„Alles klappte wie im Märchen“

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„Alles klappte wie im Märchen“
„Von der Lust am Heilen“1
Ein Nachruf zum Tod von Gerda Boyesen.
Dipl. Psych. Peter Freudl
Im Dezember 2005 ist in ihrer Wahlheimat London in hohem Alter die norwegische
Klinische Psychologin und Körperpsychotherapeutin Gerda Boyesen gestorben.
Gerda Boyesen war die wohl berühmteste Reichianische Körperpsychotherapeutin.
Sie begründete in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine eigene
körperpsychotherapeutische Schule, die unter dem Namen Biodynamische
Psychologie bekannt wurde. Gerda Boyesen war ein großer Star in der
Therapieszene jenseits der etablierten Therapieverbände. In der Blütezeit ihrer
beruflichen Laufbahn in den siebziger und achtziger Jahren besaß sie unbedingten
Kultstatus. In einem groß aufgemachten Artikel in der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“
wurde sie 1986 als eine Leitfigur der zeitgenössischen Psychotherapie gerühmt.2
Wie begründet sich ihr Ruhm? Gerda Boyesen war nicht nur eine Meisterin ihres
therapeutischen Fachs, sie war schon zu Lebzeiten eine Symbolfigur: Sie stand für
das Urweibliche. Sie repräsentierte eine nicht-feministische und doch selbstbewusste
Weiblichkeit und Mütterlichkeit und übte darin eine große Anziehungskraft auf Frauen
und Männer aus. Sie stand für das Inbild der Großen Mutter, die dem wagemutigen
und lautstarken Aufbegehren aus allzu eng geratenen Körpergrenzen und
gesellschaftlichen Konventionen, so typisch für die Therapieexperimente der
sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ihren liebevollen Segen gab.
Gerda Boyesen war keine unberührbare Göttin. Sie war nah, körpernah, gesegnet
mit einer warmen und herzlichen Ausstrahlung. Sie ließ sich anfassen und berührte
selbst. Jeder nannte sie nur bei ihrem Vornamen. In ihrem Therapieraum herrschte
eine bis dahin unbekannte sanftmütige Anarchie jenseits ängstlicher oder
moralischer Bedenken oder gesellschaftlicher Verhaltenskodizes. Alles war möglich,
alles erlaubt und darüber schwebte schützend Gerdas tief verkörpertes Vertrauen,
dass es gut ist, die freien und autonomen, organisch verankerten Lebensprozesse
einfach geschehen zu lassen, weil die, fast von allein, ihren guten und heilsamen
Weg finden, sofern ihnen nur Raum gegeben wird.
Sie stand für das große Ja zur animalischen Wildheit und Kraft der sich von aller
Unterdrückung und Zwangsherrschaft befreienden Kreatur im Menschen. Sie stand
für das Streben nach Lebensfreude und -glück und widersprach nicht, als eine
Patientin ihr versicherte, dass sie mit ihren Arbeitstechniken einen „Schlüssel zum
Glück“ gefunden habe. Sie stand für die Schönheit und die Heilkraft der freien und
authentischen Lebensbewegung. Sie stand für bedingungslose Liebe zum Patienten,
für Sanftmut und Toleranz, für Akzeptanz und Achtung vor der Einzigartigkeit des
einzelnen seelischen Schicksals. Sie war die furchtlose Pionierin einer ganzheitlichen
leibseelischen Heilkunst, die sich gegen viele Widerstände zu behaupten wusste.
Das ist ein erstaunliches Fazit für eine Frau, für die ein Leben wie das der Nora in
Ibsens Puppenhaus als brave und sittsame Dame in den feinen Kreisen der Osloer
Gesellschaft vorgesehen war.
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Gerda Boyesen wurde als Gerd3 Monsen am 18.Mai 1922 in der norwegischen
Hafenstadt Bergen geboren. Mütterlicherseits entstammte die Familie einem alten
Wikingergeschlecht, was die Mutter durchaus mit Stolz erfüllte. Der Vater war Spross
eines vermögenden Kaufmanns aus der norwegischen Oberschicht, der es mit dem
Vertrieb von Schulartikeln zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hatte, so dass
Gerda eine in materieller Hinsicht sorglose Kindheit erleben durfte. Die Hausarbeit
wurde von Personal erledigt; für die Kinder sorgten Kindermädchen.
In der väterlichen Ahnenreihe findet sich auch ein holländischer Kapitän, der unter
anderem Polynesien bereiste und dort einen Sohn zeugte, den er nach Europa
brachte, so dass auch polynesisches Blut in Gerdas Adern floss. Es mag sein, dass
die erdnahe Naturverbundenheit, die herzliche und unschuldige Fröhlichkeit und
Unbeschwertheit der polynesischen Völker in Gerdas Wesen Spuren hinterlassen
haben. Viele, die sie kannten, werden das gern bezeugen.
Gerda Boyesens Erinnerungen an ihre eigene Kindheit wirken jedoch wenig heiter.
Aus ihren autobiographischen Schilderungen wissen wir zwar, dass sie ihrer offenen,
natürlichen und warmherzigen Mutter herzlich zugetan war und sich ihr nahe gefühlt
hat. Eine „instinktive Pädagogin“ nannte Gerda einmal ihre Mutter. Aber wie viele
andere herausragende Repräsentanten der Therapeutenzunft hat sie auch schon
früh die Schattenseiten des Lebens kennen gelernt. Vor allem hat sie sehr unter der
strengen Erziehung des nie mit ihr zufriedenen Vaters gelitten, der an die düsteren
pädagogischen Grundsätze des damals einflussreichen deutschen Arztes D.
Schreber glaubte. Die Standesdünkel und die hohen Ansprüche des von ihr selbst
als „eitel“ bezeichneten Vaters gehörten ebenso zu Gerdas kindlichem
Erziehungsalltag wie die in Anlehnung an Schreber verordneten Zwangsmaßnahmen, zu denen unter anderem rigide Essensrituale und Schläge zählten.
Gerda Boyesen war die älteste von vier Geschwistern. Nach ihr wurden noch zwei
Brüder und eine Schwester geboren. Die Rolle der Ältesten in der Geschwisterreihe
hat sie geprägt: Fürsorge für andere und ein hohes Verantwortungsgefühl für die ihr
Nahestehenden zählten zu ihren herausragendsten Eigenschaften. In ihrem
Erwachsenenleben sollte es Zeiten geben, in denen sie ganz allein für ihre Kinder
sorgte. In ihrer Herkunftsfamilie war den Mädchen die Erziehung hin zu einer
traditionellen Frauenrolle zugedacht, die auf geistige Entwicklung wenig Wert legte.
Gerdas intellektuelle Hochbegabung wurde dennoch früh erkannt. Sie war eine
außergewöhnlich gute Schülerin und las gerne und viel. Ein wohlmeinender Arzt, der
das Kind untersuchte, riet vorsorglich zu Sport und viel Bewegung außerhalb des
Hauses als Strategie gegen den Lerneifer des jungen Mädchens. Gerda löste das
Dilemma, im Hause nicht mehr lesen zu dürfen, dadurch, dass sie auf einen Baum
im häuslichen Garten kletterte und dort heimlich weiter las.
Insgesamt scheint den Söhnen und Stammhaltern wesentlich mehr Beachtung,
Förderung und Anerkennung zuteil geworden zu sein.
Mit sieben Jahren entwickelte Gerda eine entzündliche Darmerkrankung, eine Colitis.
Im gleichen Jahr wurde die jüngere Schwester geboren, zu der der Vater eine
besondere Zuneigung gehabt habe. Er habe sie als die „Schöne“, als die „Attraktive“
angesehen, während die junge Gerda die Rolle der „Intellektuellen“ innegehabt
haben. Die väterliche Strenge und die narzisstischen Kränkungen durch die
Bevorzugung der Söhne und der Schwester haben Gerda nach eigenem Bekunden
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viele Jahre zu schaffen gemacht. Schüchtern, brav und unsicher sei sie als
Jugendliche und junge Frau gewesen.
Mit neun Jahren erfolgte der Umzug nach Oslo. Finanziell wurde es enger, weil der
Vater sich als wenig geschäftstüchtig erwies. Mit 19 heiratete Gerda den fünf Jahre
älteren Carl Boyesen, den Sohn eines der reichsten Männer Oslos. Carl Boyesen
verdiente sich ein Zubrot als recht erfolgreicher Komponist norwegischer Schlager.
Drei Jahre später, 1944, wurde Gerdas erste Tochter Ebba geboren, kurz darauf,
1945, die zweite Tochter Mona Lisa. 1948 kam ihr Sohn Paul zur Welt.
Zur Hausfrau war sie nicht geschaffen. Mit 25 Jahren diagnostizierte Gerda bei sich
eine (zwangs-)neurotische Störung und begann kurz entschlossen ein
Psychologiestudium. Sie begab sich in Therapie zu Ola Raknes, einem Theologen
und ausgebildeten Psychoanalytiker, der sich bei Wilhelm Reich in dessen Osloer
Zeit (1934-1939) zum Vegetotherapeuten weiter gebildet hatte. Andere Therapien
folgten. Doch die Begegnung mit Raknes und dessen analytisch geprägtem und
körperorientiertem Therapiestil sollte Gerdas Leben entscheidend beeinflussen. Sie
machte ihr Diplom als Klinische Psychologin und schloss eine Ausbildung zur
Physiotherapeutin ab. Zusätzlich bildete sie sich bei Aadel Bülow-Hansen, die eng
mit dem renommierten Psychoanalytiker T. Braatoy kooperierte, in deren
Massagetechniken fort. Bei Bülow-Hansen lernte sie, dass es auf dem Weg der
direkten Körperbehandlung, der Massage, möglich war, die vegetative Basis der
Neurosen aufzulösen. Nach ersten Erfahrungen in diversen Kliniken eröffnete sie in
Oslo eine eigene Therapiepraxis, die sehr gut lief. Ihre außergewöhnliche berufliche
Kompetenz zeigte sich auch darin, dass sie eine Zeit lang die Position der Leitenden
Psychologin an Oslos Universitätsklinik inne hatte.
Gerda Boyesen sah sich selbst als Naturwissenschaftlerin und in der Tat war ihre
gesamte berufliche und therapeutische Entwicklung begleitet von großem
wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse. Gegen starke Widerstände der eigenen
Familie und der etablierten professionellen Psychologen und Mediziner engagierte
sie sich in ihrem Fach, stellte Fragen und wollte den Dingen auf den Grund gehen.
Sie war besonders fasziniert von den Verbindungen zwischen Körper und Seele, die
ihr in ihrer eigenen Arbeit und in ihrer therapeutischen Selbsterfahrung offensichtlich
schienen. Das bis dahin wenig erforschte Feld der gesetzmäßigen Zusammenhänge
zwischen Körperphysiologien und Seelenzuständen wurde ihr zentrales
Forschungsthema. Und obwohl sie mit ihren Einsichten oft auf taube Ohren stieß und
mitleidig oder spöttisch belächelt wurde, war sie sehr kreativ, originell und fruchtbar
darin. Sie hat vieles eigenständig und unabhängig von Reich wieder entdeckt, was
der schon beschrieben hatte. Und darüber hinaus haben wir ihr auch viele völlig
neue Techniken und Begriffe zu verdanken, mit denen sie uns geholfen hat, zu
verstehen, wie man über den Körper die Seele heilen kann. Die Entdeckung eines in
unseren
Eingeweiden
beheimateten,
sanften
körpereigenen
Selbstregulierungsmechanismus, den sie Psychoperistaltik nannte, ist dabei sicher
nur ihr herausragendster Beitrag zur Lehre der Psychosomatik. Ich bin sicher, dass
die damit verbundenen Einsichten und Techniken in einer zukünftigen Heilkunde, die
diesen Namen verdient, einen ihnen gebührenden Platz einnehmen werden.
All das wurde Gerda nicht leicht gemacht. Die Kluft zwischen den Ansprüchen
seitens des Mannes und seiner Familie nach einem repräsentativen und
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angepassten Weibchen und Gerdas Forscherdrang, ihrem unabhängigen Geist und
ihrer Freude an der therapeutischen Arbeit wurde immer größer und war schließlich
nicht mehr zu überbrücken. Es kam zur Scheidung von Carl und 1968/1969 zum
Umzug nach London, wo ihr Raknes die Übernahme seiner Therapiepraxis
angeboten hatte. London sollte für den Rest ihres Lebens ihr erster Wohnsitz und
ihre Wahlheimat bleiben.
An diesem entscheidenden Schritt in Gerdas Leben zeigte sich ihr Wagemut und ihr
Vertrauen am deutlichsten: Mit nur sehr wenig Geld ließ sie sich auf einen völligen
Neuanfang in einem Land ein, dessen Sprache sie kaum beherrschte. Doch sie war
zur rechten Zeit am rechten Ort. Es schien, als habe London nur auf sie gewartet. Als
einzige Reichianische Therapeutin hatte sie schnell überwältigenden Erfolg. Sie hatte
großen
Einfluss
auf
die
neoreichianische
Gründergeneration
eigener
Therapieschulen wie Pierrakos, Boadella, Brown, Stattman, Liss und andere und
erhielt wiederum von ihnen Impulse. Ihre Biodynamische Psychologie entwickelte
sich explosiv. Sie bildete auch ihre Kinder darin aus, die schnell zu KollegInnen und
MitarbeiterInnen wurden und bald begannen, eigene kreative Standpunkte zu
formulieren. Unterstützt von ihren Kindern und in einem schöpferischen Feld
wechselseitiger Inspiration begann Gerda in den frühen siebziger Jahren ihre
eigenen Erfahrungen, Erkenntnisse und Techniken in Ausbildungsgruppen weiter zu
geben. Und schon Anfang der achtziger Jahre betreute der Familienclan der
Boyesens unter Gerdas Leitung wohl 30 eigene Ausbildungsgruppen mit oft mehr als
20 Teilnehmern nicht nur in Europa sondern auf der ganzen Welt.
Wie war das möglich? Was war das Besondere an Gerda Boyesen? Ich meine, dass
sie einzigartig war, weil es ihr gegeben war, die Einheitlichkeit des Lebensprozesses
mit seinen energetischen, körperlichen, emotionalen, geistigen und spirituellen
Aspekten für jede und jeden, der oder die sich in ihre Hände begab, unmittelbar
erfahrbar zu machen. Man konnte fühlen, dass man ganz war und dass Leben
autonom in einem pulsierte, von dem der Verstand nichts ahnte. Unter ihren Händen
oder angeleitet von ihrem freundlichen „Lass es kommen ...“ hörte das Unbewusste
auf, das interessante Phantasma eines lange toten Wieners zu sein: Es wurde
unmittelbar spürbar im eigenen Körper, wurde lebendig und bewegte sich von allein,
ohne dass der bewusste Verstand dies geplant oder willentlich hervorgerufen hatte.
Als ihr Patient wusste man sich gemocht und konnte staunend erleben, wie sich
spontan leibseelische Prozesse entwickelten, in denen man in seinem ganzen
Menschsein gepackt und bewegt wurde. Ihre Präsenz, ihre charismatische
Ausstrahlung, ihre Berührung, ihre sparsam und präzise eingesetzte Stimme taten
wohl. Sie war meisterlich darin, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der
man vorbehaltlos der sein durfte, der man ist. Mutig und unerschrocken erlaubte sie
ihren Patienten die Erfahrung des inneren Chaos und begleitete, frei von urteilender
Bewertung, Menschen in ihren dionysischen, den Wahnsinn streifenden
Körperzuckungen, animalischen Strebungen und seelischen Abgründen. Sie konnte
dies, denke ich, weil ihr Glaube und ihr Wissen stark waren, dass das tiefere Schöne
und Gesunde und Heilbringende in uns Menschen sich durchsetzen und alles zum
Guten wenden würde. Und daher konnte sie Menschen auch in ihren erhabensten
apollinischen Momenten begleiten, sie zu innerer Glückseligkeit und Ekstase führen
und den Augenblick der Erfahrung des Wunderbaren mit ihnen teilen. Nietzsche
hätte Gerda wahrscheinlich sehr gemocht.
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Gerda liebte ihre Arbeit und das spürte man. Sie arbeitete viel und gern, zuweilen 14
Stunden am Tag. Sie verstand es, menschliche Wärme und Herzlichkeit mit
professioneller Abstinenz und Neutralität zu verbinden. Die Grundprinzipien ihrer
Arbeit waren Menschlichkeit, Liebe, Toleranz, kein Urteil, keine Kritik. Gerda
praktizierte diese Haltung lange vor den Forderungen nach einer
„benutzerfreundlichen“ und wertschätzenden Therapiehaltung, wie sie heutzutage in
der psychoanalytischen Selbstpsychologie vertreten wird. Sie tat dies lange vor den
neuropsychotherapeutischen Erkenntnissen Grawes, der Therapeuten zu einer offen
und explizit warmherzigen, freundlichen und optimistischen Haltung ermuntert und
lange vor den immer lauter werdenden Rufen nach einer stärkeren
Ressourcenorientierung in der Therapie. Sie arbeitete auf eine leibseelische Heilung
ihrer Patienten hin, nicht nur auf Symptomlinderung. Verhasst waren ihr
Therapeuten, die den Patienten für Misserfolge oder das Scheitern der Therapie
verantwortlich machen, die sich arrogant über den Patienten stellten oder zu wissen
glaubten, wohin der Patient sich zu bewegen habe. Sie wurde nicht müde, pseudotherapeutisches Pushen und das Ausüben von Druck und Zwang in der Therapie als
schädigende Mittel zur Errichtung eines sekundären Panzers in der
Neurosenformation des Patienten anzugreifen. Sie sah es als ein großes Privileg an,
anderen helfen zu dürfen und mahnte ihre Schüler und Kollegen zu Demut und
Dankbarkeit.
Gerdas Leben war ganz ihrer Biodynamik gewidmet. Sie hat uns gut 25 Aufsätze und
Vorträge und 4 Bücher4 hinterlassen, in denen sie die Entwicklung ihres Denkens in
enger Verbindung mit ihrer Biographie beschrieben hat. Mit Vertretern anderer
Therapierichtungen außerhalb der Körperpsychotherapie suchte sie kaum
Austausch. Gleichwohl sah sie sich in der Tradition von Freud, Jung und Reich. „Wir
stehen auf den Schultern von Riesen“ sagte sie einmal. Zu ihrem großen Vorläufer
Wilhelm Reich bestand unter den dreien sicher die größte Nähe. Wie Reich betonte
sie die überragende Rolle des Körpers für unsere psychischen Einschränkungen und
unsere Gesundung und wies ihm das Primat für unsere Heilung zu: „Wahre
Transformation geht nur über den Körper“ schrieb sie einmal. Wie Reich hatte Gerda
unbedingtes Vertrauen in die heilsame und konstruktive Kraft leibseelischer
Selbstregulation. Wie Reich glaubte sie an das Wirken einer Lebensenergie im
Menschen und widmete ihr Leben dem Studium dieser Energie. Wie Reich glaubte
sie an Freiheit, Heilung und Glück als erreichbare Ziele menschlichen Strebens. Sie
teilte Reichs optimistisches Menschenbild und glaubte an die grundsätzliche
Anständigkeit und das Gutsein im Wesen des Menschen. Wie Reich glaubte sie an
die spirituelle Sinnhaftigkeit organismischer, bioenergetischer Lebensbewegungen.
Und wie Reich forschte sie weit außerhalb der Grenzen des orthodoxen
Wissenschaftsbetriebs nach den Gesetzmäßigkeiten der kosmischen Energie.
Mit Jung verband sie eine tiefe Spiritualität, der Glaube an Synchronizität und die
Bedeutung archetypischer Kräfte im menschlichen Unbewußten. Ein englisches
spiritistisches Medium versicherte ihr sogar, dass Jung ihr „Geistführer“ sei und sie
anleite und inspiriere, was sie zunächst skeptisch aufnahm aber dann doch
bereitwillig glaubte.
Von Freud entlehnte sie dessen Modell psychischer Instanzen und die Idee
psychosexueller Entwicklungsstufen. Auch ihre basale therapeutische Haltung des
bewussten Nichthandelns, des Geschehenlassens, zu der sie auch ihre Patienten
ermunterte, erinnert sehr an Freuds Haltung der gleich- und freischwebenden
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Aufmerksamkeit. Doch ihr therapeutisches Programm war dem Freuds teilweise
diametral entgegengesetzt. Der Forderung Freuds „Wo Es ist, soll Ich werden“, die er
auch deshalb erhob, weil er dem Unbewußten wenig Gutes zutraute, setzte Gerda
ein vertrauensvolles „Wo Ich ist, muss das Es erscheinen“ entgegen. Während der
faustische Freud für das Errichten und Festigen der Ich-Dämme gegen das
zerstörerische Wallen und Toben des Unbewußten plädierte, war Gerda Boyesen
beseelt von der Idee, Erstarrtes und Verhärtetes im Ich wieder in Fluss zu bringen,
damit mit der wieder freier strömenden Lebensbewegung eine bessere,
widerspruchsfreiere Synthese der Persönlichkeitsanteile heranwachsen kann. Wo
Freud auf die heilsame Wirkung des Sprechens in seiner Redekur setzte, warnte
Gerda vor der „Falle der Worte“ und vertraute mehr der Unmittelbarkeit und
Authentizität des Körpers, der nicht lügen kann.
Man könnte sagen, dass sie mit der Psychoanalyse durch eine gewisse Hassliebe
verbunden war. Sie wurde nicht müde, die Kopflastigkeit und Körperferne, die
Deutungsarroganz und vermeintliche Ineffektivität der Freudschen Verfahren (und
auch anderer) zu geißeln. Andrerseits sprach sie durchaus stolz davon, dass ihre
besonderen biodynamischen Arbeitstechniken gleichsam eine „Psychoanalyse des
Körpers“ ermöglichten.
1980 heiratete Gerda erneut, diesmal den amerikanischen Schriftsteller Dan Smith,
der bis zu ihrem Lebensende ihr Ehepartner blieb. Der Abstand zum Rummel um die
große Gerda, den ihr ein Dasein als die einfache Frau Smith zeitweilig ermöglichte,
war manchmal wohl eine willkommene Erholung. Aber der Rückzug in private
Anonymität war ihre Sache nicht. Auch als sie die achtzig Jahre schon weit
überschritten hatte wollte sie arbeiten und suchte den Kontakt mit ihrem Publikum.
Gerda Boyesen hinterlässt uns eine überreiche Fundgrube an originären und
kreativen Ideen. Ihre Schriften gleichen Schatzkammern, in denen viele Perlen
verborgen sind, die noch zu würdigen und deren Wert noch zu entdecken ist. Die
Anerkennung der etablierten Therapiekreise blieb ihr dennoch bislang, wie der
Körperpsychotherapie insgesamt, im Großen und Ganzen versagt, auch wenn Gerda
in einer ihrer letzten Veröffentlichungen die Entdeckung des enterischen, in den
Eingeweiden beheimateten Nervensystems, also des so genannten Bauchhirns, als
späte
wissenschaftliche
Würdigung
und
Validierung
ihres
zentralen
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Psychoperistaltik-Konzepts feierte .
Wie hätte sie diese Anerkennung der etablierten Therapieverbände auch bekommen
können: Sie glaubte an das Primat des Körpers bei der Überwindung psychischer
Probleme
und
vertraute
auf
Körperbehandlungen
als
entscheidende
psychotherapeutische Technik. Gerda glaubte an das Walten einer kosmische
Energie und praktizierte Auraarbeit mit immenser Feinfühligkeit und Intuition und
geleitet von klaren eigenen Theorien. Sie glaubte an Reinkarnation und an die auf
Erleuchtung hinzielende Spiritualität des Körpers. Sie glaubte an Fernheilung und
Radionik, die sie selbst auch praktizierte. Sie glaubte an medial vermittelte
Botschaften und Inspirationen durch Geistwesen.
Gerdas Welt war die Welt der Wunder, der Welt hinter den Spiegeln, in der alles mit
magischer Bedeutung angereichert ist. Liest man ihre Bücher findet man oft
Formulierungen wie „alles klappte wie im Märchen“, mit denen sie staunend und
selbst verwundert von außerordentlichen Ereignissen und unerwarteten
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Hilfestellungen berichtet. Gerda liebte es, Geschichten zu erzählen und sie hatte
tatsächlich viel Erstaunliches zu erzählen. Gerdas Welt war die Welt der
außergewöhnlichen Synchronizitäten, der Beinahe-Katastrophen und der
unverhofften Wendungen, der unerhörten und großartigen Erlebnisse. Einige
Beispiele sollen hier genügen: Kaum angekommen in London, mit 400 englischen
Pfund in der Börse, hatte sie 100 Patienten. Natürlich war es der Bond-Darsteller
Sean Connery, der Gerda von sich aus aufsuchte, um ihr sein Haus in London zum
Verkauf anzubieten. Selbstverständlich war es ein französisches Chateau im
malerischen Burgund, in dem das therapeutische Familienunternehmen Boyesen
seinen zeitweiligen Stammsitz hatte. Ihre Anreise zu den nun legendären jährlichen
Sommerretreats in diesem Schloss erledigte sie einmal im goldenfarbenen Rolls
Royce. Natürlich bekam sie durch glückliche Fügung eine Wohnung in Monaco. Und
ihre zahlreichen kurzen Fallbeschreibungen lesen sich oft wie Wunderheilungen.
Doch sie konnte auch im Kleinen und Unscheinbaren das Wunderbare sehen. Viele
ihrer Geschichten erzählen von scheinbar alltäglichen Begebenheiten, in denen sie
körper- und psychodynamische Zusammenhänge wahrnehmen konnte, die anderen
weniger brillanten Geistern verborgen geblieben wären. Und sie erzählte in einer
einfachen bilderreichen Sprache. Auch in ihren theoretischen Beschreibungen hat
mich ihre Begabung für schöne und sinnliche, körpernahe Begriffsbildungen
fasziniert. Genauso wie ihre körperliche Berührung
voller Bewusstheit,
Wahrhaftigkeit und Präzision war, so war sie auch in ihren theoretischen Begriffen.
Ich verdanke Gerda viel und bin glücklich, sie gekannt zu haben. „Die Zukunft gehört
denen, die an die Schönheit ihrer Träume glauben“ sagte Eleanor Roosevelt einmal.
Die Zukunft, Gerda, gehört Dir.
Ein wichtiges Prinzip Gerdas war, dass jede Therapiestunde mit einem Happy End
aufhören sollte. Obwohl ihre letzten Jahre auch von schwerer Krankheit geprägt
waren, war ihr doch ein krönendes Happy End ihres abenteuerlichen, schöpferischen
und erfüllten Leben vergönnt. Ihre Tochter Ebba, die Gerda in den Jahren der
Krankheit liebevoll pflegte und begleitete, berichtet uns, dass Gerda Boyesen den
Übergang in eine andere Dimension still und in einem vollkommen glückseligen
Moment des Loslassens vollzogen hat. In Anwesenheit ihrer Enkelin Vivia und in den
behütenden Armen ihrer Tochter Ebba, die für sie ein tibetisches Mantra sang,
vollendete Gerda Boyesen ihre Lebensreise am späten Abend des 29.12.2005.
1
Das ist der Titel ihres dritten, 1995 erschienenen Buchs.
Zundel, Rolf (1986): Lernen vom Leib. Gerda Boyesen - Mutter der Biodynamik, in: DIE ZEIT, Nr. 47
vom 14.11.1986
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Den in Norwegen für Frauen gebräuchlichen Vornamen ‚Gerd’ änderte sie später in Gerda.
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Boyesen, Gerda (1987): Über den Körper die Seele heilen: Biodynamische Psychologie und
Psychotherapie, München: Kösel
Boyesen, Gerda & Mona Lisa (1987): Biodynamik des Lebens: Die Gerda-Boyesen-Methode Grundlage der biodynamischen Psychologie, Essen: Synthesis
Boyesen, Gerda, Leudesdorff, Claudia, Santner, Christoph (1995): Von der Lust am Heilen, München:
Kösel
Boyesen, Gerda, Bergholz, Peter (2003): Dein Bauch ist klüger als Du, Hamburg: Miko-Edition
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Boyesen, Gerda (2000): Biodynamic psychotherapy and the intestinal brain, in: Energy and
Character, 30, 2, 22-28
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