gemeinde auf
der Grundlage der Ermittlung nach § 27 Abs. 1 FAG M-V den Umlagebetrag ergäbe.
Um jährliche Neuberechnungen auf der Grundlage umfangreicher Ermittlungen zu
vermeiden, könnte der Umlagebetrag dann unter Berücksichtigung der Veränderung
des Verbraucherpreisindexes im Land jährlich überprüft und angepasst werden.
Die Anknüpfung der Überprüfungspflicht an die Entwicklung der Verbraucherpreise –
wobei dieser Faktor in die Überprüfung einzubeziehen ist, aber keine zwingende Ver-
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änderung verlangt – ist im Finanzausgleich des Landes Mecklenburg-Vorpommern
bisher ungebräuchlich, wird aber in anderen Zusammenhängen in den Finanzausgleichssystemen anderer Länder verwendet.
Vgl. etwa § 3 Abs. 5 S. 2 Nr. 2 ThürFAG 2013 – Überprüfungskriterien der Finanzausgleichsmasse im Rahmen des „Thüringer Partnerschaftsmodells“, einer
speziellen Ausprägung des „Gleichmäßigkeitsgrundsatzes“.
IV.
Fazit
Eine Neufassung des § 24 Abs. 1 FAG M-V könnte danach folgenden Wortlaut haben:
„ (1) Von den kreisangehörigen Gemeinden, die nach dem Landesraumentwicklungsprogramm dem Stadt-Umland-Raum der Städte Rostock, Schwerin, Neubrandenburg,
Stralsund, Greifswald und Wismar (Kernstädte) zugeordnet werden, wird ab dem 1. Januar 2013 eine Umlage je Einwohner erhoben. Die Umlage beträgt im Umland von
Rostock […] Euro, Schwerin […] Euro, Neubrandenburg […] Euro, Stralsund […] Euro, Greifswald […] Euro, Wismar […] Euro je Einwohner. Die Einwohnerzahl der
pflichtigen Gemeinden ergibt sich aus den vom Statistischen Landesamt zum 31. Dezember des jeweils vorvergangenen Jahres fortgeschriebenen Einwohnerzahlen. Das
Umlageaufkommen fließt der jeweiligen Kernstadt zu. Der Umlagebetrag pro Einwohner ist in den auf das Jahr 2013 folgenden Jahren insbesondere im Hinblick auf die
Entwicklung der Verbraucherpreise in Mecklenburg-Vorpommern zu überprüfen und
gegebenenfalls anzupassen.“
§ 24 Abs. 2 FAG M-V kann aus der bisherigen Regelung übernommen werden. § 23
Abs. 2 Nr. 4, § 28 Abs. 1 S. 1 und § 29 Abs. 4 FAG M-V bleiben unverändert.
(Prof. Dr. Stefan Korioth)