„Alles klappte wie im Märchen“
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„Alles klappte wie im Märchen“
„Von der Lust am Heilen“1 Ein Nachruf zum Tod von Gerda Boyesen. Dipl. Psych. Peter Freudl Im Dezember 2005 ist in ihrer Wahlheimat London in hohem Alter die norwegische Klinische Psychologin und Körperpsychotherapeutin Gerda Boyesen gestorben. Gerda Boyesen war die wohl berühmteste Reichianische Körperpsychotherapeutin. Sie begründete in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts eine eigene körperpsychotherapeutische Schule, die unter dem Namen Biodynamische Psychologie bekannt wurde. Gerda Boyesen war ein großer Star in der Therapieszene jenseits der etablierten Therapieverbände. In der Blütezeit ihrer beruflichen Laufbahn in den siebziger und achtziger Jahren besaß sie unbedingten Kultstatus. In einem groß aufgemachten Artikel in der Wochenzeitschrift „DIE ZEIT“ wurde sie 1986 als eine Leitfigur der zeitgenössischen Psychotherapie gerühmt.2 Wie begründet sich ihr Ruhm? Gerda Boyesen war nicht nur eine Meisterin ihres therapeutischen Fachs, sie war schon zu Lebzeiten eine Symbolfigur: Sie stand für das Urweibliche. Sie repräsentierte eine nicht-feministische und doch selbstbewusste Weiblichkeit und Mütterlichkeit und übte darin eine große Anziehungskraft auf Frauen und Männer aus. Sie stand für das Inbild der Großen Mutter, die dem wagemutigen und lautstarken Aufbegehren aus allzu eng geratenen Körpergrenzen und gesellschaftlichen Konventionen, so typisch für die Therapieexperimente der sechziger und siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts, ihren liebevollen Segen gab. Gerda Boyesen war keine unberührbare Göttin. Sie war nah, körpernah, gesegnet mit einer warmen und herzlichen Ausstrahlung. Sie ließ sich anfassen und berührte selbst. Jeder nannte sie nur bei ihrem Vornamen. In ihrem Therapieraum herrschte eine bis dahin unbekannte sanftmütige Anarchie jenseits ängstlicher oder moralischer Bedenken oder gesellschaftlicher Verhaltenskodizes. Alles war möglich, alles erlaubt und darüber schwebte schützend Gerdas tief verkörpertes Vertrauen, dass es gut ist, die freien und autonomen, organisch verankerten Lebensprozesse einfach geschehen zu lassen, weil die, fast von allein, ihren guten und heilsamen Weg finden, sofern ihnen nur Raum gegeben wird. Sie stand für das große Ja zur animalischen Wildheit und Kraft der sich von aller Unterdrückung und Zwangsherrschaft befreienden Kreatur im Menschen. Sie stand für das Streben nach Lebensfreude und -glück und widersprach nicht, als eine Patientin ihr versicherte, dass sie mit ihren Arbeitstechniken einen „Schlüssel zum Glück“ gefunden habe. Sie stand für die Schönheit und die Heilkraft der freien und authentischen Lebensbewegung. Sie stand für bedingungslose Liebe zum Patienten, für Sanftmut und Toleranz, für Akzeptanz und Achtung vor der Einzigartigkeit des einzelnen seelischen Schicksals. Sie war die furchtlose Pionierin einer ganzheitlichen leibseelischen Heilkunst, die sich gegen viele Widerstände zu behaupten wusste. Das ist ein erstaunliches Fazit für eine Frau, für die ein Leben wie das der Nora in Ibsens Puppenhaus als brave und sittsame Dame in den feinen Kreisen der Osloer Gesellschaft vorgesehen war. 2 Gerda Boyesen wurde als Gerd3 Monsen am 18.Mai 1922 in der norwegischen Hafenstadt Bergen geboren. Mütterlicherseits entstammte die Familie einem alten Wikingergeschlecht, was die Mutter durchaus mit Stolz erfüllte. Der Vater war Spross eines vermögenden Kaufmanns aus der norwegischen Oberschicht, der es mit dem Vertrieb von Schulartikeln zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hatte, so dass Gerda eine in materieller Hinsicht sorglose Kindheit erleben durfte. Die Hausarbeit wurde von Personal erledigt; für die Kinder sorgten Kindermädchen. In der väterlichen Ahnenreihe findet sich auch ein holländischer Kapitän, der unter anderem Polynesien bereiste und dort einen Sohn zeugte, den er nach Europa brachte, so dass auch polynesisches Blut in Gerdas Adern floss. Es mag sein, dass die erdnahe Naturverbundenheit, die herzliche und unschuldige Fröhlichkeit und Unbeschwertheit der polynesischen Völker in Gerdas Wesen Spuren hinterlassen haben. Viele, die sie kannten, werden das gern bezeugen. Gerda Boyesens Erinnerungen an ihre eigene Kindheit wirken jedoch wenig heiter. Aus ihren autobiographischen Schilderungen wissen wir zwar, dass sie ihrer offenen, natürlichen und warmherzigen Mutter herzlich zugetan war und sich ihr nahe gefühlt hat. Eine „instinktive Pädagogin“ nannte Gerda einmal ihre Mutter. Aber wie viele andere herausragende Repräsentanten der Therapeutenzunft hat sie auch schon früh die Schattenseiten des Lebens kennen gelernt. Vor allem hat sie sehr unter der strengen Erziehung des nie mit ihr zufriedenen Vaters gelitten, der an die düsteren pädagogischen Grundsätze des damals einflussreichen deutschen Arztes D. Schreber glaubte. Die Standesdünkel und die hohen Ansprüche des von ihr selbst als „eitel“ bezeichneten Vaters gehörten ebenso zu Gerdas kindlichem Erziehungsalltag wie die in Anlehnung an Schreber verordneten Zwangsmaßnahmen, zu denen unter anderem rigide Essensrituale und Schläge zählten. Gerda Boyesen war die älteste von vier Geschwistern. Nach ihr wurden noch zwei Brüder und eine Schwester geboren. Die Rolle der Ältesten in der Geschwisterreihe hat sie geprägt: Fürsorge für andere und ein hohes Verantwortungsgefühl für die ihr Nahestehenden zählten zu ihren herausragendsten Eigenschaften. In ihrem Erwachsenenleben sollte es Zeiten geben, in denen sie ganz allein für ihre Kinder sorgte. In ihrer Herkunftsfamilie war den Mädchen die Erziehung hin zu einer traditionellen Frauenrolle zugedacht, die auf geistige Entwicklung wenig Wert legte. Gerdas intellektuelle Hochbegabung wurde dennoch früh erkannt. Sie war eine außergewöhnlich gute Schülerin und las gerne und viel. Ein wohlmeinender Arzt, der das Kind untersuchte, riet vorsorglich zu Sport und viel Bewegung außerhalb des Hauses als Strategie gegen den Lerneifer des jungen Mädchens. Gerda löste das Dilemma, im Hause nicht mehr lesen zu dürfen, dadurch, dass sie auf einen Baum im häuslichen Garten kletterte und dort heimlich weiter las. Insgesamt scheint den Söhnen und Stammhaltern wesentlich mehr Beachtung, Förderung und Anerkennung zuteil geworden zu sein. Mit sieben Jahren entwickelte Gerda eine entzündliche Darmerkrankung, eine Colitis. Im gleichen Jahr wurde die jüngere Schwester geboren, zu der der Vater eine besondere Zuneigung gehabt habe. Er habe sie als die „Schöne“, als die „Attraktive“ angesehen, während die junge Gerda die Rolle der „Intellektuellen“ innegehabt haben. Die väterliche Strenge und die narzisstischen Kränkungen durch die Bevorzugung der Söhne und der Schwester haben Gerda nach eigenem Bekunden 3 viele Jahre zu schaffen gemacht. Schüchtern, brav und unsicher sei sie als Jugendliche und junge Frau gewesen. Mit neun Jahren erfolgte der Umzug nach Oslo. Finanziell wurde es enger, weil der Vater sich als wenig geschäftstüchtig erwies. Mit 19 heiratete Gerda den fünf Jahre älteren Carl Boyesen, den Sohn eines der reichsten Männer Oslos. Carl Boyesen verdiente sich ein Zubrot als recht erfolgreicher Komponist norwegischer Schlager. Drei Jahre später, 1944, wurde Gerdas erste Tochter Ebba geboren, kurz darauf, 1945, die zweite Tochter Mona Lisa. 1948 kam ihr Sohn Paul zur Welt. Zur Hausfrau war sie nicht geschaffen. Mit 25 Jahren diagnostizierte Gerda bei sich eine (zwangs-)neurotische Störung und begann kurz entschlossen ein Psychologiestudium. Sie begab sich in Therapie zu Ola Raknes, einem Theologen und ausgebildeten Psychoanalytiker, der sich bei Wilhelm Reich in dessen Osloer Zeit (1934-1939) zum Vegetotherapeuten weiter gebildet hatte. Andere Therapien folgten. Doch die Begegnung mit Raknes und dessen analytisch geprägtem und körperorientiertem Therapiestil sollte Gerdas Leben entscheidend beeinflussen. Sie machte ihr Diplom als Klinische Psychologin und schloss eine Ausbildung zur Physiotherapeutin ab. Zusätzlich bildete sie sich bei Aadel Bülow-Hansen, die eng mit dem renommierten Psychoanalytiker T. Braatoy kooperierte, in deren Massagetechniken fort. Bei Bülow-Hansen lernte sie, dass es auf dem Weg der direkten Körperbehandlung, der Massage, möglich war, die vegetative Basis der Neurosen aufzulösen. Nach ersten Erfahrungen in diversen Kliniken eröffnete sie in Oslo eine eigene Therapiepraxis, die sehr gut lief. Ihre außergewöhnliche berufliche Kompetenz zeigte sich auch darin, dass sie eine Zeit lang die Position der Leitenden Psychologin an Oslos Universitätsklinik inne hatte. Gerda Boyesen sah sich selbst als Naturwissenschaftlerin und in der Tat war ihre gesamte berufliche und therapeutische Entwicklung begleitet von großem wissenschaftlichem Erkenntnisinteresse. Gegen starke Widerstände der eigenen Familie und der etablierten professionellen Psychologen und Mediziner engagierte sie sich in ihrem Fach, stellte Fragen und wollte den Dingen auf den Grund gehen. Sie war besonders fasziniert von den Verbindungen zwischen Körper und Seele, die ihr in ihrer eigenen Arbeit und in ihrer therapeutischen Selbsterfahrung offensichtlich schienen. Das bis dahin wenig erforschte Feld der gesetzmäßigen Zusammenhänge zwischen Körperphysiologien und Seelenzuständen wurde ihr zentrales Forschungsthema. Und obwohl sie mit ihren Einsichten oft auf taube Ohren stieß und mitleidig oder spöttisch belächelt wurde, war sie sehr kreativ, originell und fruchtbar darin. Sie hat vieles eigenständig und unabhängig von Reich wieder entdeckt, was der schon beschrieben hatte. Und darüber hinaus haben wir ihr auch viele völlig neue Techniken und Begriffe zu verdanken, mit denen sie uns geholfen hat, zu verstehen, wie man über den Körper die Seele heilen kann. Die Entdeckung eines in unseren Eingeweiden beheimateten, sanften körpereigenen Selbstregulierungsmechanismus, den sie Psychoperistaltik nannte, ist dabei sicher nur ihr herausragendster Beitrag zur Lehre der Psychosomatik. Ich bin sicher, dass die damit verbundenen Einsichten und Techniken in einer zukünftigen Heilkunde, die diesen Namen verdient, einen ihnen gebührenden Platz einnehmen werden. All das wurde Gerda nicht leicht gemacht. Die Kluft zwischen den Ansprüchen seitens des Mannes und seiner Familie nach einem repräsentativen und 4 angepassten Weibchen und Gerdas Forscherdrang, ihrem unabhängigen Geist und ihrer Freude an der therapeutischen Arbeit wurde immer größer und war schließlich nicht mehr zu überbrücken. Es kam zur Scheidung von Carl und 1968/1969 zum Umzug nach London, wo ihr Raknes die Übernahme seiner Therapiepraxis angeboten hatte. London sollte für den Rest ihres Lebens ihr erster Wohnsitz und ihre Wahlheimat bleiben. An diesem entscheidenden Schritt in Gerdas Leben zeigte sich ihr Wagemut und ihr Vertrauen am deutlichsten: Mit nur sehr wenig Geld ließ sie sich auf einen völligen Neuanfang in einem Land ein, dessen Sprache sie kaum beherrschte. Doch sie war zur rechten Zeit am rechten Ort. Es schien, als habe London nur auf sie gewartet. Als einzige Reichianische Therapeutin hatte sie schnell überwältigenden Erfolg. Sie hatte großen Einfluss auf die neoreichianische Gründergeneration eigener Therapieschulen wie Pierrakos, Boadella, Brown, Stattman, Liss und andere und erhielt wiederum von ihnen Impulse. Ihre Biodynamische Psychologie entwickelte sich explosiv. Sie bildete auch ihre Kinder darin aus, die schnell zu KollegInnen und MitarbeiterInnen wurden und bald begannen, eigene kreative Standpunkte zu formulieren. Unterstützt von ihren Kindern und in einem schöpferischen Feld wechselseitiger Inspiration begann Gerda in den frühen siebziger Jahren ihre eigenen Erfahrungen, Erkenntnisse und Techniken in Ausbildungsgruppen weiter zu geben. Und schon Anfang der achtziger Jahre betreute der Familienclan der Boyesens unter Gerdas Leitung wohl 30 eigene Ausbildungsgruppen mit oft mehr als 20 Teilnehmern nicht nur in Europa sondern auf der ganzen Welt. Wie war das möglich? Was war das Besondere an Gerda Boyesen? Ich meine, dass sie einzigartig war, weil es ihr gegeben war, die Einheitlichkeit des Lebensprozesses mit seinen energetischen, körperlichen, emotionalen, geistigen und spirituellen Aspekten für jede und jeden, der oder die sich in ihre Hände begab, unmittelbar erfahrbar zu machen. Man konnte fühlen, dass man ganz war und dass Leben autonom in einem pulsierte, von dem der Verstand nichts ahnte. Unter ihren Händen oder angeleitet von ihrem freundlichen „Lass es kommen ...“ hörte das Unbewusste auf, das interessante Phantasma eines lange toten Wieners zu sein: Es wurde unmittelbar spürbar im eigenen Körper, wurde lebendig und bewegte sich von allein, ohne dass der bewusste Verstand dies geplant oder willentlich hervorgerufen hatte. Als ihr Patient wusste man sich gemocht und konnte staunend erleben, wie sich spontan leibseelische Prozesse entwickelten, in denen man in seinem ganzen Menschsein gepackt und bewegt wurde. Ihre Präsenz, ihre charismatische Ausstrahlung, ihre Berührung, ihre sparsam und präzise eingesetzte Stimme taten wohl. Sie war meisterlich darin, eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, in der man vorbehaltlos der sein durfte, der man ist. Mutig und unerschrocken erlaubte sie ihren Patienten die Erfahrung des inneren Chaos und begleitete, frei von urteilender Bewertung, Menschen in ihren dionysischen, den Wahnsinn streifenden Körperzuckungen, animalischen Strebungen und seelischen Abgründen. Sie konnte dies, denke ich, weil ihr Glaube und ihr Wissen stark waren, dass das tiefere Schöne und Gesunde und Heilbringende in uns Menschen sich durchsetzen und alles zum Guten wenden würde. Und daher konnte sie Menschen auch in ihren erhabensten apollinischen Momenten begleiten, sie zu innerer Glückseligkeit und Ekstase führen und den Augenblick der Erfahrung des Wunderbaren mit ihnen teilen. Nietzsche hätte Gerda wahrscheinlich sehr gemocht. 5 Gerda liebte ihre Arbeit und das spürte man. Sie arbeitete viel und gern, zuweilen 14 Stunden am Tag. Sie verstand es, menschliche Wärme und Herzlichkeit mit professioneller Abstinenz und Neutralität zu verbinden. Die Grundprinzipien ihrer Arbeit waren Menschlichkeit, Liebe, Toleranz, kein Urteil, keine Kritik. Gerda praktizierte diese Haltung lange vor den Forderungen nach einer „benutzerfreundlichen“ und wertschätzenden Therapiehaltung, wie sie heutzutage in der psychoanalytischen Selbstpsychologie vertreten wird. Sie tat dies lange vor den neuropsychotherapeutischen Erkenntnissen Grawes, der Therapeuten zu einer offen und explizit warmherzigen, freundlichen und optimistischen Haltung ermuntert und lange vor den immer lauter werdenden Rufen nach einer stärkeren Ressourcenorientierung in der Therapie. Sie arbeitete auf eine leibseelische Heilung ihrer Patienten hin, nicht nur auf Symptomlinderung. Verhasst waren ihr Therapeuten, die den Patienten für Misserfolge oder das Scheitern der Therapie verantwortlich machen, die sich arrogant über den Patienten stellten oder zu wissen glaubten, wohin der Patient sich zu bewegen habe. Sie wurde nicht müde, pseudotherapeutisches Pushen und das Ausüben von Druck und Zwang in der Therapie als schädigende Mittel zur Errichtung eines sekundären Panzers in der Neurosenformation des Patienten anzugreifen. Sie sah es als ein großes Privileg an, anderen helfen zu dürfen und mahnte ihre Schüler und Kollegen zu Demut und Dankbarkeit. Gerdas Leben war ganz ihrer Biodynamik gewidmet. Sie hat uns gut 25 Aufsätze und Vorträge und 4 Bücher4 hinterlassen, in denen sie die Entwicklung ihres Denkens in enger Verbindung mit ihrer Biographie beschrieben hat. Mit Vertretern anderer Therapierichtungen außerhalb der Körperpsychotherapie suchte sie kaum Austausch. Gleichwohl sah sie sich in der Tradition von Freud, Jung und Reich. „Wir stehen auf den Schultern von Riesen“ sagte sie einmal. Zu ihrem großen Vorläufer Wilhelm Reich bestand unter den dreien sicher die größte Nähe. Wie Reich betonte sie die überragende Rolle des Körpers für unsere psychischen Einschränkungen und unsere Gesundung und wies ihm das Primat für unsere Heilung zu: „Wahre Transformation geht nur über den Körper“ schrieb sie einmal. Wie Reich hatte Gerda unbedingtes Vertrauen in die heilsame und konstruktive Kraft leibseelischer Selbstregulation. Wie Reich glaubte sie an das Wirken einer Lebensenergie im Menschen und widmete ihr Leben dem Studium dieser Energie. Wie Reich glaubte sie an Freiheit, Heilung und Glück als erreichbare Ziele menschlichen Strebens. Sie teilte Reichs optimistisches Menschenbild und glaubte an die grundsätzliche Anständigkeit und das Gutsein im Wesen des Menschen. Wie Reich glaubte sie an die spirituelle Sinnhaftigkeit organismischer, bioenergetischer Lebensbewegungen. Und wie Reich forschte sie weit außerhalb der Grenzen des orthodoxen Wissenschaftsbetriebs nach den Gesetzmäßigkeiten der kosmischen Energie. Mit Jung verband sie eine tiefe Spiritualität, der Glaube an Synchronizität und die Bedeutung archetypischer Kräfte im menschlichen Unbewußten. Ein englisches spiritistisches Medium versicherte ihr sogar, dass Jung ihr „Geistführer“ sei und sie anleite und inspiriere, was sie zunächst skeptisch aufnahm aber dann doch bereitwillig glaubte. Von Freud entlehnte sie dessen Modell psychischer Instanzen und die Idee psychosexueller Entwicklungsstufen. Auch ihre basale therapeutische Haltung des bewussten Nichthandelns, des Geschehenlassens, zu der sie auch ihre Patienten ermunterte, erinnert sehr an Freuds Haltung der gleich- und freischwebenden 6 Aufmerksamkeit. Doch ihr therapeutisches Programm war dem Freuds teilweise diametral entgegengesetzt. Der Forderung Freuds „Wo Es ist, soll Ich werden“, die er auch deshalb erhob, weil er dem Unbewußten wenig Gutes zutraute, setzte Gerda ein vertrauensvolles „Wo Ich ist, muss das Es erscheinen“ entgegen. Während der faustische Freud für das Errichten und Festigen der Ich-Dämme gegen das zerstörerische Wallen und Toben des Unbewußten plädierte, war Gerda Boyesen beseelt von der Idee, Erstarrtes und Verhärtetes im Ich wieder in Fluss zu bringen, damit mit der wieder freier strömenden Lebensbewegung eine bessere, widerspruchsfreiere Synthese der Persönlichkeitsanteile heranwachsen kann. Wo Freud auf die heilsame Wirkung des Sprechens in seiner Redekur setzte, warnte Gerda vor der „Falle der Worte“ und vertraute mehr der Unmittelbarkeit und Authentizität des Körpers, der nicht lügen kann. Man könnte sagen, dass sie mit der Psychoanalyse durch eine gewisse Hassliebe verbunden war. Sie wurde nicht müde, die Kopflastigkeit und Körperferne, die Deutungsarroganz und vermeintliche Ineffektivität der Freudschen Verfahren (und auch anderer) zu geißeln. Andrerseits sprach sie durchaus stolz davon, dass ihre besonderen biodynamischen Arbeitstechniken gleichsam eine „Psychoanalyse des Körpers“ ermöglichten. 1980 heiratete Gerda erneut, diesmal den amerikanischen Schriftsteller Dan Smith, der bis zu ihrem Lebensende ihr Ehepartner blieb. Der Abstand zum Rummel um die große Gerda, den ihr ein Dasein als die einfache Frau Smith zeitweilig ermöglichte, war manchmal wohl eine willkommene Erholung. Aber der Rückzug in private Anonymität war ihre Sache nicht. Auch als sie die achtzig Jahre schon weit überschritten hatte wollte sie arbeiten und suchte den Kontakt mit ihrem Publikum. Gerda Boyesen hinterlässt uns eine überreiche Fundgrube an originären und kreativen Ideen. Ihre Schriften gleichen Schatzkammern, in denen viele Perlen verborgen sind, die noch zu würdigen und deren Wert noch zu entdecken ist. Die Anerkennung der etablierten Therapiekreise blieb ihr dennoch bislang, wie der Körperpsychotherapie insgesamt, im Großen und Ganzen versagt, auch wenn Gerda in einer ihrer letzten Veröffentlichungen die Entdeckung des enterischen, in den Eingeweiden beheimateten Nervensystems, also des so genannten Bauchhirns, als späte wissenschaftliche Würdigung und Validierung ihres zentralen 5 Psychoperistaltik-Konzepts feierte . Wie hätte sie diese Anerkennung der etablierten Therapieverbände auch bekommen können: Sie glaubte an das Primat des Körpers bei der Überwindung psychischer Probleme und vertraute auf Körperbehandlungen als entscheidende psychotherapeutische Technik. Gerda glaubte an das Walten einer kosmische Energie und praktizierte Auraarbeit mit immenser Feinfühligkeit und Intuition und geleitet von klaren eigenen Theorien. Sie glaubte an Reinkarnation und an die auf Erleuchtung hinzielende Spiritualität des Körpers. Sie glaubte an Fernheilung und Radionik, die sie selbst auch praktizierte. Sie glaubte an medial vermittelte Botschaften und Inspirationen durch Geistwesen. Gerdas Welt war die Welt der Wunder, der Welt hinter den Spiegeln, in der alles mit magischer Bedeutung angereichert ist. Liest man ihre Bücher findet man oft Formulierungen wie „alles klappte wie im Märchen“, mit denen sie staunend und selbst verwundert von außerordentlichen Ereignissen und unerwarteten 7 Hilfestellungen berichtet. Gerda liebte es, Geschichten zu erzählen und sie hatte tatsächlich viel Erstaunliches zu erzählen. Gerdas Welt war die Welt der außergewöhnlichen Synchronizitäten, der Beinahe-Katastrophen und der unverhofften Wendungen, der unerhörten und großartigen Erlebnisse. Einige Beispiele sollen hier genügen: Kaum angekommen in London, mit 400 englischen Pfund in der Börse, hatte sie 100 Patienten. Natürlich war es der Bond-Darsteller Sean Connery, der Gerda von sich aus aufsuchte, um ihr sein Haus in London zum Verkauf anzubieten. Selbstverständlich war es ein französisches Chateau im malerischen Burgund, in dem das therapeutische Familienunternehmen Boyesen seinen zeitweiligen Stammsitz hatte. Ihre Anreise zu den nun legendären jährlichen Sommerretreats in diesem Schloss erledigte sie einmal im goldenfarbenen Rolls Royce. Natürlich bekam sie durch glückliche Fügung eine Wohnung in Monaco. Und ihre zahlreichen kurzen Fallbeschreibungen lesen sich oft wie Wunderheilungen. Doch sie konnte auch im Kleinen und Unscheinbaren das Wunderbare sehen. Viele ihrer Geschichten erzählen von scheinbar alltäglichen Begebenheiten, in denen sie körper- und psychodynamische Zusammenhänge wahrnehmen konnte, die anderen weniger brillanten Geistern verborgen geblieben wären. Und sie erzählte in einer einfachen bilderreichen Sprache. Auch in ihren theoretischen Beschreibungen hat mich ihre Begabung für schöne und sinnliche, körpernahe Begriffsbildungen fasziniert. Genauso wie ihre körperliche Berührung voller Bewusstheit, Wahrhaftigkeit und Präzision war, so war sie auch in ihren theoretischen Begriffen. Ich verdanke Gerda viel und bin glücklich, sie gekannt zu haben. „Die Zukunft gehört denen, die an die Schönheit ihrer Träume glauben“ sagte Eleanor Roosevelt einmal. Die Zukunft, Gerda, gehört Dir. Ein wichtiges Prinzip Gerdas war, dass jede Therapiestunde mit einem Happy End aufhören sollte. Obwohl ihre letzten Jahre auch von schwerer Krankheit geprägt waren, war ihr doch ein krönendes Happy End ihres abenteuerlichen, schöpferischen und erfüllten Leben vergönnt. Ihre Tochter Ebba, die Gerda in den Jahren der Krankheit liebevoll pflegte und begleitete, berichtet uns, dass Gerda Boyesen den Übergang in eine andere Dimension still und in einem vollkommen glückseligen Moment des Loslassens vollzogen hat. In Anwesenheit ihrer Enkelin Vivia und in den behütenden Armen ihrer Tochter Ebba, die für sie ein tibetisches Mantra sang, vollendete Gerda Boyesen ihre Lebensreise am späten Abend des 29.12.2005. 1 Das ist der Titel ihres dritten, 1995 erschienenen Buchs. Zundel, Rolf (1986): Lernen vom Leib. Gerda Boyesen - Mutter der Biodynamik, in: DIE ZEIT, Nr. 47 vom 14.11.1986 3 Den in Norwegen für Frauen gebräuchlichen Vornamen ‚Gerd’ änderte sie später in Gerda. 4 Boyesen, Gerda (1987): Über den Körper die Seele heilen: Biodynamische Psychologie und Psychotherapie, München: Kösel Boyesen, Gerda & Mona Lisa (1987): Biodynamik des Lebens: Die Gerda-Boyesen-Methode Grundlage der biodynamischen Psychologie, Essen: Synthesis Boyesen, Gerda, Leudesdorff, Claudia, Santner, Christoph (1995): Von der Lust am Heilen, München: Kösel Boyesen, Gerda, Bergholz, Peter (2003): Dein Bauch ist klüger als Du, Hamburg: Miko-Edition 5 Boyesen, Gerda (2000): Biodynamic psychotherapy and the intestinal brain, in: Energy and Character, 30, 2, 22-28 2 8