Wahrer Reichtum
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Wahrer Reichtum
magazine EDITORIAL Joseph S. Blatter FIFA-Präsident W ährend Jahren war die FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2006™ Mittelpunkt zahlreicher Betrachtungen, Erhebungen und Vorschauen. Im Rahmen einer grossen Konferenz vom 11. bis 13. September in Berlin standen die Analysen an, und am Ende des Jahres, anlässlich der FIFA World Player Gala in Zürich, werden die besten Akteure ausgezeichnet. Die Bedeutung der WM für die FIFA und für den Fussball als Ganzes ist immens, in sportlicher wie auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Dank der WM befindet sich die FIFA heute in der komfortablen Lage, den sportlichen Reichtum des Fussballs mehren zu können. Denn der wahre Reichtum des Fussballs und die Grundlage für seine weiterhin prosperierende Zukunft liegt in seiner Vielfalt. Etwas mehr als einen Monat nach dem Schlusspfiff in Berlin haben die besten Nachwuchsspielerinnen der Welt in Russland die dritte U-20-Weltmeisterschaft begonnen, im November wird Rio de Janeiro Austragungsort der zweiten Beach-Soccer-WM sein, und im Dezember steht die nächste Austragung der Klub-Weltmeisterschaft an. Frauenfussball, Fussball am Strand, Duelle der besten Vereinsmannschaften der Welt oder Futsal: Diese Vielfalt setzt sich innerhalb der Landesverbände fort. Nicht nur organisatorisch, weil sie dank der Unterstützung der FIFA Wettbewerbe organisieren können. Vielmehr werden so auch die sozi- alen und erzieherischen Werte des Fussballs in der Gesellschaft breit abgestützt. Fairplay und Frieden, wie dies die FIFA mit ihrem jährlichen FIFA-Fairplay-Tag zum Ausdruck bringt, den sie gemeinsam mit dem Friedenstag der Vereinten Nationen begeht, sind damit auf das Engste verbunden. Ebenso legt die FIFA Wert darauf, dass die Fussballerinnen und Fussballer sämtlicher Kategorien ohne Zuhilfenahme unerlaubter Substanzen Spitzenleistungen erbringen. Im Kampf gegen Doping erachten wir die Aufklärung und Prävention als ebenso wichtig wie Sanktionen. Wer leistungsfähig bleiben, Verletzungen vermeiden und seine körperlichen und taktischen Fähigkeiten voll zur Geltung bringen möchte, hat eine wirksamere Alternative als Doping: eine gesunde Lebensweise, zusammen mit einer ausgewogenen Ernährung im Sinne von „mens sana in corpore sano“. Was sich wie eine Binsenweisheit anhört, ist leider keine Selbstverständlichkeit, wie die medizinischen Spezi- Wahrer Reichtum alisten der FIFA beim Gedankenaustausch bei Sitzungen und Kongressen sowie im Rahmen ihrer Langzeitstudien immer wieder feststellen müssen. Die FIFA wird auch in Zukunft ihre finanziellen Mittel zielgerichtet einsetzen und mit ihren Reglementen und Massnahmen dafür sorgen, dass sich der Fussball mit all seinen Spielarten, den unterschiedlichen Anforderungen und Bedürfnissen entsprechend, weiterentwickeln kann. Der wahre Reichtum des Fussballs bleibt erhalten, wenn wir dies im Einklang mit unserer neuen Vision tun: das Spiel fördern, die Welt bewegen und eine bessere Zukunft gestalten. OKTOBER 2006 3 INHALT magazine INHALT AUGENBLICKE.................................................. 7–9 TICKER Die wichtigsten Momente der WM 2006 ......... 19–21 DER COUP JAPAN Trainer Ivica Osim vor einer schwieriger Mission ... 25–27 Italiens Weg zum Titel SHAKA HISLOP Torhüter von Trinidad und Tobago .................... 28–29 FUTSAL Spektakulär und schnell ................................... 34–41 Wie sich die Stimmung in und um die Mannschaft während des Aufenthaltes in Deutschland änderte SPORTMEDIZIN So ernähren sich Fussballer richtig .................... 42–47 10–13 PAKISTAN Der erste internationale Auftritt des Frauenteams .................................................... 48–49 INTERVIEW Deco: „Ich bin stolz und auch enttäuscht“ STEVE McCLAREN 20 FRAGEN, 20 ANTWORTEN Hernán Crespo................................................. 52–53 Englands neuer Trainer DAMALS UND HEUTE Taribo West, nigerianischer Verteidiger ............. 54–57 Wer ist der Nachfolger von Sven-Göran Eriksson? Porträt einer ungewöhnlichen Persönlichkeit FIFA INSIDE .................................................. 63–82 30–33 FIFA magazine Nummer 10, Oktober 2006 BRASILIEN Der Neuanfang So verarbeitet der fünffache Weltmeister das schwache Abschneiden bei der FIFA FussballWeltmeisterschaft Deutschland 2006™ 22–24 OKTOBER 2006 Sind Sie ein Fussballexperte? Seiten 50–51 Monatlich erscheinende offizielle Publikation der Fédération Internationale de Football Association (FIFA). Italien www.figc.it 10–13 FC Barcelona www.fcbarcelona.com 14–17 Carlos Dunga www.jubi-net.com/dunga/eng.htm 22–24 Japan www.jfa.or.jp/ 25–27 Shaka Hislop www.socawarriors.net/shaka_hislop.htm 28–29 England www.thefa.com/ 30–33 Hernán Crespo www.hernancrespo.net/ 52–53 Taribo West www.nigerianplayers.com/player.asp?pid=32 54–57 Herausgeberin: FIFA, FIFA-Str. 20, Postfach, CH-8044 Zürich Telefon: +41-(0)43-222 7777. Telefax: +41-(0)43-222 7878 Internet: www.FIFA.com E-Mail: [email protected] Präsident: Joseph S. Blatter Generalsekretär: Urs Linsi Verantwortlich für den Inhalt Direktor: Markus Siegler Redaktion: Andreas Werz, Georg Heitz Produktion: Hans-Peter Frei (Leitung) Layout: Marco Bernet, Philipp Mahrer Druck: Vogt-Schild Druck AG, Gutenbergstrasse 1, 4552 Derendingen, Schweiz www.FIFA.com WEBSITE 14–17 4 ES WAR EINMAL IM OKTOBER ................. 60–61 Titelbild: Deco. FOTO: FOTO-NET Portugals Stratege über die WM, den FC Barcelona und die UEFA Champions League Quiz MAGAZETTE ................................................. 58–59 Anzeigen, Vertrieb und Abonnement: medienfabrik Gütersloh GmbH, Carl-Bertelsmann-Str. 33, 33311 Gütersloh, Deutschland Anzeigen: +49-(0)5241-23480-251 Abonnement: +49-(0)5241-23480-84 Telefax: +49-(0)5241-23480-565 E-Mail: [email protected] Redaktionsschluss dieser Ausgabe: Donnerstag, 10. August 2006 Die im FIFA magazine ausgedrückten Meinungen geben nicht in jedem Fall jene der FIFA wieder. Der Nachdruck von Fotos und Artikeln – auch auszugsweise – ist nur mit Genehmigung der Redaktion erlaubt und unter Quellenangabe (Copyright: FIFA) zu veröffentlichen. Die Redaktion ist nicht verpflichtet, unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Fotos zu publizieren. Das FIFA-Signet ist ein eingetragenes Warenzeichen. In der Schweiz produziert und gedruckt © FIFA 2006. OKTOBER 2006 5 AUGENBLICKE Heimspiel! www.conti-online.com Verlassen Sie sich auf Reifen von Continental – Offizieller Partner der FIFA WM 2006™. BRASILIEN GEGEN JAPAN Im Juni trafen bei der FIFA Fussball-Weltmeisterschaft 2006™ Brasilien und Japan aufeinander. Die Südamerikaner gewannen 4:1. Etwas weniger intensiv war die Begegnung zuvor in einem Aquarium in Yokohama gewesen, wo sich gelbe und blaue Fische, die WM-Kontrahenten symbolisierend, um einen mit Fischfutter gefüllten Ball stritten. FOTO: KEYSTONE OKTOBER 2006 7 AUGENBLICKE AUGENBLICKE magazine 7,5 KILOGRAMM Bei diesem Unterwasser-Fussballturnier in Deutschland wurde ein 7,5 Kilogramm schwerer Ball verwendet. Die jeweils vier Spieler der Teams trugen 15 Kilogramm schwere Gewichte, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren. GIGANTISCHE WM Parallel zur FIFA Fussball-Weltmeisterschaft™ fand in Thailand eine WM der Giganten statt. Ob der Dickhäuter, der England repräsentierte, den Titel holte, ist nicht überliefert. EINSAME POKALE FOTOS: KEYSTONE Der FC Bayern München ist deutscher Meister und Pokalsieger 2006. Darauf ist der Klub zu Recht stolz – und liess deshalb beim offiziellen Fototermin zur neuen Saison die beiden Trophäen bereitstellen, noch ehe die Spieler eintrafen. 8 OKTOBER 2006 OKTOBER 2006 9 magazine ITALIEN Schöner als in der Fantasie Auf dem Weg zum Weltmeistertitel 2006 musste die italienische Nationalmannschaft so manche Hürde nehmen. Doch Cannavaro und Co. liessen sich nicht einmal durch den Fussballskandal in der Heimat vom grössten Erfolg ihrer Karriere abhalten. VON SERGIO DI CESARE I talien ist Weltmeister 2006. Wahrhaft ein Traum, wie es für Dänemark einer war, als es 1992 Europameister wurde. Die Realität übertrifft die kühnsten Fantasien, das Unvorhersehbare macht eben den Reiz des Fussballs aus. Vor dem Turnier in Deutschland hatte es in den italienischen Zeitungen noch geheissen: „Marcello Lippi, Gianluigi Buffon und Fabio Cannavaro müssen zu Hause bleiben: Sie können unser Land nicht vertreten“, oder gar: „Jetzt gilt es, Mut und moralische Integrität an den zu Tag legen: Verzichten wir auf die Reise nach Deutschland.“ Franz Beckenbauer, Präsident des lokalen Organisationskomitees, fügte hinzu: „Es ist unmöglich, dass die Nationalmannschaft unbeschwert und konzentriert ins Turnier einsteigt, denn die zermürbenden Ereignisse des italienischen Fussballs werden sie auf jeden Fall belasten.“ Der Skandal, der in Italien 10 OKTOBER 2006 unter dem Namen „Calciopoli“ läuft, ist vielleicht der grösste der italienischen Fussballgeschichte. Wie es schien, waren Trainer, Torhüter und Kapitän der Nationalelf darin verwickelt. Die „Squadra azzurra“, sogar von den eigenen Fans abgelehnt, hatte dabei kaum die Möglichkeit, den Imageverlust wieder gutzumachen. Nicht einmal der Vergleich mit 1982 vermochte Hoffnung aufkommen zu lassen. Als die „Azzurri“ in Spanien den dritten WMTitel eroberten, war Italien gerade aus den Abgründen einer ähnlichen Begebenheit aufgetaucht (es ging um einen Wettskandal, die so genannte TotoneroAffäre): „Diesmal sind sie zu weit gegangen“, entrüsteten sich damals namhafte Kommentatoren, „für Italien einzustehen, ist jetzt zutiefst unbehaglich.“ Der Triumph von 2006 jedoch, mit Lippi, Buffon und Cannavaro in den Hauptrollen, erlaubte es dem italie- nischen Fussball, sich wieder voller Stolz aufzurichten und sich von der Last der unsagbaren Ereignisse zu befreien. Die Affäre war zwar nur auf wenige Personen beschränkt, schien jedoch das gesamte Umfeld seiner Glaubwürdigkeit zu berauben. Der Präsident des italienischen Fussballverbandes, Guido Rossi, hatte recht, als er anlässlich der Sternfahrt von Coverciano erklärte: „Das Nationalteam wird das erste Zeichen der Erneuerung und Säuberung unseres Fussballs setzen.“ Die moralischen und menschlichen Qualitäten der Fussballer haben – noch vor Technik und Taktik – der Nationalelf wieder zu internationalem Renommee verholfen. Die Mannschaft als sportliches Sinnbild des Landes hat einem Volk, das sich vom Fussball verraten und enttäuscht fühlte, die Freude an diesem Sport zurückgegeben. Die Spieler, die bei ihrer Abreise unter den Be- schimpfungen zu leiden hatten, wurden bei ihrer Rückkehr nach Italien umarmt; zwei Millionen Menschen empfingen sie zwischen dem Kolosseum und dem „Circus Maximus“ mit den Ehren, die im Rom der Antike nur den Kaisern zuteil wurden. Die italienische Mannschaft, Ausgabe 2006, entsprach so gar nicht dem Bild, das sich die Welt in den letzten Jahren zurechtgelegt hatte. Man sprach von den Ausnahmetalenten (Francesco Totti, Alessandro Del Piero und Alessandro Nesta), aber auch von den kollektiven Unzulänglichkeiten des Teams auf dem Feld und ausserhalb davon. Die „Azzurri“ vertrauten auf die Bescheidenheit, die Solidarität, die Bodenständigkeit und das Temperament weniger beachteter Spieler wie Gianluca Zambrotta, Fabio Grosso, Andrea Pirlo, Gennaro Gattuso, Daniele De Rossi und Luca Toni. Auch Marco Materazzi, Filippo Inzaghi, Vicenzo OKTOBER 2006 11 magazine ITALIEN Del Piero hadert. – Das Teamhotel Italiens in Duisburg. FOTOS: IMAGO (6), FOTO-NET (3) Iaquinta und Alberto Gilardino, die meist auf der Ersatzbank Platz nehmen mussten, schossen bedeutende Tore. „Unsere Mannschaft besteht aus echten Männern“, antwortete Gattuso denjenigen, die ihnen fehlende Ethik vorgeworfen hatten, noch bevor sie es gegen Deutschland und Frankreich beweisen konnten. Um es mit Elio Petris Kultfilm „Die Arbeiterklasse geht ins Paradies“ auszudrücken, galt Italien als das Land, das dem Dolce Vita, dem Individualismus und der Genialität frönt, jedoch in schwierigen Momenten seine ganze Kraft sammelt und dank Aufopferung und harter Arbeit aussergewöhnliche Resultate erzielt. Diese Fähigkeiten kann man mit einem einzigen Wort umschreiben: Professionalität. DER BUNKER IN DUISBURG Nach zwei vom Skandal überschatteten Vorbereitungswochen, in denen Buffon, Cannavaro, Lippi und dessen Sohn Davide (als Miteigentümer der Spielervermittlungsagentur GEA) wiederholt von Polizisten und Richtern befragt wurden, verstärkten die Freundschaftsspiele gegen die Schweiz (1:1) und die Ukraine (0:0) den Eindruck von Mutlosigkeit und Pessimismus. Zambrotta und Gattuso verletzten sich, Del Piero und Totti waren nicht in Form. Das Team wurde in Deutschland von den italienischen Gastarbeitern ausgepfiffen und beschimpft, die nicht verstanden, dass die Spieler kaum bereit waren, einer Öffentlichkeit zuzulächeln, die sie bereits vor dem Turnier verurteilt hatte. Viele der Fans hat- 12 OKTOBER 2006 ten erfolglos hunderte von Kilometern zurückgelegt und stundenlang gewartet, um ein Autogramm zu erhalten, und wurden dann enttäuscht. Einen Monat später jedoch zählten diese Emigranten zu den glücklichsten Menschen der Welt. Am Anfang hatten einige italienische Intellektuelle noch eine Erklärung „Ich bin für Ghana“ unterzeichnet, doch je mehr sich die Medien ereiferten, desto mehr wuchsen Lippi und seine Spieler zu einer Einheit zusammen. Das „Milsner Landhaus“ in Duisburg, wo die Spieler untergebracht waren, wurde zu einem regelrechten Bunker. Hier wurden während des Trainings hinter verschlossenen Türen die Grundlagen für den Triumph gelegt. In der Anlage hatten die Spieler eine einzige Möglichkeit, sich zu entspannen: Sie fischten im hoteleigenen See. Das Hotel, das vor kurzem noch so unzugänglich wie ein Mönchskloster war, ist heute eine Wallfahrtsstätte für italienische Touristen. Gegen Ghana (2:0) präsentierten sich die Italiener aber wieder als Mannschaft, die sich ihrer nationalen Identität nicht mehr länger schämte. Trotz der drückenden Hitze trug Verbandspräsident Rossi als Ausdruck seines Nationalstolzes etwa einen blauen Schal, den er bis zum Endspiel nicht mehr ablegte. Das Klima im Team blieb jedoch angespannt, denn der auf die Ersatzbank verdonnerte Del Piero identifizierte sich mit dem homerischen Helden Achilles und hüllte sich in ablehnendes Schweigen. Er erklärte: „Ich warte auf die entscheidenden Spiele.“ Gegen Deutschland und Frankreich spielte er dann tatsächlich, und wie. Zuvor im Training jedoch hatte er seine Wut mit Tritten an einem jungen gegnerischen Spieler ausgelassen und handelte sich damit eine öffentliche Rüge Lippis ein. Das Spiel gegen die USA (1:1, De Rossi wurde wegen eines Ellbogenstosses gegen McBride des Feldes verwiesen) liess den Missmut wieder aufflackern, und auch Totti landete auf der Ersatzbank. Inzaghi polemisierte, De Rossi (für vier Spiele gesperrt und von Lippi ignoriert) wollte wieder zurück nach Rom, die Stimmung war angespannt. Doch im Endspiel in Berlin war De Rossi wieder mit von der Partie und verwandelte seinen Elfmeter gegen Frankreich. NEUE MARSCHRICHTUNG Cannavaro und Gattuso entschlossen sich mitten im Turnier, gegen die offensiv geprägte Fussballphilosophie Lippis aufzubegehren und erklärten die neue Marschrichtung: „Zurück zum Fussball nach italienischer Art. Wenn unsere Spieler nicht leistungsfähig sind, müssen wir auf unsere defensive Stärke setzen.“ Nun war Schluss mit drei Angreifern, lediglich Toni blieb. Die Partie gegen die Tschechische Republik (2:0) entschieden die zwei Ersatzspieler Materazzi und Inzaghi. Während der ganzen sieben Spiele des Turniers liess die italienische Verteidigung nur zwei Tore zu, ein Eigentor von Cristian Zaccardo und einen Elfmeter von Zinedine Zidane. Lippis Nerven hielten das nicht aus. Die neue Spielausrichtung, die der Mannschaft Auftrieb verlieh, traf ihn in seinem Stolz. Der Trainer ärgerte sich zudem über die Journalisten, die ihn kritisierten, und griff diese seinerseits an: „Schämt euch. Wenn ihr euch wie Idioten aufführt, tue ich das auch. Es dauert sowieso nicht mehr lange …“ Als hätte er seinen Abschied am Ende des Turniers damals schon ankündigen wollen. Die Fussball-Seifenoper in der Heimat enthüllte derweil noch ein früheres Telefongespräch zwischen den ehemaligen Juventus-Chefs Antonio Giraudo und Luciano Moggi: „Lippi? Er hat nicht den Charakter, um die Nationalelf zu führen. In zehn Monaten wird er mindestens zehn wichtige Spieler gegen sich haben.“ Die Mannschaft jedoch stand glücklicherweise und trotz der Abkehr von dessen Taktik geschlossen hinter Lippi. Gegen Australien (1:0) behauptete sie sich lange nur mit zehn Spielern (nachdem Materazzi ausgeschlossen worden war), und fünf Sekunden vor Ende der Nachspielzeit schaffte es Fabio Grosso nach einem beeindruckenden Alleingang, einen Elfmeter herauszuholen. Totti, der erst seit wenigen Minuten spielte, widerstand der Versuchung eines Schusses nach Art des Panenka-Hebers, aber an jenem felsenschweren Ball reagierte er all seine Wut und diejenige seiner Mitspieler ab. „Bin ich nun in einer Viertelstunde vom halben Spieler zum Meister geworden?“, fragte er die Journalisten, die ihn vorher verschmäht hatten und nun in den Himmel hoben. LIPPIS IRONIE Ein dramatisches Ereignis schweisste die Mannschaft noch enger zusammen. Anlässlich einer Pressekonferenz kündigte Cannavaro seinen temporären Weggang aus dem WM-Camp an. Er und seine Juventus-Kollegen verliessen Duisburg und flogen zum Sitz der Juventus nach Turin, wo sich ihr ehemaliger Mitspieler Gianluca Pessotto vom Dach gestürzt hatte. Von diesem Augenblick an war Pessotto so etwas wie der 24. Spieler des Nationalteams. Italien schlug die Ukraine (3:0) souverän, und die Spieler widmeten den Sieg mit dem Transparent „Pessottino, wir sind alle bei dir“ ihrem mit dem Tod ringenden Kollegen. Nun war das deutsche Team an der Reihe, im Stadion von Dortmund, in dem diese Mannschaft bis dahin noch kein Spiel verloren hatte. Die deutschen Zeitungen schossen im Vorfeld ihre Giftpfeile gegen die Italiener ab und bezeichneten sie als „Parasiten und Muttersöhnchen“ (Der Spiegel) oder riefen zum „Boykott von Pizza und Spaghetti“ auf (Bild). Auf diese „Komplimente“ reagierten die „Azzurri“ auf dem Spielfeld: Durch die von Grosso und Del Piero erzielten magischen Tore (2:0) wurde der WM-Gastgeber bezwungen. Materazzi feierte und umarmte den mexikanischen Schiedsrichter auf Knien, Beckenbauer applaudierte im Stehen, als wolle er sich bei der ganzen Welt für seine Vorhersagen entschuldigen, und der italienische Premierminister Prodi sang neben der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel „O’ sole mio“. Für die Italiener in Deutschland stehen ab sofort vier sonnige Jahre mit Würsteln und Sauerkraut an. Und Lippi richtete sich mit einer ironischen Aussage an die ausgewanderten Italiener: „Esst weder Pizza noch Spaghetti, wenn sie von den Deutschen zubereitet sind …“ Der Triumph gegen Frankreich war nicht nur eine Wiedergutmachung des EM-Finales 2000 (in Rotterdam war das Golden Goal von David Trézéguet entscheidend gewesen, in Berlin verpatzte er den Elfmeter), sondern beendete vor allem eine Pechsträhne, an die sich wenige erinnern. Im „Elfmeterroulette“ hatte Italien schon dreimal höhere WM-Weihen verpasst: 1990 im Halbfinale gegen Argentinien, 1994 im Finale gegen Brasilien und 1998 im Viertelfinale gegen Frankreich! Diesmal hatte Italien das Schicksal ausgetrickst. Es hätte das Turnier des ewiglächelnden Fussballmagiers Ronaldinho werden sollen, doch auf den Titelseiten erschien nun Fabio Grosso, der unbekannte Verteidiger, der den letzten Elfmeter geschossen hatte. Italien hatte die Gegner mit Entschlossenheit, einwandfreier Technik und viel Geistesgegenwart bezwungen. Grossos Frau Jessica, die ihr erstes Kind erwartete, fieberte auf der Tribüne mit, während ihr Mann ausser sich vor Freude die Arme hin und her schwenkte: „Ich glaube es nicht, ich glaube es nicht …“ Es war eben ganz wie in einem Märchen. Donadoni – Lippis Nachfolger Sieg und Abschied von Marcello Lippi: Drei Tage nachdem er mit seiner Mannschaft den WM-Titel erobert hatte, kündigte der Nationaltrainer aus Viareggio eine sechsmonatige Ruhepause an. Er möchte die während zweier Jahre angesammelte Spannung abbauen und in Ruhe entscheiden, wie, wann und wo er wieder ein Team trainiert. Da es unmöglich ist, einen Trainer mit so viel Erfahrung, einem solchen Charisma und vergleichbaren Ergebnissen zu finden, fiel die Entscheidung des italienischen Fusballverbandes (FIGC) auf einen jüngeren, unverbrauchten Fussballlehrer, den ehemaligen Internationalen Roberto Donadoni (43, Foto). Dieser spielte von 1986 bis 1996 bei Berlusconis AC Milan und gewann in diesen zehn Jahren sechsmal die italienische Meisterschaft, dreimal die UEFA Champions League, dreimal den europäischen Superpokal und zwei Interkontinental-Pokale. Für die Nationalmannschaft bestritt Donadoni 63 Spiele (fünf Tore). Er verlor im Elfmeterschiessen sowohl das Halbfinale gegen Argentinien bei der WM 1990 als auch das Finale gegen Brasilien im Turnier von 1994. Donadoni gab sein Debüt als Trainer 2001 in Lecco (Serie C), dann übernahm er die Leitung des FC Genua (Serie B) und schliesslich von Livorno (Serie B und Serie A). Der eher als schweigsam geltende Donadoni hat die Fussballschule von Arrigo Sacchi und Fabio Capello durchlaufen. Er beabsichtigt weder die Mannschaft noch die Spielmodule Lippis zu verändern, er muss jedoch die Auswirkungen von „Calciopoli“ ausbaden, weil einige Nationalspieler ins Ausland gezogen sind oder sogar in der Serie B spielen müssen. Auch in der italienischen U-21-Mannschaft weht ein frischer Wind. Mit fünf europäischen Titeln in den letzten acht Turnieren hat diese Mannschaft die Qualität der italienischen Schule unter Beweis gestellt. Im Hinblick auf die EURO 2008 und vor allem auf die Olympischen Spiele von 2008 wurde Trainer Claudio Gentile durch zwei andere ehemalige Nationalspieler ersetzt: Pierluigi Casiraghi (37) und Gianfranco Zola (40). sce OKTOBER 2006 13