Von „anatomischen Wundern“ und „lebenden Kuriositäten“
Transcrição
Von „anatomischen Wundern“ und „lebenden Kuriositäten“
Von „anatomischen Wundern“ und „lebenden Kuriositäten“. Eine volkskundliche Untersuchung zum Umgang mit körperlicher Normabweichung seit dem 18. Jahrhundert am Beispiel der Abnormitätenschauen Hausarbeit zur Erlangung des Akademischen Grades einer Magistra Artium vorgelegt dem Fachbereich 05 – Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität Mainz von Sabrina Schmidt aus Speyer 2009 Erstgutachter: Zweitgutachterin: Univ.-Prof. Dr. Michael Simon Prof. Dr. Antje Kampf Inhaltsverzeichnis 1. EINLEITUNG 1 1.1 ZIELSETZUNG 3 1.2 QUELLENLAGE UND METHODISCHES VORGEHEN 8 1.3 FORSCHUNGSSITUATION 2. DER „VERSEHRTE“ KÖRPER: ZUR WAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHER FEHLBILDUNG SEIT DER FRÜHEN NEUZEIT 11 16 2.1 MONSTRUM. ABNORMITÄT. FREAK – DIE NOMENKLATUR DER KÖRPERLICHEN ABWEICHUNG 17 2.2 ZUR DEUTUNGSGESCHICHTE DES „MONSTRÖSEN“: VORSTELLUNGEN ÜBER DIE ENTSTEHUNG VON „MISSGEBURTEN“ IN DER FRÜHEN NEUZEIT 20 2.2.1 „Göttliche Zeichen“ und „Wunderwerck“ – Die Monstradeutung im 15. und 16. Jahrhundert 21 2.2.2 Die Tauffrage 25 2.2.3 Der juristische Diskurs 26 2.2.4 „Missgeburten“ als „lusus naturae“ – Zur Ästhetisierung des Monströsen 28 2.2.5 Das Versehen der Frauen 31 2.2.6 Der medizinisch-naturkundliche Diskurs zur Ätiologie der „Monstra“ 34 2.2.7 „Wo die Dinge hingehören“ I: Das Kuriositätenkabinett 37 2.2.8 Zusammenfassung 40 2.3 DIE „NATURALISIERUNG DES MONSTRÖSEN“ – ZUR MEDIZINISCHNATURWISSENSCHAFTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG MIT „MISSGEBURTEN“ SEIT DEM18. JAHRHUNDERT 41 2.3.1 Die Anfänge der Teratologie im 18. Jahrhundert 41 2.3.2 „Wo die Dinge hingehören“ II: Vom Naturalienkabinett zum anatomischen Museum 44 Die Abweichung und die Norm I: Die Physiognomik Johann Caspar Lavaters 46 Die Abweichung und die Norm II: Die kriminalanthropologische Physiognomik Cesare Lombrosos 51 2.3.3 2.3.4 2.4 ZUSAMMENFASSUNG 53 3 DIE ZURSCHAUSTELLUNG VON MENSCHEN MIT KÖRPERLICHER FEHLBILDUNG SEIT DEM 18. JAHRHUNDERT 56 3.1 DIE MESSEN IN FRANKFURT UND MAINZ 58 3.2 DIE ABNORMITÄTENSCHAU – ZUR INSZENIERUNG UND VERMARKTUNG FEHLGEBILDETER MENSCHEN AUF DEM JAHRMARKT 62 3.2.1 „Laenger als der groeßte hiesige Mensch“ – Die Zurschaustellung von „Riesen“ 64 „General Mitge“, „Princeß Kolibri“ und „die lebende Teepuppe“ – Zur Inszenierung kleinwüchsiger Menschen 68 3.2.3 „Positively Fat“: Die Schaustellung von beleibten Menschen 73 3.2.4 Der Hungerkünstler – Nahrungsverweigerung als Jahrmarktsattraktion 80 3.2.5 „Junger Mensch ohne Aerme geboren“ – Von „Rumpfmenschen“ und „Fußkünstlern“ 85 „Kind mit zweyn Köpffen geboren“ – Von Zwillingen und Doppelfehlbildungen 89 Atvismustheorien und Missing Links – Zur Mythologisierung von Mikrozephalie und Hypertrichose im Schaugeschäft des 19. Jahrhundert 93 3.2.2 3.2.6 3.2.7 3.2.7.1 „Die letzten lebenden Menschen vom Stamme der Azteken“ – Zur Inszenierung von Mikrozephalen 95 3.2.7.2 Von „Affenmädchen“ und „Löwenmenschen“ – Zur Inszenierung von Überbehaarung beim Menschen 98 3.2.8 Zwischen den Geschlechtern – „Bartfrauen“ und Hermaphroditen 108 3.2.9 Von „merkwürdigen Lichterscheinungen“ und „Leopardenmädchen“ – Die Zurschaustellung von albinotischen Menschen 112 3.2.10 „Humbug“ und „Hoaxes“ – Das Abnormale als Täuschung 116 3.2.11 Die moderne „Freak Show“: P. T. Barnum und das „American Museum“ 118 3.2.12 „War ein Mensch hier, der sich um Geld sehen ließ“ – Zur Ökonomie des Abnormalen 121 3.2.13 „Von vielen Aerzten gesehen und untersucht“ Die diskursiven Verbindungen von Medizin und Schaugeschäft 124 4 FAZIT 127 5 BIBLIOGRAPHIE 132 6 ABBILDUNGSVERZEICHNIS 147 7 ANHANG 150 1. EINLEITUNG „For the love of beauty is a deep seated urge which dates back to the beginning of civilization. The revulsion with which we view the abnormal, the malformed and the mutilated is the result of long conditioning by our forefathers.” (Freaks, Regie: Tod Browning, MGM 1932) Im Jahr 1810 wurde Sartje Baartman, eine südafrikanische Sklavin vom Stamm der San, nach London gebracht, um dort als „Hottentotten-Venus“ zur Schau gestellt zu werden. Handzettel und Plakate kündigten superlativistisch-profilierend ihre Ankunft als „[t]he most Wonderful Phenomenon of Nature, The Hottentot Venus“1 an. Baartmans Körper zeichnete sich durch eine physiognomische Auffälligkeit aus, die in gleichem Maße das europäische Massenpublikum sowie zeitgenössische Pathologen wie Henri Marie Ducrotay de Blainville und Georges Cuvier faszinierte: die Steatopygie, ein vorstehendes Gesäß.2 Diese als Anomalie begriffene körperliche Besonderheit galt ebenso wie die Hypertrophie ihrer Labia und Nymphae, die bereits im 18. Jahrhundert von Forschungsreisenden als „Hottentottenschürze“ bezeichnet worden war, als physisches Charakteristikum der „Hottentottenfrau“.3 Reduziert auf diese Geschlechtsteile, wurde Baartman dem zahlenden Publikum als wildes Biest präsentiert, das in seinem Käfig hin und her schlich und einem zeitgenössischem Bericht in der Times zufolge dabei eher aussah, „like a bear on a chain than a human being“4. Während ihrer Zurschaustellung trug Baartman ein eng anliegendes, fleischfarbenes Kleid, das „die ganze Form und Gestalt ihres Körpers [zeigte], wie wenn sie nackt wäre.“5 Auf kurze Kommandos musste sie Melodien auf einem traditionellen Saiteninstrument spielen oder in ihrem Käfig auf- und abgehen. Als sie einmal zögerte, so der Bericht weiter, ließ der Impresario den Vorhang herunter, „went behind, and was seen to hold up his hand to her in a menacing posture; she then came forward at his call, and was perfectly obedient.“6 Baartmans ausladendes Hinterteil und ihre „primitiven“ Genitalien7, die nach ihrem frühen Tod im Jahr 1815 von einem voyeuristischen Publikum begutachtet werden konnten, wurden zur Projektionsfläche für die sexuelle Phantasie europäischer Männer, derzufolge 1 C. Crais/ P. Scully: Sara Baartman and the Hottentot Venus. S. 111. S. L. Gilman: Hottentottin und Prostituierte. S. 126. 3 Ebd. S. 125f. 4 The Times vom 26. November 1810, zit. n. Merians, Linda Evi: Envisioning the worst. S. 230. 5 Edwards, Paul/ Walvin, James (Hrsg.): Black personalities in the Era of Slave Trade. S. 171-183. zit. n. Gilman, Sander L.: Hottentottin und Prostituierte. S. 126. 6 The Times vom 26. November 1810, zit. n. Merians, Linda Evi: Envisioning the worst. S. 230. 7 S. L. Gilman: Hottentottin und Prostituierte. S. 125. 2 1 schwarze Frauen, wenn sie auch keinen Geist besitzen, umso mehr naturhaft sexuelle Begierde und Laszivität verheißen. Baartmans Zurschaustellung in einem London, das die Abschaffung der Sklaverei diskutierte, evozierte einen Skandal, da sie „der Öffentlichkeit in einer dem Anstand anstößigen Art und Weise“8 präsentiert wurde und ihre Zurschaustellung Fragen nach ihrem Status als Leibeigene aufwarf. Nachdem Sartje Baartman aus ihrem sozialen und kulturellen Kontext herausgelöst worden war, wurde sie als „Hottentottin“ zum Inbegriff sexueller Freizügigkeit und figurierte damit als fleischgewordenes Gegenbild zur vermeintlich domestizierten Sexualität der europäischen Frau. Knapp zweihundert Jahre später bemühte die Altphilologin Mary Beard in ihrem Artikel Welcome to the human zoo, Susan vom 2. Juni 2009 einen Vergleich zwischen der Zurschaustellung Sartje Baartmans und den Darbietungen der schottischen Amateursängerin Susan Boyle in einem britischen Fernseh-Talentwettbewerb.9 Beard postulierte, dass sich die Argumente, mit denen die englischen Impresarios die Zurschaustellung Sartje Baartmans rechtfertigten, kaum von jenen des britischen Privatsenders ITV, der nun Boyle vermarktet, unterschieden. Beide Male hätten die Verantwortlichen behauptet: „It’s not voyeurism and it’s not exploitation.“10 Nun mag der Analogieschluss von Sartje Baartman, die im Alter von zwanzig Jahren als Sklavin nach London kam, um einem zudringlichen Publikum ihr Gesäß zu präsentieren, zu Susan Boyle, einer mündigen Frau, die auf eigenen Wunsch an einem Talentwettbewerb teilnahm, zunächst unpassend erscheinen. Doch tatsächlich enthalten derartige TalentsuchFormate, deren vorgebliches Ziel die Ermittlung von fähigen Kandidaten ist, „the elements of a freak show where deficiencies and shortcomings [of the contestants] are as important as their talent“11, wie der Psychiater Glen Wilson betont. Boyle, 47jährig, arbeitslos, unverheiratet und leicht lernbehindert, fungierte als „eine perfekte Zielscheibe in dieser Freakshow“12. Ebenso wie Baartman im Rahmen ihrer Zurschaustellung den Gegenentwurf zu europäischer Sexualmoral und Schönheitsidealen verkörperte, fungiert Boyle als Antithese zum Ideal der modernen Frau, „[g]egen die Gesetze der Schönheit, des Alters, der Herkunft.“13 Es ist wohl nicht mehr als ein ironischer Zufall, dass Susan Boyle bei ihrer ersten Vorführung im „menschlichen Zoo“ ein fleischfarbenes Kleid trug. 8 Edwards, Paul/ Walvin, James (Hrsg.): Black personalities in the Era of Slave Trade. S. 171-183. zit. n. Gilman, Sander S.: Hottentottin und Prostituierte. S. 126. 9 Mary Beard: Welcome to the human zoo, Susan. The Times vom 2. Juni 2009. 10 Edb. 11 The pressure of sudden TV stardom. BBC News vom 1 Juni 2009. 12 T. Hüetlin: Tränen mit Susie Simple. In: SPIEGEL, Nr. 18, vom 27. April 2009. S. 148. 13 Ebd. S. 149. 2 Was in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als „andersartig“ oder „normabweichend“ begriffen wird, wird stets neu verhandelt. Devianz ist keine ontologische Kategorie, sie meint nicht die Wesensart von Personen oder Dingen, sondern vielmehr eine spezifische Praktik der Wahrnehmung und Erfahrung.14 Dieser Wahrnehmungsmodus ist geprägt von kollektiven Denk- und Interpretationsstrukturen, die mit den jeweiligen medizinischen, juristisch-moralischen und religiösen Diskursen der Zeit zusammenhängen. Dabei bedient sich der Mensch dieser Wahrnehmungsmechanismen nicht einfach um ihrer selbst willen, vielmehr versucht er sich insbesondere durch die Orientierung an äußeren Merkmalen selbst zu verorten und sich von dem als „anders“ Wahrgenommenen abzugrenzen. So gibt der Umgang mit körperlicher Normabweichung sehr viel mehr über die Deutungs- und Verstehensmuster des Wahrnehmenden als über die tatsächliche Befindlichkeit des Wahrgenommenen preis. Da sich diese Deutungsmuster an gesellschaftlich etablierten Konventionen und Stereotypen orientieren, können sie Aufschluss darüber geben, was zu einer bestimmten Zeit in einer Gesellschaft als normabweichend gilt. Kaum ein anderer Themenkomplex als die öffentliche Zurschaustellung von Menschen mit körperlicher Normabweichung, die als „Monstrositäten“, „Abnormitäten“ und „Freaks“ in Bürger- und Gasthäusern, an fürstlichen Höfen, auf öffentlichen Plätzen und Jahrmärkten und nicht zuletzt in Zirkussen und Panoptiken vorgeführt wurden, ist deshalb so eindringlich in der Lage, die herrschenden Körperkonzepte und Krankheitsbilder und die Fremd- und Selbstbilder der jeweiligen Gesellschaft zu vergegenwärtigen. 1.1 Zielsetzung Das Ziel der vorliegenden Arbeit besteht darin, durch die Analyse der historischen Formen der Zurschaustellung mit ihren spezifischen Schauobjekten dem Wandel der Wahrnehmungen und der Wahrnehmenden näher zu kommen und dabei zu überprüfen, inwiefern medizinwissenschaftliche, moralisch-ethische und gesamtgesellschaftliche Entwicklungen das Bild der so genannten Abnormitätenschauen prägten. Wie eingangs dargelegt wurde, folgt die Arbeit der Prämisse, dass Normabweichung keine feststehende Größe ist, sondern vielmehr ein prozessuales Geschehen meint, das kulturell beziehungsweise sozial konstruiert ist. Hier lehnt sich die Arbeit eng an Robert Bogdans These an, wonach Abnormitäten primär als kulturelle Konstrukte zu verstehen sind. Bogdan zufolge bedienten sich die Impresarios bei der Vorführung der Abnormitäten verschiedener 14 Vgl. W. Röcke: Befremdliche Vertrautheit. S. 119. 3 Strategien und Techniken, um so bestimmte Fremdbilder zu rekurrieren, die das öffentliche Interesse an den zur Schau Gestellten steigern sollte.15 Jene Inszenierungs- und Vermarktungsstrategien werden in der vorliegenden Untersuchung anhand von zeitgenössischen Postkarten, Zeitungsannoncen und archivalischen Quellen umfassend analysiert, da sie Aufschluss darüber geben können, wie Menschen mit körperlicher Normabweichung im Kontext der Abnormitätenschauen wahrgenommen und bewertet wurden. Die wissenschaftliche Analyse der Schaustellung fehlgebildeter Menschen vermag so kollektive Wahrnehmungs- und Deutungsmuster zu erschließen und die Abnormitätenschau, die hier als Ort der kulturellen Konstruktion des versehrten Körpers verstanden wird, als Indikator für kulturelle Wandlungsprozesse zu nutzen. Die Zurschaustellung von fehlgebildeten Menschen ist Teil eines komplexen Diskursfeldes über „Monstrositäten“, dessen Anfänge in der frühen Neuzeit liegen. Im 16. Jahrhundert begannen reformatorische Autoren Berichte über so genannte „Wundergeburten“ und „Wunderzeichen“ zu sammeln und aufzuzeichnen. Auf politischen oder religiös motivierten Einblattdrucken wurden diese Wundergeburten als Warnzeichen Gottes präsentiert, die die Menschen vor einem herannahenden Unheil warnen oder einzelne Individuen für deren Verfehlungen bestrafen sollten. Gleichzeitig begannen Naturkundler wie Ambroise Paré die so genannten Monstra in medizinischen Traktaten zu beschreiben und tote, in Spiritus eingelegte Missgeburten naturkundlichen Sammlungen einzuverleiben. Sowohl von theologischer, als auch von juristischer und naturkundlicher Seite näherte man sich dem Monströsen an, wodurch eine Fülle an Texten, die der so genannten Monstraliteratur zuzuzählen sind, entstand. Die einzelnen Beiträge in den „Wunderbüchern“, Monstrasystematiken und medizinischen Traktaten mögen auf den ersten Blick disparat erscheinen, doch ihr gemeinsamer Fluchtpunkt besteht in der Frage, „welche Orte der Abweichung und der Verunstaltung zugewiesen werden [und] in welchen Kontexten das Monströse jeweils definiert und verhandelt wird.“16 Unter Kapitel 2.1 der vorliegenden Arbeit werden zunächst die theologischen, naturkundlichen und juristischen Diskurse analysiert, die in der frühen Neuzeit den Umgang mit körperlicher Normabweichung bestimmten. Es gilt in diesem Zusammenhang etwa zu fragen, welche Bewältigungs- und Beherrschbarkeitsstrategien im Umgang mit dem normabweichenden Körper zu tragen kamen, wo Angst und Bedrohung, wo Sensationslust und Neugierde im Vordergrund standen, wo es um Ausgrenzung, wo um Integration in eine 15 16 R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 23. M. Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. S. 10. 4 bestehende Ordnung ging17 und inwiefern diese Umgangsweisen eine Direktive für die Wahrnehmung des fehlgebildeten Menschen im 18. und 19. Jahrhundert darstellten. Thomas Macho zufolge faszinierte die Abnormitätenschau des 19. Jahrhunderts „als Erbin [dieses] alten, […] vorrangig religiös motivierten Interesses an den Monstren und Prodigien“18 und so ist weiter zu fragen, ob und inwiefern es im 18. und 19. Jahrhundert zu Diskontinuitäten und Verschiebungen im Umgang mit dem fehlgebildeten Menschen kam und welche Rolle die sich etablierenden Medizinwissenschaften in der Wahrnehmung des fehlgebildeten Körpers einnahmen. Die Schaustellung von behinderten und fehlgebildeten Menschen lässt sich bereits für die Antike belegen. Von dem römischen Kaiser Augustus (63 v. Chr.- 14 n. Chr.) wird etwa berichtet, dass er zu Ehren seines Lieblingszwerges Lucius eine goldene Statue mit diamantbesetzten Augen anfertigen ließ.19 In der frühen Neuzeit wurden auf Flugblättern fehlgebildete Menschen beschrieben, die als Attraktionen von Jahrmarkt zu Jahrmarkt zogen und sich dem interessierten Publikum zeigten. Im 19. Jahrhundert wurden Menschen mit körperlicher Normabweichung in stationären Panoptiken, in Zirkussen und auf Jahrmärkten vorgeführt und noch bis Mitte der 1990er Jahre beherbergte ein Freizeitpark in Hassloch eine Liliputaner-Stadt. Diese stichprobenhafte Übersicht legt nahe, dass körperliche Abweichungen „überall und zu jeder Zeit eine eigentümliche Faszination ausgeübt [haben]“20. Für eine umfassende Aufarbeitung der Abnormitätenschauen war daher eine räumliche und zeitliche Eingrenzung des Forschungsgegenstandes unumgänglich. Als Belegorte wurden die beiden Messestädte Mainz und Frankfurt/ Main ausgewählt, die über eine lange und gut aufgearbeitete Messegeschichte verfügen und für die sich die Zurschaustellung fehlgebildeter Menschen spätestens seit dem 16. respektive 18. Jahrhundert belegen lässt21. Zudem ist beziehungsweise war Frankfurt Standort des Zoologischen Gartens und Castan’s Panoptikum, die im ausgehenden 19. Jahrhundert unter anderem auch Abnormitäten zur Schau stellten. Durch die räumliche Eingrenzung ergab sich eine Fokussierung auf die jahrmarktliche Abnormitätenschau, wenngleich im Rahmen der 17 M. Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. S. 10. T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 169. 19 L. Fiedler: Freaks. S. 21 20 J. Kunze/ I. Nippert: Genetik und Kunst. S. V. 21 Die Flugblattsammlung Wickiana enhält eine aquarellierte Federzeichnung aus dem 16. Jahrhundert, die einen jungen Mann darstellt, der ohne Hände mit den Armstümpfen schreibt und seine Kunst im Jahr 1570 in Frankfurt/ Main demonstrierte: „Es ist anno 70. zu frankfortt uff der Herbistmess ein junger Gsell gsin, wie dann diese Figur anzeyget, ist uff diese wält allso erboren worden […]“ (Vgl. Flugblatt von 1570. In: Wickiana, Bd. 8, S. 118. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 57). Ein Flugblatt von 1786, das sich im Mainzer Stadtarchiv erhalten hat, kündigte ebenfalls die Zurschaustellung eines Mannes ohne Hände an: (Vgl. MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Konzessionsgesuch und Flugblatt, 1786 1/7). 18 5 Untersuchung auch andere Schaustellungsformen – etwa im stationären Panoptikum – berücksichtigt werden. Der zeitliche Beginn für die Untersuchung wurde auf das Jahr 1750, der Endpunkt auf das Jahr 1925 festgelegt. Der gewählte zeitliche Rahmen ergab sich aus folgenden Überlegungen: In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte eine grundlegende Transformation des fehlgebildeten Körpers ein. War der körperlich versehrte Mensch bis dahin vornehmlich als Unheil verheißendes „Monstrum“ wahrgenommen worden, wurde sein Körper nun unter der Bezeichnung „Missbildung“ zunehmend zum wissenschaftlichen Objekt. Im ausgehenden 18. Jahrhundert begann sich die Teratologie zu etablieren und leitete Georges Canguilhem zufolge eine fortschreitende „Naturalisierung des Monströsen“, also die Erklärung der so genannten Wunder durch natürliche Ursachen, ein. Gleichzeitig setzte eine „teils sozial-karitativ[e], teils medizinisch-kurativ[e] und teils pädagogisch motiviert[e]“ institutionalisierte Hilfe für Behinderte ein22, die dazu führte, dass behinderte Menschen dem Blick der Öffentlichkeit entzogen wurden und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, hinter den Mauern von Sonderinstitutionen verschwanden.23 Es verwundert daher umso mehr, dass der versehrte Körper insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts in den Fokus der Öffentlichkeit rückte und im Rahmen der Abnormitätenschauen in mystifizierende und exotisierende Kontexte eingeordnet wurde. Die vorliegende Untersuchung geht in diesem Zusammenhang der Frage nach, wie diese scheinbar gegenläufigen Entwicklungen zueinander in Beziehung stehen. Ein weiteres Argument dafür, mit dem 18. Jahrhundert zu beginnen, ergab sich aus dem Quellenreichtum, der sich nicht mit früheren Jahrhunderten vergleichen lässt. So sind etwa die Zeitungsbestände in den Frankfurter und Mainzer Archiven erst ab etwa der Mitte des 18. Jahrhunderts nahezu lückenlos vorhanden. Der Endpunkt der Untersuchung wurde auf das Jahr 1925 festgelegt, also nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. In den Nachkriegsjahren veränderten sich die Präsentationsweisen von Behinderten und Behinderung drastisch, Tervooren spricht in diesem Zusammenhang von einem „historischen Einschnitt in den Darstellungen und Wahrnehmungen behinderter Körper“24, der nicht ohne Konsequenz für die Darstellungskonventionen der Abnormitätenschauen blieb. Unter Kapitel 2.2 wird die medizinwissenschaftliche Auseinandersetzung mit „Missbildungen“ seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert nachgezeichnet. Im Hinblick auf den Umgang mit körperlicher Normabweichung ist Foucaults Hinweis von Interesse, „dass in der 22 M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. S. 9. Ebd. S. 105. 24 A. Tervooren: Körper- und Menschenbilder. S. 57. 23 6 europäischen Kultur […] des 19. Jahrhunderts […] der […] Status des Menschen wesentlich vom Medizinischen Denken geprägt war und seine gesellschaftliche Verortung ganz entscheidend dadurch bestimmt wurde.“25 Im wissenschaftlichen Diskurs wurden und werden physiognomische Auffälligkeiten üblicherweise als Dysfunktionen, Pathologien und Anomalien beschrieben.26 Die scharfe Unterscheidung zwischen Normalität und Abweichung beruht also nicht zuletzt auf der Grundlage tradierter medizinwissenschaftlicher Leitdifferenzen, die dazu führen, dass körperliche Normabweichungen habituell als negativ andersartig wahrgenommen werden. Die Verwendung der Begriffe „normabweichend“ beziehungsweise „Normabweichung“ fungieren in der vorliegenden Arbeit somit nicht als denunziatorische Bezeichnungen für fehlgebildete Menschen, sondern sollen vielmehr verdeutlichen, dass die Anerkennung von „Monstrositäten“ beziehungsweise „Abnormitäten“ immer an die Anerkennung von „Normalität“ gebunden ist. Ohne ein implizites Wissen um das normale Maß der Dinge und insbesondere der Menschen wäre die Wahrnehmung von normabweichenden Anatomien und Physiognomien nicht möglich. In Anlehnung an „Abnormitätenschau“ die jene Definition Bogdans Veranstaltungen werden verstanden, in unter der denen Bezeichnung Menschen mit vermeintlichen und tatsächlichen körperlichen Fehlbildungen und/ oder mentalen Retardierungen gegen Entgelt zur Schau gestellt werden.27 Gemäß Zürcher sind Fehlbildungen „angeborene Entwicklungsfehler einzelner oder mehrerer Organe und Körperteile, was sie von Krankheiten oder später erworbenen Behinderungen unterscheidet.“28 Daher wurden die novelty acts, die als Schwertschlucker, Feuerschlucker und Allesschlucker im Rahmen der Abnormitätenschauen ihre Kunststücke zeigten, nicht in die Untersuchung miteinbezogen, da ihre körperliche Abnormität nicht angeboren, sondern vielmehr durch Übung erworben wurde29. Aus demselben Grund wurden so genannte „made freaks“ wie Tätowierte und Gedächtnis- und Rechenkünstler von der Untersuchung ausgeschlossen. Auch die Zurschaustellung von fehlgebildeten Tieren wurde nicht berücksichtigt. Zudem wurde die literarische beziehungsweise filmische Auseinandersetzung 25 A. Weber: Behinderte und chronisch kranke Menschen. S. 49. Vgl. Foucault, Michel: Die Geburt der Klinik. Frankfurt a. M. 1999 [1973]. S. 209. 26 M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. S. 9. 27 Vgl. R. Bogdan: Freak show. S. 10. 28 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 10. 29 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 145. 7 mit dem „monströsen“ Körper ausgeklammert.30 Schließlich konnten das Verbot der Abnormitätenschauen im Nationalsozialismus und die Entwicklung des Konzepts vom unwerten Leben aus Platzgründen nicht in die Untersuchung miteinbezogen werden. 1.2 Quellenlage und methodisches Vorgehen Wie eingangs bereits dargelegt wurde, besteht das Ziel der vorliegenden Arbeit darin, durch die systematische Auswertung von Zeitungsanzeigen und archivalischen Quellen verschiedener Provenienz die Entwicklung der Zurschaustellung fehlgebildeter Menschen seit dem 18. Jahrhundert nachzuzeichnen. Dazu wurden fast ausschließlich die Bestände des Stadtarchivs Mainz und Frankfurt/ Main herangezogen. Da die Analyse der Inszenierungsund Vermarktungsstrategien der Impresarios und Schausteller im Vordergrund der Untersuchung steht, richtete sich die Quellensuche primär auf schaugewerbliches Werbematerial wie Schaustellerzettel und Zeitungsanzeigen. Zudem konnten vereinzelte Konzessionsgesuche und Tagebucheinträge zum Thema ermittelt werden, die in die Untersuchung miteinflossen. Bei den ausgewerteten Dokumenten handelt es sich bewusst um Schriftstücke unterschiedlichster Provenienz und Art, um nicht die Perspektive einer einzelnen Quellengattung dominieren zu lassen, woraus ein einseitiges Bild der Abnormitätenschauen entstehen könnte. Denn gerade im Bezug auf das Quellenmaterial der Schausteller drängt sich eine grundsätzliche Quellenkritik auf: Die Dokumente wurden in der Regel mit einer bestimmten Absicht verfasst. In einem maßgebenden Beitrag von 1954 hatte Moser die „exakte Geschichtsschreibung der Volkskultur“ auf der Grundlage einer hohen Quellendichte gefordert, die „das Große und das Kleinste zu erfassen hat“.31 Die Quellen, die benötigt werden, um im Sinne Mosers und Karl-Sigismund Kramers ein völlig umfassendes und exaktes Bild von der Zurschaustellung fehlgebildeter Menschen seit dem 18. Jahrhundert zu erhalten, sind jedoch nicht in der ausreichenden Menge vorhanden. Dabei handelt es sich weniger um ein regionales, als 30 Mit der filmischen Inszenierung des körperlich „Monströsen“ haben sich etwa Autoren wie Arno Meteling und Silke Bartmann beschäftigt (Vgl. Meteling, Arno: Monster. Zur Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm. Bielefeld 2006./ Bartmann, Silke: Der behinderte Mensch im Spielfilm. Eine kritische Auseinandersetzung mit Mustern, Legitimationen, Auswirkungen von und dem Umgang mit Darstellungsweisen von behinderten Menschen in Spielfilmen. Münster 2002). Das „Monströse“ in der Literatur haben u.a. Beckerhoff und Brittancher untersucht (Vgl. Beckerhoff, Florian: Monster und Menschen. Verbrechererzählungen zwischen Literatur und Wissenschaft (Frankreich 1830-1900). Würzburg 2007./ Brittnacher, Hans Richard: Ästhetik des Horrors. Gespenster, Vampire, Monster, Teufel und künstliche Menschen in der phantastischen Literatur. Frankfurt am Main 1994). 31 R. W. Brednich: Quellen und Methoden. S. 84. 8 vielmehr um ein grundsätzliches Problem, das auch Heinrich Mehl32 in seiner Untersuchung thematisiert hat. Es war daher unumgänglich, sich auf ausgewählte Quellenbeispiele als Grundlage einer qualitativen Analyse der Abnormitätenschauen zu konzentrieren. Literarische Quellen wie etwa medizinwissenschaftliche Aufsätze und Vorträge, Chroniken, Enzyklopädien und illustrierte Zeitschriften ergänzten die archivalischen Befunde. Das Werbematerial der Schausteller bildet neben den genannten Quellen die einzige Quellengruppe, die unmittelbar Aufschluss über die Präsentation von menschlichen Abnormitäten gibt. Schaustellerzettel und Zeitungsinserate enthielten in knapper Form Informationen über die ausgestellte Abnormität, ihre besonderen Fähigkeiten und den Ort der Zurschaustellung. Darüber hinaus mussten sie in Bezug auf Darstellung und Vermarktung dem zeitgenössischen Publikumsgeschmack Rechnung tragen. Während sich zahlreiche Annoncen in Zeitungen erhalten haben, sind viele Schaustellerzettel verloren gegangen, es sei denn, sie wurden den Konzessionsgesuchen an die Obrigkeit beigefügt.33 Für die Untersuchung wurden zunächst regionale Zeitungen mit großem Anzeigenteil systematisch nach Annoncen durchgesehen, die die Zurschaustellung von fehlgebildeten Menschen ankündigten. Erfolg versprechend waren insbesondere die Messemonate Februar/ März (Ostermesse in Frankfurt), August (Mainzer Meß) und September/ Oktober (Herbstmesse in Frankfurt). Für das 18. Jahrhundert wurden das Frankfurter Staats-Ristretto (1772-1832)34 und das Amts- und Anzeigenblatt Mainzisches Intelligenzblatt mit kurfürstlichem gnädigsten Privilegium (1774-1811)35, das zu kurfürstlichen Zeiten neben der Priviligierten Mainzer Zeitung die einzige Zeitung in Mainz war36, durchgesehen. Für das 19. Jahrhundert wurden das Intelligenz-Blatt der freyen Stadt Frankfurt (1819-1866)37, das unter dem Titel Intelligenz-Blatt der Stadt Frankfurt (1866-1910)38 fortgesetzt wurde, und das Mainzer Anzeigeblatt (1812–1814)39 beziehungsweise Mainzer Wochenblatt (1814–1871)40 auf Inserate hin überprüft und für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts wurden zusätzlich der Mainzer Anzeiger (1854-1925)41 und der Neueste Mainzer Anzeiger (1879–1920)42 32 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 41. Ebd. 34 ISG Frankfurt/ Main. 35 Mikrofilm, Stadtbibliothek Mainz. 36 E. Bremer/ R. Hildebrandt: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie. S. 199. 37 ISG Frankfurt/ Main. 38 ISG Frankfurt/ Main. 39 Mikrofilm, Stadtbibliothek Mainz. 40 Mikrofilm, Stadtbibliothek Mainz. 41 Mikrofilm, Stadtbibliothek Mainz. 33 9 durchgesehen. Darüber hinaus konnten für das ausgehende 18. Jahrhundert einige Konzessionsgesuche, die an die kurfürstliche Landesregierung in Mainz gerichtet waren und zum Teil gedruckte Schaustellerzettel enthielten, im Stadtarchiv Mainz ausfindig gemacht werden. Das Ergebnis waren insgesamt ca. 65 Bild- und Textbelege. Um die Ergebnisse, die auf der regionalen Ebene erzielt wurden, zu verifizieren, und der Überbetonung örtlicher Spezialfälle entgegenzutreten wurde jeder dritte Jahrgang der überregionalen Fachzeitschrift Der Komet. Fachblatt für Reisegewerbe und Markthandel43, die seit 1883 kontinuierlich erschienen ist, auf einschlägige Werbeanzeigen hin durchgesehen. Zwischen den Jahrgängen 1883 und 1927 ließen sich so weit über 200 Inserate und Artikel nachweisen, die die Zurschaustellung von fehlgebildeten Menschen zum Inhalt haben. Da nur wenige der Zeitungsanzeigen illustriert wurden, die Ikonografie der Abnormitäten jedoch wesentlicher Bestandteil ihrer Inszenierung und Vermarktung war, wurden zuletzt Souvenirpostkarten, die aus den Sammlungen des Grundschullehrers Stefan Nagel in Münster und des Schaustellers Erich Knocke44 in Essen stammen, in die Untersuchung miteinbezogen. Bei der Bewertung der Verlässlichkeit der Quellen ist zu berücksichtigen, dass Zeitungsinserate keine eindeutige Quelle darstellen. Das Nichtvorhandensein von Anzeigen in einem bestimmten Jahr bedeutet nicht zwangsläufig, dass keine Abnormitätenschauen in diesem Zeitraum stattfanden. Die Schauen wurden auch mit Plakaten und Flugblättern angekündigt, von denen sich jedoch nur äußerst wenige in den Archiven erhalten haben. Außerdem darf nicht davon ausgegangen werden, dass jede angekündigte Schau auch tatsächlich stattfand. Daher wurden für die Phase der höchsten Quellendichte, also für das letzte Drittel des 19. Schaustellerfachzeitschrift Jahrhunderts, Komet nach die den „Markt- und angekündigten Messberichte“ der Abnormitätenschauen durchgesehen. Die fortlaufend aktualisierten Berichte bieten eine Auflistung aller anwesenden Fahrgeschäfte und Schaubuden einer Messe bzw. eines Marktes. Auf diese Weise konnte die Zurschaustellung von neun Abnormitäten verifiziert werden. Es gibt kaum Dokumente, in denen sich die zur Schau gestellten Menschen selbst äußern. Die historische Rekonstruktion ihrer Zurschaustellung muss sich daher auf die eingangs 42 Mikrofilm, Stadtbibliothek Mainz. Der Komet wurde auf Anregung von Schaustellern als spezielles Informationsorgan für das deutsche Schaustellergewerbe von dem Drucker und Verleger Wilhelm Neumann in Pirmasens begründet und bildet für Untersuchungen über das Schaustellergewerbe „die zentrale historische Quelle für den deutschen Raum“. (Vgl. F. Dering: Volksbelustigungen. S. 11). 44 Auf Initiative des ehemaligen Schaustellers Erich Knocke wurde 1982 in Essen das „Markt- und Schaustellermuseum“ gegründet. Die Sammlung ist in Jahrzehnten von Herrn Knocke, dem Vorsitzenden des Arbeitskreises Kultur und Brauchtum Essen e.V., zusammengetragen worden. 43 10 beschriebenen Quellen beschränken. Da es außerdem bis auf einige wenige Ausnahmen wie etwa Tagebucheinträge praktisch keine Quellen gibt, die die individuellen und persönlichen Eindrücke der Zuschauer beschreiben, ist die Zuschauerrezeption, so wünschenswert dieser Aspekt auch ist, stärker in den Hintergrund der Untersuchung getreten.45 1.3 Forschungssituation Anders als in den USA oder Australien, wo das Thema „body“ seit Mitte der 1980er Jahre zwanglos interdisziplinär behandelt wird46, ist dem Körper „als einer Erfahrungsebene menschlichen Lebens“47 in der volkskundlichen Forschung erst in den letzten Jahren mehr Beachtung zuteil geworden. Zwar forderte der Volkskundler Utz Jeggle schon 1980 eine „Ethnologie der Körperlichkeit“, die die Interdependenz von Körper, Kultur und sozialem Leben beleuchtet48, doch die kulturwissenschaftlichen Studien der Folgejahre konzentrierten sich zunächst weniger auf den Körper selbst, als vielmehr auf seine „Überformung“ zum kulturellen Produkt.49 Impulse zu einer Kulturgeschichte des fehlgebildeten Körpers geben seit einigen Jahren vor allem die disability studies, deren Anfänge in der amerikanischen Behindertenbewegung liegen und die erst seit jüngster Zeit auch in Deutschland Fuß fassen.50 Ziel und Aufgabe der disability studies ist es, die Aufmerksamkeit von der medizinischen Pathologie der Behinderung auf deren kulturelle Konstruktion zu lenken51, die Rosemarie Garland-Thomson zufolge bestimmte Körperformen und -funktionen stigmatisiert: „Disability, then, is a culturally fabricated narrative of the body, similar to what we understand as the fictions of race and gender.“52 Die Arbeiten von Rosemarie GarlandThomson, die unter anderem über die amerikanische Freakshow geforscht hat, scheinen hier besonders erwähnenswert.53 In der Soziologie hat sich indes insbesondere Erving Goffman in 45 Auch Bogdan thematisiert in seiner Untersuchung das Fehlen von Primärquellen, die über Zuschauerreaktionen Auskunft geben könnten. (Vgl. R. Bogdan: Freak show. S. ix). 46 M. Lorenz: Leibhaftige Vergangenheit. S. 9. 47 A. Pellengahr: Von der ‚programmierten’ zur ‚natürlichen’ Geburt. S. 269. 48 Vgl. Jeggle, Utz: Im Schatten des Körpers. Vorüberlegungen zu einer Volkskunde der Körperlichkeit. In: Zeitschrift für Volkskunde, 76. Münster 1980. S. 169-188. 49 Vgl. dazu z.B. das Kapitel „Körperkultur“ in der Festschrift für Hermann Bausinger, „Volkskultur in der Moderne“. Hrsg. v. Utz Jeggle u.a. Reinbek 1986. 50 P. Lutz u.a.: Einleitung der Herausgeber. S. 16. 51 Ebd. 52 R. Garland-Thomson: Making Freaks. Visual Rhetorics and the Spectacle of Julia Pastrana. S. 132. 53 Garland-Thomson, Rosemarie: Extraordinary bodies: figuring physical disability in American culture and literature. New York 1997; dies.: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York/ London 1996; dies.: „Making Freaks. Visual Rhetorics and the Spectacle of Julia Pastrana..” Thinking the limits of the Body. Hrsg. v. Jeffrey Jerome Cohen/ Gail Weiss. Albany 2003. S. 129-144; dies.: Naratives of Deviance and Delight. Staring at Julia Pastrana, the “Extraordinary Lady”. Unveröffentlichtes Typoscript. 11 seiner 1963 erschienen Untersuchung über Stigmatisierungsprozesse54 mit den gesellschaftlichen Implikationen, die von der körperlichen Normabweichung ausgehen, beschäftigt. Von medizinhistorischer beziehungsweise volkskundlicher Seite haben Autoren wie Michael Hagner, Javier Moscoso, Thomas Macho, Dagmar Hänel und andere über den versehrten Körper geforscht. Der inspirierende Aufsatz Dagmar Hänels Überlegungen zur Bedeutung des Monströsen. Zur Normalität des gesunden Körpers und dem Umgang mit Normbrüchen (2003) bietet ausgehend von Monsterdarstellungen in der aktuellen Medienund Unterhaltungslandschaft einen kursorischen Überblick über den Umgang mit dem Monströsen seit der frühen Neuzeit und gab wichtige Impulse für die vorliegende Arbeit. Autoren, die sich dezidiert mit dem neuzeitlichen Monstradiskurs beschäftigt haben, sind etwa Irene Ewinkel55, Gisela Wahl56, der Germanist Werner Röcke57 und die Volkskundler Waltraud Pulz58 und Rudolf Schenda59. Im deutschsprachigen Raum ist die Zurschaustellung von Abnormitäten bereits früh untersucht worden, nennenswert ist etwa Eugen Holländers ausführliche Studie über die Monstraflugblätter des 15. bis 18. Jahrhunderts, Wunder, Wundergeburt, Wundergestalt (1921)60. Bereits 1895 veröffentlichte der Redakteur der Zeitschrift Artist Hermann Waldemar Otto unter dem Pseudonym Signor Saltarino eine Übersicht zu „Abnormitäten, Kuriositäten und interessanten Vertretern der wandernden Künstlerwelt“61. Die zum Teil von Schaustellerzetteln abgeschriebenen und meist mit Illustrationen versehenen Texte bieten eine panoptische Übersicht über die Zurschaustellung von fehlgebildeten Menschen im 54 Goffman, Erving: Stigma, Notes on the Management of Spoiled Identity, New York 1963, S. 6 Ewinkel, Irene: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995 56 Wahl, Gisela: Zur Geschichte der ätiologischen Vorstellungen über die Entstehung von Missgeburten. Düsseldorf, 1974. 57 Röcke, Werner: Zeitenwende und apokalyptische Ängste in der Literatur des Spätmittelalters. In: Zeitschrift für Germanistik NF 1. 2000. S. 11-29; ders.: Die Zeichen göttlichen Zorns. Monster und Wunderzeichen in der Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Literarisches Leben in Zwickau im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Vorträge eines Symposiums anläßlich des 500jährigen Jubiläums der Ratsschulbibliothek Zwickau am 17. und 18. Februar 1998. Hrsg. von Margarete Hubrath/ Rüdiger Krohn. Göppingen 2001; ders.: Befremdliche Vertrautheit. Inversionen des Eigenen und des Fremden in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts. In: Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster 2003. S. 119-132. 58 Pulz, Waltraud: Graphische und sprachliche Tierbildlichkeit in der Darstellung von Missbildungen des menschlichen Körpers auf Flugblättern der frühen Neuzeit. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde, Volkach 1989, S. 63-81. 59 Schenda, Rudolf: Das Monstrum von Ravenna. Eine Studie zur Prodigienliteratur. In: Zeitschrift für Volkskunde 56, 1960. S. 209-225./ --: Die deutschen Prodigiensammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 4, 1963. S. 638-710. 60 Holländer, Eugen von: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart: Ferdinand Enke, 1921. 61 Signor Saltarino (d.i. Hermann Waldemar Otto ): Fahrend Volk. Abnormitäten , Kuriositäten und interessante Vertreter der wandernden Künstlerwelt. Leipzig (J.J. Weber) 1895. 55 12 letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts. Wenngleich er mit großer Detailverliebtheit über 50 Abnormitäten seiner Zeit beschrieb, so ist seine Arbeit nicht frei von Fehlern. Seine Behauptung, dass „der erste Riese, welcher in Deutschland auftauchte“, der Chinese ChangYu-Sing im Jahr 1878 gewesen sei62, konnte im Rahmen der Untersuchung widerlegt werden. Wie unter Kapitel 3.2.1 ausgeführt wird, lassen sich bereits für das 17. Jahrhundert Schaustellungen von Riesen auf der Frankfurter Messe nachweisen und eigene Erhebungen ergaben, dass bereits im Jahr 1820 die „Große Schweizerin Katharina Bödner“ in Mainz gastierte. Die 1952 von Alfred Lehmann verfasste Kulturgeschichte Zwischen Schaubuden und Karussells63 bietet neben einer Beschreibung der wichtigsten Fahrgeschäfte einen kursorischen Überblick über die berühmtesten Abnormitäten der vergangenen Jahrhunderte. Eine der wichtigsten Publikationen für den deutschsprachigen Raum ist indes Hans Scheugls Buch Showfreaks & Monster (1974), in dem der Autor die These entwirft, dass die Abnormitätenschauen dem Publikum die Möglichkeit boten, sich der eigenen Normalität zu vergewissern. Zwar gibt es einige volkskundliche Arbeiten zu vagierenden Unterschichten, Hausierern und Schaustellern64, doch „auffällige Arbeiten über die Präsentation von menschlichen Abnormitäten auf dem Jahrmarkt liegen […] nicht vor“65, wie der Volkskundler Heinrich Mehl vor einigen Jahren bedauerte. Sein Aufsatz „Frauenzimmer, ohne Arme gebohren…“. Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16.-19. Jahrhunderts66 (2002), in welchem er anhand von Schaustellerzettel, die sich im Landesarchiv Schleswig-Holstein erhalten haben, die Schaustellung fehlgebildeter Menschen untersucht, kann daher als ein erster Schritt auf dem Wege der kulturanthropologischen Auseinandersetzung mit dem Thema angesehen werden. Während die Arbeiten von Otto, Würtz67, Lehmann und Scheugl die Zurschaustellung der berühmtesten Abnormitäten überblicksartig darlegen und dabei kaum Erklärungsansätze für die Faszination am körperlich Anderen bieten, haben einige amerikanische Autoren sehr gute 62 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 43. Lehmann, Alfred: Zwischen Schaubuden und Karussells. Ein Spaziergang über Jahrmärkte und Volksfeste. Frankfurt/ Main 1952. 64 Hinrichsen, Ute/ Hirschbiegel, Sabine: „Gewerbe, welche eine herumtreibende Lebensart mit sich führen.“ Hausierer und Schausteller in Schleswig-Holstein zwischen 1774 und 1846 (=Studien zur Volkskunde und Kulturgeschichte Schleswig-Holsteins, 39). Neumünster 1999. Eine Dissertation über das Schaustellergewerbe liegt von Michael Faber vor: Faber, Michael: Schausteller. Volkskundliche Untersuchung einer reisenden Berufsgruppe im Köln-Bonner Raum. Universität bonn, Diss., 1981. 65 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 40. 66 Mehl, Heinrich: „Frauenzimmer, ohne Arme gebohren…“. Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16.-19. Jahrhunderts. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 34, 2002. S. 38-69. 67 Würtz, Hans: Sieghafte Lebenskämpfer. München 1919. 63 13 theoretische Ansätze zum Phänomen Abnormitätenschauen erarbeitet. Den wissenschaftlichen Diskurs um die Freak Show eröffnete in den USA 1978 Leslie Fiedler mit seiner Arbeit Freaks. Myths and Images of the Secret Self68. In dieser ausführlichen und zutiefst persönlichen Studie zeichnet Fiedler die Zurschaustellung von Abnormitäten auf Jahrmärkten und in Zirkussen bis hin zu ihrer Darstellung in Literatur und Film nach. Dabei vertritt er die These, dass Menschen eine tiefsitzende Furcht vor Individuen mit sichtbaren körperlichen Anomalien hätten, weil diese ureigene Ängste verkörpern, wie etwa die Angst, nicht zu wachsen (Kleinwüchsige) oder jene, sich sexuell nicht eindeutig verorten zu können (Hermaphroditen). Eine der wichtigsten Publikationen zum Thema in den letzten Jahren ist der Sammelband Freakery69, in dem Autoren verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen im Sinne der disability studies die Konstruktion von Behinderung – auch vor dem Hintergrund der amerikanischen Freakshows – untersuchen. Für die vorliegende Untersuchung waren indes Robert Bogdans Thesen über die schaugewerblichen Inszenierungsstrategien von fehlgebildeten Menschen forschungsleitend, die er in seiner 1988 erschienenen Publikation Freak show: presenting human oddities for amusement and profit formulierte. Nach Bogdan folgen die Präsentationsweisen von fehlgebildeten Menschen einem kulturellen Muster, das er als „exotic mode“ und „aggrandized status mode of representation“70 identifiziert. Die jüngere Forschung bezieht sich meist auf diese Thesen, so etwa ein Aufsatz der deutschen Ethnologin Ariane Karbe (2003)71 oder eine Monographie über das amerikanische Schaustellergewerbe von Robert M. Lewis (2003)72. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass insbesondere die deutschsprachigen Arbeiten zu Abnormitätenschauen kaum mehr als einen kursorischen Überblick und nur selten Erklärungsansätze für die Faszination am körperlich Fremdartigen bieten. Dass sich der Besucher beim Anblick der Abnormitäten seiner eigenen Normalität vergewissern wolle, ist eines der gängigen Erklärungsmuster für Entstehen und Erfolg der Zurschaustellungen. Allerdings greifen solche Deutungen zu kurz, um dem Phänomen hinreichend Rechnung zu tragen. Wie ist zum Beispiel der lang anhaltende Erfolg der Zurschaustellungen zu erklären, 68 Fiedler, Leslie: Freaks. Myths and Images of the Secret Self. New York 1978. Thomson, Rosemarie Garland: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. New York/ London 1996. 70 R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 28. 71 Karbe, Ariane: Wie aus großen Menschen Riesen werden – Zu den Inszenierungsstrategien von Abnormitätenschauen. In: Zur Schau gestellt. Ritual und Spektakel im ländlichen Raum. Hrsg. v. Karl-Heinz Ziessow. Cloppenburg 2003. S. 143-157. 72 Lewis, Robert M.: From Traveling Show to Vaudeville. Theatrical Spectacle in America, 1830-1910. Baltimore 2003. 69 14 insbesondere im 19. Jahrhundert, als Begriffe wie „Ernüchterung“, „Entzauberung“ und „Verwissenschaftlichung des Blicks“73 den medizinischen Diskurs um Abnormitäten bestimmten? Die vorliegende Untersuchung versucht durch die historische Auseinandersetzung mit Fehlbildungen und Anomalien – gerade weil sie in einem dialektischen Verhältnis zum scheinbar Richtigen stehen – Antworten auf diese Fragen zu geben und so Aufschluss über „den Gang der Normalität“74 zu erhalten. 73 74 M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. S. 86. U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 16. 15 2. DER „VERSEHRTE“ KÖRPER: ZUR WAHRNEHMUNG VON KÖRPERLICHER FEHLBILDUNG SEIT DER FRÜHEN NEUZEIT Was in einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt als monströs, als „wider die Natur […] gebohren“75, angesehen wird und sich in der Konstruktion von „Bildern des ganz Fremden und Befremdlichen“76 ausdrückt, spiegelt immer auch das Selbstverständnis und die Ängste und Hoffnungen dieser Gesellschaft wider, die „sie anders nur schwer oder gar nicht ausdrücken könnte.“77 Auch körperliche Fehlbildungen wurden in die Sphäre des Monströsen verwiesen und die Ursache ihres Auftretens zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich bewertet. Fasst man die Berichte über menschliche „Monstrositäten“ und „Abnormitäten“ zusammen, so ergeben sich zwei große Phasen der Diskursivierung des Monströsen.78 Die erste Phase reicht von 1500 bis etwa 1650, die zweite umfasst grob gesagt das gesamte 19. Jahrhundert. Scheugl zufolge sind „die Gründe dafür […] beide Male fast die gleichen, ebenso wie die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen, die sie herbeiführten.“79 Diese Behauptung soll am Ende der Arbeit einer kritischen Prüfung unterzogen werden. Die nachfolgenden Paragraphen beleuchten nach thematischen Gesichtspunkten die Deutungsgeschichte des Monströsen seit der frühen Neuzeit und erörtern die Erklärungsmodelle, die für das Vorkommen von physiognomischen Abweichungen herangezogen wurden, da jene ätiologischen und semantischen Prämissen die Voraussetzung für den Umgang mit körperlicher Normabweichung im 18. und 19. Jahrhundert schufen. In einem ersten Schritt wird die Nomenklatur der körperlichen Abweichung ermittelt, da insbesondere die Etymologie des Wortes „Monstrum“ Aufschluss über inhaltliche Bedeutungsverschiebungen geben und diese in einen größeren Zusammenhang mit der kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung stellen kann. Daneben werden in einzelnen thematischen Kapiteln die juristischen, theologischen und naturkundlichen Diskurse über körperliche Fehlbildungen untersucht. Dabei kommt der Prodigienlehre, also der Lehre von den Wunderzeichen, der Theorie vom „Versehen“ und der Vorstellung vom lusus naturae besondere Beachtung zu. 75 Artikel „Monsra [!] oder Monstrum“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. Sp. 1220. W. Röcke: Die Zeichen göttlichen Zorns. S. 145. 77 Ebd. 78 H. Scheugl: Showfreaks & Monster. S. 154. 79 Ebd. S. 154. 76 16 2.1 Monstrum. Abnormität. Freak. – Die Nomenklatur der körperlichen Abweichung Das Auftreten von sichtbaren angeborenen Fehlbildungen bei Menschen und Tieren hat „überall und zu jeder Zeit“80 Anlass für Spekulationen über die Herkunft und Bedeutung solcher von der Norm abweichenden Körper ausgelöst. Eine Vorstellung, die bis ins 18. Jahrhundert virulent blieb, war die antike Auffassung, dass „monströse“ Geburten als von Gott gesandte Warnzeichen zu verstehen seien. So deutete etwa der römische Philosoph Marcus Tullius Cicero (106 – 43 v. Chr.) gemäß der christlichen Überzeugung, „daß alle Geschöpfe von Gott geschaffen seien, daß aber alles von Gott Geschaffene gut und sinnvoll sein müsse“81, körperliche Anomalien als göttliche Vor- und Wunderzeichen. Entsprechend ihrer spezifischen zukunftsweisenden Funktion unterschied er dabei zwischen Monstrum („Wahrzeichen der Götter“), Miraculum („Wunderding“), Portentum („Vorzeichen“), Ostentum („Wunderzeichen, das auf die Zukunft deutet“), und Prodigium („böse Vorbedeutung/ Andeutung“)82. Durch die Wiederbelebung der antiken Prodigienlehre in der Renaissance waren diese Bezeichnungen bis ins 18. Jahrhundert gebräuchlich und wurden noch in Zedlers Universal-Lexikon synonym mit den zeitgenössischen Begriffen Missgeburt und Wundergeburt verwendet83. Als im Verlauf des 18. Jahrhunderts wissenschaftliche Abhandlungen „zunehmend nicht mehr auf Latein“ verfasst wurden, setzten sich die synonym gebrauchten Begriffe Missgeburt und Monstrum durch.84 Unter der Bezeichnung Missgeburt, die sich aus dem althochdeutschen „missa“ beziehungsweise „missi“ herleitet, was ursprünglich „wechselseitig“, später auch „schlecht, verfehlt, verunglückt“ bedeutet85, verstand man ein menschliches oder tierisches Lebewesen, das „auf einige Weise von der Ordnung und Gestalt [seiner] Gattung abweichet.“86 Dazu gehörten Zwerg- und Riesenwuchs, fehlende beziehungsweise überzählige Gliedmaßen, Doppelfehlbildungen und schließlich auch „Gesichtsfehlbildungen wie Lippen- und Gaumenspalten“87, die in Anlehnung an die zeitgenössische ätiologische Vorstellung über ihre Entstehung als 80 J. Kunze/ I. Nippert: Genetik und Kunst. S. V. G. Wahl: Entstehung von Missgeburten. S. 7f. 82 „Monstra, ostenta, portenta, prodigia, appellantur quoniam monstrant, ostendunt, portendunt, praedicant“ (Cicero: De Divinatione) = „Denn weil sie vorzeigen (ostendunt), andeuten (portendunt), hinweisen (monstrant), so heißen sie Vorzeichen (ostenta), Andeutungen (portenta), Hinweisungen (monstra), Vormeldungen (prodigia).“ Zitiert nach J. Kunze/ I. Nippert: Genetik und Kunst. S. 3. 83 Artikel „Mißgeburt“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. S. 486-492. 84 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 21. 85 U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 20. 86 Artikel „Mißgeburt“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. S. 486. 87 U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 20. 81 17 „Hasenscharten“ und „Wolfsrachen“ bezeichnet wurden88. Dass sich bei der Vorstellung von „Missgeburten“ noch im 18. Jahrhundert Plausibles mit Phantastischem vermischte, belegt der im gleichen Lexikonartikel gebrachte Hinweis, dass unter die „Missgeburten“ auch jene Kreaturen zu zählen seien, die „mit einem Kalbs- oder Pferde-Kopffe u.d.g zur Welt“89 gekommen sind oder „Hände wie Gänse-Füsse“ und „einen Hundes-Kopff“90 haben. Die hier beschriebenen Monstrositäten erinnern in ihrer Gestalt eher an die frühneuzeitlichen Monstren- und Prodigiendarstellungen oder an die vielfältigen Berichte von Wundergeburten aus dieser Zeit91. So gleichen letztere den fabelhaften Kynokephaloi, hundeköpfige Monster92, die den monströsen Erdrandbewohnern der antiken und mittelalterlichen Enzyklopädien zuzuordnen sind. Die Bezeichnung Monstrum wird in Zedlers Universal-Lexikon unter einem eigenen Stichwort spezifiziert als „alles dasjenige, was wider die Natur ist oder gebohren wird, oder welches gleichsam den wahren Ursprung seiner Geburt durch Annehmung einer fremden Gestalt verläugnet, oder verändert.“93 Der entsprechende Eintrag in Meyers KonversationsLexikon aus dem Jahr 1872 stimmt hingegen inhaltlich mit Zedlers Definition von „Missgeburt“ überein. Ein Monstrum ist demnach „jeder Gegenstand, der in seiner Gestaltung von Gegenständen derselben Art in auffallender Weise abweicht“ 94. Hier deutet sich bereits die sprachliche Unschärfe der Bezeichnungen an, die teils synonym, teils in Abgrenzung voneinander verwendet wurden. Da sich die Bezeichnung Monstrum sowohl von dem lateinischen Verb „monere“ (mahnen, warnen) als auch von „monstrare“ (zeigen)“ ableiten lässt95, bestand, wie Javier Moscoso erläutert, lange Zeit Unklarheit darüber, ob „[die] Monster ihren Namen […] dadurch erhalten [haben], daß man sie öffentlich zur Schau stellte, [oder] weil sie als außergewöhnliche Erscheinungen angesehen wurden, die gerade in dieser Eigenschaft eine klare und eindeutige Warnung darstellten.“96 Wenn auch den so genannten Monstren im 18. Jahrhundert noch das „Unberechenbare, Zerstreute und Enigmatische“97 des physiognomisch Abweichenden anhaftete, so erfuhr der Begriff im Rahmen der fortschreitenden wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem fehlgebildeten 88 Vgl. dazu Kapitel 2.2.5. Artikel „Mißgeburt“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. S. 489f. 90 Ebd. S. 486. 91 U. Helduser: Poetische „Missgeburten“ und die Ästhetik des Monströsen S. 671. 92 W. Röcke: Die Zeichen göttlichen Zorns. S. 157. 93 Artikel „Monsra [!] oder Monstrum“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. S. 1220. 94 Artikel „Monstrum“. In Meyers neues Konversations-Lexikon (1872), Bd. 11. S. 696. 95 J. Moscoso: Vollkommenen Monstren und unheilvolle Gestalten. S. 59. 96 Ebd. 97 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 12. 89 18 Körper insbesondere im Verlauf des 19. Jahrhunderts eine Bedeutungsverschiebung. Während im medizinwissenschaftlichen Kontext der Terminus Missbildung die Begriffe Missgeburt und Monstrum ersetzte, bezeichnete das Monstrum beziehungsweise Monster fortan „weniger reale körperliche Fehlbildungen als vielmehr die mythologischen Ungeheuer und Mischwesen“.98 Ferner wurden die Begriffe im späten 19. Jahrhundert zunehmend für das Riesige und Gewaltige verwendet. In Herders Universal-Lexikon aus dem Jahr 1906 ist unter dem Stichwort Monster zu lesen: „Kolossal…, Riesen…, Massen…, in Zusammens[setzung], z.B. M.-meeting, Massenversammlung.“99 Demgemäß wurde eine Musikveranstaltung im Mainzer Anzeiger als „Monstre-Konzert“ angekündigt, wobei sich die Bezeichnung wohl eher auf die Größe des Konzertes als auf die Charakterisierung der Akteure beziehen sollte100. Zuletzt popularisierten die Literatur der Romantik und des Fin-desieclè, das Kino und selbst die politische Rhetorik des 20. Jahrhunderts101 den monströsen, da gewalttätigen und abscheulichen, Verbrechertypus. So wird Frankensteins mordende Kreatur in Mary Shelleys Frankenstein, or the Modern Prometheus (1818) etwa als „a detestable monster“102 bezeichnet.103 Der Begriff Monster wurde nun mehr, so auch der Hinweis in Meyers Lexikon, „sowohl im physischem, als im moralischem Sinne gebraucht“104. Diese Konnotation haftet dem Monströsen bis heute an, wie nicht zuletzt der Spielfilm Monster (2003), der eine amerikanische Serienmörderin porträtiert, zeigt. Die Bezeichnung Monstrum beziehungsweise Monster vollzog also eine definitorische Genese von der sichtbaren körperlichen Fehlbildung hin zum moralisch „verfehlten“ Menschen und deutet an, wie fehlgebildete Menschen wahrgenommen und bewertet wurden. Im Rahmen der Abnormitätenschauen des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts waren die Begriffe Abnormität, Monstrosität, Spezialität und schließlich Freak als Bezeichnungen für körperbehinderte Menschen gebräuchlich. Der Begriff Abnormität meint, ähnlich wie der Ausdruck Monstrum, „eine Abweichung von der Regel oder Norm eines Naturkörpers“105 und die Bezeichnung Monstrosität lässt sich auf das lateinische Adjektiv monstruosus im 98 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 11. Artikel „Monster“. In Herders Konversations-Lexikon (1906), Bd. 6. S. 111. 100 Mainzer Anzeiger vom 18. August 1896, No. 191, Jahrgang 47. 101 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 11. 102 M. Shelley: Frankenstein, or The Modern Prometheus. S. 109. 103 Da eine Analyse der monströsen Figuren in der Literatur des Fin-de-siècle den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen würde, sei an dieser Stelle auf die Untersuchung von Florian Beckerhoff, Monster und Menschen. Verbrechererzählungen zwischen Literatur und Wissenschaft (Frankreich 1830-1900), Würzburg 2007, verwiesen. 104 Artikel „Monstrum“. In Meyers neues Konversations-Lexikon (1872), Bd. 11. S. 696. 105 Artikel „Abnormität“. In Meyers großes Konversations-Lexikon (1909), Bd. 1. S. 45. 99 19 Sinne von „widernatürlich“ und „scheußlich“ zurückführen106. Der englische Begriff Freak, der auch in eingedeutschter Form verwendet wird, meint „etwas Außergewöhnliches“, „eine Laune der Natur“, im spezifischeren Sinne auch „Missgeburt“ und „Monster“.107 Im heutigen Sprachgebrauch ist die Bezeichnung nicht nur negativ konnotiert. In der Fankultur meint sie etwa eine Person, die „in ihrem Wissen als auch in ihrem gesammelten Besitz [andere Fans] um ein Vielfaches [übertrifft]“108, so zum Beispiel „Star Trek Freak“. Gemeinsam ist allen Bezeichnungen, dass der körperbehinderte Mensch als außerhalb der Norm liegend begriffen wurde und dass diese Normabweichung zumeist negativ konnotiert war. Die Vielzahl der kaum eindeutig voneinander abgrenzbaren und teils synonym verwendeten Termini demonstriert, wie schwer sich eine morphologische Veränderung der Physiognomie – auch terminologisch – greifen ließ. Die Begriffsverwirrungen und Bedeutungsverschiebungen in dem komplexen Diskursfeld über Monstrositäten verweisen letztendlich auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi, die in Abhängigkeit von den ethisch-religiösen und medizinischen Diskursen der Zeit den abweichenden Körper definierten. In der vorliegenden Arbeit werden die erläuterten Bezeichnungen als historische Kategorien benutzt, die sich nicht ohne Bedeutungsverschiebung durch die wertneutralen Bezeichnungen „Fehlbildung“ und „Körperbehinderte“ ersetzen lassen. Die Verwendung der Begriffe „Monstrum“, „Monstra“ und „Missgeburt“ beziehungsweise „monströse Geburt“ folgt der frühneuzeitlichen Diktion; eine Diskriminierung ist damit nicht beabsichtigt. 2.2 Zur Deutungsgeschichte des „Monströsen“: Vorstellungen über die Entstehung von „Missgeburten“ in der frühen Neuzeit Angeborene Fehlbildungen haben nachweislich seit der Antike die Aufmerksamkeit der Menschen erregt und zu verschiedenen Auffassungen über die Ursache und die Bedeutung des fehlgebildeten Körpers geführt. So vermutete etwa der römische Gelehrte Cajus Plinius Secundus (23-79 n. Chr.), der wie Cicero ein Anhänger der Prodigienlehre war, dass die Monstra vom Rande der Welt stammten. Zu diesen Monstravölkern zählte er etwa die Hundsköpfigen (Kynokephaloi) und die Schattenfüßler (Skiapoden), die er in seiner enzyklopädischen Naturkunde Naturalis historia beschrieb.109 Die Vorstellung, dass 106 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 10. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. S. 87. 108 A. Hepp: Cultural Studies und Medienanalyse. S. 233. 109 I. Ewinkel: De monstris. S. 1. 107 20 „monströse“ Geburten als apokalyptische Warnzeichen zu verstehen seien, blieb durch die Wiederbelebung der antiken Prodigienlehre in der Renaissance bis weit in das 17. und 18. Jahrhundert hinein erhalten110 und wurde nur langsam durch die „Naturalisierung des missgebildeten Körpers“, also die Erklärung der so genannten Wunder durch natürliche Ursachen, widerlegt. Dennoch blieben verschiedene als falsifiziert geltende Vorstellungen über „Missgeburten“ im populären Diskurs virulent, wie die ausführliche Analyse der Zeitungs- und Zeitschriftenannoncen in Kapitel 3 zeigen wird. 2.2.1 „Göttliche Zeichen“ und „Wunderwerck“ – Die Monstradeutung im 15. und 16. Jahrhundert Im März des Jahres 1512 notierte der Florentiner Apotheker Luca Landucci in seinem Tagebuch: „Wir hörten, dass in Ravenna ein Monstrum zur Welt gekommen war; […] es hatte ein Horn auf dem Kopf, das war steil aufgerichtet wie ein Schwert, und statt Armen hatte es zwei Flügel wie eine Fledermaus, und in der Höhe der Brust hatte es auf einer Seite ein ƒio [ein Y-förmiges Zeichen] und auf der anderen ein Kreuz, und weiter unten an der Gürtellinie zwei Schlangen, und es war ein Hermaphrodit, und am rechten Knie hatte es ein Auge, und sein linker Fuß war wie eine Adlerkralle. Ich habe es auf einem Bild gesehen, und jeder, der wollte, könnte dieses Bild in Florenz betrachten.“111 Achtzehn Tage nach der Geburt des Monstrums wurde Ravenna von französischen Truppen okkupiert. Für Landucci war es „offenkundig, welches Unheil das Monstrum […] angezeigt hatte“112. Er schrieb: „Es scheint, als ob die Stadt, wo solche Wesen geboren werden, immer von einem großen Unglück befallen wird […]“113. Seine Auffassung über die Bedeutung des Monstrums spiegelt die im 16. Jahrhundert weit verbreitete Annahme wider, dass die Natur, insbesondere aber außergewöhnliche Naturereignisse wie Himmelserscheinungen, Naturkatastrophen und eben auch Monstra, gleichgültig ob es sich um real existierende „Missgeburten“ oder um augenscheinliche Phantasiegestalten wie das vorgenannte Monstrum von Ravenna handelte, eine von Gott intendierte Zeichenfunktion besäßen.114 Solche Zuschreibungen an Monstra waren keineswegs neu. Bereits in der Antike glaubte man, in einer abweichenden Physiognomie eine Warnung Gottes zu erkennen, und es war die Aufgabe einiger weniger 110 J. Kunze/ I. Nippert: Genetik und Kunst. S. 3. Landucci, Luca: Diario fiorentino dal 1450 al 1516. Hrsg. v. I. Del Badia. Florenz 1883, S. 314, zit. n. Daston, Lorraine/ Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 210. 112 Ebd. 113 Ebd. 114 I. Ewinkel: de monstris. S. 2f. 111 21 Gelehrter, diese Mahnzeichen zu deuten. Ähnlich moralisierende Auslegungen für das Auftreten von Monstra lassen sich für das Mittelalter bezeugen. In ihrem Liber Scivias (Wisse die Wege) schrieb Hildegard von Bingen (1098-1180): „Oft auch geschieht […] die Begegnung von Mann und Frau in Gottvergessenheit und Teufelstrug, und es erfolgt eine Mißgeburt.“115 Mit der Renaissance der lateinischen Kulturepoche im 16. Jahrhundert wurde die antike Lehre von den Wunderzeichen, die so genannte Prodigienlehre, – und damit die Deutung des fehlgebildeten Körpers als göttliches Zeichen – wiederbelebt116. Deutliches Indiz für diese Entwicklung war die Entstehung der Wunderzeichensammlungen als „eine der produktivsten und beliebtesten literarischen Gattungen des 16. Jahrhunderts“117 und die Verbreitung von Einblattdrucken118, welche neben der Verkündung von außergewöhnlichen Naturzeichen wie Kometen oder Überflutungen die Beschreibung und Auslegung von monströsen Geburten zum Inhalt hatten119. Zu den bekanntesten Wunderzeichensammlern der frühen Neuzeit zählten der Zwickauer Stadtarzt Jobus Fincelius (1556-1562)120, die lutherischen Theologen Caspar Goltwurm (1557)121 und Christoph Irenäus (1584)122 und der protestantische Humanist Conrad Wolfhardt, genannt Lycosthenes, (1557)123. Ihre Sammlungen bildeten zusammen mit den Monstraflugblättern, den enzyklopädischen Beschreibungen der entlegenen Monstravölker und den naturkundlichen Monstrasystematiken Teil eines komplexen Diskursfeldes über die Deutung des Monströsen.124 115 H. v. Bingen: Wisse die Wege, Scivias. S. 129. I. Ewinkel: De monstris. S. 5. 117 W. Röcke: Die Zeichen göttlichen Zorns. S. 145. 118 Einblattdrucke sind einseitige Druckschriften zur Verbreitung besonderer Mitteilungen, die das politische, kirchliche, soziale oder wissenschaftliche Tagesgeschehen betreffen. Sie enthielten meist eine Illustration in Kupferstich oder Holzschnitt und eine dazugehörige Erläuterung. Die Herausgabe eines Blattes bedurfte der behördlichen Genehmigung. Da es erst seit der 2. Hälfte des 17. Jahrhunderts reguläre Tageszeitungen gab, bilden Flugblätter eine wichtige Geschichtsquelle für die Neuzeit. (Vgl. E. Holländer: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt. S. 55-57./ Der große Brockhaus (1954), Bd. 4, S. 155.) 119 I. Ewinkel: De monstris. S. 7. 120 Fincelius, Jobus: Warhafftige beschreybung vnd gruendlich verzeichnuß schröcklicher Wunderzeichen vnd Geschichten. 3 Teile. Nürnberg 1556-1562. 121 Goltwurm, Caspar Athesinus: Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch. Darinne alle fuernemste Goettliche/ Geistliche/ Himlische / Elementische/Irdische vnd Teuflische wunderwerck/ so sich in solchem allem von anfang der Welt-schoepfung biss auff vnser jetzige zeit/zugetragen vnd begeben haben/Kuertzlich vnnd ordentlich verfasset sein /…/“. Frankfurt/Main 1557. 122 Irenäus, Christoph: De monstris. Von seltzamen. Wundergeburten, Ursel 1584. 123 Lycosthenes, Conrad: Wunderwerck oder Gottes unergründtliches vorbilden/das er inn seinen Geschöpffen allen/so Geystlichen, so leyblichen/in Fewr/Lufft/Wasser/Erden/auch auß den selben vier vrhaben/ineingfügtem stuck dem Mentschen/in Gflügel/Vieh/Thier/Visch/Gwürm/von anbegin der weldt/biß zuo unserer diser zeit/erscheynen/hören/brienen lassen… Auß Herrn Conrad Lycosthenis Latinisch zuosammen getragner beschreybung/mit grossem fleiß/durch Johann Herold/vffs trewlichst inn vier Büchern gezogen vnnd Verteutscht. Basel 1557. 124 W. Röcke: Die Zeichen göttlichen Zorns. S. 147. 116 22 Eine beachtliche Anzahl der Monstraflugblätter hat sich in der Wickina erhalten, einer Sammlung von Druckschriften, Flugblättern, handschriftlichen Briefen und Notizen, die der protestantische Geistliche Johann Jakob Wick zwischen 1560 und 1587 anlegte125. Eugen Holländer (1921) und Albert Sonderegger (1929) waren die ersten Autoren, die die Monstraflugblätter der Wickiana unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten auswerteten.126 In einem Großteil der von ihnen untersuchten Monstraflugblätter zeichnet sich eine eschatologisch-theologische Auslegung der Missgeburten ab. Tatsächlich wurden die so genannten Wundergeburten vorrangig von Autoren beschrieben, die der Reformation sehr nahe standen und die in den Monstra meist „Zeichen für den Zorn Gottes und sein nahe bevorstehendes Weltengericht“127 zu erkennen glaubten. So ist auf einem Flugblatt aus dem Jahr 1560 über einen mutmaßlich fehlgebildeten Jungen aus „Hispania“ folgendes zu lesen: „[D]as solch grausam wundersachen / zuletst ein iamer werden machen […] Mit solchen zeichen warnt uns gott […]“128. In demselben Flugblatt heißt es etwas später: „Gen Rom dem langen ward gegeben / Der jetz und ist ein Cardinal / Der solch wunderlichen fal / in seinem hoff lang hat gehalten“129. In seiner Funktion als göttliches Warnzeichen verblieb der „Knabe aus Hispania“ am Hof des besagten katholischen Geistlichen und figurierte dort möglicherweise als ständiges Mahnmal. Denn bisweilen wurden „die ausserordentlichen Erscheinungen, die Anzeichen und Wunder, die Kometen aller Art, wie auch ähnliche Lichtund Lufterscheinungen“ als „Gottes wunderbare […] gesandte väterliche Mahnung“ gedeutet, „Busse zu tun für das frühere Leben“130, wie aus einem auf Latein verfassten Flugblatt aus dem Jahr 1543, das ein totgeborenes „Doppelkind“131 beschreibt, hervorgeht. Doch welche göttliche Absicht sich hinter den „Wunderzeichen“ und insbesondere den „Wundergeburten“ tatsächlich verbarg, „ist jm allein wissend“132, wie zahlreiche Prodigienautoren schlossen. Wenn also die Reformatoren Martin Luther (1483-1546) und 125 A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 5f. Vgl. Holländer, Eugen von: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart: Ferdinand Enke, 1921./ Sonderegger, Albert: Missgeburten und Wundergestalten in Einblattdrucken und Handzeichnungen des 16. Jahrhunderts. Aus der Wickiana der Zürcher Zentralbibliothek. Medizinische Fakultät der Universität Zürich, Diss., 1927. 127 W. Röcke: Die Zeichen göttlichen Zorns. S. 145. 128 Flugblatt „Der Knabe aus Hispania“ (1560), In: Wickiana, Bd. I, S. 54. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 12. 129 Flugblatt „Der Knabe aus Hispania“ (1560), In: Wickiana, Bd. I, S. 54., zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 13. 130 Kupferstich. In: Wickiana, Bd. 16, S. 146. Übersetzt n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 31f. 131 A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 29. 132 Flugblatt aus dem Jahre 1563 aus B. 4, S. 417 der „Wickiana“, zitiert nach A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 16. 126 23 Philipp Melanchthon (1497-1560) das „Mönchskalb“, eine auffällige Kalbsmissgeburt, und den „Papstesel zu Rom“ als ein Zeichen für Gottes Missbilligung „der geystlichenn missethatt“133 des Mönchstums und des Papstes deuteten, so lässt sich hier die Instrumentalisierung der Monstra vor allem in konfessionspolitischer Hinsicht feststellen. Darüber hinaus wurde ein „Verweiszusammenhang von Wunderzeichen und historischem Ereignis“ hergestellt und die Funktion des Monstrums somit vereindeutigt und konkretisiert134. Ferner finden sich Beispiele für eine moralisierende Auslegung der Monstra, die vermutlich der sexuellen Disziplinierung der neuzeitlichen Gesellschaft dienen sollte. Auf einer Federzeichnung aus der Wickiana heißt es über eine Missgeburt: „Zwei Eheleute, die im heiligen Stand der Ehe gar übel gelebt und diss hat jenen Gott zur Strafe und Warnung ein sölich erschröcklich Anblick gäben, wie diese Figur zu verstan gibt.“135 Das Auftreten von „Missgeburten“ wurde aber auch mit dem Teufel „als Verursacher aller Unordnung auf der Welt“136 in Zusammenhang gebracht. Die abweichende Physiognomie der Monstra und die entsetzliche Erscheinung des Teufels, die in der Vorstellung der Menschen ebenfalls von der anthropomorphen Gestalt abwich, legten die Verwandtschaft zwischen beiden nahe137. Diese erklärten die Gelehrten zumeist mit der These von den so genannten „Wechselbälgen“, die „so die Hexen mit dem Teuffel sollen gezeuget, und hernach an anderer von ihnen gestohlener junger Kinder Stelle den unglücklichen Eltern eingeschoben“138 worden sein. Da sie nicht als beseeltes menschliches Lebewesen wahrgenommen wurden, war es legitim, eine solche Teufelsgeburt zu töten139. So hatte etwa Luther dem „Fürsten von Anhalt geraten […], man solle den Wechselbalg […] ersäufen“, da „solche Wechselkinder nur ein Stück Fleisch, eine massa carnis sein, da keine Seele innen ist“140. Die Einschätzung des fehlgebildeten Menschen als eine bloße fleischliche 133 Luther, Martin: Deutung des Munchkalbs zu Freyberg. In: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA). Werke und Schriften. 80 Bde. Band 11. Weimar 1883-2000. S. 380. zit. n. Werner Röcke: Zeitenwende und apokalyptische Ängste in der Literatur des Spätmittelalters. S. 24. 134 W. Röcke: Zeitenwende und apokalyptische Ängste in der Literatur des Spätmittelalters. S. 24f. 135 Federzeichnung. In: Wickiana, Bd. 18, S. 3. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 78. 136 I. Ewinkel: De monstris. S. 185. 137 Ebd. 138 Artikel: „Wechselbälge“. In: Zedlers Universal-Lexikon, Bd. 53. Sp. 1078. 139 Auch die Wickiana enthält ein Flugblatt, das die Tötung einer solchen „Teufelsmissgeburt“ schildert: Nachdem das Wesen, das „zur Stund ganz rauch von Haar und sehr schröcklich anzuschauen“, unter das Bett der Entbundenen gelaufen war, hat „man […] es zwischen den Betthen erwürgt.“ zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 93. 140 Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA). Tischreden. 6 Bde. Band 5. Weimar 1912-1921. S. 8, Nr. 5207, zit. n. Gisela Wahl. S. 40. 24 Masse provozierte zwangsläufig die theologisch-moralische Frage, ob die Missgeburten der Taufe für würdig zu erachten seien141. 2.2.2 Die Tauffrage Die protestantischen Theologen der frühen Neuzeit gestanden Kindern mit körperlichen Fehlbildungen im Allgemeinen die Taufe zu, da das Mindestmaß an Kriterien, die zur Taufe berechtigten, als erfüllt galt.142 Demnach mussten Kinder vollständig geboren143, lebend und noch nicht getauft sein144. Zwar blieb die Frage nach der Beseelung eines Monstrums damit unbeantwortet, doch im Zweifelsfall schienen sich die Theologen in Anbetracht der hohen Sterblichkeitsrate der Monstra, die ein schnelles Handeln erforderte, für die Taufe zu entscheiden145, wie auch verschiedentlich in den Monstraflugblättern der Wickiana belegt ist. Über die Geburt einer Doppelfehlbildung resümierte ein Autor: „Als aber dises Wunderkind in diese welt geboren wurde/hat der ein Kopff das leben gehept/der andere aber schon tod gewesen/welches kind auch zu der heiligen empfangen/überal aber nur uff zwey stund gelebt.“ tauffe gebracht/und denselbigen 146 Maßgebend für die Theologen war augenscheinlich der Grad der Abweichung von der normalen menschlichen Physis. Wies ein Monstrum vornehmlich menschliche Züge auf, so galt es als „gleich einem Menschen beseeltes und somit tauffähiges Lebewesen“147, wich es stark von der menschlichen Physiognomie ab, gab eine durch eschatologische Ängste infiltrierte Obrigkeit bisweilen der Tötung des Kindes statt. Ein Flugblatt aus dem Jahr 1586 schilderte den Fall der Margaretha Aeckelin, die „ein seltsam und erschröckliche Wundergeburt an diese wällt bracht, nemlich ein greuwlich tier“, das „zuletzt für den wysen und Ersamen Rhat zu Passau getragen. Und erkannt der Rhat, dieses thier zu thöden, es kundt niemand wüssen, was dies für ein Creatur were […]“148. 141 I. Ewinkel: De monstris. S. 208. Ebd. 143 Paul Schoen führt in seinen Anmerkungen aus, dass die Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts „ausdrücklich [die] ganze Geburt des Kindes“ fordern und „die Vollziehung der Taufe an einzelnen aus dem Mutterleibe herausgekommenen Teilen“ verbieten (Vgl. P. Schoen: Das evangelische Kirchenrecht in Preußen. S. 345.) 144 P. Schoen: Das evangelische Kirchenrecht in Preußen. S. 345. 145 I. Ewinkel: De monstris. S. 209. 146 Flugblatt. In: Wickiana, Bd. 6, S. 163. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 17f. 147 I. Ewinkel: De monstris. S. 215. 148 Aquarellierte Federzeichnung aus Band 25, S. 9 der „Wickiana“; zitiert nach A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 90f. 142 25 Letztlich entschied das Vorhandensein zweier Organe, ob eine Missgeburt als Monstrum oder als Mensch anzusehen sei: das Herz und das Gehirn149. Diese Annahme hielt sich nachweislich bis ins 18. Jahrhundert, heißt es doch in Zedlers Universal-Lexikon in Bezug auf Doppelfehlbildungen: „Ob nun eine solche gedoppelte Mißgeburt vor eine oder zwey Personen zu achten, wird daher entschieden, wenn die zu einen Menschen wesentlich erfoderten [sic] Theile, als nemlich der Kopff und das Hertz, doppelt vorhanden.“150 Handelte es sich jedoch um „wahrhafftige Monstra“ 151, die also stark von der menschlichen Gestalt abwichen oder Ähnlichkeiten mit Tieren aufwiesen, etwa „einen Hundes- oder Schweins-Kopff“152, so wurden diese Wesen „mit Vorbewußt und Genehmhaltung der Obrigkeit, oder auch nach vorher eingeholter Rechtlicher Erkänntniß, todt gemacht […], es wäre denn, daß dieselben noch einige Anzeige der Vernunfft von sich gäben.“153 Hier zeigt sich die Verschränkung von theologischem und juristischem Diskurs bei der Klärung der Tauffrage. 2.2.3 Der juristische Diskurs Noch im 18. Jahrhundert wurden vielfach „Misgeburten, Zwerge, Krippel, Stumme, Lahme, Blinde, Taube und ungestalte Personen von der Erbfolge, Lehenfolge und Landesfolge“ ausgeschlossen, weil sie den damit verbundenen Aufgaben und Pflichten nicht gerecht werden könnten.154155 Aus einem entsprechenden Gesetzestext aus dem Jahr 1802 geht hervor, dass „etwas, das keinen menschlichen Körper hat, [also] eine Mißgeburt, […] die Rechte der Menschen, z.e. das Erbrecht, nicht“ besitzt156. Was jedoch per definitionem als Missgeburt zu gelten hatte und ab welchem Grad der morphologischen Abweichung ein Körper als nicht mehr menschlich anzusehen war, war von Seiten der Jurisprudenz nicht verbindlich festgelegt worden und so oblag diese Aufgabe im Zweifelsfall einer medizinischen Autorität wie Hebammen und später auch studierten Ärzten157. Doch gerade 149 I. Ewinkel: De monstris. S. 219. Artikel „Mißgeburt“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. Sp. 486. 151 Ebd. Sp. 490. 152 Ebd. Sp. 486. 153 Ebd. Sp. 490. 154 F.C.J. Fischer: Lehrbegrif sämtlicher Kameral- und Polizeyrechte. S. 7. 155 Unter dem Stichwort „Zwerg“ heißt es in Zedlers Universal-Lexikon dazu: „Die Zwerge werden in dem Sächsischen Land-Rechte Lib. I, art. 4. mit denen Kröpeln, Stummen, Blinden, Gebrechlichen, u.s.w. in eine Classe gesetzt, und zwar vor Erbes- aber nicht vor Lehnsfähig erkläret.“ (Vgl. Artikel „Zwerg“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 64. Sp. 1120). 156 Repertorium des gesammten positiven Rechts der Deutschen. Besonders für practische Rechtsgelehrte. Teil 10. Leipzig 1802. S. 205. zit. n. M .Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 23. 157 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 23 150 26 die Schilderungen der Hebammen, die diese über jede vollzogene Geburt geben mussten, lieferten kaum adäquate Beschreibungen über die Abnormitäten, da sich die Geburtshelferinnen „mangels notwendiger sprachlicher Gewandtheit“ oft bildlicher Vergleiche aus dem Tierreich bedienten.158 Diese tierisch-monströsen Mischwesen provozierten den „Horror angesichts [der] an alte Mythen erinnernde[n] Formen“159 und entluden sich in Verdachtsäußerungen wie Sodomie. Einen Erkenntnisgewinn über die Ätiologie der Monstra erhoffte man sich daher durch die Sektion, die sich seit Vesal (15141564) als erkenntnisförderndes Teilgebiet der Anatomie etabliert hatte.160 Doch vielfach beklagten Naturforscher die Verweigerung der Eltern, ihre fehlgebildeten Kinder zur Obduktion freizugeben, da diese ein bekannt werden der Missgeburt zu verhindern suchten161. Ein Flugblatt der Wickiana beschreibt den Fall einer „erlichen wybspersonen“, die im Jahr 1580 „ein erschröckenlich monstrum“ gebar „und hett man es umb minders geschreys willen hinweg gethen und in gheim ghelten.“162 Dass betroffene Eltern die Geburt eines fehlgebildeten Kindes verheimlichen wollten, lag nicht zuletzt an der empfundenen Beschämung (auch für das vermeintliche eigene Fehlverhalten) und der Befürchtung, sich den Schuldzuweisungen und Verdachtsäußerungen der Bevölkerung aussetzen zu müssen. Vor allem im Zusammenhang mit der Imaginationslehre, also der Theorie von der Einbildungskraft (Imagination) der Schwangeren, wurden Vorwürfe wie „Geschlechtsverkehr während der Menstruation, […] sodomitische[ ] Ausschweifung der Frau oder […] Beischlaf mit dem Teufel und seinen Dämonen“163 geäußert. Bisweilen führte die Verweigerung der Sektion zur Erlassung entsprechender Gesetze, die zur „sofortigen Ablieferung deformierter Geburten bei Strafandrohung“ verpflichteten, so etwa um 1770 in Preußen.164 Allerdings weist Maren Lorenz darauf hin, dass die andauernden Beschwerden von Seiten der Mediziner und die wiederholten Erlässe andeuten, dass solche Maßnahmen kaum fruchteten.165 In seinem Obduktionsbericht äußerte ein Chirurg, der im Jahre 1796 der Geburt einer Doppelfehlbildung beiwohnte, sein Bedauern über den Widerstand des betroffenen Vaters: „Ich wünschte das Kind zum Andenken aufbewahren zu können, der Vater wollte es mir aber um keinen Preiß überlassen; und nur 158 C. Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. S. 112. M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 23 160 G. H. Schumacher: Monster und Dämonen. S. 129. 161 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 24. 162 Flugblatt. In: Wickiana. Bd. 19, S. 16. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 63f. 163 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 20. 164 Ebd. S. 24. 165 Ebd. 159 27 durch dringendes Zureden des Geistlichen [!] wurde uns die Section, erst ungefähr eine Stunde vor der Beerdigung des Kindes vergönnt. […] Wie manches blieb uns noch zu untersuchen übrig! […]“166. Wenngleich von theologischer und juristischer Seite Zweifel an der Beseelung der Monstra bekundet wurde, signalisieren die Ablehnung der Sektion167 und die Insistierung der Eltern auf ein ordentliches Begräbnis ihrer fehlgebildeten Kinder, dass Angehörige in den „monströsen“ Geburten durchaus beseelte Wesen sahen, die einer christlichen beziehungsweise jüdischen Bestattung würdig waren und die folglich auch die Taufe empfangen durften.168 2.2.4 „Missgeburten“ als „lusus naturae“ – Zur Ästhetisierung des Monströsen Gemäß der neuzeitlichen Signaturenlehre galten die Natur und insbesondere die außergewöhnlichen Naturphänomene als Träger göttlicher Zeichen. Doch wie diese Zeichen Gottes zu lesen waren, darüber war man unterschiedlicher Ansicht. Neben der mythologischmantischen Deutung der Monstra als Prodigien, die, wie das Monstrum von Ravenna, als Mahnung oder Drohung Gottes, also als Zeichen drohenden Unheils, gedeutet wurden, existierten gleichermaßen naturalistische Erklärungsversuche, die die Mannigfaltigkeit der anthropomorphen Gestalt als Spiel der Natur (lusus naturae) interpretierten.169 Bereits die Antike kannte die Vorstellung vom „lusus naturae“.170 Der griechische Gelehrte Plinius verstand physiognomische Auffälligkeiten nicht als Abirrungen vom Telos der Natur, sondern sah in ihnen die Verkörperung der unbegrenzten Gestaltungsmöglichkeiten derselben, worin er sich apodiktisch von Aristoteles (384-322 v. Chr.) unterschied.171 Plinius war der Ansicht, dass die Natur keinen einheitlichen Plan verfolgte oder aber dass es dem Menschen an kognitiven Fähigkeiten fehlte, um diesen Plan zu begreifen.172 Das Fremdartige, so Plinius, lag nicht in der Natur selbst, sondern vielmehr im Betrachter, der das, was von dem Gewohnten abweicht, als sonderbar empfindet.173 Ganz ähnlich 166 Osiander, Friedrich Benjamin: Neue Denkwürdigkeiten für Ärzte und Geburtshelfer. Band 1. Göttingen 1797. 1. Bogenzahl, IX. zit. n. M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 25. 167 Auf einem Monstraflugblatt der Wickinana wurde eine „Wundergeburt“ beschrieben, die nach vier Stunden verstarb. Der herbeigerufene Arzt wollte das Kind daraufhin sezieren, die Eltern gestatten es jedoch nicht. (Vgl. Flugblatt. In: Wickiana. Bd. 20, S. 176. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 65.) 168 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 30. 169 M. Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. S. 12. 170 M. Hagner: Monstrositäten in gelehrten Räumen. S. 14. 171 M. Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. S. 12. 172 Ebd. S. 12. 173 J. N. Neumann: Der mißgebildete Mensch. S. 38. 28 argumentierte im 16. Jahrhundert Michel de Montaigne in seinem Essay Über ein mißgeborenes Kind: „Ce que nous appellons monstres, ne le sont pas à Dieu, qui voit en l’immensité de son ouvrage, l’infinité des formes, qu’il y a comprinses. […] De sa toute sagesse, il ne part rien que bon, et commun, et reglé: mais nous n’en voyons pas l’assortiment et la relation. […] . Nous appellons contre nature, ce qui advient contre la coustume. Rien n'est que selon elle, quel qu'il soit. Que cette raison universelle et naturelle, chasse de nous l'erreur et l'estonnement que la nouvelleté nous apporte.“174 Montaigne zog die aristotelische These von der naturwidrigen Irregularität der Fehlbildungen in Zweifel und konstatierte stattdessen, dass sich die „wohlgeordnete“ Schöpfung Gottes auch in einem „mißgeborenen Kind“ manifestiere, selbst wenn der Mensch dies nicht zu erkennen vermag.175 Auch der deutsche Philosoph Gottfried Wilhelm Leibniz (1646-1716) wies in seiner Theodizee auf die Regelhaftigkeit der Monstrositäten hin und postulierte, dass „die Missgeburten zur Ordnung gehören“ und „in den Regeln eingeschlossen“ sind, „wenn wir auch nicht im Stande sind, diese Uebereinstimmung klar darzulegen“.176 Bis weit in das 17. Jahrhundert hinein hielt sich die Vorstellung von den lusus naturae als Manifestationen von Gottes unermesslicher Schöpfungskraft, die unter den Menschen Verwunderung und Bewunderung für das Werk Gottes auslösen sollten. Sebastian Münster schrieb in seiner Weltchronik Cosmographei (1628) über die in Indien beheimateten monströsen Erdrandbewohner, dass Gott mit „veil [sic] der gleichen monstra oder wunder […] in dem land India […] sein onaußsprechlich weysheit und mechtigkeit wollen den mensche durch mancherley werck vor augen stellen und in einem jedem land etwas machen darab sich die ynwoner der ander lender verwunderten […]“177. Stellte die aristotelische Auffassung, es handle sich bei Monstren um „Fehler“ der Natur und um eine 174 M. de Montaigne: Chapitre XXX: D’un enfant monstrueux. In: Les Essais. Livre II. S. 749. In der Gesamtübersetzung von Hans Stilett heißt es: „Was wir Mißgeburten nennen, sind für Gott keine, da er in der Unermeßlichkeit seiner Schöpfung all die zahllosen Formen sieht, die er darin aufgenommen hat. […] Gott läßt in seiner grenzenlosen Weisheit nichts entstehn, was nicht gut, wohlgeordnet und allgemeingültig wäre – wir können nur die innren Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten nicht erkennen. […] Was wider die Gewohnheit geschieht, nennen wir wider die Natur. Doch es gibt nichts, überhaupt nichts, was nicht gemäß der Natur geschähe. Laßt uns an Hand ihrer universalen Vernunft die abwegige Verblüffung abschütteln, die uns bei ungewohnten Erscheinungen jedesmal überkommt!“ (Vgl. Michel de Montaigne: „Über ein mißgeborenes Kind“, in: ders.: Essais, 2. Buch. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, München 1998, S. 352). 175 U. Helduser: Poetische „Missgeburten“ und die Ästhetik des Monströsen. S. 674. 176 Leibniz, Gottfried Wilhelm: Die Theodizee von der Güte Gottes, der Freiheit des Menschen und dem Ursprung des Übels, 3. Teil, Philosophische Schriften. Bd. 2.2. Frankfurt/Main 1986, S. 3. zit. n. Hagner, Michael: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. S. 83. 177 S. Münster: Cosmographei. Das fünffte Buch. Von den lendern Asie. Unter dem Kapitel „Causes des Monstres“ führt auch Ambroise Paré die Bewunderung für Gottes Schöpfung als eine der Ursachen für das Vorkommen von Monstra an: „Les causes des monstres sont plusieurs. La première est la gloire de Dieu.“ (Ambroise Paré: Des Monstres et prodiges. S. 4). 29 „Unregelmäßigkeit […] in der Ordnung der Wesen“178, den Schöpfungsplan Gottes in Frage, so bezeugte die Auslegung der Monstra als „Spiel der Natur“ indes Gottes Allmacht. Ferner wurde mit der Ästhetisierung des Monströsen im 17. Jahrhundert die Aufstellung von Missgeburten im Kuriositätenkabinett legitimiert. Wenngleich die wenigen Hinweise in Chroniken und Tagebüchern kaum Aufschluss darüber geben, wie der neuzeitliche Betrachter auf die öffentliche Vorführung von Monstra reagierte, so legen die Augenzeugenberichte, die Daston und Park zusammengetragen haben, doch nahe, dass die Zuschauer „je nach Begleitumständen Vergnügen oder Grauen“ empfinden konnten.179 Unter diesen „Begleitumständen“ verstehen die Autorinnen „die vielfältigen und schwankenden Bedeutungen“, die den Monstren in Abhängigkeit von den religiösen beziehungsweise politischen Geschehnissen der Zeit zugeschrieben wurden.180 Kam es zu „Kriegen, Aufständen oder Religionskämpfen“ oder wies ein Monstrum eine besonders augenfällige Anomalie auf, für die sich keine natürliche Erklärung finden ließ, so wurden die Monstren meist als göttliche Unheilszeichen gedeutet.181 Wichen sie indes in ihrer Physiognomie kaum „vom Natürlichen und Erwartbaren […] ab“, so waren sie „zumindest potentiell Quellen des Vergnügens“; sie evozierten nun mehr „Staunen im Übergang zur angenehmen, unterhaltsamen Überraschung.“182 So demonstriert ihr Vorkommen in zeitgenössischen fürstlichen und gelehrten Sammlungen, dass Monstren durchaus „Gegenstände ästhetischer Wertschätzung“ waren.183 Auch ihre Zurschaustellung auf Wochen- und Jahrmärkten diente wohl primär „der Bildung und des Vergnügens“184. Einige glaubensstarke Bürger befürchteten jedoch, dass die Monstra als unterhaltsame Schauobjekte ihre Wirksamkeit als unheilvolle Omina einbüßten.185 So argwöhnte etwa der französische Schriftsteller und Übersetzer von Münsters Cosmographei, François de 178 U. Helduser: Poetische „Missgeburten“ und die Ästhetik des Monströsen. S. 674. So definierte die französische Encyclopédie Monstra als Wesen gegen die Ordnung der Natur. (Vgl. Artikel „Monstre“. In: Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. Bd. 10. Neuchatel 1765. S. 671.) 179 L. Daston/ K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 225. Der Londoner Staatssekretär und Chronist Samuel Pepys beschrieb in seinem Tagebucheintrag vom 21. Dezember 1668 seine Begegnung mit einer bärtigen Frau, deren Anblick ihm augenscheinlich großes Vergnügen bereitete: „Went into Holborne, and there saw the woman that is to be seen with a beard. She is a little plain woman, a Dane; her name, Ursula Dyan; about forty years old; her voice like a little girl's; with a beard as much as any man I ever saw, black almost and grizly […] It was a strange sight to me, I confess, and what pleased me mightily.” (Vgl. S. Pepys: The Diary of Samuel Pepys. S. 2209). 180 L. Daston/ K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 226. 181 Ebd. S. 226f. 182 Ebd. S. 228. 183 Ebd. 184 Ebd. S. 229. 185 Ebd. S. 228f. 30 Belleforest (1530-1583), in seinem Werk Histoires prodigieuses, dass die primäre Bedeutung des Wortes „monströs“ im Sinne von „Unheil verkündend“ verloren ginge, würde es als Bezeichnung für alles Seltene verwendet werden.186 Im Hinblick auf die etymologische Entwicklung des Adjektivs im späten 19. Jahrhundert mutet seine Befürchtung fast visionär an. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts mehrten sich jedoch kritische Stimmen, die die körperlichen Fehlbildungen weder als Gegenstände des Vergnügens noch des Grauens verstanden wissen wollten. Ganz im Sinne der aristotelischen Tradition bewerteten diese Autoren, darunter Medizintheoretiker, Naturphilosophen und Theologen, Monstren als „Verirrungen der Natur“.187 Das Monströse wurde nunmehr als ein Verstoß gegen die harmonische Ordnung Gottes und das Prinzip der concinnitas begriffen, demzufolge sich die Geschöpfe durch Funktionalität und Ebenmäßigkeit auszeichnen.188 Die Frage, ob Missgeburten als „Monster oder Laune der Natur“ auszulegen seien und ob „Vergnügen oder Grauen“ die angemessenen Empfindungen waren, mit denen den fehlgebildeten Menschen zu begegnen seien, sollte in der Neuzeit ungeklärt bleiben und wurde durch die naturphilosophische These, Monstra seien „Verirrungen der Natur“189 zusätzlich verkompliziert. 2.2.5 Das „Versehen“ der Frauen Neben den apokalyptisch-theologischen Deutungen der „Missgeburten“ bestand seit der Antike190 eine zweite ätiologische Theorie über deren Vorkommen. So erklärte man eine körperliche Fehlbildung „nach der gemeinesten Meynung mehrentheils von der falschen Einbildung der Mutter, welche dem zarten Leibe gantz widrige Gestalten und Bildnisse […] eindrückte.“191 Da die Einbildungskraft oder „Imagination“ durch das Auge angeregt wurde, welches die visuellen Reize der Umgebung aufnahm, die in der Folge zu einer heftigen Gemütserregung der Mutter führten, sprach man von „Versehen“ 192 . Demzufolge konnte beispielsweise die allzu intensive Betrachtung eines Heiligenbildes zur körperlichen 186 Belleforest, François de: Histoires prodigieuses. Bd. 3, S. 698, zit. n. Daston, Lorraine/ Park, Katherine: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 229. 187 L. Daston/ K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 237f. 188 U. Helduser: Poetische „Missgeburten“ und die Ästhetik des Monströsen. S. 675. 189 Vgl. dazu Kapitel 3.1.1. 190 Erna Lesky konstatiert in ihrer Arbeit über die antiken Zeugungs- und Vererbungslehren, dass das Versehen zum ersten Mal literarisch für Empedokles (490-430 v. Chr.) bezeugt sei. (Vgl. E. Lesky: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihre Nachwirkungen. S. 103). 191 Artikel „Mißgeburt“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21 (Mi-Mt). S. 487. 192 I. Ewinkel: De monstris. S. 158. 31 Fehlbildung des ungeborenen Kindes führen. Der Pariser Chirurg und königliche Leibarzt Ambroise Paré (1510-1590) beschreibt in seinem Werk Des Monstres et prodiges den Fall eines stark behaarten Mädchens, dessen Mutter während der Empfängnis das Portrait des mit Fell bekleideten Heiligen Johannes, das am Fußende ihres Bettes hing, eingehend betrachtete haben soll.193 Auch körperliche Fehlbildungen, die der tierischen Physiognomie ähnelten, erklärten Gelehrte mit dem Versehen an dem infrage kommenden Tier. Eine Lippenspalte wurde auf die „stete[ ] Einbildung, genauer Betrachtung eines Hasen-Mauls“ zurückgeführt und folglich als „Hasenscharte“ bezeichnet194 und die widrige Rothaarigkeit der Kinder begründete man mit dem Versehen der Schwangeren an einem Eichhörnchen oder an einer rothaarigen Nachbarin195. Erschrak sich die werdende Mutter etwa an einer Maus, konnte dies die Stigmatisierung des Kindes durch einen so genannten Mäusefleck zur Folge haben. Auf Grund der zahlreichen teratogenen Wirkungen196, die dem Versehen zugeschrieben wurden, waren die schwangeren Frauen dazu angehalten, sich keinen Eindrücken auszusetzen, welche die Phantasie anregen könnten.197 So warnte der Schweizer Stadtarzt Fabrizius Hildanus (1560-1634) vor den verheerenden Auswirkungen des Betrachtens von Schlachtungen198 und der Theologe Christoph Irenäus (1522-1595) rief in seinem Werk De monstris dazu auf, die Zurschaustellung von Missgeburten zu beschränken199. Die Angst vor dem Versehen gereichte zudem als Begründung, um das Bettlerwesen, das man im 16. Jahrhundert ohnehin stark zu begrenzen suchte, einzuschränken.200 Einen entsprechenden Erlass verabschiedete 1622 der Rat der Reichsstadt Hall: „Der kropfend Bettelvogt soll seines Unfleißes, absonderlich aber des abscheulichen Kropfes, der kindenden Weiber wegen, abgeschafft werden.“201 Noch 1708 verbot der Rat der Stadt Nürnberg „der 193 „Damascene, autheur grave, atteste avoir veu une fille velue comme un Ours, laquelle la mere avoit enfantee ainsi difforme et hideuse pour avoir trop ententivement regardé la figure d’ un sainct Jean, vestu de peau avec son poil, laquelle estoit attachee aux pieds de son lit, pendant qu’elle concevoit.” (Vgl. A. Paré: Des Monsters et prodiges. Chap. IX, S. 35). Goltwurm schildert in seinem „Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch“ den ganz ähnlichen Fall eines übermäßig behaarten Mädchens, das dem böhmischen König Karl präsentiert worden sei. Die Mutter des Mädchens, welches „gantz härig unnd rauch gewest wie ein wildes Thier“, habe „in der Conceptio […] inbrünstiglich an den heiligen Johannem den Täuffer“ gedacht „wie er inn der Wüsten mit Camels haren […] bekleidet gewest were.“ (S. 229b). 194 Matthäus Purrmann: Grosser und gantz Neu-gewundener Lorbeer-Krantz oder Wund-Artzney. Frankfurt/ Leipzig 1722 (1. Aufl. Halberstadt 1684), S. 223. zit. n. Wahl, Gisela: Entstehung von Missgeburten. S.55f. 195 Artikel „Schwangerschaft“ In: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. Bd. 7. Sp. 1422. 196 Vgl. dazu auch Artikel „Schwangerschaft“. In: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. Bd. 7. Sp. 1418-1424. 197 I. Ewinkel: De monstris. S. 160f. 198 E. Fischer-Homberger: Krankheit Frau. Darmstadt/Neuwied 1984. S. 26f. 199 Irenäus, Christoph: De monstris. Von seltzamen. Wundergeburten, Ursel 1584. Kap. 5, zit. n. I. Ewinkel: De monstris. S. 161. 200 I. Ewinkel: De monstris. S. 161. 201 Artikel Schwangerschaft. In Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. Bd. 7. Sp. 1422. 32 schwangeren Frauen halber“ das Auftreten von fehlgebildeten oder verstümmelten Personen auf den Märkten202. Irene Ewinkel zufolge forcierte die Imaginationslehre somit „die gesellschaftliche Ausgrenzung und Internierung Mißgestalteter“203 in der neuzeitlichen Gesellschaft. Darüber hinaus wurden die Frauen für die körperlichen Fehlbildungen ihrer Kinder verantwortlich gemacht und ob ihrer scheinbaren Schreckempfindlichkeit und der daraus resultierenden eingeschränkt 204 Schutzbedürftigkeit in ihren Handlungsmöglichkeiten stark , was nicht ohne Konsequenzen für das Frauenbild in der neuzeitlichen Gesellschaft blieb205. Zur Vermeidung des Versehens empfahlen Mediziner und Theologen die Disziplinierung der weiblichen Einbildungskraft durch innerhäusliche Tätigkeiten, Beschränkung der sozialen Kontakte und schließlich auch die Unterdrückung unkeuscher Gedanken206. Hier erwies sich die Imaginationslehre als nützliches Vehikel im protestantischen Bestreben um die „Domestizierung“207 der Frau. Gleichwohl gestattete die Theorie vom Versehen den Frauen, die Fehlbildung ihrer Kinder auf äußere Ursachen zurückzuführen und so ein selbstverschuldetes Fehlverhalten von sich zu weisen208. Noch Anfang des 20. Jahrhunderts wurde die Imaginationslehre als Erklärung für phänotypische Abweichungen von der normalen Physiognomie herangezogen209, obwohl bereits im 16. Jahrhundert Autoren wie Fortunius Licetus (1577–1656) die teratogene Wirkung des Versehens bezweifelten. Wenngleich Licetus das Versehen grundsätzlich als Ursache für menschliche Fehlbildungen in Betracht zog, so schränkte der Mediziner doch ein, dass insbesondere „die Stummelbildungen gewiß nicht durch die Kraft des Versehens entstanden sein könnten, da eine noch so heftige Phantasie nicht die Kraft haben könne, etwas einmal Geschaffenes zu zerstören“210. Der französische Arzt James Blondel (16661734) nahm schließlich mit seiner Abhandlung Dissertation physique sur la force de l'imagination des femmes enceintes sur le fetus211 (1727) eine Vorreiterrolle im Kampf gegen die Versehenslehre ein. Hundert Jahre später sprach sich noch einmal der Kasseler Anatom Samuel Thomas Soemmering (1775-1830) gegen die Möglichkeit des Versehens aus. In 202 G. Wahl: von Missgeburten. S.47. I. Ewinkel: De monstris. S. 161. 204 Ebd. 169. 205 Ebd. S. 184f. 206 Ebd. 207 Ebd. S. 184. 208 G. Wahl: Entstehung von Missgeburten. S.49. 209 So erklärte der „Löwenmensch Lionel“ seine Überbehaarung mit dem Schock, den seine Mutter während ihrer Schwangerschaft erlitt, nachdem sie gesehen hatte, wie ihr Mann von einem Löwen getötet wurde. (Vgl. F. Kahn: Das Versehen der Schwangeren in Volksglaube und Dichtung. S. 34). 210 Licetus, Fortunius: De monstrorum natura, causis et differentiis. Padua 1634 [Padua 1616]. S. 74. Übersetzung nach G. Wahl: Entstehung von Missgeburten. S.58. 211 Deutscher Titel: Blondel, James: Über die Einbildungskraft der schwangeren Weiber. 203 33 seinen Abbildungen und Beschreibungen einiger Misgeburten äußerte er sich polemisch über das Versehen als teratogene Ursache für die Lippenspalte: „Ist es wohl gar keine Frage, daß es Hasenscharten und alle übrige Misgeburten in Ländern giebt, wo sich keine Hasen [...] befinden, an denen sich denn doch die Mütter gewöhnlich versehen haben sollen.“212 2.2.6 Der medizinisch-naturkundliche Diskurs zur Ätiologie der „Monstra“ Wie in Kapitel 2.2.1 erläutert wurde, trat die Frage nach der Ursache der körperlichen Fehlbildungen häufig zugunsten der Frage nach dem Sinn derselben zurück. Doch neben den theurgischen Deutungsversuchen mehrten sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts auch medizinisch-naturwissenschaftliche Erklärungsansätze für die Ursache der körperlichen Abweichungen.213 Kennzeichnend für diese Transitionsphase waren naturkundliche Abhandlungen, die neben phantastischen Darstellungen auch Illustrationen mit hohem Realitätsbezug enthielten, wie beispielsweise das Werk De monstris (1665) von dem italienischen Gelehrten Fortunius Licetus (auch Liceti)214. In diesem Werk trug Licetus alle ihm bekannt gewordenen Fälle von Monstrageburten zusammen, um auf dieser Grundlage eine Systematik der Missbildungen zu entwickeln, wie vor ihm bereits die Mediziner Jakob Rueff (um 1500-1558), Ambroise Paré (1510-1590) und Johann Georg Schenck von Grafenberg (gest. 1620)215. Allerdings wich die bildliche Umsetzung der auf den neuzeitlichen Flugblättern dokumentierten Missgeburten oftmals von der realen phänotypischen Gestalt der Fehlbildungen ab. Da häufig ein sachkundiger Arzt vor Ort fehlte, musste sich der Illustrator, dessen Talent zur präzisen Wiedergabe immanent war, auf Augenzeugenberichte verlassen216, die nicht selten von abergläubischen Teufels- und Hexenvorstellungen geprägt waren. Zudem schritten findige Buchdrucker, die mit den beliebten Monstraflugblättern „erkleckliche Summen“ verdienten, bisweilen zur „Fabrikation von Wundergeburten“217, die sich phänotypisch-stereotyp an die Darstellungstradition der Monstravölker in den Enzyklopädien der frühen Neuzeit anlehnten. Neben der Sammlung von Einblattdrucken nahmen Mediziner im Rahmen von Sektionen auch Untersuchungen am fehlgebildeten Körper vor oder erwarben Monstra für ihre Wunder- und 212 S.T. Soemmerring: Abbildungen und Beschreibungen einiger Misgeburten. S. 33. W. Röcke: Die Zeichen göttlichen Zorns. S. 147. 214 G.-H. Schumacher: Monster und Dämonen. S.13/ 215 Rueff, Trostbuechle (1554); Paré, Wundtartzney; Schenck von Grafenberg, Wunder-Buch (Monstrorum Historia mirabilis, 1609) (Vgl. I. Ewinkel: De monstris. S. 121f). 216 I. Ewinkel: De monstris. S. 123. 217 A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 32. 213 34 Naturalienkabinette.218 So ist es zu erklären, dass „gerade in den Monstrenbüchern der Renaissance, in Kompendien des französischen Arztes Ambroise Paré oder der italienischen Gelehrten Fortunio Liceti oder Ulisse Aldrovandi […] ein eigenartiges Nebeneinander von Darstellungen „realistischer“ körperlicher Deformationen bzw. „Fehlbildungen“ und deutlich phantastisch anmutenden, aus dem Reich der Mythologie stammenden Gestalten“ 219 bestand. Auch die Zeitgenossen und Begründer der modernen Zoologie Ulisse Aldrovandi (15221605) und Conrad Gessner (1516-1565) reihten in ihren naturkundlichen Enzyklopädien Phantasiewesen wie Drachen und Einhörner neben „echte“ Monstrositäten. In seinem Bemühen um Vollständigkeit stellte Aldrovandi die Existenz jener Wesen, die er in seiner Systematik Historia animalium beschrieb, kaum in Frage.220 Conrad Gessner (auch Gesner, Gesnerus) hingegen war „derlei Erfindungen gegenüber“221 skeptischer eingestellt und postulierte im Vorwort zu seinem „Fischbuch“, dass „sehr wenige [Darstellungen] geradewegs erfunden [sind] wie allein […] das fabelhafte Pferd des Neptun […]“222. Dass sich in Gessners Naturgeschichte dennoch Phantasiegestalten neben real existierenden Tieren und echten Missgeburten finden, hat zweierlei Gründe. Infolge der zahlreichen Entdeckungsreisen in der Renaissance gelangten jene pflanzlichen, tierischen und mineralischen „Naturwunder“, die in den mittelalterlichen Weltchroniken „vor allem mit dem fernen Rand der Welt“ assoziiert wurden, „im Gepäck von Forschungsreisenden und Sammlern [und] in den Warenballen von Kaufleuten“ nach Zentraleuropa und in den Mittelmeerraum.223 Dort angekommen entfachten sie Spekulationen über die Grenzen des Artenreichtums und ließen schier endlose morphologische Variationen möglich erscheinen.224 Darüber hinaus fehlte noch eine hinreichende wissenschaftliche Kenntnis auf dem Gebiet der Fehlbildungen, die zu einer fachkundigen Überprüfung der dargestellten Fälle nötig gewesen wäre.225 In dem umfangreichen Werk Monstrorum Historia, das 1642 von einem Schüler Aldrovandis posthum veröffentlicht wurde226, verzeichnete der Gelehrte alle bekannten menschlichen, tierischen und pflanzlichen „Absonderlichkeiten“ wie etwa siamesische 218 I. Ewinkel: De monstris. S. 125. U. Helduser: Poetische „Missgeburten“ und die Ästhetik des Monströsen S. 671. 220 C. Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. S. 71. 221 Ebd. 222 „Paucißima prorsus ficta sunt, ut solus (opinor) equus Neptuni fabulosus.” (Vgl. Conrad Gesnerus: Historiae Animalium liber IV, qui est de piscium & aquatilium animantium. Tiguri 1558. zit. n. C. Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. S. 71). 223 L. Daston/ K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 205. 224 Ebd. 225 A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 92. 226 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 151. 219 35 Zwillinge, behaarte Menschen, zweiköpfige Tiere und der Mythologie entlehnte vielköpfige Ungeheuer, die dem „Zeitgeschmack besonders angepasst“ waren.227 Im 16. Jahrhundert hatte sich der Manierismus mit seiner „Vorliebe für Zerrbilder, Phantastereien und Missgeburten“228 als eigene Kunst- und Literaturströmung etabliert und die privaten Wunderkammern und Naturalienkabinette mit ihrer kaum zu überschauenden Vielfalt an Bizarrem und Ungewöhnlichem waren Ausdruck dieser Bewegung.229 In der Monstrorum Historia kollidierte Aldrovandis wissenschaftlicher Anspruch mit dem zeitgenössischen Glauben an wundersame Gestalten, die dem „Reich der Mythen und Märchen“230 entlehnt waren. So stellte er die Abbildung zweier berühmter Fälle von Hirsutismus231 den phantastischen Illustrationen der von Plinius beschriebenen Monstrarassen gegenüber.232 Bei den Falldarstellungen in seiner kaleidoskopischen Wunderschau befolgte Aldrovandi eine strenge Systematisierung, die zwar eine Typologisierung der Monstra gestattete, aber eine eindeutige Identifizierung der einzelnen Individuen unmöglich machte.233 Eine ähnliche Vorgehensweise lässt sich auch in den naturkundlichen Monstrasystematiken von Jakob Rueff oder Ambroise Paré feststellen, die der vereinheitlichenden Illustration gegenüber der naturgetreuen Abbildung der Monstra den Vorrang einräumten.234 Die Erklärungsversuche, die in der Monstrorum Historia für die Entstehung von Missgeburten angeboten werden, fanden sich später ebenfalls wieder bei Paré. Unter der Überschrift „Causae“ nannte Aldrovandi neben übernatürlichen Ursachen wie der Strafe Gottes auch natürliche teratogene Faktoren wie Überschuss, Mangel oder Mischung verschiedener Stoffe im Körper.235 Auch Paré distanzierte sich in seinem populärwissenschaftlichen Werk Des Monstres et Prodiges (1571) von der protestantischen Hermeneutik der deutschen Prodigienautoren und erwog in dem Kapitel „Causes des Monstres“ neben eschatologisch-theologischen Deutungen auch biologisch-pathologische Gründe wie eine zu kleine Gebärmutter, ein Zuviel oder Zuwenig an männlichem Samen sowie die Einbildungskraft der Schwangeren236. Trotz des gleichberechtigten Nebeneinanders von naturwissenschaftlichen und theologischen 227 C. Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. S. 73. Ebd. 229 Vgl. dazu Kapitel 2.2.7. 230 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 151. 231 abnorme Körperbehaarung. 232 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 151. 233 C. Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. S. 111. 234 I. Ewinkel: De monstris. S. 123. 235 C. Riedl-Dorn: Wissenschaft und Fabelwesen. S. 111f. 236 „Les causes des monstres sont plusieurs. La première est la gloire de Dieu. La seconde, son ire. La troisiesme, la trop grande quantité de semence. La quatriesme, la trop petite quantité. La cinquiesme, l’imagination. […] La treiziesme, par les Demons ou Diables.“ (Vgl. Ambroise Paré: Des Monstres et prodiges. S. 4). 228 36 Erklärungsversuchen für das Auftreten von Fehlbildungen, sollte Parés Werk nicht voreilig als Indikator für einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von körperlicher Abweichung begriffen werden. Bereits seit dem 13. Jahrhundert reflektierten Theologen und Naturforscher über natürliche Ursachen für das Vorkommen von Monstra237 und noch im 17. Jahrhundert blieben vereinzelte Autoren der apokalyptischen Auslegung der Missgeburten verhaftet. Dennoch konturieren die Werke Parés und auch Aldrovandis eine Tendenz in Richtung „Rationalisierung“ und „Naturalisierung“ der Monstren, die im Verlauf des 18. Jahrhunderts maßgeblich für die Wahrnehmung des körperlich Abweichenden werden sollte. 2.2.7 „Wo die Dinge hingehören“ I – Das Kuriositätenkabinett Die bildreiche Schrift Monstrorum Historia (1642), in welcher Aldrovandi eine Reihe von „Wundern“ und „Sonderbarkeiten“ beschrieb, war eine von zahlreichen Naturgeschichten des 16. und 17. Jahrhunderts, die das zeitgenössische Interesse an Naturwundern dokumentierte.238 Doch diese Naturwunder wurden nicht nur in Monstrasystematiken zusammengetragen, sondern seit der Renaissance auch in gelehrten Wunderkammern oder Kuriositätenkabinetten gesammelt und ausgestellt.239 Es war kein geringerer als Aldrovandi selbst, der „die berühmteste und größte dieser Sammlungen im Europa des sechzehnten Jahrhunderts“ 241 Worm in Kopenhagen 240 sein eigen nennen durfte. Zusammen mit Ole und Conrad Gessner in Basel beziehungsweise Zürich gilt er als einer jener Sammlerpersönlichkeiten, die die Geschichte der barocken Kuriositätenkabinette maßgeblich prägte242, nicht zuletzt auch deshalb, weil er sich intensiv mit der Kategorisierungsproblematik der Sammlungen befasste243. Die Vorläufer der rinascimentalen Kuriositätenkabinette waren zum einen die Reliquienschätze mittelalterlicher Kirchen, in denen neben sakralen Gegenständen wie etwa Bruchstücke eines Kreuzes auch Curiosa wie beispielsweise ein Gefäß mit Milch der Jungfrau Maria aufbewahrt wurden.244 Zum anderen waren es die so genannten studioli, die 237 L. Daston/ K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 221. Ebd. S. 176f. 239 Ebd. 240 Ebd. S. 177. 241 Der Arzt und Naturforscher Ole Worm (latinisiert Olaus Wormius, 1585-1654) hatte bereits im Jahr 1623 versucht, ein privates naturhistorisches Museum in Kopenhagen zu etablieren. Bekannt wurde indes sein Kuriositätenkabinett Wormianum, nachdem 1655 der Katalog des Museums veröffentlicht wurde. 242 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 7. 243 H. Roth: Die Bibliothek als Spiegel der Kunstkammer. S. 204. 244 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 7. 238 37 im späten 15. Jahrhundert in norditalienischen Herrscherhäusern entstanden245. Diese aufwendig dekorierten Studierzimmer von geringer Größe befanden sich meist in abgeschiedener Lage innerhalb der Residenzen und enthielten neben Objekten, „die einen intellektuellen Anspruch verkörperten“, auch antike Kunstwerke und ungewöhnliche Gegenstände, die so genannten Kuriositäten.246 Die studioli dienten dem Studium und der privaten Erbauung247, vor allem aber der Profilierung ihres Besitzers248, denn die Bewunderung, die den Objekten entgegengebracht wurde, sollte sich auf den als „kenntnisreichen“ und „geschmackssicheren“ Besitzer übertragen249. Die Begriffe „Wunderkammer“ beziehungsweise „Kuriositätenkabinett“ setzten sich erst allmählich durch und bezeichneten ein kleines, verstecktes Zimmer, das in erster Linie für Studienzwecke genutzt wurde.250 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nahm die Anzahl an Kuriositätenkabinetten rasch zu251, was nicht zuletzt mit der sukzessiven Entdeckung der „Neuen Welt“ zu erklären ist, die „allmählich ihren unerschöpflichen Fundus an ‚Wundern’ preisgab“252, welche in der Folge in den Kuriositätenkabinetten ausgestellt wurden. Denn das Ziel der Wunderkammern und Kuriositätenkabinette bestand darin, so die Forderung des niederländischen Arztes Samuel Quiceberg (auch Quiccheberg, 1529-1567) im Jahr 1560, als „ein möglichst breit angelegtes Theater [zu fungieren], das echte Materialien und präzise Reproduktionen des gesamten Universums enthält.“253 Entsprechend umfangreich war das Spektrum an Gegenständen, die in die Sammlungen aufgenommen wurden.254 Neben naturkundlichen Objekten wie etwa Fossilien oder botanischen und zoologischen Exponaten fanden sich „Gemälde, Skulpturen, Arbeiten aus Gold, Silber […], Keramik, Leder und Textilien sowie […] wissenschaftliche Instrumente, Automaten und völkerkundliche Objekte“255, die unter den lateinischen Bezeichnungen Naturalia, Mirabilia, Artefacta, Scientifica, Curiosa, Exotica und Antiquites zusammengefasst wurden und dem universalen Anspruch der Kuriositätenkabinette Rechnung trugen. Gleichzeitig war der Seltenheitswert 245 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 54. Ebd. 247 Ebd. 248 Ebd. S. 65. 249 L. Daston / K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 186. 250 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S.50f. Zedlers Universal-Lexikon definiert das „Cabinet“ als „ein kleines und geheimes Zimmer […], darinnen man studiret, schreibet, die kostbaresten Sachen verwahret, sich mit andern von geheimen Dingen unterredet, und so ferner […].“ (Vgl. Artikel „Cabinet“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 5. Sp. 23). 251 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 91 252 Ebd. S. 43. 253 Vgl. Mauriès: das Kuriositätenkabinett, S. 23. 254 Ebd.. S. 51f. 255 Ebd. 246 38 eines Gegenstandes wichtige Voraussetzung für die Aufnahme in eine Sammlung256, „denn das Staunen war“, so der Kunstjournalist Patrick Mauriés, „das Hauptanliegen solcher Kabinette“257. Das Streben nach dem Seltenen und Außergewöhnlichen hatte zur Folge, dass die Gegenstände in den Sammlungen immer noch einzigartiger zu sein hatten. Das Eigenartige „wurde bis ins Überzogene gesteigert“ und resultierte in der Suche nach Fehlbildungen und normativen Abweichungen von der natürlichen Ordnung.258 Seit der Renaissance war das Sammeln von naturalia, artificalia oder mirabilia nicht mehr alleiniges Privileg der Patrizier und Fürsten, sondern wurde nun auch von interessierten Ärzten und Apothekern betrieben, die in ihren Naturalienkabinetten in der Regel Exponate aus den „drei Reichen der Natur“, also zoologische, mineralogische und botanische Objekte259, zusammentrugen.260 Den Medizinern und Apothekern dienten diese theatri naturae der Forschung, aber auch der „beruflichen und gesellschaftlichen Profilierung“261, worin die naturkundlichen Kabinette eine erstaunliche Nähe zu den herzoglichen Schatzsammlungen und italienischen studioli aufwiesen.262 Neben therapeutischen Mirabilia wie Arzneien oder Gewürzen fanden sich in einigen naturkundlichen Sammlungen des Barockzeitalters auch anatomische und pathologische Raritäten.263 Ambroise Paré besaß den Körper eines Kindes, der eine Doppelfehlbildung des Kopfes und der Beine aufwies, und der Apotheker Francesco Calzolari (1521-1600) aus Verona besaß einen mumifizierten Kopf.264 Die Exponate in den barocken Naturalienkabinetten waren indes noch nicht als wissenschaftliche Sammlungen anzusehen, da ihrer Aufstellung keine systematischen Ordnungsprinzipien zugrunde lagen und ihre Nutzung in der Lehre nicht nachzuweisen ist.265 Vielmehr handelte es sich bei den Objekten um kuriose Singularitäten, die in erster Linie Repräsentationszwecken dienten.266 256 P. Mauriès: Das Kuriositätenkabinett. S. 73. Ebd. S. 67. 258 Ebd. S. 73f. 259 J. Hacker: Vom Kuriositätenkabinett zum wissenschaftlichen Museum. S. 4. 260 L. Daston / K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 177. 261 Ebd. S. 183f. 262 Ebd. S. 186. 263 Ebd. S. 183. 264 Ebd. S. 183. 265 J. Hacker: Vom Kuriositätenkabinett zum wissenschaftlichen Museum. S. 5. 266 Ebd. S. 4. 257 39 2.2.8 Zusammenfassung Vom 15. bis zum Ende des 17. Jahrhunderts determinierte vor allem die protestantische Hermeneutik das komplexe Diskursfeld über Monstrositäten. „Autoritätsgläubigkeit und [die] Abhängigkeit von der Kirche“267 prägten das Bild der frühen Neuzeit und resultierte in den apokalyptisch-theologischen Deutungen der Missgeburten als sichtbare, in körperlicher Form manifestierte Zeichen des drohenden Weltgericht Gottes. Im Vordergrund der neuzeitlichen Traktatliteratur stand die Frage nach dem Sinn und der Funktion der Monstra, die entsprechend der religiösen beziehungsweise politischen Motivation des Autors gedeutet wurden. So instrumentalisierten etwa die Reformatoren Luther und Melanchthon auffallende Fehlbildungen wie das „Mönchskalb“ und den „Papstesel“ für ihre konfessionspolitischen Zwecke und deuteten sie als ein Zeichen für Gottes Missbilligung „der geystlichenn missethatt“268 des Mönchstums und des Papstes. Ferner finden sich Beispiele für eine moralisierende Auslegung der Monstra, die vermutlich der sexuellen Disziplinierung der neuzeitlichen Gesellschaft dienen sollte. Dass Monstra primär allegoretische Erscheinungen waren, belegt indes ihre Ausstellung in Kuriositätenkabinetten und auf Wochen- und Jahrmärkten. Ihrer religiösen Implikationen entledigt und auf ihre physiognomische Einzigartigkeit reduziert, konnten sie als „Objekte des Vergnügens“ fungieren. Die Ursache der „Missgeburten“ war im Kontext eschatologischer Ängste269 nur von sekundärem Interesse.270 Dennoch mehrten sich vor allem im 17. Jahrhundert auch naturwissenschaftliche Betrachtungen, die für die Deutungsgeschichte des „Monströsen“ im 18. Jahrhundert maßgeblich werden sollten. 267 G. Wahl: Die Entstehung von Missgeburten. S.27. Luther, Martin: Deutung des Munchkalbs zu Freyberg. In: Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA). Werke und Schriften. 80 Bde. Band 11. Weimar 1883-2000. S. 380. zit. n. Werner Röcke: Zeitenwende und apokalyptische Ängste in der Literatur des Spätmittelalters. S. 24. 269 Vgl. dazu Delumeau, Jean: Angst im Abendland. Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts, Band 2. Übersetzung nach Monika Hübner u.a. Hamburg 1985. Hier vor allem Kapitel 6. „Die Gotteserwartung“. S. 311-353. 270 G. Wahl: Die Entstehung von Missgeburten. S.7. 268 40 2.3 Die „Naturalisierung des Monströsen“ – Zur medizinisch-naturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit „Missgeburten“ seit dem 18. Jahrhundert In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts setzte eine maßgebende Transformation in der Wahrnehmung des fehlgebildeten Körpers ein. Das Monstrum, das im Mittelalter und in der frühen Neuzeit am „Rand der Welt“271 und in seiner Funktion als göttliches Zeichen in der „Über-Welt“272 beheimatet gewesen war, wurde im Verlauf des 18. Jahrhunderts unter der Bezeichnung „Missbildung“ Gegenstand medizinisch-naturwissenschaftlicher Untersuchungen, die zunehmend natürliche Ursachen für das Entstehen von körperlichen Fehlbildungen dokumentierten. Das Monstrum wurde somit „irdisch“273, das Abnorme und das Normale näherten sich an. 2.3.1. Die Anfänge der Teratologie im 18. Jahrhundert Im Jahr 1832274 führte Etienne Geoffroy St. Hilaire (1772-1844) den bis heute gebräuchlichen Begriff Teratologie als Bezeichnung für die Lehre von den Missbildungen275 ein.276 Seit den zwanziger Jahren des 19. Jahrhunderts hatte er zusammen mit seinem Sohn Isidore (1805-1861) versucht, das fragmentarische Wissen über Fehlbildungen, das sich aus vereinzelten Arbeiten von Anatomen wie Johann Friedrich Meckel (1714-1774) oder Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) konstituierte, zu systematisieren.277 Die Bezeichnung Teratologie leitet sich von dem altgriechischen Wort τέρας (téras) her, was „Wunder“ aber auch „Schreckbild“ und „Ungeheuer“ bedeutet.278 Diese Wortwahl mutet irreführend und paradox an, bestand das Ziel der Teratologie doch genau darin, sich von den mittelalterlichen beziehungsweise frühneuzeitlichen mythologisch-mantischen Erklärungsversuchen zu distanzieren und die physiognomischen Abweichungen auf natürliche Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen.279 Hier deutet sich bereits an, wie schwer die Loslösung von den 271 L. Daston / K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 205. U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 12. 273 Ebd. 274 In einem Beitrag über die Genese der Teratologie wird das Jahr 1811 als Zeitpunkt der Namensgebung genannt (Vgl. U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 21). Da Etienne Geoffroy St. Hilaires Studien zu den Fehlbildungen jedoch erst in den 1820er Jahren einsetzten, erscheint das Jahr 1832 als Zeitpunkt der Namensgebung plausibler. 275 Obgleich der veraltete Begriff „Missbildung“ inzwischen von der neutraleren Bezeichnung „Fehlbildung“ ersetzt wurde, wird er hier als historische Bezeichnung beibehalten. 276 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 12. 277 Ebd. 278 Ebd. 279 Ebd. 272 41 neuzeitlichen Prämissen, die die Wahrnehmung von körperlichen Fehlbildungen über Jahrhunderte geprägt hatten, fiel. Die wissenschaftliche Diskursivierung der körperlichen Abweichung hatte ihren Anfang in der pathologischen Anatomie genommen280. Erklärtes Ziel der Anatomen war es, die verstreuten Einzelbeobachtungen der kasuistischen Sammlungen eines Aldrovandi, Liceti oder Bartholinus281 in eine Ordnung zu bringen und – gemäß ihrem Selbstverständnis als moderne Naturwissenschaftler – grundlegende Gesetze für das Auftreten von Fehlbildungen zu entwickeln.282 Einen solchen frühen Systematisierungsversuch unternahm der Anatom Albrecht von Haller (1708-1777) mit seiner Textsammlung De monstris, die 1768 erschien.283 Die Lehre von den Missbildungen war eng verknüpft mit den medizinisch-anatomischen Studien über die Embryonalentwicklung der Wirbeltiere. Im 18. Jahrhundert bestanden noch zwei konkurrierende Theorien über die Embryogenese nebeneinander: die antike Präformationstheorie und die Theorie der Epigenesis.284 Die Präformisten gingen von der Annahme aus, dass die Keimzellen bereits vollständig vorgebildet waren und im Verlauf der Schwangerschaft nur noch wachsen müssten. 285 Demnach waren auch die Fehlbildungen bereits in den männlichen oder weiblichen Geschlechtszellen angelegt286. Die neuere Theorie der Epigenesis besagte indes, dass der Keim verschiedene Entwicklungsstadien zu durchlaufen hätte.287 Ein Anhänger dieser Theorie, der englische Arzt und Anatom William Harvey (1578-1657), war der Ansicht, dass die einzelnen Teile des Körpers durch eine treibende Kraft, die Vis essentialis, sukzessive entstehen. In einer körperlichen Fehlbildung vermutete er folglich das Nachlassen dieser Lebenskraft in einem bestimmten Entwicklungsstadium288. Der Anatom Caspar Friedrich Wolff (1734-1794) konnte in seiner Dissertation Theoria generationis (1759) erstmals nachweisen, dass sich organisches Leben durch die „Differenzierung embryonaler Zellen sowie durch Wachstum“289 stufenweise entwickelt. Demgemäß waren Fehlbildungen als eine natürliche Folge einer zufälligen oder 280 Ebd. Der dänische Anatom Thomas Bartholinus (1616-1680) beschrieb in seinen naturkundlichen Sammlungen De monstris in natura et medicina (1645) und Historiarum anatomicarum centuriae VI (1654-1661) sowohl tierische als auch menschliche Fehlbildungen. (Vgl. U. Enke: Schriften zur Embryologie und Teratologie. S. 32.) 282 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 90. 283 U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 33. 284 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 16. 285 Ebd. S. 16f. 286 G.-H. Schumacher: Monster und Dämonen. S. 131. 287 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 16f. 288 G.-H. Schumacher: Monster und Dämonen. S. 132. 289 Ebd. 281 42 durch äußere Einflüsse induzierten Entwicklungsstörung während der Embryogenese anzusehen.290 Diese Störung des Bildungstriebs war jedoch, wie Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) fast schwärmerisch feststellte, „an sehr bestimmte Gesetze gebunden“, die „eine bewundernswürdige[ ] Gleichförmigkeit […] unter vielen Arten von Monstrositäten“291 hervorbrachten. Blumenbachs Hinweis auf die embryogenetischen Gesetzmäßigkeiten, denen die Monstrositäten unterworfen waren, band die Missgeburten zwar einerseits in die naturgeschichtliche Systematik ein292, andererseits verweist die Ästhetisierung des physiognomisch Abweichenden („bewundernswürdige Gleichförmigkeit“) zurück auf neuzeitliche Autoren wie etwa Michel de Montaigne. Die phänotypischen Übereinstimmungen, auf die Blumenbach hingewiesen hatte, veranlassten Samuel Thomas Soemmerring (1755-1830), der im Jahre 1784 eine Professur für Anatomie an der Universität Mainz angenommen hatte293, in seiner Abhandlung über Doppelfehlbildungen294 eine „vollständige [ontologische] Stufenfolge von zweiköpfigen Missgeburten“295 abzubilden. Er beabsichtigte, durch die Synopse von realen Fällen eine Regelhaftigkeit bei der Entwicklung von Fehlbildungen nachzuweisen.296 Mit dieser Vorgehensweise blieb er der Physiognomik Johann Caspar Lavaters (1741-1801)297 verhaftet, der einen Zusammenhang zwischen dem Erscheinungsbild eines Organismus und seiner inneren Beschaffenheit herstellte.298 Und ähnlich wie Wolff instrumentalisierte Soemmerring den fehlgebildeten Körper als epistemisches Objekt, anhand dessen sich verschiedene zeitliche Entwicklungsstufen während der Embryogenese ablesen ließen. Der fehlgebildete Körper hatte nun eine Schlüsselposition „in der Erzeugung wissenschaftlichen Wissens“299 inne. Die Werke von Wolff, Blumenbach und Soemmerring sind letztlich die prominentesten Beispiele für die zunehmende Verwissenschaftlichung des Monströsen seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, infolgedessen Fehlgebildete sowie Nicht-Fehlgebildete als von denselben epigenetischen Naturgesetzen determiniert begriffen wurden.300 Die 290 A. M. Leroi: Tanz der Gene. S. 29. J. F. Blumenbach: Über den Bildungstrieb. S. 111f. 292 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 52. 293 U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 1. 294 Soemmerring, Samuel Thomas von: Abbildungen und Beschreibungen einiger Misgeburten, die sich ehemals auf dem anatomischen Theater zu Cassel befanden. Mainz 1791. 295 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 60. 296 U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. Vorwort. 297 Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters Vgl. Kapitel 2.3.3. 298 M. Hagner: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. S. 99. 299 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 12. 300 Ebd. S. 48. 291 43 physiognomische Abweichung wurde nun nicht länger „als das Resultat von moralischen oder religiösen Verfehlungen“301 angesehen. Doch obgleich der fehlgebildete Körper zu einem entmystifizierten und naturalisierten Wissenskörper geworden war, wurde das Monströse im populären Diskurs weiterhin als dasjenige begriffen, was „wider die Natur ist“302. So verweist auch die nebulöse Differenzierung zwischen dem widernatürlichen „Monstrum“, der „eigentlich [ ] natürliche[n]“303 „Missgeburt“ und dem „menschenähnlicher[en]“ „Ostentum“304 auf die Uneindeutigkeit und scheinbare Unbestimmbarkeit der Monstrositäten.305 Diese Ambiguität in der Wahrnehmung des Monströsen sollte bis weit in das 19. Jahrhundert hinein den (populär-)wissenschaftlichen Diskurs um die Fehlbildungen bestimmen und den Rahmen für zum Teil divergierende Konnotationen über die körperliche Abweichung schaffen. 2.3.2 Wo die Dinge hingehören II – Vom Naturalienkabinett zum anatomischen Museum Im Zuge der Aufklärung im 18. Jahrhundert veränderte sich der Umgang mit den Dingen im Naturalienkabinett maßgeblich. Während im 17. Jahrhundert die aufbewahrten Objekte das barocke Naturalienkabinett als Einzigartigkeiten der Natur zierten, wurden sie im Verlauf des 18. Jahrhunderts zu epistemisch bedeutsamen Körpern, die geordnet, klassifiziert und verglichen wurden.306 Mit dem Aufkommen der Teratologie wurden der fehlgebildete Körper beziehungsweise die fehlgebildeten Körperteile, die bereits seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert präpariert und konserviert wurden307, zu naturalisierten „Wissenskörpern“308, die bei der Konstituierung von Missbildungswissen eine zentrale Rolle einnahmen.309 „Das 301 M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. S. 91. U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 75. Vgl. Artikel „Monsra [!] oder Monstrum“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. S. 1220. 303 Artikel „Mißgeburt“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. S. 486. 304 Auch die 1752 veröffentlichte Schrift Ausführliche Beschreibung der Zwey-Köpfigen Mißgeburt des „Zergliederers“ Christoph Gottlieb Büttner (1708-1776) befolgt diese Unterscheidung. (Vgl. U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 76.) 305 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 76. 306 A. te Heesen/ E.C. Spary: Sammeln als Wissen. S. 14. 307 Zum Konservieren wurden einzelne Organe oder vollständige Körper in Alkohol (spiritus vini) in eigens geformte, mundgeblasene Glaszylinder eingelegt. Nachdem der Alkohl dem Körper das Wasser entzogen hatte, wurden die Präparate zur endgültigen Lagerung in Terpentinöl oder Branntwein eingelegt. (Vgl. U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 55.) 308 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 75. 309 Ebd. S. 66. 302 44 Sammeln geht der Wissenschaft immer voraus“310, schrieb Adalbert Stifter 1977 in seinem Roman Der Nachsommer (1977) und tatsächlich bildeten die pathologisch-anatomischen Sammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts den konstitutiven Grundstock für die teratologische Forschung.311 Samuel Thomas Soemmerrings Tafelwerk Abbildungen und Beschreibungen einiger Misgeburten schrieb im Jahre 1791 paradigmatisch vor, was sich in den medizinischen Schriften des ausgehenden 18. Jahrhunderts abzuzeichnen begann und sich alsbald in den anatomischen Sammlungen fortsetzen sollte: die fehlgebildeten Körper wurden systematisiert und zu Serien geordnet.312 Indem die Wissenschaft der Serienbildung den Vorrang einräumte, ging das Interesse am Singulären verloren, „das Staunen des Plinius [angesichts der launenhaften lusus naturae] machte einer nüchternen Beobachtung immanenter Gesetzmäßigkeiten Platz.“313 Wichtige Impulse für das System ihrer Anordnung lieferte der schwedische Naturforscher Carl von Linné (1707-1778)314, der zur Benennung von Organismenarten sein Gliederungsprinzip der binären Nomenklatur entwickelte und ein hierarchisches System von Rangstufen aufstellte.315 An der Wende zum 19. Jahrhundert waren die naturkundlichen Sammlungen daraufhin ausgelegt, möglichst umfangreiche Serien missgebildeter Körper und Körperteile zu erzeugen, ein Bestreben, das, so Zürcher, „in einem Naturalienkabinett fünfzig Jahre vorher noch undenkbar gewesen wäre.“316 Neben Soemmerring, der eine Stufenfolge von anencephalen menschlichen Embryonen mit fortschreitender Doppelbildung des Gesichts aufbaute, bildete zum Beispiel der englische Anatom und Chirurg William Hunter (17181783) eine monströse Serie von „Hydrocephalus. Human“ („menschliche Wasserköpfe“), die in einem Katalog unter einer nummerierten Serie zusammengefasst wurden.317 Eine solche Reihenbildung gab der Visualisierung der Fehlbildung gegenüber der Inszenierung den Vorrang.318 Im barocken Naturalienkabinett des niederländischen Anatomen Frederik Ruysch (1638-1731) hingegen wurden die konservierten Körper als Allegorien inszeniert, wie etwa 310 Adalbert Stifter: Der Nachsommer. München 1977, S. 110. zit. n. Anke te Heesen/ E. C. Spary: Sammeln als Wissen. S.7. 311 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 66. 312 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 137. 313 Ebd. 314 Ebd. S. 71. 315 P. H. Raven: Biologie der Pflanzen. S. 251f./ F. Sauerhoff: Pflanzennamen im Vergleich. S. 38. 316 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 137. 317 Ebd. 318 M. Hagner: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. S. 98. 45 das Feuchtpräparat eines Kinderbeines, das mit einem Leinenrüschen verziert und von einem Skorpion umgeben war.319 Zur Vervollständigung seiner Anschauungsmaterialien erwarb Samuel Thomas Soemmerring im Frühsommer 1780 eine Sammlung von vier fehlgebildeten Embryonen aus dem Nachlass des Jenaer Anatomieprofessors Karl Friedrich Kaltschmied (1706-1769)320 und vier Jahre später suchte er über eine Anzeige in der Kassler Policey- und Commercienzeitung frische „Mißgeburten von Thieren, z.B. Kälber mit zwey Köpfen, Doppeleibige, oder dergleichen“321. Diese Erzeugung pathologischer „KörperObjekte“322, die durch eine verbesserte Präparationstechnik dauerhaft haltbar gemacht wurden, resultierte in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer nahezu unüberschaubaren Fülle an Sammlungsgegenständen, die in anatomischen und pathologischen Museen und Sammlungen der Universitäten aufbewahrt wurden.323 Im Zuge der Naturalisierung im 18. Jahrhundert wandelten sich die monströsen Ausstellungsobjekte, die in den barocken Kuriositätenkabinetten als enzyklopädische Körper „die unendliche Mannigfaltigkeit“ 324 der göttlichen Schöpfung demonstrierten, zum alltäglichen Forschungsgegenstand.325 Als die körperlichen Fehlbildungen in den Fokus der Anatomie gerieten und zur „wissenden Natur“ 326 wurden, „war es“, wie der Historiker Urs Zürcher bemerkte, „nicht mehr länger möglich, sie als kurioses, an allerlei Wunderliches und verwunderliches erinnerndes Schauobjekt zu betrachten“327. 2.3.3 Die Abweichung und die Norm I: Die Physiognomik Johann Caspar Lavaters Fehlgebildete Menschen wurden noch im 17. Jahrhundert nicht selten als sündhafte Kreaturen begriffen, „die in ihrer Hässlichkeit und Unvollkommenheit durch die Allmacht Gottes gestraft wurden.“328 Zwar waren solche Überlegungen hundert Jahre später überkommen, doch ausgerechnet Johann Caspar Lavaters Physiognomik, die als Paradigma der modernen Identifikationstechniken gilt, sah in der körperlichen Normabweichung das 319 Ebd. U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 54. 321 Casselischen Policey- und Commercien-Zeitung vom 16. Februar 1784, S. 135. zit. n. U. Enke: Schriften zur Embyologie und Teratologie. S. 4. 322 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 136. 323 Ebd. S. 139f. 324 Ebd. S. 13 325 Ebd. S. 131. 326 Ebd. S. 13. 327 Ebd. S. 13 328 M. Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. S. 16. 320 46 erforderliche Erkennungsmerkmal, an dem sich moralisches Verfehlen ablesen ließe.329 So ist etwa unter der Überschrift „Allgemeine Regeln“ in Johann Caspar Lavaters (1746-1801) Abhandlung Von der Physiognomik folgendes zu lesen: „Wessen Figur schief – / Wessen Mund schief – / Wessen Gang schief – / Wessen Handschrift schief ist, […] – / Dessen Denkensart, dessen Charakter, dessen Manier, zu handeln, ist schief, inkonsequent, […] falsch, listig, […] kalt-schalkhaft, hartgefühllos.“330 Im Jahr 1772 formulierte der Schweizer Schriftsteller und reformierte Pfarrer seine Hypothesen über die Korrelation von Charakter und Physis des Menschen und exemplifizierte diese anhand von hundert physiognomischen Regeln. In seinem umfangreichen Werk Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe, das Lavater in den Jahren 1775 bis 1778 in vier Folianten publizierte, nannte er eine Vielzahl von Beispielen, die seine Thesen bekräftigen und seinem Anspruch, mit der Physiognomik „eine würkliche Wissenschaft“331 zu begründen, Rechnung tragen sollten. Lavater verstand die Physiognomik als „die Wissenschaft, den Charakter […] des Menschen […] aus seinem Aeußerlichen zu erkennen.“332 Mit dem Äußerlichen meinte er insbesondere jene „festen Teile“333 des Körpers, die nicht durch „Verstellung“334 zu manipulieren seien. Während „die Miene, de[r] Ton, [oder] die Gebehrden […] täuschen und betrügen“ können, könnten die unveränderlichen Teile des Gesichts wie Augenbrauen, Nase, Lippen, Kinn und Augen den Charakter eines Menschen untrüglich preisgeben, wie Lavater in seinem Fragment „Ueber Verstellung, Falschheit und Aufrichtigkeit“ erläuterte.335 „Gebehrde sich ein Kopf“, so schreibt er, „noch so sehr um weise zu scheinen – er wird das Profil seines Gesichtes […] nicht verändern und dem Profil eines weisen und großen Mannes ähnlich machen können.“336 Hierin distanzierte sich Lavater deutlich von der Pathognomik, also der Deutung des mimischen Ausdrucks als „vorübergehende[s] Zeichen [einer bestimmten] Gemütsbewegung“337, wie sie später Georg Christoph Lichtenberg propagierte. Gemäß Lavaters Analogie-Denken bildeten jene festen, unveränderlichen Merkmale die 329 Ebd. J. C. Lavater: Von der Physiognomik und Hundert Physiognomische Regeln. Hg. von Karl Riha und Carsten Zelle. Frankfurt/ Main 1991. S. 67. Nach dieser Ausgabe wird im laufenden Text zitiert. 331 J. C. Lavater: Von der Physiognomik und Hundert Physiognomische Regeln. S. 11. 332 Ebd. S. 10 333 U. Geitner: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. S. 360. 334 J. C. Lavater: Physiognomische Fragmente. Band 2, 7. Fragment. S. 55. Nach dieser Ausgabe wird im laufenden Text zitiert: Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Hrsg. v.Weidmanns Erben und Reich, und Heinrich Steiner und Compagnie. 4 Bde. Leipzig/ Winerthur 1776. 335 J. C. Lavater: Physiognomische Fragmente. Band 2, 7. Fragment. S. 55f. 336 Ebd. S. 57. 337 G. C. Lichtenberg: Über Physiognomik. In: Schriften und Briefe III, S. 264. 330 47 Voraussetzung für eine solide Interpretation des Äußeren.338 Doch hier liegt, wie Richard Weihe bemerkt hat, Lavaters kapitaler Denkfehler. Denn „der Aussagewert der Physiognomik [liegt] gerade nicht“ in den äußeren Merkmalen, sondern in der Auslegung derselben, was aber „keineswegs [bedeutet], daß ihre Interpretation dadurch exakter würde.“339. Die physiognomische Lesart Lavaters folgte der griffigen Formel: „Je moralisch besser; desto schöner. Je moralisch schlimmer; desto hässlicher.“340 Die äußere Schönheit eines Menschen diente ihm somit als Gradmesser für die Qualität des Charakters. Lavater zufolge bedingten sich innere und äußere Schönheit gegenseitig341, ihr Verhältnis verstand er demnach „nicht als arbiträr, sondern als kausal“342. Gemäß dieser Prämisse könnte ein moralisch verkommener Mensch niemals schön sein und ein hässlicher Mensch niemals gut und würde „somit allein „physiognomische Anmaßung“ auf 344 Grund [seines] Aussehens inkriminiert.“343 Die , einen Zusammenhang zwischen Charaktereigenschaften und Körpermerkmalen herzustellen, resultierte zwangsläufig in der Stigmatisierung und Denunzierung von Menschen, die von der anthropologischen Norm abwichen.345 Lavater schien empört von der Vorstellung, „Leipnitz [sic] habe im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht“ 346 oder Newton habe „im Kopfe eines Mohren, dessen Nase aufgedrückt, dessen Augen zum Kopfe heraus ragen, dessen Lippen, so aufgeworfen sie sind, kaum die Zähne bedecken, […] die Planeten gewogen, und den Lichtstrahl gespaltet“347. Im gleichen Tenor äußerte sich Lavater über fehlgebildete Menschen, in deren äußeren Gestalt er die untrüglichen Zeichen für ihre charakterlichen Verfehlungen sah: „Ein jeder Krüppel hat seine ihm eigene Art von Krüppelhaftigkeit, die sich durch alle Theile seines Körpers verbreitet. So wie alle böse Handlungen eines bösen, und alle gute eines guten Menschen denselben Charakter […] haben - -“348. Zu wünschen bliebe dem „elenden, […] thorichten, schwachen Menschen“ somit nur, dass Gott „einst auch diese Geschöpfe von den Drückungen und Lasten befreyen, und ihre Körper nach [seinem] Bilde, nach dem Bilde des Erstgebohrnen, 338 U. Geitner: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. S. 361. R. Weihe: Gesicht und Maske. Lavaters Charaktermessung. S. 40. 340 Lavater: Physiognomische Fragmente. Band 1, 4. Fragment. S. 63. 341 R. Weihe: Gesicht und Maske. Lavaters Charaktermessung. S. 44. 342 Ebd. S. 37. 343 R. Weihe: Gesicht und Maske. Lavaters Charaktermessung. S. 45. 344 H. R. Brittnacher: Der böse Blick des Physiognomen. S. 128. 345 Ebd. S. 129. 346 J. C. Lavater: Von der Physiognomik und Hundert Physiognomische Regeln. S. 14. 347 Ebd. 348 J. C. Lavater: Physiognomische Fragmente. Band 4, 3. Fragment, S. 42. 339 48 umwandeln“ würde.349 Diese offenkundige Herabwürdigung verunstalteter Menschen war Ausdruck eines Strebens „nach Wiederaneignung dessen […], was der Ordnung des Wissens zu entgleiten droht[e]“350. Im Zuge der Naturalisierung des Monströsen im 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert wurde der fehlgebildete Körper zum epistemischen Objekt anhand dessen die Gesetzmäßigkeiten und Mechanismen der menschlichen Embryogenese nachvollzogen werden konnten. Da die Fehlbildung „den gleichen Naturgesetzen gehorchte [ ] wie die normale Entwicklung“351, wurde der körperlichen Abweichung „das Unheimliche und Schauerliche“352 genommen. Lavater konzipierte indes mit seiner Theorie der Physiognomik ein semiologisches Modell, das, ähnlich wie die mythisch-semantischen Deutungsmuster in der frühen Neuzeit, die im Körper manifestierten Zeichen lesbar machen wollte und dadurch den anachronistischen Dualismus von maßästhtetischer Schönheit und Unheil verheißender Ungestalt aufrecht erhielt. Hier deutet sich auch Lavaters Nähe zu der Signaturen-Lehre des 16. Jahrhunderts an353, der zufolge die von Gott gesetzten Zeichen eindeutige und unumstößliche Bedeutungen besäßen.354 So heißt es zum Beispiel bei dem Arzt und Alchemisten Paracelsus (1493-1541): „Und nichts ist so Heimliches im Menschen, das nit ein auswendiges Zeichen hat.“355 Lavaters Theorem von der zwingenden Entsprechung von Schönheit und Moral und seine pseudowissenschaftlichen Methoden wie die Interpretation von menschlichen Schattenrissen wurden von verschiedenen Seiten zum Teil heftig kritisiert. In einer Rezension der Physiognomischen Fragmente beanstandete Albrecht von Haller, dass Lavaters physiognomisches Zuordnungssystem den wahren Charakter eines Menschen kaum zu erkennen vermochte: „Wir kennen einen Theil der hier abgemahlten Männer, und zum Theil genauer, als es Hrn. Lavater möglich ist, aber unmöglich können wir in ihrem Gesichte die subtilen zusammengesetzten Kräfte finden, die Herr L. an denselben entdeckt. Von einigen glauben wir auch so viel zu wissen, daß sie die Eigenschaften ganz und gar nicht besitzen, die man hier aus ihrem Gesichte erräth.“356 Einige Jahre zuvor hatte sich der körperlich versehrte Naturwissenschaftler Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799), der sich als 349 J. C. Lavater: Physiognomische Fragmente. Band 2, 16. Fragment. S. 190. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. S. 91. 351 J. Moscoso: Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. S. 72. 352 M. Hagner: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. S. 81. 353 U. Geitner: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. S. 358. 354 Ebd. S. 372. 355 Paracelsus (d. i. Theophrastus von Hohenheim): Die Geheimnisse. Ein Lesebuch aus seinen Schriften. Hrsg. v. Will-Erich Peuckert. Leipzig: Dieterich 1941. S. 273f, zit. n. U. Geitner: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. S. 372. 356 A. v. Haller: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. Zweyter Theil. S. 68. 350 49 Lavaters schärfster Kritiker erweisen sollte357, in seiner Schrift Über Physiognomik wider die Physiognomen (1778) kritisch über Lavaters Referenzsystem geäußert. Obschon selbst Lichtenberg zugestand, dass „wir [...] täglich aus den Gesichtern [schließen], […] selbst die, die wider Physiognomik streiten […]“358, schränkte er anschließend ein: „Wir urtheilen stündlich aus dem Gesicht, und irren stündlich.“359 Hauptkritikpunkt seiner Abhandlung war Lavaters Berufung auf die festen Teile, die, so Lichtenberg, keine „objektive Lesbarkeit“360 verbürgten. Das Ende der Physiognomik konnte die Debatte, die um Lavaters Werk geführt wurde, jedoch nicht bewirken. „Zu groß“, schreibt Ursula Geitner, war wohl „die Faszination, welche von der physiognomischen Vision […] ungestörter, uneingeschränkter Referentialität“ ausging und die die Beziehung zwischen „Signifikat (das so genannte Innere) [und] Signifikanten (dem so genannten Äußeren) […] als nicht bloß wahrscheinlich, sondern als gewiß, nicht als interpretationsbedürftig, sondern als eindeutig“ beschrieb.361 Entsprechend enthusiastisch hieß es in einer Zeitungsannonce des Frankfurter StaatsRistrettos, dass der geneigte Leser mit Lavaters „physiognomische[n] Geheimregeln […] mit höchster Wahrscheinlichkeit auf den wirklichen inneren Charakter […] schliessen […]“362 könnte. Letztlich entsprang das Lavatersche Theorem dem humanistischen Bedürfnis, „in der bindungs- und orientierungslos gewordenen Gesellschaft des Aufklärungszeitalters Parameter einer allgemeingültigen Ordnung zu finden.“363 Auch wenn Lavaters Weltbild einer göttlichen Ordnung nicht mit den sozialdarwinistischen Konzepten des 19. Jahrhunderts zu vergleichen ist und der Physiognomiker noch vor 1800 wissenschaftlich erledigt war364, so schuf er mit seinem Grundsatz von der Schönheit als Symbol der Tugendhaftigkeit doch die Voraussetzungen für die früheugenischen Arbeiten Cesare Lombrosos. 357 H. R. Brittnacher: Der böse Blick des Physiognomen. S. 128. G. C. Lichtenberg: Über Physiognomik wider die Physiognomen. S. 53. 359 Ebd. S. 65. 360 G. C. Lichtenberg: Über Physiognomik wider die Physiognomen. S. 80. 361 U. Geitner: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. S. 358. 362 Frankfurter Staats-Ristretto vom 15.03.1802, 43. Stück, S. 216. 363 H. R. Brittnacher: Der böse Blick des Physiognomen. S. 131. 364 M. Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. S. 17. 358 50 2.3.4 Die Abweichung und die Norm II: Die kriminalanthropologische Physiognomik Cesare Lombrosos Das der Teratologie eigene Interesse an der Ätiologie des fehlgebildeten Körpers, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts in zahlreichen Experimenten und Abhandlungen über die Genese der Fehlbildungen niederschlug, verquickte sich im letzten Jahrhundertdrittel zunehmend mit unterschiedlich motivierten Degenerationstheorien und infolgedessen mit sozialdarwinistischen beziehungsweise früheugenischen Thesen über das körperlich Abweichende.365 An der Schwelle zum 20. Jahrhundert hatte vor allem die Arbeit des englischen Naturforschers Charles Darwin, On the Origin of Species (1859), eine tief greifende Angst vor der Degeneration des Menschen evoziert, die zu einem Nebeneinander unterschiedlicher Disziplinen führte, die sich gemeinsam der Erforschung der Abweichung verschrieben.366 Charles Darwin (1809-1882) war zu der Erkenntnis gelangt, dass sich Organismen allmählich durch natürliche Selektion entwickeln und nicht, wie die seinerzeit weitläufig akzeptierten Theorien der Schöpfungsbiologie postulierten, von einem Schöpfergott erschaffen worden waren. Als Darwin in seinem 1871 veröffentlichten zweibändigen Werk The Descent of Man, and Selection in Relation to Sex behauptete, „man is descended from some lowly organised form […] there can hardly be a doubt that we are descended from barbarians”367, wurde damit gleichermaßen das Selbstverständnis der Europäer infrage gestellt. Die kolonialistischen Bestrebungen vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hatten zu einem autoaffirmativen Eurozentrismus auch in der wilhelminischen Gesellschaft geführt, der nicht zuletzt durch die „anthropologischzoologischen“ Völkerschauen eines Carl Hagenbeck oder Wilhelm Siebold immer wieder bekräftigt und dadurch internalisiert wurde.368 Darwins Evolutionstheorie brachte die überkommene Maxime von der europäischen Überlegenheit ins Wanken und führte infolgedessen zu Verunsicherung und der Angst, sich nicht mehr sicher einordnen oder klar abgrenzen zu können. Dem vermeintlich zivilisierten Menschen war ein „zunehmend […] beunruhigendes, animalisches Inneres“369 attestiert worden, infolgedessen sich die Gesellschaft von „Erbschäden, Degenereszenz, geborenen Verbrechern, moralisch Irrsinnigen und verdorbenen Anlagen“370 bedroht sah. Wortführer in dem Diskurs über 365 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 13. K. Breitenfellner: Physiognomie und Charakter. S. 62. 367 C. Darwin. The Descent of Man. S. 415. 368 Vgl. dazu Kapitel 3.2.7. 369 J. Person: Der pathographische Blick. S. 101. 370 Ebd. 366 51 Fortschritt und Degeneration war der Arzt und Kulturkritiker Max Nordau (1849-1923), der in seiner 1892/93 erschienenen Radikalpolemik Entartung die Literaten des Fin-de-Siècle als augenfälliges Symptom für die Degeneration der Gesellschaft begriff.371 Der italienische Arzt Cesare Lombroso (1835-1909) sah indes den Verbrecher als „Träger von Degenerationszeichen“372 und entwickelte in Anlehnung an die Physiognomik Johann Caspar Lavaters eine Semiotik, „die unabhängig von einer Straftat den nicht besserungsfähigen Täter entlarven sollte.“373 Anhand von bestimmten körperlichen Stigmata wie einer starken Kinnlade, vorragenden Stirnhöhlen, schmalen Lippen oder gesenkten Augenlidern374 glaubte Lombroso Korrelationen zu der „entartete[n] Seele“375 des Verbrechers herstellen zu können und folgte damit ganz dem Analogie-Denken Lavaters. In diesem Zusammenhang wirkt Georg Christoph Lichtenbergs Prophetie über die forensische Anwendbarkeit der Physiognomik nicht ganz unberechtigt: „Wenn die Physiognomik das wird, was Lavater von ihr erwartet, so wird man die Kinder aufhängen, ehe sie die Thaten gethan haben, die den Galgen verdienen.“376 Lombroso war der Ansicht, dass kriminelle Aktivitäten weder als moralische Frevel noch als Reaktionen auf widrige soziale Umstände anzusehen seien, sondern die Folge eines biologischen Determinismus waren, namentlich den Rückschlag (Atavismus) in ein früheres Entwicklungsstadium der Menschheit.377 Gemäß jener Atavismus-Theorie degenerierten bei einem solchen Rückschlag nicht nur die moralischen Eigenschaften jenes „geborenen Verbrechers“378, sondern auch bestimmte körperliche Merkmale, die es als Maßnahme zur Prävention krimineller Handlungen zu dechiffrieren galt. Das semiotische Modell der Atavismus-Theorie kontrastierte die sichtbaren körperlichen Anomalien mit dem „idealtypischen Bürgerkörper“379 und infolgedessen wurden jene sichtbaren Abweichungen von der „Normativität des Schönen“380 zum Verdachtsindiz für moralische Verfehlungen des somit in doppelter Hinsicht stigmatisierten Menschen. Zwar sprach sich Lombroso keineswegs für eine grundsätzliche Inkriminierung von Menschen mit angeborenen Fehlbildungen aus, doch der Analogieschluss von körperlicher 371 Ebd. P. Becker: Der Verbrecher als „monstruoser Typus“. S. 148. 373 Ebd. 374 K. Breitenfellner: Physiognomie und Charakter. S. 63. 375 P. Becker: Der Verbrecher als „monstruoser Typus“. S. 148. 376 G. C. Lichtenberg: Vermischte Schriften. S. 204. 377 P. Becker: Der Verbrecher als „monstruoser Typus“. S. 148. 378 K. Breitenfellner: Physiognomie und Charakter. S. 63. 379 P. Becker: Der Verbrecher als „monstruoser Typus“. S. 159. 380 P. Strasser: Die verspielte Aufklärung. S. 93. 372 52 Normabweichung zu moralischer Verfehlung deutet an, dass die Naturalisierung des Menschenbildes nicht die vermeintliche Zeichenhaftigkeit des Körpers hatte überwinden können. Die kriminalanthropologische Physiognomik Cesare Lombrosos ging jene „unheilvolle Verbindung von Mythos und Wissenschaft“ ein, deren Auflösung eines der primären Ziele der Verwissenschaftlichung seit dem 17. Jahrhundert gewesen war.381 2.4 Zusammenfassung Die Geschichte der Wahrnehmung körperlicher Fehlbildung seit der frühen Neuzeit ist eine Geschichte divergierender Deutungsversuche über die Ätiologie und Phänomenologie des so genannten „Monströsen“. An dem überaus komplexen Diskursfeld über Monstrositäten waren verschiedene Institutionen wie Kirche, Jurisprudenz und die sich etablierenden Naturwissenschaften beteiligt, die der Existenz der Monstra unterschiedliche Funktionen und Ursachen zuschrieben. So galten unter anderem psychische Einflüsse auf die Schwangere, menschliche Wollust, der Teufel und schließlich Gott, der mit den Monstren bestraft oder Zeichen vor drohendem Unheil setzt, als Ursachen beziehungsweise Urheber des Monströsen. Dabei wurde vor allem in konfessionspolitischer Hinsicht ein Verweiszusammenhang von Wunderzeichen und historischem Ereignis hergestellt. Dem Monsterdiskurs entsprang eine große Variationsbreite an Texten, die sich mit der Bedeutung des Monströsen auseinandersetzten. Neben Monstraflugblättern, die die Geburt fehlgebildeter Kinder ankündigten, und populären Monsterbeschreibungen wie Goltwurms Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch oder Rueffs Trostbüchle, mehrten sich auch die naturkundlichmedizinischen Abhandlungen über Typen und Ursachen von Monstren. Dabei schlossen sich in der frühneuzeitlichen Ontologie natürliche und übernatürliche Ursachen nicht aus, allein schon deshalb, weil das Gebiet der Fehlbildungen ausreichender wissenschaftlicher Kenntnis ermangelte. So fanden sich in den medizinischen Traktaten eines Parés oder Licetus Darstellungen von tatsächlichen körperlichen Anomalien neben Phantasiegestalten. Die verschiedenen Erklärungs- und Einordnungsversuche existierten bei gelegentlichen Überschneidungen lange nebeneinander und bestanden selbst dann noch fort, als im 17. Jahrhundert die Natur als undurchschaubarer lusus naturae zur primären Ursache für körperliche Anomalien erklärt wurde.382 Doch die Ursachenforschung der frühneuzeitlichen Mediziner hatte die Voraussetzung für die zunehmende wissenschaftliche Aneignung des 381 382 K. Breitenfellner: Physiognomie und Charakter. S. 65. M. Hagner: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. S. 73. 53 fehlgebildeten Körpers im 18. Jahrhundert geschaffen. Diesen Prozess charakterisierte der französische Arzt und Philosoph Georges Canguilhem als eine „Naturalisierung des Monströsen“, die mit der Verwissenschaftlichung und Rationalisierung der modernen Welt einherging.383 In ihrem Buch Wunder und die Ordnung der Natur (1998, deutsche Übersetzung 2002) wenden sich Daston und Park gegen dieses „teleologische Modell der fortschreitenden und fortschrittlichen Naturalisierung“384, da bereits mittelalterliche Autoren natürliche Erklärungen für die so genannten Missgeburten anboten und noch im späten 17. Jahrhundert Monstren als Zeichen Gottes interpretiert oder als lusus naturae verstanden wurden.385 Folglich hätten nicht konsekutive Entwicklungsstadien sondern „verschiedene Komplexe aus Interpretationen“, die, so Daston und Park, untrennbar mit „dem besonderen Publikum, den besonderen historischen Bedingungen und kulturellen Bedeutungen verknüpft“ seien, den Diskurs über Monstrositäten geprägt. 386 Mit dem Aufschwung der anatomischen Forschung im 18. Jahrhundert wurde der versehrte Körper zum epistemischen Objekt, anhand dessen sich die Naturgesetzmäßigkeiten der Embryogenese und die Mechanismen der Fehlbildung nachvollziehen ließen. Das Monströse wurde nicht mehr als Wunderzeichen Gottes oder als Spielerei beziehungsweise Verirrung der Natur, sondern als Teil der natürlichen Ordnung angesehen. Daraus ergab sich jedoch nicht notwendigerweise die Integration fehlgebildeter in den Lebensalltag normal gebildeter Menschen.387 „Von der Naturgeschichte der Aufklärung“ über die kriminalanthropologische Physiognomik Cesare Lombrosos bis zum „Genomprojekt“ der Gegenwart wurde in der Abweichung „eine Störung und Bedrohung von Ordnungsmustern“ vermutet.388 Gleichwohl gingen mit der medizinwissenschaftlichen Aneignung des fehlgebildeten Körpers nach und nach die religiösen Implikationen, die die Wahrnehmung von Menschen mit abweichender Physiognomie so lange bestimmt hatten, verloren. Welche Auswirkungen die medizinwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Fehlbildungen auf die Zurschaustellung versehrter Menschen im 18. und 19. Jahrhundert hatte, wird in den folgenden Kapiteln zu klären sein. Ihre größte Popularität erreichten die Abnormitätenschauen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also gerade zu jenem Zeitpunkt, als Charles Darwin mit der Veröffentlichung 383 Ebd. L. Daston / K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 208. 385 Ebd. 386 Ebd. 387 M. Hagner: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. S. 73. 388 Ebd. 384 54 seiner Evolutionstheorie „wie einst Nicolaus Copernicus, das ‚Weltbild’ des Menschen und insbesondere sein Selbstverständnis erschüttert[e]“ und eine „Neuorientierung in fast allen Bereichen“389 provozierte. Dies legt die Frage nahe, ob es einen Zusammenhang zwischen den naturwissenschaftlichen Erkenntnisprozessen beziehungsweise gesamtgesellschaftlichen Wandlungsprozessen und der Zurschaustellung körperbehinderter Menschen gab und welche Funktion dem zur Schau gestellten, fehlgebildeten Menschen in der zunehmend verwissenschaftlichten und säkularisierten Welt des 18. und 19. Jahrhunderts zukam. 389 Ä. Bäumer: NS-Biologie. S. 58. 55 3. DIE ZURSCHAUSTELLUNG VON MENSCHEN MIT KÖRPERLICHER NORMABWEICHUNG SEIT DEM 18. JAHRHUNDERT In seiner Erzählung Die Fastnachtsbeichte, die von einem Mord während der Mainzer Fastnacht handelt, gewährt Carl Zuckmayer einen anschaulichen Einblick in die eigentümliche Welt einer Abnormitätenschau während der Mainzer „Meß“: „Schließlich veranlasste sie ihn, mit ihr in eine obskure Bude einzutreten, die sich als ‚AbnormitätenSchau’ anschilderte, und in der es allerhand Mißgeburten und Groteskfiguren, teils echter, teils fingierter Natur, zu sehen gab: ein Kalb mit zwei Köpfen, draußen wie ein lebendiges angepriesen, das aber drinnen in Spiritus schwamm, eine Dame ohne Unterleib und eine Jungfrau mit Fischschwanz, was durch Spiegelungstricks glaubhaft gemacht wurde, die dickste Frau der Welt, vier Zentner schwer, die bayrisch sprach und freiwillige Herren aus dem Publikum auf den Armen schaukelte, einen verharschten Krüppel ohne Hände, der mit den Fußzehen seinen Kopf kratzen, die Gabel zum Mund führen, Schlösser und Riegel öffnen, eine Knallpistole abschießen und sogar die ersten Takte von ‚Guter Mond’ auf der Geige kratzen konnte. Außerdem aber, als Sensation, für deren Besichtigung man zehn Pfennige extra zahlen musste, ein Geschöpf, das auf dem anreißerischen Plakat mit gesträubter Riesenmähne und wild aufgerissenem Raubtierrachen als ‚Lionel der Löwenmensch’ – ‚halb Mensch halb Löwe’ – abgebildet war.“390 Wenngleich Zuckmayers Schilderung einem fiktiven Text entnommen ist, so nennt er doch einige Merkmale, die für die Abnormitätenschauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts charakteristisch waren. Dabei fügt sich Zuckmayers Darstellung in ein unüberschaubares Sammelsurium von Texten und Abbildungen verschiedener Provenienz, die auf die Zurschaustellung von Menschen mit abweichender Physiognomie hinweisen. Bereits in der Antike wurden Menschen mit ungewöhnlicher Körpergestalt als lusus naturae, als staunenswerte (Schau-)spiele der Natur, „bei Banketten ausgestellt“ oder „in die Arena zum Kämpfen“ geschickt.391 In London erfreuten sich die so genannten „MonsterShows“ während der Regierungszeit Elisabeths I großer Beliebtheit. Zu sehen waren Sensationen wie „the hand of a Sea-Monster, half man and half fish“, ein Monstrum „from the Coast of Brazil, having a head like a Child, Legs and Arms very wonderful, with a Long Tail like a Serpent, where with he feeds himself, as an Elephant doth with his Trunk“; sowie 390 C. Zuckmayer: Die Fastnachtsbeichte. S. 125f. J. Kunze/I. Nippert: Genetik und Kunst. S. 5. Zedler schrieb dazu: „Die alten Römer haben bey ihren Schauspielen in den letzten Zeiten eine Anzahl Zwerge aufgeführet, so miteinander kämpfen müssen.“ (Vgl. Artikel „Zwerg“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 64, Sp. 1120). 391 56 „a wide variety of persons with natural anomalies”.392 Auch in Deutschland wurden Menschen mit abweichender Physiognomie zur Schau gestellt. In Flugblättern und populären Schriften der frühen Neuzeit werden behinderte Menschen beschrieben, die als Attraktionen über Jahrmärkte zogen und sich in Gaststätten dem interessierten Publikum zeigten.393 Neben Riesen und Zwergen wurden Albinos, stark behaarte Menschen, siamesische Zwillinge, armoder beinlose „Krüppel“ und Menschen mit körperlichen Entstellungen jeder Art meist gegen Entgelt an fürstlichen Höfen, auf öffentlichen Plätzen und Jahrmärkten und in Bürger- und Gasthäusern vorgeführt, nachdem sie „per Zeitungsinserat, Plakat und Handzettel“ angekündigt worden waren.394 Doch es war das 19. Jahrhundert, das die Hochphase der Abnormitätenschauen markierte. Ein interessiertes Massenpublikum sowie Vertreter der Medizin und der noch jungen Wissenschaftsdisziplinen Anthropologie und Ethnologie konnten die „Exoten“ und „Abnormitäten“ in Schaubuden, stationären und ambulanten Panoptiken, Zoologischen Gärten, im Zirkus oder Varieté sowie schließlich auf Gewerbeund Weltausstellungen bestaunen.395 Ein Rückgang der Abnormitätenschauen war schließlich in den 1920er Jahren zu verzeichnen und die frühen 1960er Jahre werden in der einschlägigen Literatur meist als die Endphase der Schauen begriffen396, wenngleich noch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhundert vereinzelt Abnormitäten in Vergnügungsparks und in Zirkussen zur Schau gestellt wurden. Die nachfolgenden Kapitel untersuchen, welche „besonderen historischen Bedingungen und kulturellen Bedeutungen“397 die Voraussetzungen für die Popularisierung der Abnormitätenschau im 19. Jahrhundert schufen und wie Menschen mit ungewöhnlicher Körpergestalt im Rahmen der Vorführungen wahrgenommen und bewertet wurden. Darüber hinaus ist zu überprüfen, inwieweit die frühneuzeitlichen Deutungs- und Erklärungsmuster, 392 P. Semonin: Monsters in the Marketplace. S. 70. In der Wickiana finden sich verschiedene Monstraflugblätter, die dezidiert auf die Schaustellung der beschriebenen „Missgeburten“ eingehen. Eine aquarellierte Federzeichnung aus dem 16. Jahrhundert zeigt einen jungen Mann, der ohne Hände mit den Armstümpfen schreibt und seine Kunst anno 1570 in Frankfurt/ Main demonstrierte: „Es ist anno 70. zu frankfortt uff der Herbistmess ein junger Gsell gsin, wie dann diese Figur anzeyget, ist uff diese wält allso erboren worden […]“ (Vgl. Flugblatt von 1570. In: Wickiana, Bd. 8, S. 118. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 57). Einem anderen Flugblatt aus dem 16. Jahrhundert ist zu entnehmen, dass „Christoffel Tayler […]ein jung knab […] hierher gebracht ist worden auss Engelandt, 7 jar alt und 8 Monat, 48 Daumen umfang, jeder arm 18 Daumen dick“. Wick ergänzte in einer Randnotiz, dass der Junge „allhie zu Zürich in meiner Herren Statt zum Schwert am 28 Julij Anno 1582“ vorgeführt wurde. (Vgl. Flugblatt. In: Wickiana, Bd. 20, S. 261. zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 54). 394 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 38. 395 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 216. 396 Vgl. H. Scheugl: Showfreaks & Monster. S. 21. 397 L. Daston/ K. Park: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. S. 209. 393 57 die für das Vorkommen von körperbehinderten Menschen herangezogen wurden, überwunden oder durch andere Erklärungsansätze abgelöst wurden. Die Schaustellung fehlgebildeter Menschen ist ein transatlantisches und panamerikanisches Phänomen, das, wie die Beispiele gezeigt haben, bis in die Antike zurückreicht. Für eine erschöpfende Untersuchung der Abnormitätenschauen war neben der zeitlichen eine örtliche Einengung unumgänglich. Die vorliegende Arbeit beschränkt sich auf den deutschsprachigen Raum und im Speziellen auf die Messestädte Frankfurt und Mainz, die beide über eine lange Messetradition verfügen. Anhand der in den Mainzer und Frankfurter Beständen vorgefundenen Zeitungsinserate und Schaustellerzettel, die dezidiert auf die Präsentation fehlgebildeter Menschen eingehen, soll exemplarisch die Entwicklung der Abnormitätenschau in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert nachgezeichnet werden. 3.1 Die Messen in Frankfurt und Mainz Die Anfänge der Frankfurter Messen398 reichen bis in das hohe Mittelalter zurück; eine Urkunde, die ihre genauen Anfänge belegt, ist der Forschung jedoch nicht bekannt.399 Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Pfalzsiedlung schon früh Sitz eines Kornmarktes war, auf dem die regionalen Überschüsse an Korn- und Feldfrüchten gehandelt wurden.400 Als gesichert gilt, dass König Heinrich VII im Jahr 1227 die Messen zu Frankfurt am Main und Donauwörth als Vorbilder bei der Errichtung der Würzburger Allerheiligenmesse benannte und dass Kaiser Friedrich II. am 11. Juli 1240 vom Heerlager bei Ascoli aus alle Kaufleute, die zu der Messe nach Frankfurt reisten, unter seinen und des Reiches Schutz stellte.401 Neben der Augustmesse, die sich vermutlich aus dem Fruchtmarkt entwickelt hatte402, erhielt Frankfurt als erste Stadt des Heiligen Römischen Reiches im Jahr 1330 durch kaiserliches Privileg eine zweite Messe von vierzehntägiger Dauer verliehen403, die schließlich als „Fastenmesse vom Sonntag Oculi bis zum Sonntag Judica, also vom vierten 398 Nach der 1953 von der Société Jean Bodin geprägten weiten Definition von Messe sind diese als „large organized gatherings, at regularly spaced intervals, of merchants coming from distant regions“ zu verstehen. (Vgl. Gillison, John: The Notion of the Fair in the Light of the Comparative Method. In La Foire. Recueils de la Société Jean Bodin V. Brüssel 1953, S. 334. zit. n. B. Schneidmüller: Die Frankfurter Messen des Mittelalters – Wirtschaftliche Entwicklung, herrschaftliche Privilegierung, regionale Konkurrenz In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 1. S. 70). 399 B. Schneidmüller: Die Frankfurter Messen des Mittelalters. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 1. S. 69f. 400 Ebd. S. 70. 401 Ebd. 402 Ebd. 403 M. Rothmann: Die Frankfurter Messen im Mittelalter. S. 68./ B. Schneidmüller: Die Frankfurter Messen des Mittelalters. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 1. S. 72. 58 bis zum zweiten Sonntag vor Ostern“404, stattfand. Im späten Mittelalter erwuchs aus den Frankfurter Messen „ein Handelszentrum von europäischer Bedeutung“405, was nicht zuletzt an Frankfurts günstiger geographischer Lage an den beschifften Flüssen Rhein und Main lag406 Neben Leipzig wurde Frankfurt so zum zweiten großen Messestandort im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation.407 Doch „die Messe beschränkte sich nicht auf Kaufen und Verkaufen“408 und mit Rücksicht auf die Messfreiheit gestattete die Ordnungspolitik des Rates „vieles […], was außerhalb der Messezeit verboten war“.409 Bis ins Spätmittelalter duldete der Rat etwa die Prostitution auf der Messe, da sie der Befriedigung der Vergnügungslust des Messepublikums diente und dabei indirekt „ehrbare“ Frauen vor sittlichen Übergriffen schützte.410 Darüber hinaus vergab der Rat zur Messezeit Spielkonzessionen an „Schauspielerbanden“, deren Repertoire neben Lustspielen auch Akrobatik, Tanz und Musik umfasste und die zur Unterhaltung der Messegäste beitragen sollten.411 Neben akrobatischen Darbietungen durch Seiltänzer, Springer und Gaukler und der Zurschaustellung fremder Tiere wie Tiger, Löwen, Nashörner, Kamele und Zebras gestattete der Rat Zahnärzten, Okulisten, Quacksalbern und sonstigen Heilern den Besuch der Messe, sofern diese bereit waren, eine Abgabe an das Rechneiamt zu tätigen.412 Zuletzt „lockten Abnormitäten die Schaulustigen an“: Im Jahr 1656 etwa wurde auf der Herbstmesse ein Schumacher vorgeführt, „der ware kopffs laenger als der groeßte Mensch in hiesiger Stadt“ und 1748 gastierte ein nur 1,5 Frankfurter Ellen (ca. 81 cm) großer Ungar, der keine Beine hatte, auf der Frankfurter Messe.413 Mit dem Rückgang der Handelsmesse um 1800 erfuhr die Unterhaltungsbranche „am Rande der Messe“ einen Bedeutungszuwachs, der um 1880 in der Errichtung eigener Schaustellerhütten in der Ostendstraße münzte, von wo aus die Dippemeß am Ostpark ihren Anfang nehmen sollte.414 Obgleich der deutsche König Ludwig IV (1281-1347) im Jahr 1337 der Stadt Frankfurt das Privileg erteilt hatte, dass „weder er noch seine Nachfolger der Stadt Mainz oder einer anderen Stadt eine Messe oder einen Markt verleihen würden, wenn sie den Frankfurter 404 B. Schneidmüller: Die Frankfurter Messen des Mittelalters. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 1. S. 73. Ebd. 406 B. Schneidmüller: Die Frankfurter Messen des Mittelalters. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 1. S. 68. 407 G. Klunkert: Schaustellungen und Volksbelustigungen auf Leipziger Messen des 19. Jahrhunderts. S. 22. 408 T. Bauer: Am Rande der Messe. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 2. S. 308. 409 Ebd. 410 Ebd. S. 313f. 411 Ebd. Bd. 2. S. 316. 412 Ebd. Bd. 2. S. 318f. 413 Ebd. Bd. 2. S. 318. Vgl. dazu W. v. Reinöhl: Die gute alte Zeit. S. 351. 414 T. Bauer: Am Rande der Messe. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 2. S. 320. 405 59 Messen schaden könnten“415, erhielt Mainz im Jahr 1348 als eine der ersten Städte Deutschlands durch Dekret des römisch-deutschen Königs Karls IV (1316-1378; Regierungszeit 1346-1378) das Recht, „zwischen dem 3. Sonntag vor Beginn der Fastenzeit und dem Sonntag Reminiscere [2. Fastensonntag] einen „ewigen Jahrmarkt“ von vier Wochen Dauer“416 unter den gleichen Bedingungen wie die Frankfurter Herbstmesse417 auszutragen. Zu einer Bedrohung für die benachbarte Reichsstadt Frankfurt wurde Mainz dennoch nicht, da die Messe von den Kaufleuten nicht angenommen wurde.418 Erst die Jahre 1429-1431 brachten eine erneute Konkurrenzsituation zwischen Frankfurt und Mainz, als die Mainzer abermals versuchten, zwei Jahrmärkte von je zweiwöchiger Dauer gegen die Frankfurter Messen einzurichten.419 Die Mainzer Messen waren „als Kampfansage gegen Frankfurt“ jeweils genau vierzehn Tage vor den Frankfurter Messen terminiert.420 Doch bereits am 27. Juni 1431 verbot Siegmund (1368-1437) die Mainzer Messen und untersagte den Kaufleuten ihren Besuch.421 Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts wurde unter Kurfürst Johann Friedrich Karl von Ostein (1689-1763) versucht, die Mainzer Messe wiederzubeleben422, um, wie es in einer diesbezüglichen Verordnung hieß, die „Emporbring- und Befestigung des Handels und Wandels zum allgemeinen Besten“423 zu befördern. Einige wichtige Maßnahmen, die den Einkauf auf der Mainzer Messe anregen sollten, waren „die Einrichtung einer „CommerzienKommission’, […] religiöse Toleranz, […] Befreiung von der Judensteuer, Erlaß von Abgaben auf Importwaren“424 und andere. Als sich der gewünschte Erfolg nicht einstellte, kam es zum Erlass von Gewerbeverboten und der Konfiszierung von Waren, die nicht auf der Mainzer Messe erstanden worden waren.425 Neben seiner primären Funktion als Handelsmesse zog der Jahrmarkt in Mainz auch schon früh Schausteller an. Im Jahr 1704 hatte der bekannte fahrende „Johann Andreas Eisenbarth; Chirurgus und Operator“426, der durch seine „mit großer mühe und arbeit erlernte[ ] profesion […] [schon] drey hundert 415 M. Rothmann: Die Frankfurter Messen im Mittelalter. S. 69. F. Irsigler: Markt- und Messeprivilegien auf Reichsgebiet im Mittelalter. S. 211f. 417 M. Rothmann: Die Frankfurter Messen im Mittelalter. S. 69. 418 F. Irsigler: Markt- und Messeprivilegien auf Reichsgebiet im Mittelalter. S. 212. 419 M. Rothmann: Die Frankfurter Messen im Mittelalter. S. 70. 420 Ebd. 421 Ebd. 422 K. Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. S. 156. 423 MNZ Sign. 980, Verordnung, 18.12.1749. zit. n. K. Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. S. 156. 424 K. Härter: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. S. 156. 425 Ebd. S. 157. 426 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Bittschreiben, 1689 8/2. 416 60 Patienten curiret“427, in Mainz die Erlaubnis erhalten, im Rahmen der Messe sein „Theater“ auf dem Heumarkt in Mainz zu installieren428, nachdem er sich in seinem Bittschreiben an den Kurfürsten auf ein „Privilegium de Anno 1689“429 berufen hatte, welches ihm den Besuch sämtlicher, in Kurmainz abgehaltener Wochen- und Jahrmärkte gestattete.430 Doch insbesondere das 19. Jahrhundert brachte „vor allem dem, was der Schau diente, eine großzügige Entwicklung“431. Der Verfasser eines Artikels über die Geschichte der Mainzer Messe, der 1926 in der Zeitschrift Komet veröffentlicht wurde, resümierte: „Man sah Guckkasten, die späteren Panoramen, Abnormitäten – Riesen und Zwerge -, Raritäten, Wachsfigurenkabinette.“432 Darüber hinaus gastierten auf der Mainzer Messe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts der Illusionist ‚Agoston’, die „mysteriöse Hand“, die „Dame ohne Unterleib“, englische Reiter, Diadoramen, Affen- und Hundetheater, „Herkulesse, Athleten, Ringkämpfer, wilde Menschen aller Arten, Schlangen, Krokodille, […] Flohzirkusse, […] Papa Schichtl […] mit einem kleinen Kasperltheater, […] Hippodroms, Schieß- und Schnellphotographiebuden, […] „Haut ihn, den Lukas“, orientalische[ ] Irrgarten, Lachkabinetts […]“ und Anton Wallendas Wander-Varieté mit seiner Hundedressur. 433 Als sich in der Neuzeit der städtische Einzelhandel und das Warenangebot in den Städten zu differenzieren begann, verloren die Messen als Handelsmärkte an Bedeutung, wodurch „sich der Anteil der Schausteller434 und das Unterhaltungsangebot auf den Jahrmärkten [vergrößerte]“435 und auch die Zurschaustellung von Abnormitäten zunahm. 427 Ebd. T. Grumbach: Kurmainzer Medicinalpolicey 1650-1803. S. 73. 429 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Brief, 1704 26/7. 430 T. Grumbach: Kurmainzer Medicinalpolicey 1650-1803. S. 73. 431 J. Moebus: Ueber 500 Jahre Mainzer Messe. In: Der Komet. Nr. 2152, vom 24.Juli 1926. S. 5. 432 Ebd. 433 Ebd. S. 5f. 434 Schausteller gehören zum ambulanten Gewerbe, sie sind „fahrendes Volk“. Dering definiert Schausteller als all „diejenigen, die einzeln oder im Familienverband eigene Geschäfte betreiben, die innerhalb des Gewerbes verschiedenen Sparten zugeordnet werden können. Dazu gehören Schau-, Fahr-, Belustigungs-, Geschicklichkeits- und Ausspielungsgeschäfte, außerdem die mobilen Verkaufs-, Gaststätten- und Imbissbetriebe. All diese Anlagen sind transportabel und werden in der Regel während einer Saison auf mehreren Plätzen aufgestellt. (Vgl. F. Dering: Volksbelustigungen. S. 23). 435 L. Petzold: Volkstümliche Feste. S. 424. 428 61 3.2 Die Abnormitätenschau – Zur Inszenierung und Vermarktung fehlgebildeter Menschen auf dem Jahrmarkt Als Mitte der 1920er Jahre der hochgewachsene Universitätsstudent Jack Earl eine Zirkusvorführung der Ringling Brothers besuchte, fragte ihn der Impresario: „How would you like to be a giant?“436 Diese kurze Geschichte, die Robert Bogdan in seinem Aufsatz The Social Construction of „Freaks“ (1996) wiedergibt, impliziert, dass ein Mann von sehr hoher Statur nicht zwangsläufig ein Riese ist.437 Ebenso wenig sind körperlich und/ oder geistig behinderte Menschen mit „Abnormitäten“ gleichzusetzen. Bei der Schaustellung von Abnormitäten, so Robert Bogdan, bedienten sich die Impresarios verschiedener Strategien und Techniken und rekurrierten bestimmte Bilder, um so das öffentliche Interesse an ihren Schützlingen zu steigern.438 Demzufolge sind Abnormitäten soziale beziehungsweise kulturelle Konstrukte, die Aufschluss darüber geben können, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Gesellschaft als normabweichend aufgefasst wurde. Bogdan führt weiter aus, dass die Präsentationsweisen von körperlich Beeinträchtigten einem kulturellen Muster folgten und unterscheidet dabei zwischen dem „exotic mode“ und dem „aggrandized status mode of representation“.439 Die „exotisierende Inszenierung“ sprach das Interesse der Menschen am kulturell Fremden, am Primitiven und Exotischen an, das nicht zuletzt durch die Entdeckungsreisen und die imperialistischen Bestrebungen einiger europäischer Staaten evoziert worden war. Zu den schaugewerblichen Attributen zählten Kostüme, die der landestypischen Tracht der meist imaginierten Völker entsprechen sollten, und abenteuerliche Herkunftslegenden, die den Reisebeschreibungen entlehnt waren, die sich seit dem 18. Jahrhundert einer großen Leserschaft erfreuten. Das Herkunftsland der Abnormitäten war, so Bogdan, „most often the non-Western world“.440 Die „glorifizierende Inszenierung“ diente der Idealisierung der Abnormitäten „by laying claim to the superiority of the freak.“441 Mit erdachten Titeln wie etwa „General“, „Prinzessin“ oder „Prinz“ und Kostümen, die bürgerliche beziehungsweise aristokratische Kleidungskonventionen aufnahmen, wurde die Abnormität als wohlhabend, gebildet und elitär charakterisiert.442 436 R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 23. Ebd. S. 24. 438 Ebd. S. 23. 439 Ebd. S. 28. 440 Ebd. S. 28. 441 Ebd. S. 29. 442 Ebd. S. 29f. 437 62 Unter Berücksichtigung der von Bogdan herausgearbeiteten Inszenierungsstrategien untersuchen die nachfolgenden Kapitel die Präsentationsweisen von Abnormitäten auf Jahrmärkten in Deutschland seit dem 18. Jahrhundert. Gleichwohl werden die Grenzen von Bogdans Modell dargelegt, macht er doch selbst das Zugeständnis, dass die aufgezeigten Inszenierungsstrategien lediglich wiederkehrende Muster repräsentieren, aber kaum das ganze Spektrum an Zurschaustellungen abdecken können.443 Zudem konzentrierte sich Bogdan in seiner Studie Freak show: presenting human oddities for amusement and profit (1988) auf die amerikanischen Freak Shows zwischen 1840 und 1940. Die wissenschaftlich weniger gut aufgearbeiteten Inszenierungskonventionen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts werden in der vorliegenden Arbeit eingehend untersucht und zu den Darstellungs- und Vermarktungstechniken des 19. und frühen 20. Jahrhunderts in Beziehung gesetzt. Wenngleich Bogdan davor warnt, Abnormitäten anhand ihrer physiologischen Auffälligkeiten zu kategorisieren444, da sie primär kulturelle Konstrukte sind, deren körperliche Normabweichung bisweilen vorgetäuscht oder zumindest dramatisiert wurde, folgt die vorliegende Untersuchung einer an physiognomischen Charakteristika angelehnten Gliederung, da sich so die abnormitätsspezifischen Präsentationsweisen des 18., 19. und frühen 20. Jahrhunderts besser vergleichen lassen. Die Kapitel 3.2.1 bis 3.2.9 behandeln Abnormitäten, die hinsichtlich ihrer Körpergröße oder ihres Gewichts von der Norm abwichen, die eine übermäßige Behaarung oder eine Erkrankung der Epidermis aufwiesen, oder die sichtbar körperlich und/ oder geistig fehlgebildet waren, wie etwa Mikrozephale, „Rumpfmenschen“ oder „siamesische Zwillinge“. Vorgebliche „Abnormitäten“, die als Resultat einer Täuschung oder einer Illusion zur Schau gestellt wurden, werden unter dem Kapitel „‚Humbug’ und ‚Hoaxes’“ (3.2.10) separat behandelt. Als „Prince of Humbugs“ bezeichnete sich der amerikanische Impresario Phineas Taylor Barnum (1810-1891), dessen Inszenierungsstrategien in Kapitel 3.2.11 beleuchtet werden, da sie wichtige Impulse für die Inszenierung von körperlich versehrten Menschen im 19. Jahrhundert gaben, die streckenweise auch die Abnormitätenschauen in Deutschland prägten. Kapitel 3.2.12 setzt sich dann kritisch mit der in der einschlägigen Fachliteratur nahezu einhellig formulierten Behauptung auseinander, dass die öffentliche Zurschaustellung für Menschen mit abweichender Physiognomie oft die einzige Existenzgrundlage gewesen ist. 443 444 R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 32. Ebd. S. 28. 63 Auf die Wechselwirkungen zwischen zeitgenössischer Medizin und Schaugeschäft soll schließlich in Kapitel 3.2.13 eingegangen werden. 3.2.1 „Laenger als der groeßte hiesige Mensch“ – Die Zurschaustellung von „Riesen“ Die beachtliche Anzahl von Anzeigen, in denen Riesen und Zwerge beworben wurden, lassen vermuten, dass „für […] Bürger mit Normalmaß Menschen mit stark abweichender Körpergröße […] von beträchtlicher Faszination gewesen sein [müssen]“445. Berichte über Riesen finden sich etwa in der griechischen Mythologie, im Alten Testament und im Märchen, in denen sie als „Giganten und Cyklopen“, als „Enakskinder“, als „Riese Goliath“ und als bärtiger „Rübezahl“ dargestellt werden.446 Immer impliziert ihre mächtige Statur Stärke und Unbesiegbarkeit, was sicherlich nicht zuletzt ein Grund dafür war, dass insbesondere Generäle und Fürsten ein ausgeprägtes Interesse an hochgewachsenen Menschen zeigten447. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. (1688-1740; Regierungszeit 1712-1740), dessen „größte Liebhaberei […] große Soldaten“448 waren, unterhielt eine Garde „aus lauter Riesen“449, die im Volksmund als „Lange Kerls“ bezeichnet wurden. Nachdem sein Nachfolger die meisten der langen Grenadiere aus dem Soldatendienst verabschiedet hatte, „haben sich wirklich die größten davon als Riesen für Geld sehen lassen“450, ein Schicksal, das Mehl zufolge häufig jenen Männern widerfuhr, die „von Alter und Gesundheitszustand nicht mehr für den Soldatendienst [taugten]“ oder selbst für den Militärdienst zu groß waren.451 Aus den Aufzeichnungen Wilhelm von Reinöhls ist zu entnehmen, dass Riesen bereits im 17. Jahrhundert in Frankfurt zur Schau gestellt wurden: „Anno 1613 war ein Mensch hier, der sich auf der Schmidtstuben um Geld sehen ließ wegen seiner großen Statur. Er war 96 Zoll oder 8 Werkschuhe lang; in dem Zimmer konnte er von einem Ende zum anderen reichen; über sich schriebe er 101 Zoll und mit einem Arm 121 Zoll.“ 452 Diese kurze Episode deutet bereits eine Vermarktungsstrategie an, die für die Schaustellung von fehlgebildeten Menschen charakteristisch werden sollte: die Übertreibung. Sowohl in Zeitungsinseraten als 445 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 47. Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 40. 447 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 47. 448 F. Nösselt: Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterricht heranwachsender Mädchen. S. 292. 449 Ebd. 450 F. Nösselt: Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterricht heranwachsender Mädchen. S. 292f. 451 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 47. 452 W. v. Reinöhl: Die gute alte Zeit. S. 351. 446 64 auch auf Flugblätter und in Annoncen der Fachzeitschrift Der Komet wurden die physiognomischen Eigentümlichkeiten der Abnormitäten dramatisiert. Übergewichtige Knaben, hochgewachsene Männer oder stark behaarte Damen wurden als die „schwersten“, „größten“ oder „schönsten“ ihrer Art beworben. In einer Anzeige des Komet aus dem Jahr 1914 kritisierte der Impresario H. Bremser, der seinerzeit in Berlin und Mainz auf dem Meßplatz gastierte, den Superlativismus, mit dem ein „in Berlin zur Schau gestellte[r] Riese[s]“453 beworben wurde: „Auf Grund meiner eigenen Ueberzeugung, sowie der Urteile einiger erfahrener Schausteller, erkläre ich […] den Titel ‚Größter Mann der Welt!’ als einen unwahren Reklame-Trick.“454 Dass der Hinweis des Impresarios nicht ganz uneigennützig war, ging schließlich aus dem klein gedruckten Teil der Anzeige hervor. Nicht der in Berlin vorgeführte „Teddy Bobs“ sei derjenige, der „jede[n] Riesen […] in allen Körpermaßen übertrifft“, sondern „Pisjakoff“, der vermutlich ein Engagement bei Bremser absolvierte.455 Dieses Beispiel zeigt, dass das Quellenmaterial der Schausteller stets einer kritischen Betrachtung unterzogen werden muss, da die Anzeigen üblicherweise der eigenen Profilierung dienten. Der Riese „Pisjakoff“ oder „Pisjak“ gastierte im August 1898 „zum ersten Male“456 auf der Mainzer Messe. Mit einer Größe von 2,41 Metern und einem Gewicht von 375 Pfund wurde er in dem Mainzer Anzeigeblatt Neuester Anzeiger als „Rußlands größter Soldat“ und als „der größte u. schwerste Riese der Welt“, der „unbestreitbar der schönste […] des Jahrhunderts“ sei, angekündigt.457 (Abb. 1) Ein weiterer hochgewachsener Soldat wurde 1917 in Mainz zur Schau gestellt. In dem illustrierten Zeitungsinserat des Mainzer Anzeigers wurden neben „den langen Joseph“ „zum Beweis seiner Abnormität“458 zwei normal gewachsene Soldaten postiert. Sein Rock aus dunklem Tuch mit weißem Gürtel, die Hose aus hellem Stoff und die Grenadiermütze kennzeichneten ihn als Infanteristen des ersten Garderegiments Kaiser Wilhelms II.; in dem beigefügten Text wurde er als „Reisebegleiter des Kaisers“ bezeichnet.459 Während die beiden Soldaten zu seiner Rechten und Linken mit Tschakos460 dargestellt wurden, betonte die kegelförmige Grenadiermütze des langen Joseph seine abnorme Körpergröße von 2,39 Meter zusätzlich. (Abb. 2) Die Kontrastierung von Riesenwuchs und Normalwuchs war eine gebräuchliche 453 Anzeige in Der Komet, Nr. 1514, vom 28. März 1914, S. 34. Ebd. 455 Der Komet, Nr. 1514, vom 28. März 1914, S. 34. 456 Neuester Anzeiger, Nr. 181, vom 6. August 1898. 457 Ebd. 458 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 49. 459 Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 11. August 1917, S. 6. 460 Der Begriff stammt aus dem Ungarischen und bedeutet „Husarenhelm“, also eine militärische Kopfbedeckung von zylindrischer oder konischer Form. 454 65 Inszenierungsstrategie bei der Zurschaustellung besonders hochgewachsener Menschen. Bisweilen wurden Riesen auch gemeinsam mit außergewöhnlich kleinen Personen vorgeführt, wodurch der kontrastive Effekt noch verstärkt wurde. Beim Schlossermeister Diehl auf der Zeil war in der Ostermesse 1788 „[e]in grosser Riese“ zu sehen, der „wegen seiner Gröse und gutproportionierten Körpers einer der schönsten ist, den man noch allhier gesehen hat. […] Auch ist dabey eine kleine Madmoiselle, welche schön und wohlgebildet, doch ohne Hände gebohren ist […]“.461 Auch auf Werbepostkarten bediente man sich der vergleichenden Darstellung von auffallend divergierenden Körpergrößen. So ist beispielsweise auf einer Postkarte der deutschen Schaustellerfamilie Siebold die „Riesin Sofia mit ihren Däumlingsmenschen“ abgebildet (Abb. 3) und auf einer weiteren Postkarte ist die „Riesin Elfriede“ zusammen mit der kleinwüchsigen „Prinzessin Elisabeth“ zu sehen (Vgl. Abb. 4). Wurden riesenhafte Männer als Soldaten, zumindest aber „in martialischer Haltung“ präsentiert, so akzentuierten Schaustellerzettel und Zeitungsannoncen bei weiblichen Riesen häufig „das Schöne und Angenehme der Erscheinung“.462 So heißt es in einem Zeitungsinserat aus dem Jahr 1820, das im Mainzer Wochenblatt abgedruckt wurde: „Mit obrigkeitlicher Bewilligung habe ich die Ehre ergebenst anzuzeigen, daß in hiesiger Stadt angekommen ist: Die große Schweizerin, oder: Der weibliche Koloß. Katharina Bödner, von Schlüpfheim, Kanton Luzern, eine junge Person von 21 Jahren, Größe von 6 Schuh 4 Zoll deutschen Maaßes, und 300 Pfund wiegend. Dieselbe zeigt sich täglich in ihrer eigenthümlichen Nationaltracht, und ist in jeder Hinsicht eine der sehenswürdigsten Naturerscheinungen, sowohl in der Größe, als in der Stärke, alles ist bei ihr verhältnismäßig und im strengen Einklang mit dem ganzen Körperbau, was so selten bei denjenigen Personen der Fall ist, die unter der Benennung von sogenannten Riesen sich der Welt zur Schau darstellen. Uebrigens vereinigt unsere Schweizerin mit einer angenehmen Gesichtsbildung, einen sehr sanften Charakter, und jenen natürlichen Witz, der den Gebürgsvölkern so vorzüglich eigen ist.“463 Attribute wie Sanftmut und Witz erweckten sicherlich zusätzlich das Interesse der Zuschauer, da jene Wesenszüge im eigentümlichen Kontrast zu der „Walkürengestalt“464 der Riesin standen. Die Anzeige schließt mit dem Hinweis, dass „diese Person […] von morgens 10 Uhr bis Abends 9 Uhr zu sehen [ist]. Auf Begehren begibt sie sich nach einer bestimmten Zeit in Familienzirkel. Preise der Plätze: Erster Platz 16, Zweiter 461 Frankfurter Staats-Ristretto vom 25. März 1788, S. 206. H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 49. 463 Mainzer Wochenblatt, Nr. 67, vom 19. August 1820. 464 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 46. 462 66 8 Kreuzer. Standespersonen zahlen nach Belieben. […] Der Schauplatz ist im römischen König.“465 Dieser Zusatz verweist explizit auf die Funktion des Inserats: Es war eine Reklame für die Zurschaustellung einer jungen Frau mit abnormem Körperwuchs, die sich dem interessierten Publikum gegen Entgelt in einem Gasthof präsentierte. Wenngleich die zahlenden Zuschauer sicherlich ihre „Lust an Sensation und Abnormität“ befriedigt wissen wollten, so betonten die standardisierten Formulierungen indes „die Sittlichkeit der beteiligten Personen“ und die „Lehrhaftigkeit des Gezeigten“, zwei wesentliche Kriterien, die zur obrigkeitlichen Genehmigung solcher Vorführungen zu erfüllen waren.466 In einem Zeitungsinserat, das 1792 in der Beilage des Frankfurter Staats-Ristrettos veröffentlicht wurde, wird etwa darauf hingewiesen, dass auf der Frankfurter Ostermesse „ein berühmtes Kunstkabinett von allen erdenklichen Modellen und Maschinen zu sehen [ist], die von jedermann zum größten Nutzen dienen können.“ Außerdem „wird sich ein kleiner Lappländer von 23 Jahr alt, und nur 28 Zoll hoch, zeigen, desgleichen von Schönheit und Geschicklichkeit noch niemals ist gesehen worden.“467 Neben Frauen wurden auch Kinder mit abnormer Körpergröße zur Schau gestellt. Einer der bekannteren Fälle ist der des Riesen Karl Ullrich (auch Carl Ullrich), der 1895 ein Engagement in Mainz absolvierte468 und im selben Jahr in Saltarinos Übersicht zu „Abnormitäten, Kuriositäten und interessanten Vertretern der wandernden Künstlerwelt“ erwähnt wurde. Saltarino zufolge wurde Karl Ullrich am 12. September 1880 in GroßMohnau, Kreis Schweidnitz geboren. Beide Eltern sowie die sieben Geschwister waren von normaler Körpergestalt und auch Karl Ullrichs Wachstum verlief bis zu seinem dritten Lebensjahr normal, bevor er „mit grosser Unheimlichkeit zu wachsen“ begann.469 Mit vierzehn Jahren maß er bereits 1,87 Meter und wog 130 kg, sein Kopfumfang betrug 62 cm470, ein knappes Jahr später wurden seine Körpermaße in einem Inserat des Mainzer Anzeigers mit „2m [und] 350 [Pfund]“angegeben.471 Saltarino führt weiter aus, dass an dem Jungen, trotz seiner stattlichen Größe, „keine krankhaften Erscheinungen zu beobachten […] [seien und] alle Organe“, so die Diagnose des Berliner Pathologen Prof. Dr. Rudolf Virchow, „fehlerlos [arbeiteten]“.472 Mit der Erwähnung Virchows deutet sich an, dass es durchaus 465 Mainzer Wochenblatt, Nr. 67, vom 19. August 1820. H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 52. 467 Beylage zu Nro. 60 des Frankfurter Staats-Ristrettos vom 16. April 1792, S. 274. 468 Vgl. dazu Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 9. August 1895. 469 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 49. 470 Ebd. 471 Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 9. August 1895. 472 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 49. 466 67 Rückkopplungen zwischen Schaugeschäft und zeitgenössischer Medizin gab, die im Einzelnen noch näher zu untersuchen sein werden.473 Wie aus einer Mitteilung des Schaustellerinformationsorgans Der Komet hervorgeht, verstarb Karl Ullrich achtzehnjährig am 21. Mai 1898 infolge einer Gehirnhautentzündung.474 Zwar blieben hochgewachsene Menschen im 18. und 19. Jahrhundert eine Zugnummer des Jahrmarkts, doch um 1900 zeigten sich erste Anzeichen für eine Übersättigung des Marktes. Für ein Engagement in Hamburg suchte ein Impresario über eine Anzeige im Komet „Abnormitäten und sonstige Sehenswürdigkeiten“, Riesen waren jedoch „ausgeschlossen“.475 Auf die große Anzahl an Riesen ist es wohl auch zurückzuführen, dass insbesondere ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele der im Komet abgedruckten Anzeigen in großen Lettern den Namen der zur Schau gestellten Abnormität enthielten, um die Unterscheidbarkeit der vermeintlichen „Einzigartigkeiten der Natur“476 zu gewährleisten. 3.2.2 „General Mitge“, „Princeß Kolibri“ und „die lebende Teepuppe“ Zur Inszenierung kleinwüchsiger Menschen Ähnlich wie Riesen haben Menschen mit ungewöhnlich kleiner Statur schon früh das Interesse der Menschen auf sich gezogen.477 Bereits die römischen Kaiser Tiberius, Augustus und Domitian hielten sich zu ihrer Unterhaltung Zwerge478, die „bey ihren Schauspielen […] so miteinander kämpfen [mussten]“479. Im Mittelalter erwarben einige Fürstenhöfe besonders kleine Menschen zu „Hofnarrenzwecken“ und „noch im 18. Jahrhundert fehlte an den deutschen Höfen selten ein solcher ‚Kammerzwark’.“480 Häufig wurden Zwerge als leibhaftige Sammlerstücke an europäische Herrscherhäuser gebracht. Im ausgehenden 16. Jahrhundert lebten auf dem Hof des polnischen Königs Sigismund-Augustus neun Zwerge und Caterina de’ Medici konnte sechs Zwerge ihr eigen nennen481. Diese Hofzwerge und Hofnarren wurden in zahlreichen Gemälden wie etwa „Las Meniñas“ (1656), „Hofzwerg mit Hund“ (um 1640) oder „Sebastián de Morra“ (1645)482, der als Hofzwerg zur höfischen 473 Vgl. dazu Kapitel 3.2.13. Der Komet, Nr. 690, vom 11. Juni 1898, S. 28. 475 Der Komet, Nr. 869, vom 16. November 1901, S. 23. 476 M. Hagner: Monstrositäten haben eine Geschichte. S. 14. 477 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 55. 478 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 50. 479 Artikel „Zwerg“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 64. Sp. 1120. 480 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 50. 481 L. Fiedler: Freaks. S. 48. 482 Alle drei Gemälde stammen von dem spanischen Hofmaler Diego Velázquez (1599-1660). 474 68 Entourage König Philipps IV. von Spanien gehörte, porträtiert.483. Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte „die Spielerei mit Zwergen“ im Jahr 1710, als der russische Zar Peter der Große eine Zwergenhochzeit veranstaltete, bei der 72 Zwerge beiderlei Geschlechts zugegen waren.484 Auch das Schaustellergewerbe bediente sich der „Zwerge“ als Komplement zu den Riesen. Infolge der Publikation von Jonathan Swifts Roman Gulliver’s Travels (1726, dt.: Gullivers Reisen) wurden die zur Schau gestellten Kleinwüchsigen häufig als „Liliputaner“ bezeichnet485, doch auch der ältere Terminus „Zwerg“, der unweigerlich Assoziationen mit märchenhaften Erzählungen wie etwa Schneewittchen und die sieben Zwerge evozierte486, war gebräuchlich. Wilhelm von Reinöhl berichtete in seiner umfangreichen Chronik, dass im Jahr 1665 auf der Frankfurter Messe „ein Zwerg, ein Indianer, 46 Jahre alt, ums Geld gezeigt [wurde]; [er] war 1 ½ Schuh lang.“487 Für das 18. Jahrhundert belegen verschiedene Zeitungsannoncen die Zurschaustellung von kleinwüchsigen Menschen auf der Frankfurter Messe. Im Herbst 1775 gastierte die damals sechszehnjährige „Catharina Helena Stöberin“, ein „kleine[s] Frauenzimmer, […] nur 2 Schuh und 4 Zoll hoch, […] in der Fahrgasse im goldenen Stern“488 in Frankfurt. Aus einer Anzeige im Frankfurter Staats-Ristretto vom 22. September 1775 geht hervor, dass „selbige nichts zwergenhaftiges an sich hat, sondern im Gegentheil, alle Glieder nach ihrer Größe wohl proportionirt sind.“489 Fiedler hat in seiner Untersuchung Freak: Myths and Images of the Secret Self (1978) darauf hingewiesen, dass „die Vorstellung von zwei Pygmäenarten“ zwar schon „immer und überall“ existierte, doch nur die englische Sprache würde zwischen den kleinen, „grotesk“ erscheinende Menschen mit langem Torso, großem Kopf und kurzen Beinen und den „hübsch“ proportionierten Kleinwüchsigen differenzieren und diese entsprechend als „dwarfs“ beziehungsweise „midgets“ bezeichnen.490 Im deutschsprachigen Raum wurde im 20. Jahrhundert analog dazu zwischen „Liliputanern“ und „Bastarden“ unterschieden, wie der Essener Schausteller Erich Knocke in einem Gespräch, das der Materialerhebung vorausging, erklärte.491 Die Diskriminierung von achondroplastischen oder 483 T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 171. Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 50. 485 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 55. 486 L. Fiedler: Freaks. S. 43. 487 W. v. Reinöhl: Die gute alte Zeit. S. 351. 488 Frankfurter Staats-Ristretto, 149 St., vom 22. September 1775, S. 598. 489 Ebd. 490 L. Fiedler: Freaks. S. 43. 491 Das Gespräch wurde am 21. März 2009 während einem Besuch der Autorin im Essener Markt- und Schaustellermuseum geführt und als Gesprächsprotokoll dokumentiert. 484 69 „unechten Zwergen“492 im Schaugeschäft belegen auch zwei Anzeigen, die im Jahr 1896 im Komet veröffentlicht wurden: Die erste Anzeige war eine „Offerte“, die sich an „Zwerge, Damen und Herren, proportionirt gebaut“493 richtete, die zweite ein Stellengesuch eines 100 cm großen „Zwerges“, der sich als „hübsch gewachsen“494 beschrieb. Es ist anzunehmen, dass die „Zwergin“ Catharina Helena Stöberin für die ganze Dauer der Herbstmesse in Frankfurt verweilte. Am 3. Oktober 1775 wurde ihre Schaustellung abermals angekündigt, diesmal mit dem zusätzlichen Hinweis, dass „sich niemand scheuen darf, selbige anzusehen“, da „alles sehr wohl gebildet“ ist.495 Dieses Textbeispiel bezeugt, dass Abnormitäten trotz ihrer abweichenden Physiognomie bestimmte maßästhetische Kriterien zu erfüllen hatten, um als sehenswert zu gelten. Robert Bogdan interpretiert die betont positive Darstellung der äußeren Erscheinung, insbesondere bei Riesen und Zwergen, als Teil des „aggrendized mode“, einer Inszenierungsstrategie, die der Idealisierung der Abnormitäten dient.496 So wurde die Zwergin in einem Kupferstich von J. E. Nilson, der im Historischen Museum in Frankfurt aufbewahrt wird497, im Kontrapost auf einem Tisch stehend und „in hübschem Rokoko-Kostüm“498 gekleidet gezeigt. Ein handschriftlicher Vermerk auf dem Schaustellerzettel erinnert: „ware in Franckfurt zu sehen in der HerbstMesse 1775.“499 (Abb. 5) In seinem Aufsatz über die Zurschaustellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten beschreibt Mehl einen ganz ähnlichen Kupferstich, der ebenfalls von Nilson angefertigt wurde und Catharina Helena Stöberin im Alter von siebzehn Jahren zeigt, wie einer Schrifttafel zu entnehmen ist. Dieses ebenfalls 1775 datierte Blatt aus den Magazinen der Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen500 legt nahe, dass Stöberin quer durch Deutschland reiste, um mehrere Engagements in einem Jahr zu absolvieren. 492 In seinem populärwissenschaftlich gehaltenen Werk Monster und Dämonen (1996) unterscheidet der Rostocker Anatom Gert-Horst Schumacher „zwischen echten Zwergen oder Primordialzwergen und unechten Zwergen oder Sekundärzwergen.“ In der medizinischen Fachsprache wird entsprechend zwischen dem hypoplastischen und dem achondroplastischen Zwergwuchs unterschieden. Während beim „echten“ oder hypoplastischen Zwergwuchs die Körperproportionen mit denen normalwüchsiger Menschen übereinstimmen, zeigen „unechte“ beziehungsweise achondroplastische Zwerge „einen disproportionierten Körperbau, der auf Störungen des Knorpel- und Knochenwachstums beruht. In der Regel sind die unteren Extremitäten stark verkürzt.“ (Vgl. Schumacher, Gert-Horst: Monster und Dämonen. S. 47f./ R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 31). 493 Der Komet, Nr. 565, vom 18. Januar 1896. S. 19. 494 Der Komet, Nr. 608, vom 14. November 1896. S. 19. 495 Frankfurter Staats-Ristretto vom 3. Oktober1775. S. 626. 496 R. Bogdan: Freak Show. S. 109. 497 T. Bauer: Zwergin. In: Brücke zwischen den Völkern, Bd. 3. S. 328. 498 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 55. 499 T. Bauer: „Zwergin“. In: Brücke zwischen den Völkern, Bd. 3. S. 328. 500 Vgl. H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 55. 70 Wie aus einem veröffentlichten Tagebucheintrag501 des sächsischen Hofmarschalls Graf Salisch hervorgeht, zählte „zum Merkwürdigsten der Herbstmesse 1801 […]die zweiundzwanzigjährige Nannette Stockerin“502, die „nicht größer als ein zweijähriges Kind“503 war und „geläufig Klavier [spielte]“504. Der Hinweis, dass sie „allgemein bedauert [wurde], da sie bis in die späte Nacht hinein von Neugierigen umlagert war“505, deckt sich mit Angaben zum Vorführungszeitraum in vergleichbaren Inseraten des 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Häufig wurden die Abnormitäten täglich und ganztägig zur Schau gestellt, etwa von „Morgens 9 Uhr, bis Abends 9 Uhr“506; zusätzlich hatten sie „auf Begehren“507 Engagements in Privathäusern zu absolvieren. Die langen Arbeitszeiten der zur Schau gestellten Abnormitäten trugen dabei primär den kommerziellen Interessen der Impresarios Rechnung. Ein Kupferstich, der Nannette Stockerin oder Nanette Stocker beim Musizieren am Klavier zusammen mit dem ebenfalls kleinwüchsigen Jean Hauptmann zeigt, hat sich im Schleswig-Holsteinischen Landesmuseum Schloss Gottorf erhalten.508 (Abb. 6) Mehl erläutert, dass die Abbildung an Darstellungen der Geschwister Wolfgang und Nannerl Mozart erinnert, „die als hochbegabte Kinder […] von Hof zu Hof gebracht wurden, um vor entzückten Gesellschaften ihre Kunststücke vorzuführen.“509 Im Rahmen von Abnormitätenschauen diente die Aufführung von Kunststücken einer ausgeklügelten Inszenierungsstrategie, die Robert Bogdan in seiner Studie zu Freak Shows (1988)510 als „aggrandized mode“511 bezeichnet. Indem sie aristokratischen Tätigkeiten wie Gedichte Schreiben, Malen oder Musizieren nachgingen, wurden die zur Schau gestellten Abnormitäten als dem Publikum überlegen präsentiert.512 Diese vermeintliche Überlegenheit konnte sich auch in einer „standesgemäßen“ Kleidung, das heißt Abendgarderobe, Schmuck, 501 Dem Komet zufolge, wurde die Messebeschreibung des Hofmarschalls in der Frankfurter Zeitung im Ersten Morgenblatt vom 5. Dezember 1801 unter dem Titel „Aus dem Tagebuch eines Hofmarschalls“ veröffentlicht. (Vgl. Der Komet, Nr. 858, vom 31. August 1901, S. 3f). Da eine Anfrage in Archiven und Bibliotheken ohne Erfolg blieb, sind die Angaben zur Schaustellung der Zwergin einem Bericht des Komet entnommen, der die Schilderungen des Hofmarschalls und „andere[r] Berichterstatter“ zusammengefasst wiedergibt. 502 T. Bauer: „Am Rande der Messe“. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 2. S. 318f. 503 Die Frankfurter Herbstmesse im Jahr 1801. In: Der Komet, Nr. 858, vom 31. August 1901, S. 4. 504 Ebd. 505 Ebd. 506 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Einblattdruck, 1777 16/4. 507 Mainzer Wochenblatt, Nr. 67, vom 19. August 1820. 508 Vgl. H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 55. 509 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 55. 510 Bogdan, Robert: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit. Chicago/ London 1988. 511 R. Bogdan: Freak Show. S. 108. 512 R. Bogdan: The Social Construction of Freaks. S. 29f. 71 Pelze, Zylinder, Frack und andere Accessoires „des feinen Geschmacks“ oder etwa in prestigeträchtigen Titeln ausdrücken.513 Im Jahr 1895 gastierte „‚General Mitge’ der kleinste Mann der Welt“514 in Mainz und 1903 „das rätselhafte Menschenwunder Prinzessin Nouma Hawa, das lebende Tautröpfchen, 17 Jahre alt, 68 cm. groß“515. Auch im Komet wurden insbesondere kleinwüchsige Frauen mit imaginierten Titeln wie etwa „Princesse Picollomini“516 oder Prinzeß Pilinett, […] die Königin der Zwerge“517 angekündigt. Eine weitere Praktik zur Inszenierung des „aggrendized status“518 resultierte aus der Beteuerung der Impresarios, dass selbst Staatsoberhäupter und Mitglieder der Königs- und Fürstenhäuser zu den staunenden Zuschauern gehörten.519 Eine Anzeige, die sich der beschriebenen Strategien bedient, erschien etwa 1781 im Frankfurter Staats-Ristretto. Dem Zeitungsinserat war zu entnehmen, dass „Mr. Francesco Carata von Trient, mit einer Tochter namens Dominica“520 auf der Herbstmesse in Frankfurt gastierte. Sie war „nicht größer […] als 2 Schuh 5 Zoll [und] dabey so proportionirlich, daß sie von vielen Herrschaften bewundert worden.“521 Ihre besonderen Begabungen wurden in der Anzeige wie folgt beschrieben: „Sie ist […] sehr verständig, tanzet einen artigen Menut und balanciret mit einer Pfaufeder, wo sie zu Schönbrunn vor Ihro Kayserl. Majest. sich zu zeigen die Gnade gehabt.“522 Bogdan zufolge suggerierte die vermeintliche Popularität dem Zeitungsleser, dass die Abnormitäten trotz ihrer Behinderung in vornehmen Gesellschaftskreisen verkehrten und somit nicht als „mere scientific specimens, but a loftier breed entirely“523 anzusehen seien. Die Darbietung von Kunststücken, „that one might assume could not be done by a person with that particular disability“, kompensierte die körperliche Behinderung und bekräftigte so die Charakterisierung der Abnormitäten als „physically normal, or even superior“.524 513 R. Bogdan: Freak Show. S. 108. Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 9. August 1895. 515 Mainzer Anzeiger, Nr. 182, vom 7. August 1903. 516 Der Komet, Nr. 595, vom 15. August 1896. S. 19. 517 Der Komet, Nr. 759, vom 7. Oktober 1899. S. 23. 518 R. Bogdan: The Social Construction of Freaks. S. 29. 519 Ebd. S. 30. 520 Frankfurter Staats-Ristretto vom 14. September 1781, S. 596. 521 Ebd. 522 Frankfurter Staats-Ristretto vom 14. September 1781, S. 596. Mit großer Ausführlichkeit wurde ein stark behaartes Mädchen, das 1777 in Frankfurt „im weißen Greis auf der Zeil“ zur Schau gestellt wurde, beworben: Dem Einblattdruck war zu entnehmen, dass „[d]ieses Mägdchen […] so wundernswürdig [ist], daß es die Aufmerksamkeit Sr. Allergloreichst regierenden Römisch-Kaiserl. Majestät, Josephs II, gleich als Sr. Allerchristl. Königl. Majestät, Ludwig des XVI und der ganzen königl. Familie, auf sich gezogen hat. Wie nicht weniger solches von Sr. Majestät dem Könige von Großbritannien, von dem Durchlauchtigsten Churfürsten zu trier, und von Sr. Durchl. dem Prinzen von Oranien, bewundert worden ist. […]“ (Vgl: MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Einblattdruck, 1777 16/4). 523 R. Bogdan: Freak Show. S. 108. 524 Ebd. S. 109. 514 72 In seiner 1662 veröffentlichten Abhandlung Physica Curiosa unterteilte der Pädagoge und Naturwissenschaftler Gaspar Schott (1608-1666) Lebewesen mit abnormer Physiognomie in mirabilia hominum und mirabilia monstrorum. Während er schwere Fehlbildungen wie etwa „Akephalie“525, „Polykephalie“, Doppelfehlbildungen, Fehlbildungen der Gliedmaßen und Hybridwesen „cum capite non humano“526, also Lebewesen ohne menschlichen Kopf, den mirabilia monstrorum zuordnete, kategorisierte er Zwerge, Riesen und übergewichtige Männer und Frauen als mirabilia hominum527. Erst mit der Etablierung der Teratologie im 19. Jahrhundert wurde Kleinwuchs zu den Fehlbildungen gezählt.528 Die Betonung der Normalität beziehungsweise Überlegenheit von körperlich versehrten Menschen und insbesondere Kleinwüchsigen im Schaugeschäft stand somit im Gegensatz zur Pathologisierung derselben in der Teratologie. 3.2.3 „Positively Fat“: Die Schaustellung von beleibten Menschen Am 25. August 1827 wurde „[m]it hoher obrigkeitlicher Bewilligung“ die Schaustellung eines „Riesen-Knaben“ auf der Mainzer Messe in einer Anzeige des Mainzer Wochenblatts angekündigt.529 Aus dem Zeitungsinserat geht hervor, dass der siebenjährige Junge bei einer Körpergröße von „etwa 4 Schuh 6 Zoll […] über die Schultern 20 Zoll, über die Schenkel 25 Zoll, über die Waden 15 Zoll [maß], und […] 150 Pfund [wog], und […] schon bei der Geburt 24 ½ Pfund gewogen [hat].“530 Die akribische Wiedergabe der Körpermaße, die an die Darstellung pathologischer Fälle von Obesität in medizinischen Journalen des 19. Jahrhunderts erinnert531, sollte die Authentizität und Verbindlichkeit der beschriebenen Abnormität unterstreichen. Doch ähnlich wie außergewöhnlich starke Menschen, die mit vielsagenden Namen wie etwa „Samson“ oder „Herkules“ auf Jahrmärkten zur Schau gestellt wurden, unterscheiden sich übergewichtige Menschen von anderen Abnormitäten dadurch, 525 grch. „ohne Kopf“. G. Schott: Physica curiosa. Liber Quintus: De mirabilibus monstrorum. S. 573f. 527 L. Fiedler: Freaks. S. 47. (Vgl. dazu Schott, Gaspar: Physica curiosa, sive mirabilia naturae et artis libris XII. comprehensa. sumptibus Wolfgangi Mauritii Endteri. Würtzburg 1662. Digitalisat der lateinischen Ausgabe, Würzburg 1697: http://num-scd-ulp.u-strasbg.fr:8080/view/authors/Schott,_Gaspar.html). 528 L. Fiedler: Freaks. S. 47. 529 Mainzer Wochenblatt, Nr. 68, vom 25. August 1827. 530 Ebd. 531 In Canstatt’s Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1859 heißt es etwa in der Beschreibung eines zwölfjährigen übergewichtigen „Hinduknaben“: „Er wiegt 206 Pfund, ist 48 ½ Zoll hoch, der Umfang der Brust misst 39, der des Bauches 43, des Oberschenkels 27, der Wade 16, des Armes 15 ½ Zoll […]“. (Vgl. Canstatt’s Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1859. Redigiert von Prof. Dr. Scherer, Prof. Dr. Virchow und Dr. Eisenmann. Bd. 4. Würzburg 1860.S. 254). 526 73 dass ihre abweichende Physiognomie nicht angeboren ist. Fiedler bemerkte in seiner Studie über “Freaks”: „The Fats […] begin not with an irreversible fate, but a tendency, a possibility of attaining monstrous size, which they can fight or feed or merely endure.“532 Ganz ähnlich argumentierte 1996 Johnny Meah, als er in seinen Anmerkungen zu Jim Secretos Aufsatz Larger Than Life. Positively Fat schrieb: „Although I readily acknowledge Fat People as a popular attraction, I’ve never regarded them in the same way I regard Midgets and Giants. A Midget, Dwarf or Giant has a course charted for them at birth by their pituitary gland. Most professional Fat People (mind you, I say most), are self-made freaks who have literally eaten their way into the spotlight.”533 In einem amerikanischen Standardwerk über Jahrmärkte von Joe McKennon konstatiert der Autor: „Fat people have been featured on all important midways. They are the most popular of all human freaks of nature with the show-going public”534. Dabei wurden beleibtere Menschen stets mit einer eigentümlichen Ambivalenz betrachtet.535 In dickwanstigen Figuren wie etwa Silenos, Bruder Tuck und Falstaff wurde Obesität gleichgesetzt mit Lebenslust, Maßlosigkeit und Trunksucht; eine Konnotation, die auch in der englischen Redewendung „Laugh and grow fat“ zum Ausdruck kommt.536 Der englische Arzt John Gideon Millingen537 publizierte im Jahr 1839 ein Kompendium, das in gedrängten Aufsätzen pseudowissenschaftliche Themen wie „spontane Selbstentzündung“, „Riesenrassen“ oder die „heilende Wirkung von Musik“ behandelt. In seinem Kapitel über Fettleibigkeit gibt er eine knappe Zusammenfassung über die Wahrnehmung von beleibten Menschen seit der Antike. Millingen zufolge empfanden die Griechen für übergewichtige Menschen eine „unübertreffliche Geringschätzung“ und die „Gentoos“, die ihre Behausungen über ein Loch im Dach betreten, erachteten „any fat person who cannot get through it […] as an excommunicated offender who has not been able to rid himself of his sins.“538 Andererseits gäbe es auch Länder „especially in the East“, wo eine moderate Fettleibigkeit sehr geschätzt würde.539 Junge Tunesierinnen etwa würden vor ihrer Hochzeit „gemästet“ und die „absurden Ausmaße“ der Hottentotten gälten als „Perfektion“.540 532 L. Fiedler: Freaks. S. 124f. J. Secreto: Larger Than Life. Positively Fat. S. 90. 534 J. McKennon: A pictorial history of the American carnival. S. 17. 535 L. Fiedler: Freaks. S. 126. 536 Ebd. 537 Fiedler nennt den Arzt in seiner Arbeit fälschlicherweise „J. G. Milligan“. (Vgl. L. Fiedler: Freaks. S. 126). 538 J. G. Millingen: Curiosities of medical experience. S. 2. 539 Ebd. S. 3. 540 Ebd. 533 74 Fiedler hat darauf hingewiesen, dass viele Herrscher des Okzidents über eine auffallende Leibesfülle verfügten, darunter etwa der griechische Gott Dionysos, William der Eroberer oder der französische König Louis XVIII.541 Da im rinascimentalen Europa Leibesfülle folglich häufig mit politischer Macht gleichgesetzt wurde, dienten korpulente Menschen, anders als etwa Zwerge oder Bucklige, nicht als Hofbelustigungen an Fürsten- und Königshäusern.542 Erst im 18. Jahrhundert begann ihre Schaustellung als Abnormitäten.543 Insbesondere das englische Publikum schien an beleibten Personen Gefallen zu finden und immerhin waren die drei berühmtesten „Fat Men“ des 18. Jahrhunderts englischer Herkunft.544 Der prominenteste unter ihnen war Daniel Lambert (1770-1809), ein Gefängnisaufseher aus Leicester, der bei einer Größe von 1,80 m545 ein Höchstgewicht von 739 Pfund erreichte.546 Nachdem das Gefängnis, in dem er arbeitete, im Jahr 1805 geschlossen wurde, zog sich „[T]he Jolly Goaler of Leicester“547 für etwa ein Jahr zurück, ehe er begann, sich in London und in seinem Haus in Leicester gegen Entgelt zur Schau zu stellen.548 Für seine abnorme Leibesfülle, die ihm den Titel „prodigy of human dimensions“ einbrachte, interessierten sich nicht nur Schaulustige und Journalisten, sondern alsbald auch Mediziner, die seinen Fall in medizinischen Kompendien, wie etwa dem Medical and Physical Journal, veröffenlichten.549 Obgleich Daniel Lambert durch seine Umgangsformen, seine Bildung und Eloquenz die Erwartungen der Zuschauer übertraf, wie ein Reporter der Times schrieb550, wurde ihm auch Spott zuteil. Nach seinem Tod infolge einer „fatty degeneration of the heart“ bemerkte ein Journalist hämisch: „[H]e had reached the acme of mortal hugeness“551 und in seiner Grabinschrift heißt es süffisant: „[I]n personal greatness he had no competitor“552. Die Widersprüchlichkeiten in der Wahrnehmung übergewichtiger Menschen bezeugen auch die Zurschaustellungen von so genannten „Wunderknaben“ und „Kolossaldamen“ auf Jahrmärkten und in Zirkussen. Oft gingen Kompromittierung und Bewunderung einher, wie etwa eine illustrierte Annonce im Mainzer Anzeiger belegt, die einen 350 Pfund schweren 541 L. Fiedler: Freaks. S. 127. Ebd. 543 Ebd. S. 127f. 544 Ebd. S. 128. 545 J. Bondeson: The two-headed boy, and other medical marvels. S. 243. 546 L. Fiedler: Freaks. S. 128f. 547 J. Nickell: Secrets of the sideshows. S. 95. 548 J. Bondeson: The two-headed boy, and other medical marvels. S. 239f. 549 Ebd. S. 243. 550 Ebd. 551 L. Fiedler: Freaks. S. 128f. 552 J. Bondeson: The two-headed boy, and other medical marvels. S. 252. 542 75 vierzehnjährigen Jungen bewirbt. Aus dem beigefügten Text geht hervor, dass der aus Paris stammende Knabe „auffallend wenig essen thut“ und in Begleitung „seine[r] Eltern und zwei Geschwister [ist] […], welche beiden Letzteren jedoch ganz proportionirt sind.“553 Bogdan schildert in seinem Kapitel über die verherrlichende Darstellungskonvention: „[S]tatus aggrandizement was also accomplished by emphasizing the normalcy of the freak’s spouse, children, and family life.“554 Mit Rücksicht auf den normalen Körperwuchs der engsten Familienangehörigen wirkte der als “Naturseltenheit” betitelte Junge umso merkwürdiger und außergewöhnlicher. Dieser Eindruck wurde durch den Hinweis, dass er „wenig essen thut“ nur noch bestärkt. Während seiner Lebzeit war im Umfeld des “menschlichen Kolosses” Daniel Lambert immer wieder bemerkt worden, „that since he did not eat to excess, and never drank ale, his extreme corpulence could only be due to some unknown disease.”555 Wenngleich die moderne Biologie hinlänglich bewiesen hat, dass starkes Übergewicht ohne die Anwesenheit einer weiteren Krankheit auftreten beziehungsweise durch endokrine oder genetische Ursachen ausgelöst werden kann556, korrespondierte die Vorstellung von einer unerklärlichen Krankheit mit der Inszenierung übergewichtiger Menschen als „prodig[ies] in nature“557, als rätselhafte Naturphänomene. Die Ambivalenz in der Darstellung des Jungen ergibt sich aus dem großflächigen Kupferstich, der den Knaben spärlich bekleidet zeigt. Wenngleich der erläuternde Text die Außergewöhnlichkeit der „Abnormität“ hervorhebt und der Inszenierungsstrategie des „aggrandized status“ folgt, so entkräftet die Abbildung die vermeintlich „idealisierende Inszenierung“. Denn nicht in vornehmer Abendgarderobe mit Frack und Zylinder wird der Junge porträtiert, sondern mit einem knappen Tuch um die Hüften, das kaum mehr als seine Scham bedeckt und den Blick unverhohlen auf den aufgedunsenen Körper des Knaben freigibt. (Abb. 7) Die annähernde Nacktheit, die unförmigen Arme, die kräftigen Oberschenkel und die zu kleinen Hände und Füße, die insgesamt an Darstellungskonventionen eines Peter Paul Rubens erinnern, fokussieren die Aufmerksamkeit des Lesers – ähnlich wie bei den Riesen – gänzlich auf die abweichende Physiognomie, anstatt, wie etwa bei der Präsentation kleinwüchsiger Menschen, von ihr abzulenken. Indem der Junge dem neugierigen Blick des Lesers beziehungsweise Zuschauers preisgegeben wird, wird ein erotisch-voyeuristisches Bedürfnis 553 Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 12. August 1855. R. Bogdan: Freak Show. S. 109. 555 J. Bondeson: The two-headed boy, and other medical marvels. S. 257. 556 Ebd. 557 Ebd. S. 252. 554 76 bedient, das sich auch in der Zurschaustellung beleibterer Frauen und Mädchen nachweisen lässt. Im Sommer des Jahres 1903 gastierte „Paolos Panoptikum“ auf dem Mainzer Messplatz, das „in der Abteilung lebender Naturphänomene die 3 ostpreussischen Kolossal-Geschwister Wilhelm, Hulda und das Riesenbaby Emil, unstreitig die schwersten Kinder der Welt!“558 zur Schau stellte (Abb. 8). Die illustrierte Annonce zeigt ein fünfjähriges Mädchen, dessen Hand auf dem Arm eines älteren Jungen ruht. Sie trägt eine große Schleife im Haar und ist in ein lose fallendes Negligé gekleidet, das ihren nackten Oberkörper kaum bedeckt. Eine vergleichbare erotisierte Darstellung findet sich auch in der Schaustellerzeitschrift Komet. Auf einer Fotografie sind die beiden sieben- beziehungsweise elfjährigen „Riesen-Kinder“ Theresia und Marista in dunkelfarbigen, mit weißer Spitze gesäumten Negligés zu sehen (Abb. 9).559 Das sitzende Mädchen präsentiert dem augenscheinlich als männlich imaginierten Betrachter gleich einer Revuetänzerin ihr bestrumpftes Bein und das hochgerutschte, etwa wadenlange Kleidchen gibt den Blick frei auf das entblößte Knie. Der großzügige Rundhalsausschnitt des ärmellosen Kleidchens forciert die Sexualisierung der beleibten Mädchen zusätzlich. In ähnlicher Weise wurden korpulente Frauen dargestellt, die sich etwa in hochgeschlitzten Kleidern oder in knappen, mit Volants und Spitzen verzierten Unterkleidern, jedoch stets mit entblößten Armen und Beinen und tief dekolletiert präsentierten (Vgl. Abb. 10). Wie ihre männlichen Kollegen galten auch weibliche „Kolosse“ als Inbegriff jovialer Lebenslust und insbesondere in amerikanischen Abnormitätenschauen wurden sie häufig mit Künstlernamen wie „Dolly Dimples“, „Jolly Irene“560 oder „Happy Jenny“561 beworben. Meah argwöhnte in seinen „Notes“, dass der Urheber des Begriffspaares glücklich/fett „never spent much time around Fat People, however, these two words have enjoyed the longest marriage ever recorded.“562 Die vermeintliche Humorigkeit der zur Schau gestellten übergewichtigen Menschen diente sicherlich nicht zuletzt als Rechtfertigungsstrategie, um ungestraft Spott mit den dickleibigen „Abnormitäten“ zu treiben, hieß es doch etwa auf einem Banner einer amerikanischen Sideshow: „I love my wife, but oh you Fat Trixie/ she’s so fat it takes seven men to hug her.“563 558 Mainzer Anzeiger, Nr. 182, vom 7. August 1903. Der Komet, Nr. 905, vom 26. Juli 1902, S. 24. 560 L. Fiedler: Freaks. S. 129. 561 J. Nickell: Secrets of the sideshows. S. 95. 562 J. Meah: Notes on Fat People. In: Freaks, Geeks, and Strange Girls. S. 90. 563 Abbildung in J. Secreto: Larger than Life. Positively Fat. S. 87. 559 77 Da sie unterdrückte Begierden heraufbeschwören, die sonst nur im Reich der Phantasie befriedigt werden könnten, seien Abnormitäten, so Fiedler, von Natur aus sexualisiert.564 Doch korpulente Frauen seien „the most erotically appealing of all Freaks“ und vielerorts hätten Männer, insbesondere Angehörige der bildungsfernen Schichten, weibliche Obesität verehrt, wie etwa die Venus von Willendorf bezeuge.565 Fiedler führt weiter aus, dass in den Filmen Federico Fellinis ein junger Mann typischerweise seine ersten sexuellen Erfahrungen mit einer stark übergewichtigen Frau erlebt und dass in manchen Dörfern der USA noch zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Arbeit jährlich die beleibteste Frau als „Miss Fatty“ gekrönt wird.566 Dieses dezidiert männliche Interesse an korpulenten Frauen entspringe – und hier argumentiert Fiedler ganz im Sinne Freuds – „memories of having once been cuddled against the buxom breast and folded into the ample arms of a warm, soft Giantess, whose bulk – to our 8-pound, 21-inch infant selves – must have seemed as mountainous as any 600pound Fat Lady.”567 Im Erwachsenenalter dienten jene ödipalen Kindheitserinnerungen als Motor „to rediscover in our later loves the superabundance of female flesh […] a satisfaction we all project in dreams, though we may be unwilling to confess it once we are awake.“568 Rachel Adams hat in ihrer Arbeit über amerikanische „Sideshows“ (2001) darauf hingewiesen, dass Fiedler, geleitet von seinen eigenen sexuellen Vorlieben, weibliche „Freaks“ primär als “objects of male desire”569 betrachtet. Doch tatsächlich dürfte seine Charakterisierung von korpulenten Frauen als Projektionsfläche für männliche Phantasien gerade im Kontext der Abnormitätenschauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts zutreffend gewesen sein. Die industrielle Revolution hatte eine „zunehmend rationelle, technisierte und verdinglichte Lebensweise“ hervorgebracht, die eine „Aufwertung des Erotischen in der subjektiv-privaten Sphäre“ und somit ein zunehmend erotisch konzipiertes Frauenbild seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zur Folge hatte.570 Hinter der Thematisierung des Erotischen verbarg sich die „wachsende Sehnsucht nach authentischem, unentfremdeten Leben“ in einer Gesellschaft, die sich mehr und mehr über eine als „verfremdet erlebte[ ] Berufs- und Arbeitswelt“ definierte.571 Im Zuge der Industriellen Revolution verlor die Frau ihre Funktion als ökonomische Stütze für die Familie und somit auch ihren Status als gleichberechtigte 564 R. Adams: Sideshow U.S.A: Freaks and the American cultural imagination. S. 152. (Vgl. L. Fiedler: Freaks. S. 137). 565 L. Fiedler: Freaks. S. 131f. 566 Ebd. S. 132. 567 Ebd. S. 131. 568 Ebd. 569 R. Adams: Sideshow U.S.A: Freaks and the American cultural imagination. S. 152. 570 U. Weinhold: Die Renaissance-Frau des Fin de siècle. S. 244. 571 Ebd. 78 Partnerin des Mannes.572 „Als Ersatz“, so Ulrike Weinhold, „blieb ihr lediglich die Aufgabe, sich emotionell und d.h. vor allem erotisch bedeutsam zu machen.“573 Um zu ökonomischem Wohlstand und sozialem Status zu gelangen, blieb ihr als „einzige und unumgängliche Voraussetzung“ die Heirat; ihr Körper wurde dabei zur „wirksamste[n] Waffe im Kampf um einen Mann“574. Die Stilisierung der Frau zum sexualisierten „Schaustück des Mannes“575 manifestierte sich insbesondere in den Kleidungskonventionen des Wilhelminischen Kaiserreichs, die gezielt die dezidiert weiblichen Körpermerkmale wie Busen, Taille und Gesäß betonten und die Frau als ein dem Mann gefälliges und sich ihm gehorsam unterordnendes Wesen auswiesen. Die kompromittierende Freizügigkeit und erotische Eindeutigkeit, mit der beleibtere Frauen und selbst junge Mädchen auf Jahrmärkten zur Schau gestellt wurden, pervertierten die gesellschaftlich legitimierte Erotisierung der Frau und müssen in einer Zeit, in der die Erziehung junger Damen auf „Sitte, Anstand und Passivität“576 ausgerichtet war, wie ein Affront gegen die wilhelminische Moral empfunden worden sein. Hinzu kamen detaillierte Studien über die physische Anthropologie der Prostituierten, die einen Zusammenhang zwischen weiblicher Leibesfülle und „eine[r] Eignung zur Prostitution“577, wie Freud sagte, nahe legten. Erwähnenswert ist etwa die Arbeit De la prostitution dans la ville de Paris (1836) des französischen Hygienikers Alexandre Jean B. Parent-Duchâtelet, die Körpergestalt, Stimmlage, Augen- und Haarfarbe, physische Anomalien und sexuelle Verhaltensweisen von Pariser Prostituierten statistisch erfasste578. Unter dem Kapitel „Embointpont“ erläutert der Autor, dass eine „große Anzahl“ an Prostituierten eine „besondere Fülligkeit“ besäßen579, die auf „la grande quantité de bains chauds qu’elles prennent pour la plupart, et surtout à la vie inactive que mènent la plupart d’entre elles“580 zurückzuführen sei. Auch Pauline Tarnowsky, eine Petersburger Ärztin, beschrieb in ihrer detailreichen Studie über die Physiognomie der Prostituierten581 in Anlehnung an die Kategorien Parent-Duchâtelets das übermäßige Gewicht der 572 U. Weinhold: Die Renaissance-Frau des Fin de siècle. S. 246. Ebd. 574 W. Wördemann: Dessous und Moral. S. 30. 575 F. Chenoune: Dessous. S. 17. 576 W. Wördemann: Dessous und Moral. S. 30. 577 Freud, Sigmund: Gesammelte Werke. Frankfurt/ Main 1981, Bd. 5, S. 91f. zit. n. S. L. Gilman: Hottentottin und Prostituierte. S. 134. 578 S. L. Gilman: Hottentottin und Prostituierte. S. 133. 579 A. J. B. Parent- Duchâtelet: De la prostitution dans la ville de Paris. S. 193. 580 Ebd. S. 195. (Übersetzung der Autorin: „[…] die große Anzahl heißer Bäder, die die Mehrzahl dieser Frauen nimmt, und auf das inaktive Leben, das die Mehrzahl dieser Frauen führt […]“). 581 Tarnowsky, Pauline: Étude anthropométrique sur les prostituées et les voleuses. Paris 1889. 573 79 Prostituierten.582 Einige Jahre später konzedierte Cesare Lombroso in seiner Untersuchung über kriminelle Frauen, die er zusammen mit seinem Schwiegersohn Guillaume Ferrero verfasste583, ebenfalls Parent-Duchâtelets Bild von der beleibten Prostituierten.584 Die Erotisierung der Frau im 19. Jahrhundert und das wissenschaftlich etablierte Bild von der „fetten Prostituierten“ als sexualisierte Frau per se schlugen sich in den frivolen Präsentationen von korpulenten Frauen auf dem Jahrmarkt um 1900 nieder. Die diskursiven Verbindungen zwischen Schaugeschäft und zeitgenössischen wissenschaftlichen Betrachtungen haben mithin auch die sexualisierte Schaustellung von Kindern befördert. Denn „in der medizinischen Literatur des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts“ finden sich „durchgehend“ Hinweise auf die Sexualität des Kindes585 und auch Sigmund Freud hatte in seinen Drei Abhandlungen der Sexualtheorie (1905) auf die infantile Sexualität aufmerksam gemacht. Die Typisierung korpulenter Frauen als Sexualobjekte deutet indes an, dass es sich bei den Präsentationsformen des Weiblichen nicht um „realistische“ Darstellungen der konkreten individuellen und historisch-gesellschaftlichen Lebenssituation von Frauen handelte, sondern um Inszenierungen, die es dem als männlich gedachten Zuschauer gestatteten, jene Sexualphantasien in die „Kolossaldamen“ hineinzuprojizieren, die ihnen im technisierten und zunehmend rationellen Lebensalltag verwehrt wurden. 3.2.4 Der Hungerkünstler – Nahrungsverweigerung als Jahrmarktsattraktion Als Pendant zu übermäßig dicken Menschen traten seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert586 außergewöhnlich dünne Individuen, die so genannten „Hungerkünstler“, auf Jahrmärkten und in Panoptiken auf. Ebenso wie „Kollosaldamen“ und „Riesenknaben“, „who have literally eaten their way into the spotlight”587, sind auch Hungerkünstler „self-made freaks“588, da sie durch eine freiwillig erfolgte Nahrungsverweigerung für einen von ihnen selbst festgelegten Zeitraum zur ausstellungswürdigen Abnormität wurden. Diejenigen, die in ihrer Physiognomie auffallend von der Norm abwichen, wurden als „Living Skeleton“, „The Skeleton Dude“ oder „The Shadow“589 beworben. 582 S. L. Gilman: Hottentottin und Prostituierte. S. 134f. Lombroso, Cesare/ Ferrero, Guillaume: La donna delinquente: La prostituta e la donna normale. Turin 1893. 584 S. L. Gilman: Hottentottin und Prostituierte. S. 138. 585 S. L. Gilman: Das männliche Stereotyp von der weiblichen Sexualität im Wiener Fin de siècle. S. 156. 586 P. Payer: Hungerkünstler in Wien. S. 3. 587 J. Secreto: Larger Than Life. Positively Fat. S. 90. 588 Ebd. 589 L. Fiedler: Freaks. S. 134. 583 80 Bereits im 16. Jahrhundert wurden so genannte „Fastenwunder“ und „Hungermädchen“ während ihren meist religiös motivierten Hungerkuren zur Schau gestellt.590 Doch nicht selten entsprang „die ganze Produktion einer hysterischen Veranlagung“591, einem Schwindel. In seinem 1577 herausgegebenen Büchlein De commentitiis jejuniis (Über schwindelhaftes Fasten)592 trug der rheinische Arzt Johann Weyer nicht weniger als zehn bekannt gewordene Betrugsfälle zusammen, wie etwa der Fall der Margaretha Ulmer aus Esslingen, die behauptete, weder zu essen noch zu trinken und zudem „den ganzen Bauch voll Würmer und Schlangen“593 zu haben. Da selbst kaiserliche Leibärzte, die die junge Frau untersucht hatten, diese Angaben bestätigten, wurde der Schwindel erst nach rund vier Jahren aufgedeckt, nachdem der Magistrat angeordnet hatte, „der Ulmer den ‚Leib’ aufzuschneiden.“594 Ein weiterer von Weyer beschriebener Fall geht auf das zwölfjährige „Wundermädchen von Speyer“, Margaretha Weiß, zurück, die 1542 angeblich bereits seit zehn Jahren fastete.595 Nicht ohne Verwunderung schreibt der Zirkushistoriker Alfred Lehmann, dass obschon „allmählich allgemein bekannt wurde, daß dieses Hungern weiter nichts als plumper Schwindel war, so ließ sich das Publikum […] doch immer wieder düpieren.“596 Im Jahr 1800 veröffentlichte D. L. J. Schmidtmann, ein praktizierender Arzt im Osnabrückschen Melle, die Wunderbare Geschichte eines jungen Mädchens im Hochstifte Osnabrück, das bereits achtzehn Monate ohne Speise und Getränke lebt, nebst physiologischen und pathologischen Betrachtungen darüber597. In einer dazugehörigen Anzeige, die im Frankfurter Staats-Ristretto veröffentlicht wurde, hieß es: „Durch diese ausführliche Erzählung dieser wunderbar scheinenden, aber durch unpartheiische Beobachtung vieler einsichtsvoller Männer gegen jeden Verdacht von Betrügerey und Täuschung gesicherten Geschichte, macht Herr Doct. Schmidtmann nicht nur Aerzten und Naturforschern ein sehr angenehmes Geschenk, sondern befriedigt auch die Neugierde des großen Publikums […]“598. Jene „Neugierde des Publikums“ sollte schließlich dazu beitragen, dass sich das Schauhungern im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einer beliebten Jahrmarktsattraktion etablierten konnte. 590 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 117. Ebd. S. 117. 592 Weyer, Johann: De commentitiis jejuniis. Basel (Oporiunus) 1577. 593 E. v. Holländer: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt. S. 212. 594 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 117. 595 Ebd. S. 118. 596 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 118. 597 Schmidtmann, Ludwig Joseph: Wunderbare Geschichte eines jungen Mädchens im Hochstifte Osnabrück, das bereits achtzehn Monate ohne Speise und Getränke lebt, nebst physiologischen und pathologischen Betrachtungen darüber. Osnabrück 1800. 598 Frankfurter Staats-Ristretto, 34. St., vom 28. Februar 1800. 591 81 Einer der ersten und populärsten Hungerkünstler des 19. Jahrhunderts war der amerikanische Arzt Henry Tanner, der im Jahr 1880 gewettet hatte, er könne vierzig Tage lang hungern, „nur Wasser zu trinken müsse ihm erlaubt sein.“599 Nachdem Tanner sein unter Aufsicht durchgeführtes Experiment erfolgreich abgeschlossen hatte, fand sein Beispiel 1886 in dem italienischen Hungerkünstler Giovanni Succi „einen viel bestaunten Nachahmer“600. Der Norditaliener beendete seine 30tägige „Hungerkur“ ohne eine „Spur von der Schwäche, Erschlaffung und den Übelkeiten [zu zeigen], welche bei Tanner häufig vorkamen“, wie eine Kommission aus Ärzten befand.601 Die große Beliebtheit solcher Vorführungen resultierte in beachtlichen finanziellen Gewinnen, doch die Veranstaltungen waren nicht unumstritten.602 Insbesondere die Behörden, die die mehrtägigen Schaustellungen zu genehmigen hatten, zweifelten am gesellschaftlichen Nutzen des Schauhungerns und sorgten sich um die daraus resultierenden gesundheitlichen Risiken für die Fastenden.603 Nicht selten brachen die Künstler während ihrer Hungerkur entkräftet zusammen und der holländische Hungerkünstler Wolly etwa „hat am 10. Tage schon seinen Arm geöffnet, […] um von dem hervorquellenden Blut seinen Wahnsinnsdurst zu stillen.“604 Die geplanten „Vorstellungen des Hungerkünstlers Papus“ wurden denn auch „behördlicherseits verboten“, wie Der Komet 1902 berichtete.605 Auch die Seriosität solcher Darbietungen wurde bisweilen in Frage gestellt und der Hungerkünstler mithin der heimlichen Nahrungsaufnahme bezichtigt. Um diesen Vorwurf Lügen zu strafen, war es um 1900 üblich geworden, den Hungerkünstler für die Dauer seiner Darbietung in „eine Art Glaskasten“ einzusperren, der ständig bewacht wurde.606 In einem Bericht der Fachzeitschrift Der Komet wurde am Beispiel des Südamerikaners „Professor“ Papus der genaue Ablauf eines solchen „Hungerexperiments“ wie folgt beschrieben: „Zuerst wird er in Bandagen […] eingewickelt, hierauf in einen Glasapparat gelegt, der hermetisch geschlossen und versiegelt wird. Der Glaskasten wird darauf unter Wasser versenkt und Papus bleibt nunmehr in dieser Lage […], ohne irgend welche Nahrung, ohne einen Tropfen irgend eines Getränks. Die Atmung wird ihm durch einen wasserdichten Schlauch ermöglicht […]. Eine Wache von verantwortlichen Wärtern hat Tag und Nacht Dienst, so daß Mr. Papus jederzeit mit der Außenwelt […] in Verbindung 599 P. Payer: Hungerkünstler in Wien. S. 3. Ebd. S. 4. 601 Ebd. S. 4f. 602 Ebd. S. 6. 603 Ebd. S. 6. 604 „Die Kunst zu hungern“. In: Der Komet, Nr. 2139, vom 24. April 1926. S. 5. 605 Der Komet, Nr. 897, vom 31. Mai 1902. S. 3. 606 P. Payer: Hungerkünstler in Wien. S. 6. 600 82 bleibt.“607 Doch „der Wissenschaft“, so der Artikel weiter, „dienten solche Vorführungen so gut wie gar nicht.“608 So wurde auch das 1887 veranstaltete Schauhungern des „Fastenkünstlers“ Francisco Cetti in Castans Panoptikum in Berlin, nachdem es zuvor bereits polizeilich verboten worden war, bereits nach elf Tagen eingestellt, da die ihn überwachenden Ärzte befunden hatten, dass „zur Verwertung der Beobachtungen für die Wissenschaft ein längeres Fasten unnötig sei.“609 Dennoch verwiesen die Hungerkünstler in ihren Werbeanzeigen häufig auf die ärztliche Attestierung ihrer Darbietungen. In einer Anzeige im Komet heißt es etwa, dass „die weltberühmte Hungerkünstlerin“ Flora Tosca „von Prof. diplomiert“ sei und „ihre Experimente nur unter ärztlicher Kontrolle“ durchführt.610 Wie in dem vorangegangenen Kapitel über Riesen erörtert wurde, konnte durch die Kontrastierung von auffallend divergierenden Körpermaßen die physische Abnormität der zur Schau gestellten Personen hervorgehoben werden. So gab es laut Fiedler „frequent reports in the popular press of marriages between Fat Ladies and skeletal males”, doch die meisten dieser Nachrichten „turn out, in fact, to have been fraudulent inventions of public relations men“.611 Mit dem Ersten Weltkrieg und der entbehrungsreichen Nachkriegszeit verschwand das Schauhungern vorübergehend aus dem Schaustellergewerbe.612 Viele Menschen hatten in den Kriegs- und Nachkriegsjahren selbst Hunger erleiden müssen und begegneten den jahrmarktlichen „Hungerexperimenten“ mit wachsendem Unverständnis.613 Ein Autor des Komet echauffierte sich etwa: „Im Kriege haben wir übrigens alle […] einen unfreiwilligen Vorbereitungskursus für diesen Beruf durchmachen müssen, mit dem Unterschiede, daß wir in keinem Glaskasten saßen und nicht ein hübsches Stück Geld damit verdienen konnten. Vielmehr gaben die meisten ihr Letztes hin. Wir aber leben in einer fortschrittlichen Zeit; heute darf ein Mann Geld verdienen, weil er hungern will und 250.000 Menschen in Berlin allein müssen hungern, weil sie kein Geld verdienen dürfen.“614 Auch Franz Kafka bemerkte die veränderte Wahrnehmung der Nachkriegsgesellschaft gegenüber dem Hungerkünstler. In seiner gleichnamigen Erzählung, die er Anfang der 1920er Jahre verfasste, resümierte er: „In 607 Der Komet, Nr. 897, vom 31. Mai 1902. S. 3. Ebd. 609 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 101. 610 Der Komet, Nr. 1195, vom 15. Februar 1908. S. 41. 611 L. Fiedler: Freaks. S. 134. 612 P. Payer: Hungerkünstler in Wien. S. 7. 613 Ebd. 614 „Kunsthungern nach Hungerkunst“. In: Der Komet, Nr. 2141, vom 8. Mai 1926. S. 6. 608 83 den letzten Jahrzehnten ist das Interesse an Hungerkünstlern sehr zurückgegangen. Während es sich früher gut lohnte, große derartige Vorführungen […] zu veranstalten, ist dies heute völlig unmöglich. Es waren andere Zeiten. […] [W]ie in einem geheimen Einverständnis hatte sich überall geradezu eine Abneigung gegen das Schauhungern ausgebildet.“615 In der von Inflation und Arbeitslosigkeit geprägten Zeit nach dem Ersten Weltkrieg kam es schließlich zu Unterhaltungsform. 616 einer Wiederbelebung dieser ökonomisch überaus rentablen In den späten Zwanziger Jahren konkurrierten eine Vielzahl von Hungerkünstlern um die Gunst des Publikums und versuchten sich durch das Aufstellen von Rekorden gegenseitig zu überbieten.617 Der Komet berichtete 1926 etwa von dem amerikanischen Hungerkünstler Mr Johnston, der einen neuen Hungerrekord in den USA aufstellen wollte, indem er „ohne einen Bissen zu sich zu nehmen“ von Chicago nach New York marschierte.618 Doch mit der „demotivierenden Flut an neuen Rekorden“619 mehrten sich auch die Fälle von Betrug.620 So konnte dem Hungerkünstler „Jolly“ der heimliche Verzehr von Schokolade nachgewiesen werden und der Hungerkünstler Harry Nelson wurde zu einer Geld- und Haftstrafe verurteilt, nachdem er nachts mit Hühnerbrühe und Malzzucker versorgt worden war.621 Durch die Betrugsfälle geriet das Schauhungern in Verruf und „verlor zunehmend an Anziehungskraft“.622 Darüber hinaus stand das Schaustellergewerbe zunehmend mit den modernen Unterhaltungsformen wie etwa dem Kino in Konkurrenz.623 Als der Zweite Weltkrieg „den Begriff Hungernmüssen so grausame Wirklichkeit werden ließ“624 schwand das Interesse an derartigen „Hungertouren“625 endgültig. Zwar gab es noch einmal in den 1950er Jahren Bestrebungen, das Schauhungern zu reanimieren, als der Deutsche Ludwig Schmitz, genannt Heros, 53 Tage lang in einem Glaskasten im Frankfurter Zoo fastete, doch im Vergleich mit anderen schaustellerischen Darbietungen erschienen die Hungerexperimente „zu antiquiert, zu unspektakulär und nicht zuletzt zu unästhetisch“.626 So 615 F. Kafka: Der Hungerkünstler. S. 184 und S. 189. Ob Kafka Darbietungen von Hungerkünstlern besuchte, ist nicht bekannt. Gesichert ist indes, dass er sich generell für das Schaustellergewerbe interessierte und die berühmtesten Hungerkünstler seiner Zeit kannte. (Vgl. Spann, Meno: Franz Kafka’s Leopard. In: Germanic Review, Vol. XXXIV, Nr. 2, April 1959. S. 85-104. Hier vor allem S. 101 f.) 616 P. Payer: Hungerkünstler in Wien. S. 8. 617 Ebd. S. 9. 618 Der Komet, Nr. 2150, vom 10. Juli 1926. S. 11. 619 P. Payer: Hungerkünstler in Wien. S. 9. 620 Ebd. S. 10. 621 Ebd. S. 10f. 622 Ebd. S. 11. 623 Ebd. 624 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 112. 625 P. Payer: Hungerkünstler in Wien. S. 11. 626 Ebd. S. 11f. 84 beschied Lehmann im Jahr 1952 dass, „[d]ieser langsame Qualprozeß […] zwar von wissenschaftlichem Wert [ist], aber im großen und ganzen doch eine Schaustellung, die nicht schön ist. Jeder große Zauberakt, jede nervenkitzelnde Vorbereitung tollkühner Luftakrobaten sind in ihrem Endeffekt wirksamer als diese Schaustellung“627 und bereits 1926 bezweifelt ein Berichterstatter des Komet, „ob es ein ästhetischer Genuß ist, einen Mitmenschen in einem Glaskäfig zu bewundern, wie er täglich etwas mehr an Gewicht verliert und immer ungesunder und elender aussieht.“628 3.2.5 „Junger Mensch ohne Aerme geboren“ – Von „Rumpfmenschen“ und „Fußkünstlern“ Im Jahr 1785 wurde im Mainzer Intelligenzblatt „ein bewundernswürdiger junger Mensch“ angekündigt, „der ohne Aerme gebohren, und mit seinen Füßen alle Handlungen verrichtet, welche andere Leute mit den Händen verrichten“.629 So könne er etwa, wie einer Auflistung der „Kunststücke die er vorzeigen wird“ zu entnehmen war, „Zeichnen“, „Eine Feder schneiden“, „Schreiben, und hernach das Papier beschneiden“, „Kartenspielen“, „Eine Nähnadel von der Erde aufheben und einfädeln“, „In einem Buche umblättern“, „Fechten“ und „Sich den Bart scheeren.“630 Zudem würde „er zeigen, wie er sich bei Tische mit Essen und Trinken bedient, ohne Beyhilfe eines andern.“631 Das Verrichten von alltäglichen Tätigkeiten war integraler Bestandteil der Vorführung von Menschen ohne Arme beziehungsweise Menschen ohne Gliedmaßen, die als „Fußkünstler“ beziehungsweise „Rumpfmenschen“ bezeichnet wurden. Auf einem Kupferstich aus dem 17. Jahrhundert, auf dem der armlose Thomas Schweicker632 abgebildet war, war etwa zu lesen: „Er trank, er aß, er schrieb, schnid Federn mit den Füßen, spannt Bogen, er drückt sie ab [...]“633 und einem Mainzer Flugblatt von 1789 war zu entnehmen, dass eine dreizehnjährige armlose Chinesin mit ihren Füßen „ißt, trinkt, schreibt und […] Karten [spielt]“634. Zudem sei sie in der Lage „einen Faden Garn in die kleinste Nähnadel“ einzufädeln, ein Gewehr zu laden und „es mit 627 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 114. „Kunsthungern nach Hungerkunst“. In: Der Komet, Nr. 2141, vom 8. Mai 1926. S. 6. 629 Reklamezettel im Mainzer Intelligenzblatt, Nr. 96, vom 30. November 1785. 630 Ebd. 631 Ebd. 632 Zum Leben von Thomas Schweicker vgl. Liese, Ernst: Thomas Schweicker als Mensch und Künstler. Zur 400. Wiederkehr seines Geburtsjahres. In: Jahrbuch des Historischen Vereins für Württembergisch Franken, Neue Folge 20/21, 1940. S. 255-282./ Mehl, Heinrich: „Frauenzimmer, ohne Arme gebohren…“. Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16.-19. Jahrhunderts. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 34, 2002. S. 41-44. 633 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 43. 634 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Flugblatt, 1789. 628 85 der größten Unerschrockenheit ab[zudrücken]“635. Rund hundert Jahre später, im Jahr 1898, gastierte der „Rumpfkünstler“ Nicolaus Kobelkoff, der „ohne Hände und Füße [geboren]“636 wurde und sich seit 1870 als Rumpfkünstler zur Schau stellte637 „[z]um ersten Male“ in Mainz.638 Seine Darbietungen hat Hermann Waldemar Otto (Signor Saltarino) in seiner Übersicht zu „Abnormitäten, Kuriositäten und interessanten Vertretern der wandernden Künstlerwelt“ wie folgt beschrieben: „[…] dann taucht er die Feder in die Tinte und schreibt mit sehr schön geschwungener Schrift seinen Namen auf Papierstücke. […] Weiter ergreift er eine Flasche, nimmt deren Stöpsel ab, giesst sich in ein Glas ein […] Er ergreift eine Gabel, sticht damit kleine Brotstücke an und führt sie zum Munde. […] Mit Armstrumpf und Lippen gelingt es ihm, eine Nadel einzufädeln; er versteht es, ein Pistol [sic] zu ergreifen, zu laden und mit gutgezieltem Schuss eine Kerze auszulöschen.“639 Es ist bemerkenswert, „wie formal unverändert sich die Präsentation solcher Gestalten durch die Jahrhunderte zieht.“640 Karbe zufolge steckt dahinter die Absicht, die Normalität der zur Schau gestellten Abnormitäten zu unterstreichen und ihre „Ähnlichkeit mit den Zuschauern“641 zu betonen. Möglicherweise sollte so dem Unbehagen des Publikums beim Anblick eines stark fehlgebildeten Menschen begegnet werden. Bei der Beschreibung des Artisten Kobelkoff lobte Saltarino etwa, „dass man bei ihm nie das Gefühl hat, einen Krüppel vor sich zu sehen; er thut alles mit einer Leichtigkeit, Anmut, Zierlichkeit, welche uns jedes beklemmende Gefühl benehmen.“642 Gleichzeitig wurde jedoch gerade durch die schaugewerbliche Inszenierung von an sich alltäglichen Tätigkeiten die Andersartigkeit der Abnormität betont. Der armlose Carl Hermann Unthan erläuterte etwa: „Wer mich geigen, blasen, Karten spielen, schießen schwimmen sieht, […] der sieht sich zunächst einer Reihe von Resultaten gegenüber, die ihm unbegreiflich erscheinen.“643 Denn was einen fehlgebildeten Menschen veranlasste, sich zur Schau zu stellen, war zunächst einmal sein vermeintliches Unvermögen, traditionellen Tätigkeiten nachgehen zu können.644 Demgemäß definierte ein Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften aus dem Jahr 1839 einen „Krüppel“ als denjenigen „Menschen, der durch […] Verlust von Gliedmaßen u. s. w. unfähig geworden 635 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Flugblatt, 1789. Neuester Mainzer Anzeiger, Nr. 181, vom 6. August 1898. 637 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 110. 638 Neuester Mainzer Anzeiger, Nr. 181, vom 6. August 1898. 639 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 109f. 640 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 47. 641 A. Karbe: Wie aus großen Menschen Riesen werden. S. 144. 642 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. VIII. 643 H. Würtz: Sieghafte Lebenskämpfer. S. 25. 644 E. O’Connor: Raw Material. Producing Pathology in Victorian Culture. S. 195. 636 86 ist, sich seinen Lebensunterhalt gehörig zu verdienen.“645 Doch insbesondere armlose Künstler neutralisierten Erin O’Connor zufolge „the notion of incapacity, transforming gross defect into rare skill“646. Neben dem Verrichten von typisch bürgerlichen Tätigkeiten wurden bei der Vorführung von Rumpfmenschen und Fußkünstlern auch „die artistischen Leistungen der Darsteller berücksichtigt“647, darunter etwa öffentliche Malvorführungen oder akrobatische Darbietungen. Einer Anzeige im Frankfurter Staats-Ristretto zufolge konnte die kleinwüchsige Frau ohne Hände, die im Jahr 1788 gemeinsam mit dem bereits erwähnten Riesen beim Schlossermeister Diehl auf der Zeil auftrat, „zur Verwunderung der Anschauer viele sehenswürdige Kunststücke verrichten […] mit ihren Füssen, als ein anderer Mensch mit seinen Händen“648. 1748 gastierte auf der Herbstmesse, so Thomas Bauer, „ein sechzigjähriger Ungar, der nur 1,5 Frankfurter Ellen (1 Frankfurter Elle 0 54, 73 cm) groß war und keine Beine hatte […]. Sein Repertoire bestand aus 319 eigenen Kunststücken, zum Beispiel sprang er mit einer Hand auf einen Tisch oder kletterte eine Leiter hinauf.“ 649 Einer der „bekannteste[n] und geachtetste[n]“650 armlosen Künstler des 19. Jahrhunderts war Carl Hermann Unthan (1850-1929), der erfolgreich Geige spielte. Bei einer Untersuchung Unthans konstatierte Virchow, „dass hier keineswegs ein atavistischer Rückschlag auf ‚Greiffuss’ tierartiger Urformen des Menschen, sondern einfach eine durch unausgesetzten Gebrauch der Füsse erworbene Geschicklichkeit vorliege.“651 In seiner 1925 veröffentlichten Autobiographie mit dem bezeichnenden Titel Das Pediskript schrieb Unthan, dass die „ewig Durstigen im Dorfe“ indes der Ansicht gewesen seien, dass er „ohne Arme gar nicht lebensfähig sei.“652 So hatte etwa die Amme dem Vater vorgeschlagen, „sie werde den Schaden mit einem auf [sein] Gesicht gedeckten Kissen endgültig heilen.“653 Hier deutet sich an, welche Diskrepanz zwischen der naturwissenschaftlichen Auslegung des Armlosen und der Wahrnehmung desselben in der Dorfgemeinschaft bestand. Auf Grund seiner Erziehung, die auf „Selbstständigkeit und Aktivierung der Füße“ ausgerichtet war654, konnte Unthan schließlich, wie er schrieb, „auf eigenen Füßen“655 645 Artikel Krüppel. In: Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften. Bd. 20. S. 570. E. O’Connor: Raw Material. Producing Pathology in Victorian Culture. S. 195. 647 U. Bischoff: Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei. S. 184. 648 Frankfurter Staatsristretto vom 25. März 1788. S. 206. 649 T. Bauer: Am Rande der Messe. In: Brücke zwischen den Völkern. Bd. 2. S. 318f. 650 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 61. 651 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 112. 652 C. H. Unthan: Das Pediskript. S. 15. 653 Ebd. 654 C. Mürner: Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen. S. 124. 646 87 stehen. Dass „[f]ür Taten, wie sie in den verachteten Tingeltangels geleistet werden, […] Askese und eiserne Arbeit vonnöten [ist]“656, befand denn auch der armlose Künstler Arthur Stoß, eine Romanfigur in Gerhard Hauptmanns Atlantis (1912), die nach dem Vorbild Unthans erschaffen worden war.657 Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges wandelte sich Unthans Funktion vom Schauobjekt, das „drollige Künste“ vorführte, zum „Experten“, der „lebensnotwendiges Wissen“ an Kriegsverletzte weitergeben konnte.658 Als Unthan 1914 sah, wie die ersten Kriegsversehrten in Lazaretten untergebracht wurden, fragte er: „Wie werden sich die vielen Tausende in dem unvermittelt über sie hereingebrochenen Krüppeltum zurechtfinden?“659 Etwa ein halbes Jahr später hielt Unthan, der „Kunstarme“ und den „Prothesenwahnsinn“ ablehnte660, in einem Kriegslazarett bei Königstadt seinen ersten Vortrag und erzählte, wie man trotz Arm- und/ oder Beinlosigkeit alltägliche Tätigkeiten verrichten könne661, „wie man sich helfen und dabei fröhlich sein kann“662. Bis 1917 reiste er wöchentlich von Lazarett zu Lazarett und referierte vor kriegsversehrten Soldaten.663 Zürcher hat die Implikationen, die mit dem Funktionswandel von Unthans Fertigkeiten einhergingen, wie folgt beschrieben: „Unthan war mit Kriegsbeginn Subjekt geworden. Er war nicht mehr Wissensobjekt, von Medizinwissenschaftlern beschaut, vermessen und beschrieben […] seine körperlichen Fähigkeiten machten ihn zum Experten, die Zuhörer und Zuhörerinnen zum Objekt, zum Heilobjekt, denn Unthan war bereits geheilt, er führte ja ein bürgerliches Leben.“664. Die Durchsicht des Mainzer Anzeigers (bis einschl. 1945), des Neuesten Mainzer Anzeigers (bis einschl. 1920) und des Komet (jeder dritte Jahrgang bis einschl. 1926) ergab, dass sich die Schaustellung einer Fusskünstlerin letztmalig für November 1905 belegen lässt (Vgl. Der Komet, Nr. 1078, vom 18. November 1905. S. 26). Als im Verlauf des Ersten Weltkrieges die Zahl von Menschen mit fehlenden Gliedmaßen sprunghaft anstieg und der versehrte Körper in der Folge nicht mehr als seltenes Kuriosum sondern als allgegenwärtiger Bestandteil des Alltags wahrgenommen wurde, verschwanden die Fußkünstler und Rumpfmenschen vermutlich als Folge dieser Entwicklung von den Schaubühnen. 655 C. H. Unthan: Das Pediskript. S. 98. G. Hauptmann: Atlantis. S. 93. 657 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 61. 658 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 277f. 659 C. H. Unthan: Das Pediskript. S. 268. 660 Ebd. S. 267f. 661 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 278. 662 C. H. Unthan: Das Pediskript. S. 268. 663 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 278. 664 Ebd. 656 88 3.2.6 „Kind mit zweyn Köpffen geboren“ – Von Zwillingen und Doppelfehlbildungen Die zahlreichen Meldungen, die die Geburt oder die Zurschaustellung von so genannten „Doppelmissgeburten“ beziehungsweise „Doppelmenschen“ ankündigten und etwa auf Flugblättern der Wickiana oder in der halbjährlich publizierten Frankfurter Meßrelation abgedruckt waren, deuten darauf hin, dass Zwillingsgeburten schon in der Neuzeit von beträchtlicher Faszination gewesen sein müssen.665 Im Jahr 1716 wurden etwa „2 lebendige Mägden/ welche auff eine ganz wunderbahre Weise an einander gewachsen“ „[a]us dem Eyland Zypern […] nach Konstantinopel gebrachet/ und […] dem Groß-Sultan präsentiert.“666 Auch auf Jahrmärkten wurden Zwillinge und Doppelfehlbildungen zur Schau gestellt. Unter dem Artikel „Missgeburt“ in Zedlers Universal-Lexikon wird etwa beschrieben, „wie denn vor einigen Jahren zwey Knaben, so mit den Köpffen, und zwey Mägdlein, so mit dem Creutz an einander fest gewesen, zur Schau herum geführet worden.“667 Auch Mehl urteilt in seinem Aufsatz, dass die „Krönung aller einschlägiger Jahrmarktattraktionen […] lebende Schauobjekte mit Verdopplung von Gliedern, Köpfen oder des gesamten Leibes [waren].“668 Zu den Doppelfehlbildungen zählen neben den Siamesischen Zwillingen auch parasitäre Zwillinge. Während bei einem Siamesischen Zwillingspaar beide Individuen gleichmäßig ausgebildet sind, ist bei parasitären Zwillingen ein Individuum weniger gut oder nur rudimentär entwickelt.669 Bei parasitären Zwillingen wird der normalgroß ausgeprägte Individualteil als „Autosit“, der unterentwickelte, meist lebensunfähige Teil als „Parasit“ bezeichnet.670 Die Bezeichnung „Siamesische Zwillinge“ geht auf das Zwillingspaar Chang und Eng Bunker (im Deutschen auch Bunkes) aus Siam (1811-1874) zurück, die oberhalb des Nabels durch einen Bindegewebsstrang zusammengewachsen waren und sich seit den 1830er Jahren in Amerika und später auch in Europa zur Schau stellen ließen.671 Möglicherweise in Anlehnung an die antike Erzähltradition wurden sie wie etwa Castor und Pollux, Romulus und Remus oder Jakob und Esau als Antagonisten porträtiert.672 Fiedler fasste ihre Typisierung wie folgt zusammen: „Chang ‚loved the ladies’, as his brother did 665 Zwischen 1650 und 1670 beziehungsweise 1700-1730 konnten in der Frankfurter Meßrelation elf beschriebene Fälle von Doppelfehlbildungen ausgemacht werden (und zwar in den Jahren 1651,1667, 1716, 1717, 1719, 1723 (zwei Zwillingsgeburten), 1724, 1725 (zwei Zwillingsgeburten) und 1729). 666 Frankfurter Meß-Relation, Herbst 1716. S. 110f. 667 Artikel „Mißgeburt“. In: Zedlers Universal-Lexikon. Bd. 21. Sp. 486. 668 H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 57. 669 H. Ribbert: Lehrbuch der allgemeinen Pathologie und der pathologischen Anatomie. S. 231. 670 G. Klunkert: Schaustellungen und Volksbelustigungen auf Leipziger Messen des 19. Jahrhunderts. S. 225. 671 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 100f. 672 L. Fiedler: Freaks. S. 203f. 89 not; liked highly spiced Oriental foods, while his brother preferred a bland vegetarin diet; and told dirty jokes in public, embarrassing the more circumspect and scholarly Eng.“673 Nach einer erfolgreichen Karriere als Showfreaks heirateten Chang und Eng das Geschwisterpaar Sarah Ann und Adelaide Yates, mit denen sie insgesamt 22 Kinder674 zeugten. Die Brüder führten fortan ein bürgerliches Leben: sie ließen sich im ländlichen North Carolina nieder, arbeiteten als Farmer und hielten sich Sklaven. Als die ökonomische Krise, die der amerikanische Bürgerkrieg verursacht hatte, die Brüder zwang, sich in den frühen 1870er Jahren erneut zur Schau zu stellen, war ihr Erfolg verhalten.675 Virchow, der die Brüder als einer der ersten Mediziner untersucht hatte, urteilte, sie seien inzwischen zu alt für ihre Flickflacks und Purzelbäume, die das Publikum von einst begeistert hatte.676 Doch es waren wohl weniger ihre artistischen Darbietungen als vielmehr ihre neue Ich-Identität, die sich in einer veränderten Wahrnehmung der Zwillinge niederschlug: „No longer were they young performers eager to please and having nothing to offer except the abnormality which made them two in one. They were sixty-year-old solid citizens, temporarily down on their luck and therefore deigning to perform one more time.“677 Wenngleich ihre körperliche Abweichung dieselbe geblieben war, hatte ihre bürgerliche Existenz einen Normierungs- und Normalisierungsprozess herbeigeführt, der sich in einer Relativierung der körperlichen Abnormität niederschlug. Hier zeigt sich deutlich, dass Abnormitäten primär kulturelle beziehungsweise soziale Konstrukte sind und nur sekundär auf eine physiologische Konstitution verweisen. Das Interesse an Siamesischen Zwillingen rührte nicht zuletzt von dem Unbehagen lebenslanger gegenseitiger Abhängigkeit678, die die Individualität und Selbstbestimmtheit des Einzelnen in Frage stellte. Gerade bei siamesischen Zwillingen, deren Organismen teils eigenständig, teils in Abhängigkeit voneinander arbeiteten, wurde die Identitätsproblematik auf der Schaubühne thematisiert. Die Siamesischen Zwillinge Millie-Christine teilten sich zwar einen gemeinsamen Blutkreislauf, doch ihre Verdauung, ihre Atmung und ihr 673 Ebd. S. 204f. Mark Twain beschrieb die beiden Brüder in seinem satirischen Aufsatz The Siamese Twins (1868) als Trunkenbold und Abstinenzler, die während dem Bürgerkrieg an gegnerischen Fronten kämpften: „[…] both fought galantly, Eng on the Union side and Chang on the Confederate. They took each other prisoners at Seven Oaks […]“. (Vgl. Twain, Mark: The Siamese Twins. In: Sketches New and Old. Fairfield 2004 [1868]. S. 255-260). 674 Andere Quellen sprechen von insgesamt elf Kindern. (Vgl. Der Komet, Nr. 884, vom 1. März 1902. S. 3). 675 L. Fiedler: Freaks. S. 213f. 676 Ebd. S. 215. 677 Ebd. 678 Ebd. S. 223. 90 Bewusstsein operierten eigenständig.679 Während die von P. T. Barnum kreierte Bezeichnung „The Two-Headed Girl“680 eine einzelne Identität nahe legte, ließ das Geschwisterpaar die Frage ihrer Identität scheinbar offen. Vor Zuschauern besangen sie ihren Zustand wie folgt: „A created marvel to myself am I/ As well as to all who passes by./ […] I love all things that God has done,/ Whether I’m two or one.“681 Die Zurschaustellung von siamesischen Zwillingen lässt sich auch für Frankfurt belegen. Im Jahr 1904 waren in „Castan’s Panopticum“, einem Ableger des Berliner Panoptikums, „[d]ie einzig noch lebenden zusammengewachsenen Zwillingsschwestern. Instrumentalistinnen.“682 zu sehen. Bereits im Jahr 1690 wurde die Trennung von lebenden siamesischen Zwillingen angestrebt, doch erst im Jahr 1952 meldete das Journal of the American Medical Association den ersten Fall, „so far as it is known, of both members of a pair of Siamese Twins surviving this long [ein Trennungsversuche Jahr] des after a frühen separation 20. operation.“683 Jahrhunderts war Einer der der Fall bekanntesten des indischen Geschwisterpaares Radica (auch Rodica) und Doodica, die 1893 erstmals in einer Abnormitätenschau zu sehen waren und 1902, nachdem Doodica an Tuberkulose erkrankt war, getrennt wurden. Innerhalb eines Jahres verstarb auch Radica an Tuberkulose. Während der Fall der indischen Mädchen eine starke mediale Beachtung fand und etwa im Komet diskutiert wurde684, erreichten die siamesischen Zwillinge, auf die sich der Artikel im Journal of the American Medical Association bezieht, nicht annähernd die Berühmtheit der indischen „Orissa Zwillinge“685. Fiedler zufolge waren die siamesischen Zwillinge der 1950er Jahre zu bloßen „Komparsen in einem Psychodrama“ geworden, deren Protagonisten nun mehr die Ärzte waren, „who make normal humans out of monsters“686. Hier gehen Medizin und Schaugeschäft eine bislang nicht erwogene Beziehung ein: durch den chirurgischen Eingriff werden die Abnormitäten normalisiert und „humanisiert“; man könnte auch sagen: erst durch die Anpassung an die Norm werden sie zu Menschen. 679 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 104. L. Fiedler: Freaks. S. 210. 681 Ebd. S. 209 (Hervorhebungen im Original). 682 Mainzer Anzeiger, Nr. 193, vom 20. August 1904. S. 8. 683 L. Fiedler: Freaks. S. 197f. 684 Vgl. Der Komet, Nr. 882, vom 15. Februar 1902. S. 5/ Der Komet, Nr. 884, vom 1. März 1902. S. 3/ Der Komet, Nr. 885, vom 8. März 1902. S. 8. 685 L. Fiedler: Freaks. S. 199. 686 Ebd. 680 91 Weitaus seltener als siamesische Zwillinge waren Fälle von Dipygus parasiticus, also „dem Herauswachsen eines Parasiten aus dem menschlichen Körper“687. Einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1747 des Frankfurters Jost Henrich Sprückmann ist zu entnehmen, dass sich „[i]n der Herbstmeß […] ein junger Italiener […] und ein Madgen von 5 Jahr welches viele Künste machte“, zur Schau stellten. „Besagter Mann ist eine Fugur [sic] zum Leib heraußgewachsen, in Gestaltd eines Kindes wie unten steht!“688 (Abb. 11) Bei dem Mann handelte es sich vermutlich um den Italiener Antonio Martinelli aus Cremona, „dem ein ‚halber Bruder’ aus dem Bauch herauswuchs, ohne Kopf und Arme, aber mit Unterleib und Beinen“689, der um 1750 lebte und gemeinsam mit seinen beiden Kindern auftrat, die tänzerische und akrobatische Darbietungen vorführten690. 1749 berichtete die „Vossische Zeitung“, Nr. 129, (Berlin) von einem Doppelwesen aus Italien, das in Deutschland zur Schau gestellt wurde und bei dem es sich ebenfalls um Marcinelli gehandelt haben dürfte.691 Im Jahr 1752 trat ein Mann in Regensburg auf, „deme ein Kind aus dem Leibe […] hervor geraget“; vermutlich war der Zurschaugestellte ebenfalls Marcinelli.692 Der Regensburger Stadtschreiber Dimpfel hielt fest, dass Frauen bei der Vorführung nicht zugelassen wurden, da man befürchtete, sie könnten sich beim Anblick des Italieners versehen und in der Folge selbst fehlgebildete Kinder gebären.693 Im Jahr 1780 gastierte in Mainz der Schausteller Antonio Cetti mit einem „curiose[n] Kind, […] welches zween Köpffe hat, einer so groß wie der andere, […] und mit vier Händ, […] und drey Armen, […] [aber] nur zween Füeß als wie ein anderer Mensch.“694 Anscheinend sorgte sich der Impresario nicht um die Gefahren des Versehens, war doch seinem Schaustellerzettel zu entnehmen, „daß sich Niemand daran scheuen darf, denn solches ist schon von vielen vornehmen Fürsten […] auch andern grossen Herren und Damen, mit grosser Verwunderung gesehen worden.“695 Einer der bekanntesten Autositen des 19. Jahrhunderts war der Italiener Jean Liberra mit seinem parasitären Zwilling „Jacques“696, der unter anderem 1913 im Komet mit dem einprägsamen Satz „Zwei Körper und ein Kopf!“697 beworben wurde. (Abb. 12) Fiedler 687 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 98. ISG Frankfurt/ Main, Best. S5, Sign. 16, Tagebuchaufzeichnungen von Jost Henrich Sprückmann (16891812). 689 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 98. 690 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 120. 691 Ebd. 692 G. Klunkert: Schaustellungen und Volksbelustigungen auf Leipziger Messen des 19. Jahrhunderts. S. 225. 693 Ebd. 694 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Flugblatt, 1780. 695 Ebd. 696 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 120. 697 Der Komet, Nr. 1523, vom 30. Mai 1914. S. 41. 688 92 zufolge weckten insbesondere Oberkörperparasiten, die in der Regel kopflos sind, Assoziationen mit acephalen Monstra, deren fehlende Schädel und folglich fehlende Gehirne ein menschliches Bewusstsein und Gedächtnis und folglich eine menschliche Identität in Abrede stellten698 und somit Fragen nach der „Beseelung“ und dem Ichbewusstsein des Parasiten aufwarfen. 3.2.7 Atvismustheorien und Missing Links – Zur Mythologisierung von Mikrozephalie und Hypertrichose im Schaugeschäft des 19. Jahrhundert Als im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts der europäische Konkurrenzkampf um die Kolonien in Asien, Afrika und der Südsee seinen Höhepunkt erreichte, kam es zu einem sprunghaften Anstieg von Völkerschauen.699 Obschon sich bereits für das Jahr 1832 die Schaustellung eines Afrikaners „von der durch ihren kriegerischen Muth bekannten Nation der Ashantées, welche in Westafrika im großen Konggebirge nächst der Goldküste wohnen“700 in Mainz nachweisen lässt, so weisen die 1880er und insbesondere die 1890er Jahre eine besonders hohe Dichte an anthropologisch-zoologischen Ausstellungen, wie die Zurschaustellungen von Menschen aus Übersee euphemistisch genannt wurden, auf.701 1891 etwa war auf dem Mainzer Messplatz eine Beduinenkarawane702 zu sehen und 1892 „Die Bewohner der Ostküste Afrika“703. Der Frankfurter Zoologische Garten veranstaltete unter anderem im Jahr 1893 ein „großes chinesisches Nachtfest“704 und beherbergte 1894 eine „Dinka-Neger-Karawane“705 und 1897 eine „Samoaner-Truppe“706. Nährten die kolonialistischen Bestrebungen Kaiser Wilhelms II die Vorstellung von der Überlegenheit des eigenen Volkes, so geriet diese Überzeugung gleichsam durch Darwins Evolutionstheorie und seinem Postulat: „[M]an is descended from some lowly organised form […] there can 698 L. Fiedler: Freaks. S. 223. B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 218. 700 Mainzer Wochenblatt, Nr. 67, vom 22. August 1832. S. 637. 701 Zu Völkerschauen vgl Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in Deutschland 1870-1940. Frankfurt/New York 2005; Wolter, Stefanie: Die Vermarktung des Fremden: Exotismus und die Anfänge des Massenkonsums. Frankfurt a. M. 2005; Eißenberger, Gabi: Entführt, verspottet und gestorben: lateinamerikanische Völkerschauen in deutschen Zoos. Frankfurt a. M. 1996; Thode-Arora, Hilke: Für fünfzig Pfennig um die Welt: die Hagenbeckschen Völkerschauen. Frankfurt a. M. 1989; Hans-Peter Bayerdörfer/ Eckart Hellmuth (Hrsg.): Exotica. Konsum und Inszenierung des Fremden im 19. Jahrhundert. Münster 2003. 702 Mainzer Anzeiger, Nr. 183, vom 30. Juli 1891. 703 Mainzer Anzeiger, Nr. 185, vom 13. August 1892. 704 Mainzer Anzeiger, Nr. 183, vom 8. August 1893. 705 Mainzer Anzeiger, Nr. 185, vom 10. August 1894. 706 Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 13. August 1897. 699 93 hardly be a doubt that we are descended from barbarians”707 ins Wanken. Durch die eurozentrische Darstellungsweise der vermeintlich rückständigen und unzivilisierten „Wilden“ in den Völkerschauen Carl Hagenbecks oder Wilhelm Siebolds wurden indes die bestehenden Herrschafts- und Besitzverhältnisse legitimiert. Der westliche Denk- und Lebensstil diente dabei als Bewertungsmaßstab bei der Beurteilung der fremden Lebensweise, die gemäß der Unterscheidung zwischen europäischem „Kultur-“ und außereuropäischem „Naturmensch“ als der europäischen Lebensart unterlegen präsentiert wurde. Die Faszination am Exotischen und kulturell Fremden, die nicht zuletzt durch die intensiven Entdeckungsreisen und die westliche Expansion entfacht worden war708, machten sich auch die Impresarios der Abnormitätenschauen zu nutze. Die Veranstalter priesen ihre Abnormitäten als Vertreter eines bislang unentdeckten Stammes oder etwa als Entkommene eines „türkischen Harems“ an.709 Manche Impresarios gingen gar so weit, den zur Schau gestellten Abnormitäten eine außerirdische Herkunft zu bescheinigen. In den 1920er und 1930er Jahren wurden etwa die an Albinismus leidenden Brüder Eko und Iko in einer amerikanischen Side-Show als Botschafter vom Planeten Mars präsentiert.710 Um ihrer Beschreibung mehr Glaubhaftigkeit zu verleihen, kleideten die Impresarios ihre Schützlinge in Kostüme, die den stereotypen Vorstellungen des Publikums vom jeweiligen Herkunftsland der Abnormitäten entsprachen.711 Traten sie als unzivilisierte Wilde auf, so schlichen die Abnormitäten in Lendenschurz und mit Knochenkette über die Bühne, alldieweil „snarling, growling, and letting off warrior screams.“712 Diese Art der Inszenierung, die der Exotisierung und dadurch letztlich der Primitivierung der zur Schau gestellten Abnormitäten diente, hat Bogdan als „the exotic mode of representation“713 klassifiziert. Beeinflusst war diese Darstellungsform von der Reiseliteratur und den wissenschaftlichen Abhandlungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts.714 Insbesondere die Thesen Charles Darwins zur Abstammungs- und Rassenlehre des Menschen und sein Theorem vom „missing link“, dem 707 C. Darwin. The Descent of Man. S. 415. R. Bogdan: Freak Show. S. 106. 709 Ebd. S. 105. 710 Ebd. 711 Ebd. 712 Ebd. 713 Ebd. S. 105f. 714 Ebd. S. 106. 708 94 mutmaßlichen fehlenden Bindeglied zwischen Affen und Menschen, inspirierten die Impresarios bei der Ausgestaltung ihrer Schauen.715 Körperlich oder geistig behinderte Menschen, die auf Grund ihrer abnormen Physiognomie Ähnlichkeiten mit bestimmten Tieren aufwiesen, wurden nicht nur als „missing links“, sondern auch als Ergebnisse sodomitischer Praxis präsentiert.716 Stanley Barant, der in den USA als „Sealo the Seal Boy“ zur Schau gestellt wurde, leidete an Phokomelie (altgriech. φώκη „Robbe“ und μέλος „Glied“), einer angeborenen Fehlbildung, die sich in verkürzten oder fehlenden Gliedmaßen zeigt, wodurch Hände und Füße direkt am Torso ansetzen.717 „Dickie the Penguin Boy“, der wie Barant an Phokomelie litt und stark verkürzte Beine hatte, wurde auf einem Banner etwa mit „Looks and Walks Like a Penguin“ angekündigt.718 Im Jahr 1898 gastierte die kleinwüchsige Französin „Feodora“ auf der Mainzer Messe. Da die Finger beider Hände stark verkürzt waren, wurde sie in Werbeanzeigen als „Zwergin mit vier Löwentatzen“719 beworben. (Vgl. Abb. 13) Die Tiervergleiche, die auch bei Fehlbildungen wie etwa Ektrodaktylie720 angewandt wurden, implizierten indirekt sodomitische Handlungen, wodurch sich eine erstaunliche Nähe zu früheren Erklärungsversuchen zeigt. Bereits in der frühen Neuzeit waren körperliche Fehlbildungen beim Kind, insbesondere dann, wenn sie Tierähnlichkeit aufwiesen, auf die „sodomitische Ausschweifung der Frau“721 zurückgeführt worden. 3.2.7.1 „Die letzten lebenden Menschen vom Stamme der Azteken“ – Zur Inszenierung von Mikrozephalen Eine weitere Erklärung, die für das Auftreten von bestimmten Abnormitäten herangezogen wurde, war die Atavismustheorie.722 Ihr lag die Prämisse zugrunde, dass gewisse Fälle von Monstrositäten durch „Rückschläge“ in eine frühere Entwicklungsstufe der 715 R. Bogdan: Freak Show. S. 106. Ebd. 717 J. Nickell: Secrets of the sideshows. S. 148. 718 Ebd. 719 Neuester Mainzer Anzeiger, Nr. 181, vom 6. August 1898. 720 von grch. dáktylos: Finger; wird auch als Karsch-Neugebauer-Syndrom bezeichnet. Bei der Ektrodaktylie handelt es sich um eine angeborene Fehlbildung des Handskeletts. Dabei sind Finger oder Zehen verstümmelt oder fehlen (Oligodaktylie), was auch als Spalthand bzw. Spaltfuß bezeichnet wird. (Artikel „Ektrodaktylie“ in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch (2004). S. 464, 909, 1702./ J. Nickell: Secrets of the sideshows. S. 148).Der Amerikaner Grady Stiles Jr., der am Karsch-Neugebauer-Syndrom litt, wurde in den 1940er Jahren als „Lobster Boy“ zur Schau gestellt. 721 M. Lorenz: Von Normen, Formen und Gefühlen. S. 20. 722 R. Bogdan: Freak Show. S. 106. 716 95 Menschheit entstünden.723 Insbesondere Mikrozephale724, die auf Grund ihres verkleinerten Schädelumfangs meist auch geistig behindert sind, wurden häufig als Atavismen, als „vestiges of the childhood of the race“ präsentiert.725 Carl Vogt, der 1867 eine erschöpfende Studie über Mikrozephalismus veröffentlichte726, erläuterte in derselben, „dass die Mikrozephalie eine partielle atavistische Bildung ist, welche in den Gewölbtheilen des Gehirnes auftritt und als nothwendige Folge eine Ablenkung der embryonalen Entwicklung nach sich zieht, die in ihren wesentlichen Charakteren auf den Stamm zurückführt, von welchem aus die Menschengattung sich entwickelt hat.“727 Die bekanntesten, öffentlich vorgeführten Mikrozephalen waren die „vogelköpfigen Zwerge“ Maximo und Bartola, ein indisch-mulattisches Geschwisterpärchen, das zwischen 1851 und 1901 auf Schaustellungen in Europa und Amerika zu sehen war.728 In einer Broschüre, die den ungelenken Titel Illustrierte Denkschrift einer wichtigen Expedition in Centralamerika, aus der die Entdeckung der Götzenstadt Iximaya in einer ganz unbekannten Gegend hervorgeht trägt und im Rahmen der Vorstellung von interessierten Zuschauern käuflich erworben werden konnte, wurde die abenteuerliche Geschichte der Herkunft der Geschwister referiert, der zufolge sie im Jahr 1848 als Kinder in einem Tempel in der erfundenen Aztekenstadt „Iximaya“ in Zentralamerika entdeckt worden waren. Angeblich seien sie, so die Broschüre weiter, die letzten „liliputanischen“ Überlebenden der ausgestorbenen „Rasse“ der „Azteken“. Unter großen Mühen seien die Kinder schließlich nach Europa gebracht worden, um als anthropologische Phänomene von höchstem Interesse ausgestellt zu werden.729 Der deutsche Arzt Carl Gustav Carus, der die Kinder 1856 eingehend untersuchte, glaubte gar eine Ähnlichkeit zwischen den Geschwistern und altmexikanischen Skulpturen in Chiapas zu erkennen730, wodurch er einen Mythos mitschuf, „den Impresarios dankbar für eine wirkungsvolle Bewerbung der nur etwa 1,30m großen [Kinder] aufgriffen.“731 So wurden Bartola und Maximo etwa in „landestypischer“ mexikanischer Tracht vor einer 723 L. Fiedler: Freaks. S. 45. Die Mikrozephalie ist eine Form der Schädelfehlbildung, bei der der Schädelumfang verkleinert ist. (Artikel „Mikrozephalie“ in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch (2004). S.1222). 725 L. Fiedler: Freaks. S. 45. 726 Vogt, Carl: Ueber die Mikrocephalen oder Affen-Menschen. In: Archiv für Anthropologie. Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen. Bd. 2. Braunschweig 1867. S. 129-284. 727 C. Vogt: Ueber die Mikrocephalen oder Affen-Menschen. S. 276. 728 L. Fiedler: Freaks. S. 45. 729 Hartmann, Robert: Die sogenannten Azteken. Sitzung vom 21. Februar 1891. In: VBGAEU, Bd. 23. 1891, S. 278f. (Vgl. B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 228f./ N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 159f). 730 Vgl. Carus, Gustav Carl: Die Azteken. In: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Mathem. Phys. Classe I. 1856. S. 11f. 731 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 228f. 724 96 Tempelkulisse gezeigt732 (Abb. 14) oder in einer Anzeige des Komet als „[d]ie zwei letzten lebenden Menschen vom Stamme der Azteken“ beworben, die „in prachtvollen OriginalInka-Kostümen“733 auftreten. Wie willkürlich die Inszenierung des Geschwisterpaares letztlich war, belegt ein Auftritt in Castan’s Panoptikum im März 1891. Bartola und Maximo betraten die Bühne nicht etwa „mit den Attributen der sagenhaften Mexikaner“734, sondern „in einem salonfähigen, europäischen Anzuge, wohl frisiert und geschniegelt.“735 Die Uneindeutigkeit der Identitätszuschreibungen veranlasste Virchow schließlich, die Azteken nach der Vorführung in Castan’s Panotikum zu vermessen.736 Bereits 1866 und 1877 hatte Virchow das Geschwisterpaar untersucht und kam bei seiner dritten Vermessung erneut zu dem Ergebnis, dass „es sich bei Bartola und Maximo weder um Relikte einer ausgestorbenen Rasse“737 handele, da „die Übereinstimmung ihrer Köpfe mit altmexikanischen […] mehr scheinbar, als wirklich [ist]“, noch um Mischlingskinder, wie der Anatom Johannes Müller (1801-1858) in einer seiner letzten Vorlesungen im Jahr 1857 vermutet haben soll.738 Vielmehr sei „der microcephale [Schädel]“, so Virchows Befund, „eine Monstrosität“739. Auch der Naturforscher Robert Hartmann bemühte sich in einer Sitzung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU) vom 21. Februar 1891 die „erstaunlichsten und unglaubwürdigsten Sagen“ zu entlarven und die „allergröbsten und langweiligsten Lügenberichte“, die sich um das Geschwisterpaar rankten, zu dementieren.740 Dessen ungeachtet sollte es erst 1968 mit der Veröffentlichung einer Studie über Dos microcéfalos „aztecas“. Leyenda, historia y antropología741 des mexikanischen Gelehrten Juan Comas zu einer endgültigen Entmystifizierung und damit zu einer Pathologisierung der beiden mikrozephalen Kinder kommen. Obschon es nur wenige gesicherte Informationen über die vermeintlichen Aztekenkinder gibt, wie etwa, dass sie seit 1853 in Europa zur Schau gestellt wurden und 1867 trotz ihrer vorgeblichen Verwandtschaft verheiratet wurden, nehmen sie einen wichtigen und nahezu einzigartigen Platz in der deutschen Wissenschafts- und Kulturgeschichte des 19. 732 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 161. Der Komet, Nr. 690, vom 11. Juni 1898. S. 24. 734 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 229. 735 „Hr. Rud[olf] Virchow bespricht die sogenannten Azteken und die Chua”, Sitzung vom 21. März 1891. In: VBGAEU, Bd. 23. S. 370. 736 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 229f. 737 Ebd. S. 230. 738 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 159. 739 „Hr. Rud[olf] Virchow bespricht die sogenannten Azteken und die Chua”, Sitzung vom 21. März 1891. In: VBGAEU, Bd. 23. S. 371. 740 R. Hartmann: Die sogenannten Azteken. S. 278. 741 Vgl. Comas, Juan: Dos microcéfalos „aztecas“. Leyenda, historia y antropología. Mexico, Universidad Nacional Autónoma de México, Instituto de investigaciones Históricas, 1968. 733 97 Jahrhunderts ein, wie Nigel Rothfels in seinem Aufsatz über Aztecs, Aborigines, and ApePeople betont.742 Sie stehen nicht nur exemplarisch für die Mythenbildung im Schaugeschäft, sondern auch für die diskursiven Verbindungen zwischen Schaustellergewerbe und scientific community; wurden doch anhand der mikrozephalen „Aztekenkinder“ die zwei maßgeblichen wissenschaftlichen Theorien des 19. Jahrhunderts diskutiert: die Evolution und die Rekapitulation.743 Die Theorie der Rekapitulation (auch „Biogenetisches Gesetz“), die der Zoologe Ernst Haeckel (1834-1919) im Jahr 1866 aufstellte, besagt, dass die Ontogenese, das heißt die Entwicklung des Menschen vom Embryo bis zum Erwachsenen, die Stammesentwicklung der gesamten Menschheit sozusagen „im Zeitraffer“ rekapituliert.744 Demzufolge wurden fehlgebildete Körper beziehungsweise Körperteile als Indizien für ein unabgeschlossenes Entwicklungsstadium verstanden, das einem bestimmten Zeitpunkt in der stammesgeschichtlichen Entwicklung entspricht.745 Wenn Vogt also Mikrozephalismus als atavistischen Rückschlag zum Affenmenschen mit plattem Schädel verstand, so argumentierte er ganz im Sinne Haeckels. 3.2.7.2 Von „Affenmädchen“ und „Löwenmenschen“ – Zur Inszenierung von Überbehaarung beim Menschen Wenngleich die Ankunft der beiden „Azteken“ im Europa der 1850er Jahre der Veröffentlichung von Charles Darwins On the Origin of Species (1859) vorausging, so sollte seine Theorie bald „a major component in the enfreakment of a whole range of individuals, including the ‚Aztecs’“ werden.746 Seine Theorie implizierte, dass sich der Mensch durch natürliche Selektion aus vormenschlichen Stufen der Evolution entwickelt habe, wobei Bindeglieder oder so genannte „missing links“ die Übergänge zwischen diesen einzelnen Entwicklungsstufen belegten.747 Insbesondere das fehlende Bindeglied zwischen Mensch und Affe, das Haeckel im Pithecanthropus alalus, „dem sprachlosen Affenmensch”, identifiziert zu haben glaubte und dessen fossile Überreste er in Südostasien vermutete748, wurde in weiten Teilen der Bevölkerung diskutiert. Der Anthropologe Carl Heinrich Stratz bemerkte dazu im Jahr 1904: „Die verschiedenen niederen Menschenrassen wurden auf ihre 742 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 160. Ebd. S. 161f. 744 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 230. 745 Ebd. 746 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 162. 747 Ebd. 748 P. Hoff (Hg.): Evolution. S. 120. 743 98 Affenähnlichkeit geprüft, unter Virchows Leitung wurde eine Liste der pithekoiden (affenähnlichen) Merkmale des Menschen aufgestellt und man suchte eifrig nach dem missing link, dem letzten verbindenden Glied zwischen Mensch und Affe.“749 In Menschen mit auffallend “animalischen” Körpermerkmalen wie etwa einer starken Körperbehaarung glaubte man das fehlende Bindeglied zwischen Mensch und Tier entdeckt zu haben und so wurden alsbald „Affenmenschen“, „Geschwänzte Menschen“ oder „Haarmenschen“ in Abnormitätenschauen als vermeintliche „missing links“ vorgestellt.750 Die Zurschaustellung des „Affenmädchens“ Krao (1876-1926), einem pathologischen Fall von Hypertrichose751, war dabei in vielerlei Hinsicht typisch für die Deutung von fehlgebildeten Menschen als „missing links“ im ausgehenden 19. Jahrhundert.752 Die Zurschaustellung von Menschen mit übermäßigem Haarwuchs lässt sich bereits für das 16. Jahrhundert bezeugen. Aldrovandi beschrieb in seiner Monstrorum Historia den Fall einer an Hypertrichose leidenden Familie von den Kanarischen Inseln, die sich während einer Italienreise um 1560-80 vermutlich öffentlich zeigte.753 Ein in der napoleonischen Galleria Nazionale ausgestelltes Gemälde des Agostino Carracci, das um 1596 entstand, legt die Schaustellung eines Haarmenschen nahe; es zeigt „Arrigo, den Haarigen“ zusammen mit „Pietro, dem Narren“ und „Amon, dem Zwerg“.754 Die öffentliche Vorführung von Haarmenschen auf Jahrmärkten belegt auch ein Eintrag vom 15. September 1657 in John Evelyns Tagebuch, der nach einem Besuch in London schrieb: „I also saw the hairy maid, or Woman wh‹om› 20 yeares before I had also seene when a child: her very Eyebrowes were combed upward, & all her forehead as thick & even as growes any womans head, neately dress’d: There come also tw‹o› lock‹s› very long out of Each Eare: she had also a most prolix beard, & mustachios, with long lockes of haire growing on the very middle of her nose, exactly like an Island dog […]”755 In Frankfurt auf der Zeil wurde im Jahr 1777756 und dann noch einmal 1787757 ein Mädchen vorgeführt, das „den vorderen Theil seines Leibes mit 749 C. H. Stratz: Naturgeschichte des Menschen. S. 15. N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 162. 751 Lokalisiert oder generalisiert auftretende, vermehrte Körperbehaarung (Artikel „Hypertrichose“ in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch (2004). S. 868). 752 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 162. 753 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 33. (Vgl. Ulisse Aldrovadi: Monstrorum Historia. S. 16f). 754 Ebd. (Vgl. dazu auch Zapperi, Roberto: Ein Haarmensch auf einem Gemälde von Agostino Carracci. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hrsg. v. Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 45-55). 755 J. Evelyn: The Diary of John Evelyn. S. 104. 756 Vgl. MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Einblattdruck, 1777 16/4. 757 In Georges Louis Le Clerc de Buffons Naturgeschichte des Menschen findet sich eine ausführliche Beschreibung des Mädchens. Einer Fußnote ist zu entnehmen, dass ein Leser „dieses Mädchen, im Jahre 1787, 750 99 Haaren von der Farbe eines Hirschrehes, und den Rücken mit Hirschhaaren bedeckt [hatte]; seine Arme, Schenkel und Beine sehen wie ein natürlicher Tiger, und haben ein sehr weisses Fleisch, mit Flecken von der Farbe eines Rehes vermengt.“758 Bei dem Kind handelt es sich höchstwahrscheinlich um Anna Maria Herrig, die am 25. März 1771 in der Pfarrei Watern bei Trier zur Welt gekommen war. Einem Flugblatt war zu entnehmen, dass ihre Mutter während der Schwangerschaft derart heftig ein Stück Hirschfleisch begehrt habe, dass sie darüber mit einer anderen Frau in Streit geriet. Der autobiographischen Beschreibung zufolge resultierte die starke Erregung der Mutter darin, „daß mein Körper nicht nur mit Hirsch- und Reh-Haaren unterschiedener Farbe, sondern auch mit Rehflecken bezeichnet“ ist.759 (Abb. 15) Wie die beiden letztgenannten Beispiele veranschaulichen, wurden zur Beschreibung der Abnormitäten schon früh Tieranalogien bemüht. Auch Sonderegger erwähnt ein zweiköpfiges Kind mit außerordentlichem Haarwuchs, aus dem „der Volksmund […] natürlich einen Affenkopf konstruiert [hat].“760 Bis zur Wende zum 20. Jahrhundert wurden körperliche Fehlbildungen meist mit dem Versehen erklärt, insbesondere dann, wenn sie Tierähnlichkeit aufwiesen, wie etwa das Beispiel der Anna Maria Herrig zeigt. Mit dem darwinistischen Theorem vom „missing link“ griffen die Impresarios ab den 1860er Jahren ein gelehrtes Konzept auf, das in weiten Teilen der Bevölkerung diskutiert wurde761 und dessen Bewerbung daher hohe Besuchszahlen versprach. Indem die zur Schau gestellten Abnormitäten dem zoologisch-anthropologischen Wissensbereich zugeordnet wurden, verwiesen die Impresarios auf die wissenschaftliche Relevanz der Schauobjekte, die durch entsprechende Urkunden und Testate von Medizinern und Anthropologen verbrieft wurde. So wurde etwa „Marietta das ‚Leopardenmädchen’“ mit dem Hinweis beworben, dass „Belege, sowie ff. Atteste und Zeugnisse der Herren Professoren Carl Hennig – Leipzig, Geh. Medizinalrath Bonsick – Breslau, F. J. Pick – Prag, Johannes Rauke – München u. Dr. med. W. Opitz – Chemnitz […] zur Seite [stehen]”, die die Echtheit des „Haarmädchens“ bezeugen sollten.762 Diese Testate dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die scientific community die Ansicht der Impresarios, der Haarmensch sei das fehlende Bindeglied zwischen Mensch und Affe, nicht zu Frankfurth am Mayn, in der Herbstmesse“ sah. (Vgl. Buffon, Georges Louis Le Clerc de, u.a. (Hrsg.): Naturgeschichte des Menschen. Berlin 1807. S. 422). 758 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Einblattdruck, 1777 16/4. 759 I. Ritzmann: Sorgenkinder. S. 146. 760 Flugblatt. In: Wickiana, Bd. 21, S. 45, zit. n. A. Sonderegger: Missgeburten und Wundergestalten. S. 40. 761 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 162. 762 Der Komet, Nr. 759, vom 7. Oktober 1899. S. 23. 100 notwendigerweise teilte.763 Die bürgerliche Zeitschrift Die Gartenlaube hatte in einem 1888 veröffentlichten Artikel darauf hingewiesen, dass „[d]ie Wissenschaft […] in den letzten Jahren [jene] Menschengattung zu Grabe getragen [hat], an deren Vorhandensein noch vor wenigen Jahrzehnten die größten Gelehrten glaubten, den ‚wilden’ Menschen, der […] ein Zwischenglied zwischen dem Menschen und dem Affen bildete.“764 Die „ungenaue[n] Berichte“ über den „wilden Menschen“, so der Artikel weiter, müssten ebenso also „Fabel[n]“ abgetan werden wie die Erzählungen über „Schwanzmenschen“, Hundsköpfige oder „Fußschattner“ 765, die Plinius in seiner Naturalis historia beschrieben hatte. Allerdings würde die Vorstellung vom „missing link“ „noch heute in der Einbildung vieler fortleb[en], die keine Gelegenheit hatten, sich mit den neueren Forschungen zu befassen.“766 Noch 1896 präsentierte etwa Wilhelm Bölsche in seiner Entwicklungsgeschichte der Natur das „Affenmädchen Krao“ (1876-1926) als lebendiges „missing link“.767 Das an Hypertrichose leidende laotische Mädchen, das zwischen den 1880er und 1890er Jahren in Deutschland vorgeführt wurde und 1884 sowie 1894 auch im Frankfurter Zoologischen Garten gastierte, wurde auch in dem besagten Artikel der Gartenlaube erwähnt. In knappen Worten fasste der Bericht die Geschichte von der Entdeckung des Kindes, das „einem jeden von unsern Lesern ohne Zweifel bekannt[ ] [ist]“ wie folgt zusammen: „[E]ines Tages, vor wenigen Jahren, lasen […] die erstaunten Europäer in den Tagesblättern die Nachricht, daß ein Affenmensch, ein Mädchen von 7-8 Jahren, in dem Walde von Laos eingefangen worden sei und eine Rundreise durch Europa antreten werde. In der Ankündigung wurde erzählt, daß von dieser sonderbaren Rasse eine ganze Familie, Vater, Mutter und Tochter, gefangen worden sei, der Vater sei in Laos an der Cholera gestorben, der Beherrscher des Landes habe nicht gestattet, die Mutter zu exportiren, und so sei das Kind allein nach Europa gebracht worden.“768 Den detaillierten Werbebroschüren zufolge hatte der Impresario Farini unter großen Anstrengungen den Agenten Carl Bock engagiert, eine Familie von Haarmenschen aus der Gefangenschaft des burmesischen Königs zu befreien. Bock organisierte eine Expedition nach Laos, während der er einen ganzen Stamm von Haarmenschen gesehen haben will, die in Baumhäusern lebten und rohes Fleisch gegessen haben sollen. Unter der Bedingung, dass Farini „Krao“ adoptierte, gestattete der burmesische König schließlich die Ausreise des 763 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 162. Der ‚wilde’ Mensch. In: Die Gartenlaube (1888). S. 879. 765 Ebd. 766 Ebd. 767 A. Košenina: Der gelehrte Narr. S. 42. Vgl. Bölsche, Wilhelm: Entwicklungsgeschichte der Natur. 2 Bde. Band 2. Berlin/ Leipzig1922 [1896]. S. 105. 768 Der ‚wilde’ Mensch. In: Die Gartenlaube (1888). S. 882. 764 101 Mädchens.769 Wenngleich Gelehrte wie Max Bartels oder Rudolf Virchow konstatierten, „daß die kleine Krao eine echte Siamesin sei, bei der man die längst bekannte Erscheinung der Ueberbehaarung beobachten könne, […] die von Zeit zu Zeit bei den verschiedensten Völkern sich vorfinden“770, blieb Krao als „missing link“ bekannt.771 Ihre Rolle als fehlendes Bindeglied zwischen Mensch und Affe wurde nicht zuletzt durch die aufwendigen Broschüren, die ihre ausgeschmückte Lebensgeschichte referierten, und die knappen Kostüme, die der Kleidung des imaginierten laotischen Stammes nachempfunden war, immer wieder bestätigt und dadurch internalisiert. Noch 1894 wurde sie auf einem Plakat des Zoologischen Gartens zu Frankfurt als „Krao, the missing link, half monkey, half woman“ (Abb. 16) angekündigt. Ähnlich wie bei Julia Pastrana, die ebenfalls als „Affenmädchen“ ausgestellt wurde, war die Zurschaustellung von Krao „a combination of fact and fantasy.“772 Wie eine reproduzierte Fotographie in Hutchinsons The Living Races of Mankind (1901) nahe legt, war Kraos Körper mit einem dünnen Flaum bedeckt (Abb. 17), doch auf dem Poster des Zoologischen Gartens wurde sie, umgeben von einer stereotypen Dschungellandschaft, mit dichtem Fell und auf einem Baum sitzend dargestellt, also mit schaugewerblichen Attributen, die ganz dem „exotic mode of representation“ entsprachen. In einer halbseitigen Annonce, die am 2. August 1860 im Mainzer Anzeiger veröffentlicht wurde und eine „Anatomische Ausstellung“ ankündigte, war in großen Lettern zu lesen: „Auch ist zu beobachten: Miss Julia Pastrana“773. Doch die Mexikanerin, die wie Krao an Hypertrichose litt, war bereits im März desselben Jahres verstorben. Dem klein gedruckten Teil der Anzeige war denn auch zu entnehmen, dass es sich bei der zur Schau gestellten Frau um eine „Figur“ handelte, die „dem lebenden Originale mit der größten Genauigkeit nachgeahmt [sei] und […] alle diejenigen Theile zu sehen [seien], durch welche sie eben so merkwürdig wurde; die mit Haaren von verschiedener Länge besetzten Arme und Brust, sowie ihr, dem männlichen Geschlechte angehörender reicher üppiger Bart.“ Die Anzeige fuhr fort, dass zwar „[v]iele Leute […] im Circus Renz […] dieses Spiel der Natur gesehen [haben], aber gerade der interessanteste Theil, die Formation des Mundes (Zahnfleisch und Zunge haben mit keiner anderen menschlichen oder thierischen Bildung eine Aehnlichkeit,) konnte wegen der großen Entfernung nicht wahrgenommen werden […].“774 Tatsächlich 769 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 162f. Der ‚wilde’ Mensch. In: Die Gartenlaube (1888). S. 882. 771 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 163. 772 Ebd. 773 Mainzer Anzeiger, Nr. 178, vom 2. August 1860. 774 Ebd. 770 102 wies Pastrana neben einer übermäßigen Behaarung eine Überentwicklung der Kiefer mit „je zwei Zahnreihen“775 auf, wodurch ihr Antlitz affenähnliche Züge annahm776, was ihr in den amerikanischen Side Shows den Namen „Ape Girl“ einbrachte777 und den Biologen Ernst Haeckel veranlasste, sie in seiner Anthropogenie (1874) mit einem Nasenaffen zu vergleichen. Pastranas Lebensgeschichte liest sich ebenso abenteuerlich wie die Herkunftslegende Kraos und wurde in der Annonce des Mainzer Anzeigers wie folgt resümiert: „Ihre Mutter, eine Indianerin, verirrte sich in der Sierra Madûa [Sierra Madre, Anm. d. A.] in Mexiko, wurde nach sechs Jahren erst gefunden, wo sie dieses, damals 2 Jahre alte Kind säugte.“778 Einer anderen Quelle zufolge soll die Mutter von wilden Indianern in eine menschenleere Höhle verschleppt worden und später in einem Gebiet „abounding in monkeys, baboons, and bears“ gefunden worden sein; Julia soll zu diesem Zeitpunkt bereits zwei Jahre alt gewesen sein.779 Diese Herkunftsschilderung sollte der schaugewerblichen Inszenierung Pastranas als potentiell hybrides Wesen Glaubwürdigkeit verleihen. Untermauert wurde diese Implikation durch ein Zertifikat des Arztes Dr. B. Alex Mott, der nach einer Untersuchung bestätigte: „She is therefore a Hybrid“780. Über Pastranas Geburtsjahr herrscht in den Quellen indes Uneinigkeit: Lehmann und Scheugl geben 1832 an781, Oettermann das Jahr 1836782. Gesichert ist jedoch, dass Pastrana seit Anfang der 1850er Jahre zunächst in den USA und später auch in Deutschland zur Schau gestellt wurde. Als sie 1854 in der Gothic Hall am New Yorker Broadway vorgeführt wurde, wurde sie, ebenso wie später in Mainz, als “Spiel der Natur” apostrophiert. Ein Reporter notierte: „The eyes of this lusus natura [sic] beam with intelligence, while its jaws, jagged fangs and ears are terrifically hideous […]“783. Die Qualifizierung Pastranas als lusus naturae implizierte, dass dem Publikum eine staunenswerte „Spielerei der Natur“ gegenübertrat und nicht ein pathologisierbares oder gar klassifizierbares Geschöpf. Dabei hatte bereits Linné in seiner taxonomischen Untergliederung der Systema naturae (1753) eine auffällige Überbehaarung als Merkmal für 775 H. Beigel: Ueber abnorme Haarentwicklung beim Menschen. S. 427. J. Bondeson: A Cabinet of Medical Curiosities. S. 217. 777 T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 174. 778 Mainzer Anzeiger, Nr. 178, vom 2. August 1860. 779 J. Bondeson: A Cabinet of Medical Curiosities. S. 219. 780 R. Garland-Thomson: Making Freaks. Visual Rhetorics and the Spectacle of Julia Pastrana. S. 136. 781 A. Lehmann: Zwischen Schaubuden und Karussells. S. 93/ H. Scheugl: Showfreaks and Monster. S. 35. 782 S. Oettermann: „Der Leviathan vom Rhein“. Deutschlands erstes und einziges Showboat. S. 32f. 783 J. Bondeson: A Cabinet of Medical Curiosities. S. 219. 776 103 die präsupponierte Art des „homo ferus“, eine vierfüßige, stumme und zottige Variante des homo sapiens, angenommen.784 Bondeson zufolge verließ Pastrana ihr Apartment niemals während des Tages, da ihr Impresario der Ansicht war, „that her drawing power would be diminished if she were seen by nonpaying spectators“785. Auch ein deutscher Riese, der sich 1713 in St. Germain zur Schau gestellt hatte, „reiste des Nachts und hielt sich des Tages inne“786. Die Loslösung aus dem Alltag war eine wesentliche Voraussetzung für die Ideologisierung beziehungsweise Mystifizierung der Abnormitäten. Nur so lange sie als außeralltägliche Phänomene wahrgenommen wurden, konnte ihre Inszenierung als seltene und seltsame „Launen der Natur“ und somit als Gegenbild zur Normalität und Normativität des Alltags aufrechterhalten werden. Die Verkörperung des Anormalen in der Figur der Julia Pastrana manifestierte sich auch in Bezeichnungen wie etwa „Nondescript“, „Bear Woman“, „Ape Woman“, „Hybrid Indian“, „Extraordinary Lady“ oder „The Ugliest Woman in the World“, die allesamt suggerierten, dass ihr Körper nicht dem normativen Bild eines gesunden und schönen Menschen entsprach.787 Ihre abnorme Physiognomie beschrieben 1857 auch zwei Autoren in einem Artikel der Zeitschrift Die Gartenlaube, der den vielsagenden Titel „Julia Pastrana, ein Menschenungeheuer“ trug: „Obgleich wir beide uns seit den Kinderjahren keine Gelegenheit hatten entgehen lassen, aller derartigen Merkwürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so oft dergleichen zur Schau gestellt wurden, so mussten wir doch zugeben, daß das vor uns stehende Geschöpf an Seltenheit und Monstrosität aller bisher gesehenen Erscheinungen außergewöhnlicher organischer Bildungen weit übertraf.“788 Nach ihrem Tod im Kindbett wurde ihr konservierter Körper noch bis in die Siebzigerjahre des 20. Jahrhunderts auf diversen Ausstellungen gezeigt, 1972 etwa in dem fahrenden Vergnügungspark „The Million Dollar Midways“.789 Nachdem mehrheitlich Einwände gegen die Zurschaustellung Pastranas geäußert wurden, wurde ihr balsamierter Körper in dem Untergeschoss des „Institute of Forensic Museum“ in Oslo eingelagert, wo, wie Rosemarie Garland Thomson in einer unveröffentlichten Schrift über das Leben Pastranas ausführte, „it is studied by medical experts whose careers benefit from the 784 C. Neis: Anthropologie im Sprachdenken des 18. Jahrhunderts. S. 277. J. Bondeson: A Cabinet of Medical Curiosities. S. 226. 786 C. E. Geppert: Chronik von Berlin von Entstehung der Stadt an bis heute. S. 216. 787 R. Garland-Thomson: Making Freaks. Visual Rhetorics and the Spectacle of Julia Pastrana. S. 129 788 Julia Pastrana, ein Menschenungeheuer. In: Die Gartenlaube (1857). S. 657. 789 T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 174. 785 104 exhibition of Julia Pastrana’s extraordinary body.”790 Die Lebensgeschichte Julia Pastranas „offenbart auf einen Schlag die wissenschaftlichen Interessen, die sich mit der modernen Freakshow assoziiert haben“791. Von der Teratologie im 19. Jahrhundert und Ernst Haekels Anthropogenie (1874) über die von Darwins Evolutionstheorie inspirierte Suche nach dem „missing link“ bis hin zu den modernen Biowissenschaften des 20. Jahrhunderts wurde der Körper Julia Pastranas von Medizinern und Anthropologen untersucht und verschiedenartig gedeutet.792 Dabei diente Pastranas Körper während ihrer Zurschaustellung als eine Projektionsfläche für die Unsicherheiten und Ängste, die Darwins Theorie von der Abstammung des Menschen evoziert hatte. Der Ethnologe Felix von Luschan vermutete, dass die so genannte „Hypertrichosis universalis“ überaus selten auftrat, nämlich „dass auf 1000 Millionen Menschen erst ein richtiger Haarmensch kommt.“793 In den Verhandlungen der BGAEU und in der Zeitschrift für Ethnologie wurden daher bei der Besprechung von Haarmenschen immer wieder dieselben Namen genannt.794 Neben der Siamesin Krao und der Mexikanerin Julia Pastrana gehörten Andrian und sein Sohn Fedor aus Russland und der Pole Stephan (auch Stefan) Bibrowski alias Lionel der Löwenmensch zu den wenigen bekannten Fällen von Hypertrichose. Ebenso wie sein Kollege Rudolf Virchow schloss von Luschan aus, „daß diese Individuen durch Sodomie oder durch atavistische Rückschläge entstanden seien.“795 Vielmehr handle es sich bei den Haarmenschen um „rein pathologische Formen“796. In einer Sitzung vom 25. Mai 1907 ermahnte er deshalb: „Ebensowenig wie wir einen mikrocephalen Idioten auf die Affen zurückführen dürfen, ebensowenig dürfen wir für die Hundemenschen einen Rückschlag auf Affen, Löwen, [oder] Hunde annehmen.“797 Lionel der Löwenmensch, der bei der Sitzung vom 25. Mai als wissenschaftliches Untersuchungsobjekt zugegen war, erklärte seine Überbehaarung indes mit dem Versehen. Seine Mutter habe während ihrer Schwangerschaft einen Schock erlitten, nachdem sie 790 R. Garland-Thomson: Naratives of Deviance and Delight. Staring at Julia Pastrana, the “Extraordinary Lady”. Unveröffentlichtes Typoscript. S. 5f. zit. n. T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 174. 791 T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 174. 792 Vgl. Rosemarie Garland Thomson: Naratives of Deviance and Delight. Staring at Julia Pastrana, the “Extraordinary Lady”. Unveröffentlichtes Typoscript. Howard University. Reston 2000. S. 5f. 793 Hr. [Felix] v[on] Luschan stellt einen Haarmenschen vor. Sitzung vom 25. Mai 1907. In: Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 39 (1907). S. 428. 794 S. Benninghoff-Lühl: Die Jagd nach dem Missing Link. S. 116. 795 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 232. 796 Hr. [Felix] v[on] Luschan stellt einen Haarmenschen vor. Sitzung vom 25. Mai 1907. In: Zeitschrift für Ethnologie. Bd. 39 (1907). S. 429. 797 Ebd. 105 gesehen hatte, wie ihr Mann von einem Löwen getötet worden war.798 Im 19. Jahrhundert wurde die Frage nach der Ursache einer Fehlbildung meist mit dem Versehen beantwortet799, dessen teratogene Wirkung noch in der zweiten Jahrhunderthälfte auch von ärztlicher Seite bekundet wurde. Der Arzt Herrmann Beigel nahm an, dass in „sehr seltene[n] Fällen […] nach einer plötzlichen Nervenerregung […] ein excessiver Haarwuchs“ ausgelöst werden könnte.800 Als Beispiel nannte er den Fall eines zwölfjährigen Mädchens, „dessen Oberkörper zum grössten Theile in einer Weise behaart war, welche das Kind einem Affen ähnlich machte. Die Mutter gab auch an, im dritten Schwangerschaftsmonate einen heftigen Schreck erlitten zu haben, indem ein auf einer Drehorgel befindlicher Affe plötzlich auf ihre Schulter gesprungen ist“801. Der „Elefantenmensch“ Joseph Merrick führte seine schweren Deformationen auf den Schreck zurück, den seine Mutter erlitten hatte, nachdem sie zwischen die Beine eines Zirkuselefanten geraten war.802 Lionel kam 1890 in Wilezagora in Russisch-Polen zur Welt.803 Der Schauunternehmer Sedlmeyer brachte den Jungen im Alter von drei Jahren nach Deutschland, wo er durch die BGAEU besichtigt und alsbald von Sedlmayer als Jahrmarktsattraktion zur Schau gestellt wurde.804 Lionel absolvierte unter anderem ein Engagement in den USA bei Barnum & Bailey, verbrachte den Hauptteil seiner Karriere jedoch in Europa805 und gastierte Anfang des 20. Jahrhunderts auch in Mainz. In seinem autobiographischen Werk Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft (1966) schrieb der in Mainz aufgewachsene Schriftsteller Carl Zuckmayer: „Nun war die ersehnte Attraktion des Jahres, außer der Fastnacht, die Mainzer „Meß“ – der große Jahrmarkt, der im Frühling und Herbst mit all seinen lockenden Buden, mit ‚Ahua dem Fischweib’, ‚Lionel dem Löwenmenschen’, ‚Wallenda’s Wolfszirkus’, ‚Schichtl’s Zaubertheater’, dem Kölner Hännesje, den Ringkämpfern und den tätowierten Schönheiten des Orients (nur für Erwachsene!), […] auf dem Halleplatz, gegenüber der Stadthalle, für eine Woche aufgeschlagen war.“806 Die durchgesehenen Mainzer Zeitungen erlauben zwar keine Rückschlüsse auf das genaue Aufenthaltsjahr Lionels in Mainz, aber eine illustrierte Postkarte aus dem Mainzer Stadtarchiv, die „De[n] „Knabe[n] mit der Löwenmähne“ darstellt und mit dem handschriftlichen Vermerk „1903. 798 R. Bogdan: Freak show. S. 110. Ebd. 800 H. Beigel: Ueber abnorme Haarentwicklung beim Menschen. S. 420. 801 Ebd. S. 420f. 802 K. Angell: Joseph Merrick and the Concept of Monstrosity. S. 143. 803 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 170. 804 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 35. 805 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 170. 806 C. Zuckmayer: Als wär’s ein Stück von mir. S. 169. 799 106 Besten Gruß aus Mainz“ versehen ist (Vgl. Abb. 18), legt die Vermutung nahe, dass Lionel im Jahr 1903 auf der Mainzer Messe gastierte. Mit „Lionel, dem Löwenmenschen“ beherbergte die Mainzer Messe einen vermeintlichen Mensch-Tier-Hybriden, der jedoch im Unterschied zu Krao oder Julia Pastrana weder als „missing link“ noch als Ergebnis sodomitischer Praxis präsentiert wurde. Zwar gibt es vereinzelte Darstellungen, die ihn inmitten einer Löwenherde zeigen, doch die meisten erhaltenen Bilder zeigen ihn in bürgerlicher oder gar aristokratischer Kleidung „in stately and educated poses.“807 Auf der besagten Mainzer Postkarte wurde er etwa in einer mit Spitzen verzierten Kniebundhosen, einem üppig dekoriertem Rock und mit einem Reifspielzeug dargestellt (Abb. 18); eine Annonce im Komet zeigte ihn indes beim Lesen Friedrich von Schillers (Abb. 19). Diese halbseitige Anzeige enthielt einen knappen Artikel, der am 8. Februar 1908 im Kölner Tageblatt erschienen war. In dem Artikel wurde Lionel als „normal gewachsener Jüngling“ beschrieben, dessen „treublickende Augen“ aus einem „kapillarischen Urwald“ hervortauchen und der „trotz aller Lebhaftigkeit ein bescheidenes und freundliches Wesen“ hat. Wenngleich „die Abnormitäten [durchweg] etwas Abstoßendes, Widerwärtiges oder doch Unsympathisches an sich“ haben, sei das „bei Lionel aber keineswegs der Fall.“808 Die Zurschaustellung von Haarmenschen hatte sich vom „exotic mode“ hin zu einem „aggrandized mode of representation“ verschoben. Die idealisierte Darstellung Lionels als kultivierten Knaben, dessen Betragen in deutlichem Kontrast zu seinem animalischen Erscheinungsbild stand, ist als Reaktion auf eine sich wandelnde Wahrnehmung der pathologischen Überbehaarung zum Ende des 19. Jahrhunderts zu verstehen. Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts körperlich beeinträchtigte Menschen zunehmend als krank angesehen wurden809, kompensierte die glorifizierende Inszenierung die gleichzeitige Pathologisierung der Schauobjekte. Darüber hinaus galt die Theorie des „missing link“ als weitestgehend widerlegt, hatte doch bereits 1890 Johannes Ranke in seiner anthropologischen Studie Der Mensch postuliert: „Thierartige, wilde Völker oder Stämme, welche die Mittelglieder zwischen Mensch und Affe darstellen, giebt es nicht“810. Es ist anzunehmen, dass dieser Befund zügig Eingang in den populären Diskurs fand, erläuterte Saltarino doch nur fünf Jahre später, „dass das fehlende Glied in der Verbindungsreihe von 807 N. Rothfels: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. S. 170. Der Komet, Nr. 1210, vom 30. Mai 1908. S. 47. 809 R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 33. 810 Der ‚wilde’ Mensch. In: Die Gartenlaube (1888). S. 882. Vgl. Ranke, Johannes: Der Mensch. Band 1. Leipzig/ Wien 1911 [1890]. Insb. Kapitel „Haarmenschen“ und „Geschwänzte Menschen“. S. 162-181. 808 107 Affe und Mensch bisher n i c h t gefunden worden ist.“811 Bald darauf war das „missing link“ auch von den Schaubühnen der Jahrmärkte und Panoptiken verschwunden. 3.2.8 Zwischen den Geschlechtern – „Bartfrauen“ und Hermaphroditen Eine Variante der „Haarmenschen“ waren die so genannten „Bartfrauen“, die sich durch eine ausgeprägte Gesichtsbehaarung auszeichneten. Scheugl zufolge sei der Bartwuchs bei Frauen ein Hinweis auf eine „geschlechtliche Zwitternatur“812, tatsächlich jedoch deutet er auf eine anlage- oder krankheitsbedingte vermehrte Androgenbildung hin, die sich im männlichen Verteilungsmuster der Terminalhaare bei der Frau zeigt und als Hirsutismus (von lat. hirsutus, „haarig“) bezeichnet wird.813 Die Zurschaustellung von bärtigen Frauen lässt sich bereits für das 17. Jahrhundert nachweisen, das, so Fiedler, „seems to have been a particularly favorable time for bearded females.“814 1670 ließen sich zwei bärtige Schwestern in Hermersdorf zur Schau stellen815 und 1668 war eine bärtige Frau in London zu sehen, wie aus einem Eintrag in Samuel Pepys Tagebuch hervorgeht: „Went into Holborne, and there saw the woman that is to be seen with a beard. She is a little plain woman, a Dane; her name, Ursula Dyan; about forty years old; her voice like a little girl's; with a beard as much as any man I ever saw, black almost and grizly […] It was a strange sight to me, I confess, and what pleased me mightily.”816 Bereits Anfang des 17. Jahrhunderts stellte Shakespeare die drei prophetischen Hexen in Macbeth als bärtige Frauen dar. Bei ihrem Anblick entfährt es Banquo, dem Anführer des Heeres: „What are these/ So wither’d, and so wild in their attire,/ That look not like the inhabitants o’ the earth,/ And yet are on’t? Live you? […]/ you should be women,/ And yet your beards forbid me to interpret/ That you are so.“817 Aufgrund ihrer Bärte entziehen sich die Hexen einer eindeutig weiblichen Geschlechtsidentität und Banquos Zweifel an ihrer Existenz wird nicht zuletzt durch den Zweifel über die Identität ihres Geschlechts ausgelöst. Das Interesse an Bartfrauen sowie an Hermaphroditen basierte auf eben jener geschlechtlichen Uneindeutigkeit, die sie als ausstellungswürdige Schauobjekte charakterisierte. 811 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 127 (Hervorhebungen im Original). H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 48. 813 Vgl. Artikel „Hirsutismus” in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch (2004). S. 773. 814 L. Fiedler: Freaks S. 144. 815 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 48. 816 S. Pepys: The Diary of Samuel Pepys. 21st December 1668. S. 2209. 817 W. Shakespeare: The Tragedy of Macbeth. I,3. S. 356. 812 108 Eine der bekanntesten Bartfrauen war Annie Jones (1865-1902), die Barnum bereits als Kleinkind zur Schau stellte und der er in Anlehnung an den behaarten Sohn des biblischen Isaaks den Namen „Child Esau“ gab.818 Mit Barnum & Bailey reiste sie als „Lady Esau“ durch die USA und Europa und gastierte auch in Deutschland, bevor sie schließlich mit 37 Jahren an „Erschöpfung“ starb.819 Annie Jones wurde wie die meisten Bartfrauen „mit allen Attributen der Weiblichkeit“820 präsentiert. Gekleidet in Ballkleidern, mit hochgestecktem Haupthaar und einer anmutigen Körperhaltung sollte „der lange, dunkle Vollbart um so störender und schockierender“821 wirken. (Vgl. Abb. 20) Selbst in gelehrten Kreisen galt der Bartwuchs bei Frauen als unästhetisch und widrig, bemerkte doch etwa der Arzt Dr. Herrmann Beigel in seinem Aufsatz Ueber abnorme Haarentwicklung beim Menschen (1868): „Obgleich schon Aristoteles in seiner Naturgeschichte von den Priesterinnen in Carien erzählte, dass sie Bärte hatten, und dass man dies für ein Zeichen ihrer Weissagungsgabe gehalten, so darf sich nach ästhetischen Regeln der Haarschmuck des Weibes doch nur ausschliesslich auf das Haupt beschränken.“822 Die Zurschaustellung von Bartfrauen lässt sich auch für Mainz belegen. Während der Mainzer Messe im August 1917 war einer Zeitungsanzeige zufolge „[d]as größte Phänomen der ganzen Erde, Hede, das 14jährige Mädchen mit dem Johanneskopf lebend zu sehen.“823 Weder eine Illustration noch eine nähere Beschreibung der Abnormität waren der Anzeige beigefügt, doch vergleichbare Anzeigen im Komet legen nahe, dass es sich bei dem ausgestellten Mädchen um Hedwig Koschinski handelt, die vermutlich an Hirsutismus litt. Schon als Achtjährige war sie im Komet als „Mädchen mit dem Männerkopf mit Vollbart und Schnurrbart“824 und als „Wundermädchen mit dem Johannes-Kopf“825 angekündigt worden (Abb. 21). Ob sie zum Zeitpunkt ihrer Zurschaustellung in Mainz bereits so bekannt war, dass ihre Vorführung keiner weiteren Erklärung bedurfte, ob die Anzeige den neugierigen Leser veranlassen sollte, sich das Original anzusehen, oder ob detailliertes Werbematerial in der Stadt ausgegeben wurde, konnte nicht ermittelt werden. Die Bezeichnung „Johanneskopf“ wirft indes die Frage auf, ob die Namensgeber mit dem im 16. Jahrhundert beschriebenen Fall von Überbehaarung bei einem jungen Mädchen vertraut 818 J. Nickell: Secrets of the sideshows. S. 151. Ebd. S. 151f. 820 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 224. 821 Ebd. 822 H. Beigel: Ueber abnorme Haarentwicklung beim Menschen. S. 418f. 823 Mainzer Anzeiger, Nr. 192, vom 20. August 1917. S. 8. 824 Der Komet, Nr. 1349, vom 28. Januar 1911. S. 33. 825 Der Komet, Nr. 1383, vom 23. September 1911. S. 30. 819 109 waren, dessen Fehlbildung die Gelehrten Goltwurm und Paré mit dem „Versehen“ der Mutter an einem Heiligenbild, das Johannes den Täufer darstellte, erklärt hatten.826 Ob das Versehen als Ursache für Hedwigs Überbehaarung angenommen wurde, geht aus den Anzeigen nicht hervor; die Bärtigkeit des Mädchens indes wurde als Indiz für die vermeintliche Zweigeschlechtlichkeit des Kindes gedeutet. Die Anzeige im Komet schloss mit dem Hinweis, dass Hede „bis zur Hälfte des Körpers ein normaler Mann [ist], die andere Hälfte des Körpers ist eine normale Frau. […] Sämtl. Aerzte stehen vor einem absoluten Rätsel“827. Tatsächlich jedoch war das vorliegende Krankheitsbild von Ärzten bereits im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts besprochen worden. Im Februar 1891 hatte der Mediziner Max Bartels, der bereits eine dreiteilige Arbeit „Über abnorme Behaarung beim Menschen“828 publiziert hatte, der BGAEU die bärtige Dame „Miss Annie Jones“, vorgestellt.829 Er führte aus, dass man „vier verschiedene Arten der Weiberbärte zu unterscheiden vermag“830. Neben dem Bärtchen, der leichten Barthaarbildung bei älteren Frauen und der „Hypertrichosis universalis“, deren Träger als Hunde- oder Löwenmenschen zur Schau gestellt wurden, könnte man die „ächte Heterogenie der Behaarung, d.h. […] das Auftreten der männlichen Geschlechtscharaktere in Bezug auf die Art und Anordnung des Haarwuchses bei jungen weiblichen Individuen“ identifizieren.831 Sein Schauobjekt Annie Jones sei ein „ganz besonders vortreffliches Beispiel“832 dieser vierten Kategorie. Die „äusseren und inneren Genitalien“ bärtiger Frauen seien indes, so Bartels weiter, „vollkommen normaler weiblicher Natur“ und „weder die Funktion der Eierstöcke, noch auch diejenige der Milchdrüsen“ würden durch die Bärtigkeit „beeinträchtigt […] werden“833. Die Diskrepanz zwischen ärztlichem Befund und schaugewerblicher Inszenierung zeigt, dass Abnormitäten primär kulturelle Konstrukte waren und nur sekundär auf eine physiologische Verfassung verwiesen. Dazu schreibt Bogdan: „Freak is a frame of mind, a set of practices, a way of thinking about and presenting people. It is the enactment of a tradition, the performance of a stylized presentation.”834 Die Zurschaustellung als “Performanz” im Sinne Goffmans ermöglichte nicht zuletzt das Oszillieren zwischen verschiedenen schaugewerblichen 826 Vgl. dazu Kapitel 2.2.5. Der Komet, Nr. 1349, vom 28. Januar 1911. S. 33. 828 Bartels, Max: Über abnorme Behaarung beim Menschen. Drei Teile. In: Zeitschrift für Ethnologie. Teil 1: Bd. 8,1876, S. 110-129; Teil 2: Bd. 11, 1879, S. 145-194; Teil 3: Bd. 13, 1881, S. 213-233. 829 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 223. 830 „Hr. [Max] Bartels stellt eine bärtige Dame, die Esau-Lady Miss Annie Jones vor“. Außerordentliche Sitzung vom 14. Februar 1891. In: VBGAEU, Bd. 23, 1891. S. 243. 831 Ebd. 832 Ebd. 833 Ebd. S. 245. 834 R. Bogdan: Freak Show. S. 3. 827 110 Präsentationsweisen. Das „Affenmädchen“ Julia Pastrana wurde unter anderem auch als „Bartfrau“ beworben und die „Bartfrau“ Hede etwa als „Mädchen aus der Steinzeit“ (Abb. 22). Zu berücksichtigen ist jedoch, wie Ariane Karbe argwöhnt, dass Bogdans „Aussage […] die Gefahr in sich [birgt], den Abnormitäten quasi ihre Körperlichkeit abzusprechen, denn selbstverständlich sind sie bis zu einem gewissen Grad an ihre Physis und deren Beschränkungen gebunden.“835 Auf Grund ihrer phänotypischen Abweichung von der normativen Weiblichkeit und der propagierten Zweigeschlechtlichkeit zogen Bartfrauen die zeitgenössischen ästhetischen Standards von Femininität in Zweifel. Ähnlich wie Hermaphroditen oszillierten Bartfrauen zwischen den Geschlechtern und hoben dadurch die Bipolarität der Geschlechterdifferenz auf. So nahmen sie eine Position zwischen zwei feststehenden Kategorien ein und führten dadurch das Gegensatzpaar männlich/weiblich ad absurdum. Noch deutlicher zeigte sich die Verbindung der beiden Geschlechter in der Figur des Hermaphroditen, der im Rahmen amerikanischer Freak Shows meist mit Doppelnamen wie etwa „Roberta-Robert“, „Frieda-Fred“ oder „Joseph-Josephine“836 beworben wurde. Bei ihrer Zurschaustellung wurde der Körper üblicherweise vertikal in zwei geschlechtliche Hälften geteilt. Die eine Körperseite wurde mit phänotypisch-stereotypen Attributen des Männlichen wie etwa kurz geschnittenem Haar und Bartwuchs versehen, die andere Seite wies typisch weibliche Charakteristika wie langes Haar oder wie im Fall Josephines ein spitzenbesetztes Oberteil auf.837 (Abb. 23) Damit folgte die Inszenierung, so Köhler und Metzler, „der gängigen Repräsentation von Hermaphroditen in der Alltagskultur, die entweder eine horizontale, oder […] eine vertikale Teilung des geschlechtlichen Körpers vornimmt.“838 Bezeichnend ist indes, dass solche vermeintlichen „Fälle“ von Hermaphroditismus839 innerhalb des medizinisch-biologischen Diskurses nicht bekannt sind.840 Durch die inszenierte Zweiteilung wurde im Rahmen der Freak Show „eine theatralische Überzeichnung des zweigeschlechtlichen Körpers“ vollzogen, um so die Anormalität des Hermaphroditen „überdeutlich“ herauszustellen.841 Gleichzeitig blieben durch die künstliche 835 A. Karbe: Wie aus großen Menschen Riesen werden. S. 155. L. Fiedler: Freaks S. 180. 837 Ebd. 838 S. G. Köhler/ J. C. Metzler: Extraordinary Bodies. Figuren des Ab/Normen im 20. Jahrhundert. S. 118. 839 Hermaphroditismus oder Zwittrigkeit bezeichnet in der Biologie das Vorkommen von doppelgeschlechtlichen Individuen, also Individuen mit männlicher und weiblicher Geschlechtsausprägung. (Artikel „Hermaphroditismus“ in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch (2004). S. 741). 840 S. G. Köhler/ J. C. Metzler: Extraordinary Bodies. Figuren des Ab/Normen im 20. Jahrhundert. S. 118. 841 Ebd. 836 111 Zweiteilung beide Geschlechter als voneinander getrennt erhalten, wodurch die binäre Geschlechterdifferenz letztendlich bestehen blieb. Die Uneindeutigkeit ihrer Identität ist das gemeinsame Merkmal aller Abnormitäten, wodurch sie gleichermaßen Grauen und Faszination evozieren.842 Sie beanspruchen das definitorische Niemandsland zwischen zwei als konträr gedachten Kategorien wie etwa zwischen Mensch und Tier („Pudelmenschen“, „Löwenmenschen“, „Affenmädchen“ etc.), zwischen Erwachsenen und Kindern (Zwerge), zwischen dem Ich und dem Anderen (siamesische Zwillinge, Doppelfehlbildungen), zwischen Ganzheit und Fragment („Armlose“, „Rumpfmenschen“, „Halbmenschen“) und schließlich zwischen Mann und Frau.843 Auf Grund ihrer Ambivalenz gefährden sie gesellschaftlich fest verankerte normative Muster und weisen klare Zuschreibungen an die menschliche Identität und somit auch an die Ich-Identität zurück. Dabei werden nicht nur Geschlechtergrenzen überschritten, sondern gleichsam die Grenzziehung vom Eigenen zum Fremden erschwert. 3.2.9 Von „merkwürdigen Lichterscheinungen“ und „Leopardenmädchen“ – Die Zurschaustellung von albinotischen Menschen Die Zurschaustellung von Menschen mit Albinismus lässt sich in Mainz unter anderem für die Jahre 1855 und 1859, in Speyer für das Jahr 1865 belegen. Die zeitliche Nähe der einzelnen Nachweise darf indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich die Zurschaustellung von so genannten „Albinos“ bereits für die Zeit um 1800 nachweisen lässt. Georg Gamber, der behauptete, von schwarzafrikanischen Eltern abzustammen und daher unter anderem als „Weißer Mohr“ beworben wurde, „dürfte“, so Scheugl, „um 1800 aufgetreten sein“.844 Im Jahr 1808 untersuchte ihn der Mainzer Arzt Karl Strack, der seine Beobachtungen in der Medicinisch-chirurgischen Zeitung veröffentlichte: „Die Tage sah ich einen wohlgewachsenen, großen, gesunden Menschen auf der Straße Orgel spielen, und erkannte gleich, daß derselbe ein Kakerlak sey. Ich nahm ihn mit nach Hause, untersuchte ihn, und fand, daß er nebst seiner schön weißen und zarten Haut und solchen Haaren, alle Merkmahle von Albinos hatte, nämlich die empfindlichen Augen […], die zitternde Bewegung der Augen, den Abscheu vor dem Sonnenlicht […]. Sein Nahme ist Georg Gamber; er ist 26 Jahre alt, von Offenbach, aus dem Bezirke von Speyer […], der Sohn eines 842 E. Grosz: Intolerable Ambiguity. S. 57. Ebd. 844 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 100. 843 112 Glasers.“845 Der Begriff „Kakerlak“ wurde neben den Bezeichnungen „Dondos“, „Bedos“, „Chacrelas“ bzw. „Chakerlas“ oder „Leukopathen““ synonym für „Albinos“ verwendet.846 Beim Albinismus (lat. albus = weiß) handelt es sich um eine genetisch bedingte Pigmentarmut oder Pigmentlosigkeit von Haut, Haar und Augen, die sich in einer weißblonden Kopf- und Körperbehaarung, einer hellrosafarbenen Haut und einer hellblauen oder rötlichen Iris zeigt.847 In Zeitungsanzeigen wurden Betroffene als „lichtscheue[ ]“848 oder „weißgeborene [h] Nachtmenschen“849 „mit rothen Augensternen und weißem Haar“850 „so fein wie Seide und weiß wie Schnee“851 beworben und in den einschlägigen Werbebroschüren und auf Postkarten als „Polarmenschen“ oder „Eisweiber“ angekündigt (Abb. 24 und 25), die auf Grund ihrer Lichtempfindlichkeit „bei Nacht und Eis im Hohen Norden“ lebten.852 In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts trat etwa der Tscheche Karl Breu, der sich später Toya nannte, mit seiner „Eisfamilie“ als „Toya und die Eismenschen“ auf. Schaugewerbliche Attribute wie Eskimo-Kostüme, Polarhunde und Rentiere „sollten die Illusion des Nordpols erwecken.“853 Ein albinotisches Paar, das 1899 mehrfach im Komet beworben wurde, wurde als „[d]ie Albino-Prinzessin Myty […] mit ihrem Albino-Gemahl Harry“854 angekündigt. Die Mystifizierung war wesentlicher Bestandteil ihrer Zurschaustellung855, vermutlich nicht zuletzt deshalb, weil „[d]er Grad ihrer Missbildungen […] nicht extrem genug [war], um sie als außergewöhnliche Sensation anpreisen zu können.“856 Aus demselben Grund wurde die Zurschaustellung von Menschen mit Albinismus meist um artistische Vorführungen ergänzt.857 „Rob Roy“ etwa, „Albino und Verrenkungsmensch“, der 1901 während „Barnum & Bailey’s „Grösster Schaustellung der 845 K. Strack: „Nachricht von einem Kakerlaken“. In: Medicinisch-chirurgische Zeitung. S. 413. H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 100. (Vgl. dazu auch Artikel „Kakerlack, Kakerlak“. In: Medizinisches Realwörterbuch: zum Handgebrauch practischer Aerzte und Wundärzte und zu belehrender Nachweisung für gebildete Personen aller Stände. Erste Abtheilung Anatomie und Physiologie. Bd. 4. Hrsg. v. Johann Friedrich Pierer. Leipzig 1821. S.352-356. 847 Artikel „Albinismus“ in: Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch (2004). S. 44. 848 Beilage zum Speyerer Anzeige-Blatt, Nr. 129, vom 28. Oktober 1865. 849 Mainzer Anzeiger, Nr. 181, vom 7. August 1859. 850 Ebd. 851 Mainzer Anzeiger, Nr. 187, vom 14. August 1855. 852 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 100. 853 Ebd. 854 Der Komet, Nr. 734, vom 15. April 1899. S. 24. 855 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 100. 856 U. Bischoff: Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei. S. 188. 857 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 100. 846 113 Erde“ zu sehen war, konnte „nach Belieben und völlig schmerzlos jede Verrenkung, die in der ärztlichen Wissenschaft bekannt ist, herbeiführen.“858 Wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits erörtert wurde, wurde durch die Kontrastierung von auffallend divergierenden Körpermaßen die physische Abnormität der zur Schau gestellten Personen hervorgehoben. Ein ähnlich kontrastiver Effekt ergab sich aus der gemeinsamen Zurschaustellung von albinotischen und dunkelhäutigen Menschen. Im August 1859 traten in Mainz zwei „weißgeborene Nachtmenschen“ zusammen mit einer Schwarzafrikanerin auf859 und 1855 war „ein lebender Albinos oder Platmon“ zusammen mit einer Indianerfamilie zu sehen. Auch das Beispiel aus Speyer belegt die gemeinsame Zurschaustellung von Menschen mit Albinismus und Indianern. (Vgl. Abb. 26) Diese Präsentationsweise suggerierte zugleich – und darauf verweist auch der Hinweis „[F]ür alle Freunde der Länder- und Völkerkunde“860 –, dass albinotische Menschen Abkömmlinge einer fremden Ethnie seien. Auch Bogdan weist darauf hin, dass eine Vielzahl der Abnormitäten in den Herkunftslegenden als Bewohner der nicht-westlichen Welt beschrieben wurde.861 Indem der fehlgebildete Mensch in der kaum näher definierten exotischen Fremde verortet und das Befremdliche somit in die Fremde verwiesen wurde, wurde gleichsam die interne Alterität zu einer externen. Gerade im 19. Jahrhundert entsprach diese Präsentationsweise nicht zuletzt dem eurozentrischen Bedürfnis, die Überlegenheit des eigenen Landes und die sichtbare Unterlegenheit nicht-westlicher Länder zu demonstrieren. Gleichzeitig begegnete man dem Unbehagen des durch Degenerationstheorien verängstigten Zuschauers, Teil einer Gesellschaft zu sein, die fehlgebildete Menschen hervorbringt. Die Exotisierung beziehungsweise Mystifizierung von Abnormitäten resultierte zugleich in deren „Entpathologisierung“, der fehlgebildete Mensch wurde primär als „fremd“ und „exotisch“, nicht als „krank“ wahrgenommen. Die Verortung von hundeköpfigen oder einäugigen Monstra an den Rand der Welt in der mittelalterlichen Literatur entsprach ebenfalls dem Bedürfnis, das „ganz Andere“, das nicht mehr „mit den vertrauten Standards menschlichen und tierischen Aussehens“ in Einklang zu bringen war und das als „Gegenbild zum Eigenen und Vertrauten“ verstanden wurde, in die räumliche Fremde zu verweisen.862 858 Das Buch der Wunder in Barnum & Bailey’s Grösster Schaustellung der Erde. Officieller Führer. Wien 1901. zit. n. Nagel, Stefan: www.schaubuden.de, S. 131. 859 Mainzer Anzeiger, Nr. 181, vom 7. August 1859. 860 Mainzer Anzeiger, Nr. 187, vom 14. August 1855. 861 R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 28. 862 W. Röcke: Befremdliche Vertrautheit. S. 119. 114 Es ist davon auszugehen, dass „sich naturwissenschaftliche Grundkenntnisse in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erst langsam in der Bevölkerung ausbreiteten“863, war doch schon etwa 1853 in dem Handbuch der Pathologie und Therapie zu lesen, dass der „angeborene Pigmentmangel“ oder Albinismus „bei allen Menschenraçen und unter allen Himmelsstrichen“864 vorkommt. Neben dem vollständigen Albinismus kommt insbesondere bei Schwarzafrikanern der partielle Albinismus, der die Haut fleckig erscheinen lässt, relativ häufig vor.865 Scheugl zufolge erregten gefleckte Kinder schon im Europa des 18. Jahrhunderts Aufsehen „und wurden auf zahlreichen Kupferstichen abgebildet.“866 In der Naturgeschichte des Menschen (1807) war etwa ein Gemälde eines „scheckigen Neger-Kindes“867, Maria Sabina genannt, abgedruckt, dessen Konterfei in ganz Europa zirkulierte868 und dessen Fehlbildung sich die Ärzte damit erklärten, „daß […] weiße Negerinnen, mit schwarzen Negern, scheckige, nähmich schwarz und weiß gefleckte Kinder zeugen“869. Das Kind wurde mit exotisierenden Attributen wie vermeintlich indigenem Kopfschmuck und einem Papagei dargestellt (Vgl. Abb. 27) und soll Martin zufolge im New York Hippodrome von Barnum zur Schau gestellt worden sein870. Eine ähnliche Abbildung, die vermutlich ein albinotisches Kind darstellt, war 1899 im Komet abgedruckt. Sie zeigt ein etwa zehnjähriges Mädchen, das mit einem Lendenschurz bekleidet war und dessen Erscheinung als „leopardenartig“ bezeichnet wurde.871 (Vgl. Abb. 28) Tatsächlich wurden im späten 19. Jahrhundert Menschen mit partiellem Albinismus als so genannte „Leopard Children“ oder als „Panthermenschen“ zur Schau gestellt,872 darunter die „Pantherdame Fräulein Irma Loustau aus Paris“, die 1911 im Komet ein Gesuch für ein Engagement in Hamburg inserierte873. P.T. Barnum stellte in seinem American Museum albinotische Schwarzafrikaner zur Schau, die er als „Leopard Boys“ und „Leopard Girls“ bezeichnete.874 Ähnlich wie etwa stark behaarte Menschen nahmen sie eine Position zwischen zwei einander ausschließenden Kategorien ein. Sie figurierten einerseits als Hybridwesen und somit indirekt als Resultat sodomitischer 863 A. Schwarz. Der Schlüssel zur modernen Welt. S.233. K. R. A. Wunderlich: Handbuch der Pathologie und Therapie, Bd. 2. S. 263. 865 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 102. 866 Ebd. 867 G. L. Le Clerc de Buffon (Hrsg.): Naturgeschichte des Menschen. S. 406. 868 C. D. Martin: The white African American body: a cultural and literary exploration. S. 10. 869 G. L. Le Clerc de Buffon (Hrsg.): Naturgeschichte des Menschen. S. 404f. 870 C. D. Martin: The white African American body: a cultural and literary exploration. S. 167. 871 Vgl. Der Komet, Nr. 768, vom 9. Dezember 1899. S. 25. 872 H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 102. 873 Vgl. Der Komet, Nr. , vom 16. September 1911. S. 874 C. D. Martin: The white African American body: a cultural and literary exploration. S. 63. 864 115 Handlungen, und implizierten zugleich, dass die Hautfarbe als Distinktionsmedium, in dem vermeintlich spezifische Differenzen zwischen Schwarzafrikanern und Europäern semantisch verdichtet wurden, uneindeutig und irreführend ist.875 Gerade im Hinblick auf die AntiSklaverei-Bewegung in den USA im 19. Jahrhundert mag die Zurschaustellung von albinotischen Schwarzafrikanern so auch eine politische Dimension erhalten haben. 3.2.10 „Humbug“ und „Hoaxes“ – Das Abnormale als Täuschung Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, waren Übertreibungen, Idealisierungen und Täuschungen wesentlicher Bestandteil der Inszenierung von Menschen mit abweichender Physiognomie. „Every person exhibited was misrepresented“876, behauptet etwa Bogdan und meint damit, dass sowohl Impresarios als auch Darsteller durch schaugewerbliche Attribute und exotische Kontexte körperliche Abweichungen betonten. Mit der Konstruktion von „Haarmenschen“ als „missing links“, albinotischen Menschen als „leopard people“ oder etwa kleinwüchsigen Menschen als „Prinzen“ oder „Admiräle“ wurden die Abnormitäten zu kulturellen und sozialen Entitäten, die als Projektionsfläche für Ängste und Unsicherheiten im Ungang mit dem körperlich Anderen, dem Nicht-Verortbaren dienten. Die Faszination, die das körperlich Andere erzeugte, veranlasste Impresarios, selbst gesunde Menschen als vermeintliche Abnormitäten zur Schau zu stellen. Im Sommer 1899 gab der Komet eine Nachricht „[v]on der Mainzer Messe“ wieder, die zuvor in der Pfälzer Presse erschienen war. Dem Artikel war zu entnehmen, dass „[a]uf der Herbstmesse in Mainz […] letzte Woche ein Mädchen gezeigt [wurde], welches ohne Arme und Beine auf die Welt gekommen sei. Am Samstag Abend erhielt die Polizei die Mittheilung, daß das angebliche Mädchen ohne Arme und Beine die ihren Eltern aus Hechtsheim entlaufene 14jährige Barbara Schneider sei. Die Polizei untersuchte die Bude, und es stellte sich die Richtigkeit der Mittheilung heraus. Das Mädchen war vollständig gesund und wurde noch am Samstag ihren Eltern übergeben.“877 Der Bericht im Komet schloss mit dem Hinweis, dass „solche Nachrichten sehr schadenbringend wirken“ und es daher „sehr angebracht“ wäre, „wenn den Fachblättern aus der Mitte der Schausteller Näheres zuginge.“878 Es kann sicher davon ausgegangen werden, dass es sich bei Barbara Schneider nicht um einen Einzelfall handelte. Gerade im Kontext der Abnormitätenschauen und im weiteren Sinne 875 C. D. Martin: The white African American body: a cultural and literary exploration. S. 63. R. Bogdan: Freak show. S. 10. 877 Der Komet, Nr. 753, vom 26. August 1899. S. 7. 878 Ebd. 876 116 auch im Kontext des Jahrmarkts, der sich durch die Konstruktion einer vorübergehenden karnevalesken Gegenwelt zur Lebensrealität der Zuschauer auszeichnet879, waren die Grenzen zwischen inszenatorischer Praxis und genuiner Irreführung fließend. Der amerikanische Impresario Theodore Lent, der Julia Pastrana protegiert hatte, bewarb eine behaarte Frau, die als Marie Bartels in Karlsbad geboren worden war880, als eine Schwester Julia Pastranas. So berichtete etwa die Wochenzeitung Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeberg im Jahr 1865, dass sich „[i]m Circus Carré in Berlin […] gegenwärtig die Schwester der Julia Pastrana, Zenona Pastrana“881 zeigt. Im Jahr 1871 gastierte die vermeintliche Schwester zur Messe in Mainz. Als Schaunummer des „Swimming Circus“, dessen Besitzer Lent war882, war sie „täglich von 10 Uhr morgens für eine Stunde vor jeder Vorstellung in der oberen Restauration des Circus“883 zu sehen. Der Komet urteilte, dass Lent die junge Frau, „da ihr Haarwuchs sensationell nicht gerade war, zur Sensation stempelte, indem er sie als Schwester der Pastrana ausgab.“884 Die Überprüfung von Abnormitäten durch Ärzte und Anthropologen und die Zertifizierung derselben galten als verlässliche Instrumente, um sich der Echtheit der zur Schau gestellten Abnormitäten zu vergewissern, zumal die kulturelle Autorität von Wissenschaft kaum hinterfragt wurde. Diese Autoritätsgläubigkeit machte sich etwa der amerikanische Impresario P. T. Barnum bei der Zurschaustellung einer bärtigen Frau zunutze. Er verbreitete das Gerücht, sie sei in Wahrheit ein Mann in Frauenkleidern und ließ anschließend eine ärztliche Untersuchung durchführen, um die Echtheit seiner Abnormität zu demonstrieren.885 Barnum hatte erkannt, dass die Forcierung von Kontroverse und Zweifel – und nicht die Unterbreitung einer finalen Wahrheit – Zuschauer anlockte.886 Diese Erkenntnis zog sich wie ein roter Faden durch Barnums Karriere, der als selbsternannter „prince of humbugs“887 seine Besucher häufig im Unklaren über die Authentizität seiner Exponate ließ.888 Da seine Vermarktungsstrategien wichtige Impulse für die Inszenierung von körperlich versehrten Menschen im 19. Jahrhundert gab, die schließlich auch die 879 Vgl. Bachtin, Michael: Probleme der Poetik. S. 136-148.S. 195f. H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 47. 881 Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeberg, Nr. 15, vom 3.März 1865. 882 Der Komet, Nr. 862, vom 28. September 1901. S. 4. 883 Mainzer Anzeiger, Nr. 192, vom 19. August 1871. 884 Der Komet, Nr. 862, vom 28. September 1901. S. 4. 885 J. Nickell: Secrets of the sideshows. S. 12/ H. Scheugl: Show Freaks & Monster. S. 49. 886 J. W. Cook: The arts of deception. S. 8, 16, 34-39. 887 P.T. Barnum: Life of P.T. Barnum. S. 225. 888 J. W. Cook: The arts of deception. S. 8, 16, 34-39. 880 117 Abnormitätenschauen in Deutschland prägen sollten, werden seine Präsentationsweisen nachstehend näher beleuchtet. 3.2.11 Die moderne „Freak Show“: P. T. Barnum und das „American Museum“ In seinem Werk The humbugs of the world (1866) definierte Barnum den Begriff “Humbug” als „putting on glittering appearances – outside show – novel expedients, by which to suddenly arrest public attention, and attract the public eye and ear.”889 Phineas Taylor Barnum (1810-1891), der spätere „prince of humbugs“, war im Jahr 1834 mit dem Ziel, eine eigene Ausstellung zu besitzen, nach New York gezogen.890 Anfang der 1840er Jahre erwarb er das American Museum in New York, in dem er neben diversen Curiosa wie etwa Fossilien, völkerkundlichen Artefakten, Automaten oder seltenen Münzen891, die an Sammlungen renascimentaler Kuriositätenkabinette erinnern, auch menschliche Abnormitäten präsentierte.892 Um Neugierde zu provozieren und möglichst viele zahlende Gäste in seine Ausstellung zu locken, bediente sich Barnum ausgeklügelter Inszenierungsstrategien893, die immer wieder die Frage der Authentizität der präsentierten Schauobjekte aufwarfen. Die Vermarktung des kleinwüchsigen Charles Sherwood Stratton alias „General Tom Thumb“, den Barnum im November 1842 entdeckt hatte und mit dem er bald große Erfolge feierte894, beschrieb er in seiner Autobiographie Life of P.T. Barnum (1855), wie folgt: „He was only five years old, and to exhibit a dwarf of that age might provoke the question, How do you know that he is a dwarf? […] Mrs. Stratton was greatly astonished to find her son heralded in my museum bills as Gen. Tom Thumb, a dwarf of eleven years of age, just arrived from England!“895 Barnum hatte nicht nur den Namen des Jungen modifiziert, sondern auch dessen Alter und Herkunft. In seiner Biographie, die sich bisweilen wie ein Bekenntnis liest, erklärte Barnum: „The boy was undoubtly a dwarf, […] but had I announced him as only five years of age, it would have been impossible to excite the interest or awaken the curiosity of the public. […] [T]he announcement that he was a foreigner answered my purpose […] I had observed […] the American fancy for European 889 P.T. Barnum: The humbugs of the world. S. 20. E. Fretz: P.T. Barnum’s Theatrical Selfhood and the Nineteenth-Century Culture of Exhibition. S. 97. 891 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 147. 892 R. Bogdan: The Social Construction of „Freaks“. S. 23. 893 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 139. 894 T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 172. 895 P.T. Barnum: Life of P.T. Barnum. S. 243 (Hervorhebungen im Original). 890 118 exotics.“896 Bei der Namensgebung berief sich Barnum indes auf die englische Legende von Tom Thumb, einem Jüngling, der nicht größer war, als der Daumen seines Vaters. Insbesondere die Zurschaustellung von kleinwüchsigen Menschen war häufig durch die Bezugnahme auf tradierte Mythen und Märchen, zu dessen Standard-Repertoire auch besonders kleine Individuen wie Däumlinge und Zwerge gehörten, gekennzeichnet und noch in den 1950er Jahren führte etwa der deutsche Impresario Carl Schäfer seine kleinwüchsigen Darsteller in der „Märchenstadt Liliput“897 vor. Eine weitere Strategie, die sicherlich zur Popularität des Zwerges beitrug, bestand darin, ihn während einer Europatournee vor Königin Victoria und vor Mitgliedern des Adels auftreten zu lassen. „[Not] a single member of the nobility failed to see General Tom Thumb“898, bemerkte Barnum später nicht ohne Stolz. Wie die vorangegangenen Kapitel gezeigt haben, war die Zurschaustellung von Abnormitäten in Königs- oder Fürstenhäusern schon im 18. Jahrhundert eine übliche Praktik gewesen, die der Profilierung der Impresarios und der Popularisierung der Abnormitäten diente. In seinen Memoiren schilderte der Entrepreneur eine Unterhaltung zwischen mehreren Schaustellern, in deren Verlauf ein Impresario geäußert haben soll: „Tom Thumb couldn’t never shine, even in my van, ’long side of a dozen dwarfs I knows, if this Yankee [Barnum, Anm. d. A.] hadn’t bamboozled our Queen – God bless her – by getting him afore her half a dozen times.“899 Die Anziehungskraft seiner Ausstellungen rührte nicht zuletzt von der Tatsache, dass Barnum die Besucher über die Echtheit beziehungsweise Authentizität seiner Exponate im Unklaren ließ.900 Fragen, ob es sich bei Joice Heth (1835) tatsächlich um die angeblich 161jährige Amme George Washingtons handelte, oder ob die „Feejee Mermaid“ (1842) wirklich ein Hybridwesen aus Affe und Fisch war901, blieben „for the public to decide.“902 Kurz nach der Veröffentlichung von Darwins On the Origin of Species (1859) initiierte Barnum eine Reihe von Ausstellungen unter dem Titel „What is it?“903 Die erste davon zeigte einen dunkelhäutigen Darsteller als mögliches „missing link“904, als das fehlende Bindeglied zwischen Mensch und Affe, das Barnum zufolge auf einem Baum im Inneren Afrikas gelebt 896 P.T. Barnum: Life of P.T. Barnum. S. 244. Der Komet, Nr. 3125, vom 30. April 1949. S. 15. 898 P.T. Barnum: Life of P.T. Barnum. S. 264. 899 Ebd. S. 278. 900 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 140. 901 Ebd. S. 139. 902 Ebd. S. 140. 903 T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 173. 904 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 140. 897 119 hatte, bevor es gefangen genommen worden war905. Die Implikation, das Zwischenglied sei ein „full blooded African“906, hätte gerade zu einem Zeitpunkt, als die Sklavereifrage zu Tage trat und der Sezessionskrieg kurz vor dem Ausbruch stand, leicht zu einer öffentlichen Debatte über die „Rassenfrage“ anschwellen können, doch Barnum wählte seine Terminologie vorsichtig.907 Die ausgestellte Kreatur sei, so erklärte er seinem New Yorker Publikum, „undescribable“, weder „man“ noch „monkey“, kurzum ein „nondescript“, welches sowohl menschliche als auch animalische Züge besäße.908 Die Präsentationsweise der „nondescripts“ folgte ausnahmslos einem „exotic mode of representation“, den im Verlauf der 1860er Jahre auch zunehmend deutsche Impresarios rekurrierten. Neben Afrikanern wurden Mikrozephale wie der „Pinhead Zip“ und vermutlich auch Menschen mit Hypertrichose, wie die Zurschaustellung William Henry Johnsons als eine Art „missing link“ zwischen Mensch und Orang-Utan909 nahe legt, als „nondescripts“ präsentiert. Meist waren die „nondescripts“ mit kaum mehr als ihrem eigenen Haar bekleidet, stammten aus exotischen, nahezu unbekannten Ländern910, ernährten sich von rohem Fleisch, Äpfeln und Nüssen911 und gingen naturgemäß auf allen vier Füßen912 – hier erwiesen sich die „nondescripts“ als Variationen des linneischen „Homo ferus“. Doch ihre Gefangennahme – das geht aus dem Subtext der Programmhefte hervor – ermöglichte schließlich ihre Kultivierung und Zivilisierung. In einem solchen Heft, das anlässlich der Ausstellung von 1860 erschien, war über die „Domestizierung“ der Kreatur folgendes zu lesen: „When he first came, his only food was raw meat, sweet apples, oranges, nuts, […] but he will now eat bread, cake, and similar things“913. Wenngleich die „nondescripts“ als Vergegenständlichungen rassistischer Denkfiguren fungierten914 und die Überlegenheit westlicher Lebensweisen demonstrierten, forderten sowohl der Titel der Schaustellung („What is it?“) sowie Barnums Vermeidung einer eindeutigen Klassifizierung („nondescript“) die Öffentlichkeit auf „to fill in the blanks.“915 905 New York Herald, vom 19. März 1860. S.1. zit. n. J.W. Cook, Jr.: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 144. 906 New York Herald, vom 2. März 1860. S.7. zit. n. J.W. Cook, Jr.: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 140. 907 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 140. 908 Ebd. 909 T. Macho: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. S. 173. 910 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 144. 911 Ebd. S. 148. 912 Ebd. S. 148. 913 New York Herald, vom 19. März 1860. S.1. zit. n. J.W. Cook, Jr.: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 148. 914 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 152. 915 Ebd. S. 140. 120 Es drängt sich die Frage auf, ob die „What is it?“-Ausstellungen folglich als Instrument zur Konsensbildung in der „Rassenfrage“ verstanden werden müssen.916 3.2.12 „War ein Mensch hier, der sich um Geld sehen ließ“ – Zur Ökonomie des Abnormalen Im Juni 1786 erging an den „Hochwürdigsten Erzbischof“ und den „Gnädigsten Kurfürst“ von Mainz das Konzessionsgesuch eines zwanzigjährigen Mannes aus Bayern, der dem beigefügten Schaustellerzettel zufolge „ohne Arme […] mit seinen Füßen die wunderlichsten Bewegungen macht“ 917. In dem Bittschreiben stellte er seine Lebenssituation wie folgt dar: „Die Natur hat mich in den betrübten Zustand gesetzet, daß ich aus [dem] Mutterleibe ganz ohne Aerme zur Welt gebohren wurd: Die weise Vorsehung des Allmächtigen fügte es jedoch, daß ich meine Füße zu dem brauchen kann wozu die Natur jedem anderen Menschen Hände gibt. Ich hab es soweit gebracht, daß ich nunmehr mit meinen Füßen nicht allein meinem Körper die nöthige Nahrung reichen und mich aus und ankleiden kann, sondern ich kann auch verschiedene schoene Kunststücke mit den Füßen machen; Ich bin von Haus arm und ohne Unterstützung, und da ich auch wegen Abgang dieser so nöthigen Glieder der Hände mich auf diese Weiße ernähren kann, so bin ich leider in die Noth versetzet, mich unter fremden Leuten aufzuhalten, und durch meine erlernte Kunst mit den Füßen alles das zu bewürken was jeder anderen [sic] natürlich gebohrene Mensch mit den Händen verrichtet, mir den nöthigen Lebensunterhalt zu verschaffen. An Eure Kurfürstliche Gnaden gelanget demnach mein flehentliches Bitten, […] an die Behörde die höchste Weißung ergehen zulaßen, daß ich mich einige Zeit hier aufhalten und meine mit den Füßen erlernte Künsten [sic] sehen laßen dürfe.“918 Inwiefern der Absender des Briefes tatsächlich „in die Noth versetzet“ war, sich „unter fremden Leuten aufzuhalten“, kann retrospektiv nicht mehr geklärt werden. Zwar waren Behinderte, insbesondere sozial niedrig gestellte, in der Neuzeit meist auf den Bettel oder auf Almosen angewiesen gewesen919, doch im späten 18. Jahrhundert setzte eine „teils sozial-karitativ[e], teils medizinisch-kurativ[e] und teils pädagogisch motiviert[e]“ institutionalisierte Hilfe für Behinderte ein.920 Das Beispiel zeigt jedoch, dass die Zurschaustellung von behinderten Menschen auch vor dem 916 J.W. Cook: Of Men, Missing Links, and Nondescripts. S. 153. MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Konzessionsgesuch und Flugblatt, 1786 1/7. 918 Ebd. 919 A. Weber: Behinderte und chronisch kranke Menschen. S. 45. 920 M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung: Eine Einführung in die Disability Studies. S. 9. 917 121 Hintergrund kommerzieller Interessen zu sehen sind. Schon Michel de Montaigne (15331592) beschrieb in seinem Essay D’un enfant monstrueux, wie ein Kind mit einer Doppelfehlbildung „que deux hommes et une nourrisse, qui se disoient estre le pere, l'oncle, et la tante, conduisoient, pour tirer quelque soul de le monstrer, à cause de son estrangeté.“921 Der Komet erwähnt den Fall eines Dijoner Hungerkünstlers, den, so seine Ehefrau, „nur die Arbeitslosigkeit getrieben habe“922 sich zur Schau zu stellen. Zwar entpuppte sich sein „Hungerexperiment“ als Schwindel, doch „die Frau des armen ‚Arbeitslosen’ hatte mittlerweile eine Menge Geld und das war ja“, so der Komet, „der Zweck des Hungerns.“923 Das wiederholte Auftreten von Täuschungsversuchen und die lange Phase der Abnormitätenschauen legen die Vermutung nahe, dass die Zurschaustellung von behinderten Menschen eine erfolgreiche Gattung der Schaustellerei war. Den kommerziellen Erfolg der Abnormitätenschauen sicherten im Wesentlichen drei Elemente: die Mystifizierung der Abnormitäten, die Anknüpfung an die Lebenswelt des Publikums und die Darbietung von etwas Neuem. Die Einbettung der Abnormitäten in einen exotischen, aristokratischen oder fiktiv-märchenhaften Kontext schuf den Rahmen, in dem sich der Besucher bestätigt fühlte. Das körperlich Befremdliche wurde in die räumliche, zeitliche oder soziale Fremde verwiesen, wodurch die Ordnung des Eigenen als Gegenbild zum „Fremden“ aufrechterhalten blieb und immer wieder internalisiert wurde. Indem Abnormitäten typisch bürgerliche Tätigkeiten verrichteten, wurde die Lebenswelt des Zuschauers berücksichtigt. Die Präsentation von vertrauten Handlungen suggerierte die Authentizität und Wahrhaftigkeit des Gezeigten. Als drittes Element kam das unerwartet Neue hinzu. Durch Superlativierung („die beste, schönste und interessanteste Sehenswürdigkeit“924, „das schwerste Ehepaar der Welt“925 etc.) oder Betonung der Einzigartigkeit der Abnormität – etwa durch den Hinweis, es handle sich um ein vom Aussterben bedrohtes Volk („[d]ie zwei letzten lebenden Menschen vom Stamme der 921 M. de Montaigne: Chapitre XXX: D’un enfant monstrueux. In: Les Essais. Livre II. S. 748. In der Übersetzung von Hans Stilett heißt es: „Vorgestern sah ich, wie ein Kind von zwei Männern und einer Amme, die sich als Vater, Onkel und Tante ausgaben, wegen seiner Absonderlichkeit zur Schau gestellt wurde, denn sie wollten sich so ein paar Groschen verdienen“ (Vgl. Michel de Montaigne: „Über ein mißgeborenes Kind“, in: ders.: Essais, 2. Buch. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett, München 1998, S. 352). 922 Die Kunst zu hungern. In: Der Komet, Nr. 2139, vom 24. April 1926. S. 5. 923 Ebd. 924 Der Komet, Nr. 578, vom 18. April 1896. S. 19. 925 Der Komet, Nr. 580, vom 2. Mai 1896. S. 23. 122 Azteken“926) – machten die Impresarios und Darsteller das Publikum glauben, es würde an einem spektakulären Ereignis teilhaben.927 Die gewinnorientierte Zurschaustellung von behinderten Menschen wirft indes die Frage auf, „wie Abnormitätenschauen aus ethischer Perspektive zu bewerten“928 sind. In dem Diskurs um das öffentliche Präsentieren behinderter Menschen haben sich im Wesentlichen zwei Positionen herauskristallisiert. Autoren wie Franz Althoff sind der Ansicht, dass die Zurschaustellung ihrer körperlichen Abweichung für viele behinderte Menschen die einzige Möglichkeit gewesen sei, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten.929 Andere Autoren, darunter David A. Gerber, argumentieren, dass insbesondere die Impresarios von der ökonomischen Ausbeutung ihrer Schützlinge profitiert hätten. Einige Indizien deuten in der Tat darauf hin, dass primär die Impresarios Nutznießer der Zurschaustellungen waren. Die Durchsicht der Anzeigen ergab, dass etwa die Hälfte aller „Schauobjekte“ Kinder waren, deren Zurschaustellung wohl nicht immer auf dem freien Willen basierte. Die amerikanische Bartfrau Annie Jones wurde bereits als Kleinkind zur Schau gestellt930 und auch das „Riesenbaby Emil“, das im Sommer des Jahres 1903 zusammen mit seinen „ostpreussischen Kolossal-Geschwistern“ auf der Mainzer Messe gastierte, war einer Anzeige im Komet zufolge bereits zweijährig zur Schau gestellt worden.931 In seinem Aufsatz über The „Careers” of People Exhibited in Freak Shows (1996) weist David A. Gerber darauf hin, dass Abnormitäten auf Grund ihrer Behinderung „eine andere Ausgangsposition als Schausteller und Artisten ohne physische Anomalien hätten“932. Dieses strukturelle Ungleichgewicht rühre daher, dass behinderte Menschen bereits im Alltag zur Schau gestellt würden, ohne dies steuern oder gar verhindern zu können; diesen Zustand beschreibt Gerber als „the oppression of unwanted attention“933 Demzufolge seien Abnormitätenschauen zwangsläufig das Ergebnis sozialer Ungleichheit, die sich in der Ausbeutung, Diskriminierung und Hierarchisierung der Abnormitäten ausdrücken könne. 934 926 Der Komet, Nr. 690, vom 11. Juni 1898. S. 24. Ganz ähnlich argumentiert Dreesbach im Bezug auf die Völkerschauen des 19. Jahrhunderts. Vgl. A. Dreesbach: Gezähmte Wilde. S. 14. 928 A. Karbe: Wie aus großen Menschen Riesen werden. S. 143. 929 Ebd. S. 144. Vgl. Althoff, Franz u.a.: So'n Circus: Franz Althoff erzählt; ein Buch über Circus heute. Freiburg 1982. 930 J. Nickell: Secrets of the sideshows. S. 152. 931 Der Komet, Nr. 756, vom 17. September 1899. S. 28. 932 A. Karbe: Wie aus großen Menschen Riesen werden. S. 156. 933 D. A. Gerber: The „Careers” of People Exhibited in Freak Shows. S. 46. 934 Ebd. S. 39. 927 123 3.2.13 „Von vielen Aerzten gesehen und untersucht“ - Die diskursiven Verbindungen von Medizin und Schaugeschäft Wie in den vorangegangenen Kapiteln bereits dargestellt wurde, bestand ein gemeinsames Interesse von Vergnügungsindustrie und Wissenschaft am menschlich und tierisch Abnormen. Ex aequo wurden stark behaarte, deformierte, besonders hochgewachsene und körperlich entstellte Menschen jeder Art von Impresarios ausgestellt und gleichsam von medizinischen Autoritäten wie etwa Rudolf Virchow oder Max Bartels untersucht. Durch die zahlreichen Völker- und Abnormitätenschauen des ausgehenden 19. Jahrhunderts wurde die interessierte Ärzteschaft immer wieder auf neue außergewöhnliche medizinische Fälle aufmerksam und so bemerkte Virchow etwa 1891 über die Aktivitäten der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (BGAEU)935, deren Vorsitz er innehatte: „Glücklicherweise bringen die erweiterten Verkehrsverhältnisse uns immer reichlicher Vertreter der verschiedensten fremden Völker, namentlich auch der Naturvölker, zur Anschauung und Untersuchung. […] Wir haben hier in der Gesellschaft […] Neger […], Melanesier und Tagalen, Lappen und ‚Azteken’ gesehen. Die wunderbarsten Monstrositäten sind vor uns aufgetreten: ein heterardelpher Inder, xiphodyme Italiener, eine bärtige Dame aus Nordamerica […] – kurz, jedes unserer Mitglieder war in der Lage, gleichsam zu Hause, seine anthropologischen Anschauungen mit selbsterlebten Erinnerungen zu füllen.“936 Die BGAEU war 1869 auf Initiative des Arztes und Politikers Rudolf Virchow (1821-1902)937 zusammen mit Adolf Bastian gegründet worden und zählte Wissenschaftler verschiedener Disziplinen und Laien zu ihren Mitgliedern.938 In monatlich stattfindenden Diskussionen und Vorträgen wurden unter anderem die Besuche der Völkerschauen und „merkwürdigen Menschen“, die ab den 1870er Jahren regelmäßig in Berlin gastierten, besprochen.939 „Nicht selten“ wurden die vorgefundenen „Schau-Objekte“ von den „hervorragende[n] ärztliche[n] Autoritäten […]als lebende Illustrationen zu ihren einschlägigen Vorträgen in den Hörsälen der Kliniken [vorgestellt]“, wodurch „das Interesse für sie in weiter ausgedehnte Bahnen“ gelenkt wurde.940 Indem sie auf den Nutzen ihrer Schützlinge als wissenschaftliche 935 Zur BGAEU vgl. Andree, Christian: Geschichte der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. 1. Teil. Berlin 1969. S. 9-140. 936 Sitzung vom 19. Dezember 1891. In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte (im Folgenden: VBGAEU), Bd. 23, 1891. S. 896. 937 Zu Virchow vgl Goschler, Constantin: Rudolf Virchow. Mediziner – Anthropologe – Politiker. Köln/ Weimar/ Wien 2002. 938 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 216f. 939 Ebd. S. 217. 940 Saltarino (H. Otto): Fahrend Volk. S. 1. 124 Untersuchungsobjekte hinwiesen und die Abnormitäten mit wissenschaftlichen Termini wie etwa „missing link“ präsentierten werteten die Impresarios wiederum ihre Vorstellungen auf. „Die colossale Negerin Prinzessin Marschall“ etwa hatte sich einer Anzeige im Komet zufolge „dem Herrn Professor Joh. Ranke, der anthropologischen Gesellschaft München vorgestellt“941. War im 18. Jahrhundert auf „die Sittlichkeit der beteiligten Personen“ und die „Lehrhaftigkeit des Gezeigten“942 verwiesen worden, so argumentierten Impresarios im ausgehenden 19. Jahrhundert mit der vermeintlichen Wissenschaftlichkeit ihrer Darbietungen ganz ähnlich. Die diskursiven Verbindungen von Schaugeschäft und zeitgenössischer Medizin zeigen sich auch am Beispiel der beiden Berliner Wachsfigurenkabinette, Castan’s Panoptikum und dem Passage-Panoptikum, deren regelmäßig abgehaltene Völker- und Abnormitätenschauen häufig von der BGAEU besichtigt wurden.943 Die Inhaber der Panoptiken sowie die Direktoren des Berliner Zoologischen Gartens und des Aquariums waren wiederum ordentliche Mitglieder der Berliner Gesellschaft.944 Die gegenseitige Durchdringung von populärem Schaugeschäft und Medizinwissenschaft hat Zürcher als ein „Verhältnis des permanenten Austausches“945 beschrieben. Wesentliche Voraussetzung für diesen Austausch war die Seltenheit des Schauobjekts. War eine Abnormität einmal untersucht, „so macht[e] eine zweite Untersuchung und Publikation wenig Sinn, sodass beide Seiten, Impresario und Professor, auf der Suche waren nach immer selteneren Missbildungen.“946 Die siamesischen Zwillinge Chang und Eng zeigten sich während ihrer beiden Europatourneen nicht nur in „unzählige[n] Varietées, Panoptiken, Messen und Zirkusse[n]“, sondern auch in Universitäten, vor akademischen Gesellschaften und in naturhistorischen Museen.947 1835 untersuchte Isidore Geoffroy-Saint-Hilaire das Geschwisterpaar und 1870 hatte Virchow die Gelegenheit, die Geschwister zu befragen und in der Folge über sie zu publizieren.948 In einem Vortrag über Die siamesischen Zwillinge, den Virchow am 14. März 1870 vor der Berliner medicinischen Gesellschaft hielt, erläuterte er am Beispiel der Geschwister, die nunmehr in der Funktion epistemischer Objekte auftraten, „dass Doppelmissbildungen nicht durch Verwachsung, sondern durch Theilung 941 Der Komet, Nr. 565, vom 18. Januar 1896. S. 20. H. Mehl: Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16. – 19. Jahrhunderts. S. 52. 943 B. Lange: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. S. 217. 944 Ebd. 945 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 264. 946 Ebd. S. 266. 947 Ebd. S. 264. 948 Ebd. S. 265. 942 125 (Spaltung) entstehen.“ 949 Chang und Eng wurden so „die ersten großen Stars sowohl der Medizin wie auch der internationalen Vergnügungsindustrie.“950 Der Titel des Vortrags deutet indes an, dass im Zuge der Verschmelzung von Teratologie und Schaugeschäft „mindestens punktuell eine vereinheitlichte Begrifflichkeit“ gewählt wurde.951 Nicht die enigmatisch anmutenden Klassifizierungsversuche eines Linné bestimmten den schaumedizinischen Raum, sondern Bezeichnungen, die dem Schaugewerbe oder der Alltagssprache entlehnt waren.952 So wurde etwa die Zurschaustellung der mikrozephalen „Azteken“ im akademischen Diskurs unter dem Stichwort „Azteken“ besprochen.953 Die Wechselwirkungen zwischen Schaugeschäft und Medizinwissenschaften erreichten im ausgehenden 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt; die Anfänge dieses Interaktionsprozesses sind indes im 18. Jahrhundert zu suchen, als Fehlbildungen zu einem Gegenstand wissenschaftlichen Interesses wurden.954 In der Tat lässt sich das Tauschgeschäft „Bescheinigung gegen Untersuchung“955 bereits für das späte 18. Jahrhundert belegen. Auf einem Flugblatt aus dem Jahr 1777 wurde „ein Kind von fünftehalb Jahren“ beworben, „welches von so sonderbarer Beschaffenheit ist, daß es die Bewunderung der ganzen medicinischen Fakultät nach sich gezogen, auch den Physicis und andern Naturkennern zu erkennen giebt, was die Natur Ausserordentliches an Tag bringen kann […]“956. Die Authentizität der Abnormität, bei der es sich höchstwahrscheinlich um Anna Maria Herrig handelt, wurde durch „ein Certificat“ des „Herr[n] von Buffon, erster königl. Leibarzt“ verbrieft957, der das Mädchen wiederum in seiner Naturgeschichte des Menschen erwähnte958. Durch die gegenseitige Begutachtung immer neuer „abnormer“ Menschen kam es zu einer wechselseitigen Legitimierung zwischen dem Schaugeschäft und der Wissenschaft. Wenngleich sie von verschiedenen Interessen, namentlich Aufklärung und Kommerz, geleitet waren, so bildeten das Schaugewerbe und die Medizinwissenschaften doch „ein zusammenhängendes ökonomisches System.“959 949 R. Virchow: Die siamesischen Zwillinge. Vortrag vor der Berliner medicinischen Gesellschaft am 14. März 1870. 950 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 265. 951 Ebd. S. 270. 952 Ebd. S. 270. 953 Vgl. Hartmann, Robert: Die sogenannten Azteken. Sitzung vom 21. Februar 1891. In: VBGAEU, Bd. 23. 1891. S. 278f. 954 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 268. 955 Ebd. S. 268. (Hervorhebung im Original). 956 MNZ, Best. 26, Sign. 026 / 0011, Flugblatt, 1777 16/4. 957 Ebd. 958 Vgl. Buffon, Georges Louis Le Clerc de, u.a. (Hrsg.): Naturgeschichte des Menschen. Berlin 1807. S. 418f. 959 B. Lange: Echt. Unecht. Lebensecht. S. 63. 126 4. SCHLUSSBEMERKUNGEN UND AUSBLICK Von den Monstra der frühneuzeitlichen Prodigienliteratur bis zu den fehlgebildeten Akteuren der Abnormitätenschauen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts erweist sich der versehrte Körper als Indikator der Wertmaßstäbe und Überzeugungen, aber auch der Ängste der jeweiligen Gesellschaft. Stets fungiert seine Monstrosität als Gegenbild zum Ideal menschlicher Schönheit und Normalität, die jedoch erst am Maßstab einer vorgeblichen Normalgestalt ersichtlich wird. Ob sich die Monstrositäten durch fehlende oder überzählige Glieder, eine atrophe oder hypertrophe Gestalt oder gar durch tierähnliche Physiognomien auszeichnen, entziehen sie sich einer eindeutigen, am menschlichen „Normalmaß“ orientierten Kategorisierung. „Betwixt and between“ (Victor Turner) befinden sich die Monstrositäten in einem klassifikatorischen Niemandsland960, in dem die gängigen Dualismen von Mensch und Tier („Kynokephaloi“, „Löwenmenschen“), dem Ich und dem Anderen (siamesische Zwillinge, Doppelfehlbildungen), Ganzheit und Fragment („Armlose“, „Rumpfmenschen“, „Halbmenschen“) und Mann und Frau aufgehoben sind. Die gänzlich ambivalente Monstrosität ist, wie es Victor Turner für die liminalen Subjekte im Übergangsritual beschrieben hat, sowohl nicht mehr als auch noch nicht klassifiziert.961 Diese Nichtklassifizierbarkeit schafft einen quasi definitionsleeren Raum, der von der Gesellschaft mit Zuschreibungen und Bewertungen gefüllt werden muss. Während dieses Prozesses fungiert der fehlgebildete Körper als eine Projektionsfläche für die Ängste und Sehnsüchte der jeweiligen Gesellschaft. In ihm koinzidiert „die penetrante Sichtbarkeit ausnahmehafter Erscheinungen“ mit einer unsichtbaren „potentiell unsichere[n] Referenz sinnfälliger Zeichenhaftigkeit“962. Mit Rekurs auf den Monstradiskurs der frühen Neuzeit wurde im ersten Teil der Untersuchung gezeigt, dass das Monstrum primär als ein genutztes beziehungsweise inszeniertes Zeichen fungierte, das „gemäß seinem etymologischen Versprechen“ (monstrare) etwas außerhalb seiner selbst zeigen sollte.963 Das neuzeitliche Monstrum figurierte als sichtbares Emblem gesellschaftlicher Normverstöße; mit ihm wurden sodomitische Ausschweifungen, Beischlaf mit dem Teufel und seinen Dämonen und sonstige moralische Verfehlungen assoziiert. Das Monstrum verkörperte demzufolge das 960 M. Toggweiler: Kleine Phänomenologie der Monster. S. 77. M. Toggweiler: Kleine Phänomenologie der Monster. S. 30f. Vgl. Turner, Victor: Betwixt and Between: The Liminal Period in ‚Rites de Passage’. In: ders.: The Forest of Symbols. Aspects of Ndembu Ritual. Ithaca 1967. S. 962 R. Overthun: Das Monströse und das Normale. S. 50. 963 M. Toggweiler: Kleine Phänomenologie der Monster. S. 77. 961 127 abschreckende Beispiel, „das ex negativo die kulturellen Codes bestärkt, gegen die es verstößt.“964 Die Zeichenhaftigkeit, die dem fehlgebildeten Körper testiert wurde, machten sich insbesondere die protestantischen Autoren zunutze, die die Monstra im Kontext eschatologischer Ängste als sichtbare, in körperlicher Form manifestierte Zeichen des drohenden Weltgericht Gottes deuteten. Mit der wissenschaftlichen Aneignung des „monströsen“ Körpers in der Teratologie wichen die religiösen Implikationen schließlich einer zunehmenden Entmystifizierung und Pathologisierung des fehlgebildeten Körpers. Das Ziel der Teratologie bestand darin, die physiognomischen Abweichungen auf natürliche Gesetzmäßigkeiten zurückzuführen, infolgedessen der fehlgebildete sowie der nicht fehlgebildete Körper als von denselben epigenetischen Naturgesetzen determiniert begriffen wurde. Das Monstrum wurde irdisch, das Abnorme und das Normale näherten sich an. Dederich zufolge wurde die physiognomische Abweichung nun nicht länger „als das Resultat von moralischen oder religiösen Verfehlungen“965 angesehen, doch wie die Beispiele Lavaters und Lombrosos gezeigt haben, bestand der Dualismus von maßästhetischer Schönheit und Unheil verheißender Ungestalt auch im 19. Jahrhundert fort. Zu groß war die Verlockung, Parameter einer allgemeingültigen Ordnung zu finden, die dem Monströsen einen klaren Platz innerhalb, oder vielmehr am Rand der Gesellschaft zuwiesen. Es waren insbesondere die Abnormitätenschauen, die dem Bedürfnis nach einer klaren Grenzziehung zwischen dem „Eigenen“ und dem „Fremden“ Rechnung trugen, indem sie das körperlich Befremdliche, das nicht mit den normativen Mustern der zeitgenössischen Gesellschaft in Einklang zu bringen war, in die räumliche, soziale und kulturelle Fremde verwiesen und so den konturlos gewordenen Antagonismus von Normalität und Abnormität aufrechterhielten. So wurden die Abnormitäten im Rahmen der Schauen etwa dem Reich der Mythen und Märchen zugeordnet oder als „Prinzen“ und „Generäle“ in soziale Positionen „jenseits der Mitte“ der Gesellschaft befördert. Bei der exotisierenden Inszenierung wurden die Abnormitäten, gleich den monströsen Erdrandbewohnern bei Plinius und Münster, in der geographischen Fremde verortet, etwa in der Polarregion (albinotische Menschen) oder in „exotischen“ Ländern wie Mexiko oder Afrika (stark behaarte Menschen). Dabei war die Wohnstätte der Monstrosität weniger ein konkreter, geographisch bestimmbarer Ort als vielmehr ein am Fremdheitsempfinden der Gesellschaft orientierter Platz in der Peripherie, die sich „entsprechend den sich erweiternden Vorstellungen von der Welt“ nach außen 964 965 M. Toggweiler: Kleine Phänomenologie der Monster. S. 78. M. Dederich: Körper, Kultur und Behinderung. S. 91. 128 verlagerte.966 Die identitätsstiftende Funktion, die der Abnormität im Rahmen der Schauen zukam, war beachtlich: Sie gab die Grenzen des sozialen und geographischen Raumes vor, innerhalb dessen eine Gesellschaft sich ihrer Normalität sicher sein durfte. Die Abnormitäten wurden in der Folge zum Sinnbild für alles Fremde: In ihren Zurschaustellungen spiegelte sich die „Monstrosierung“ des kulturell, körperlich und geschlechtlich Anderen wieder, wodurch sie gleichsam als Projektionsflächen für die Ängste und Unsicherheiten, aber auch die unerfüllten Sehnsüchte der bestehenden Gesellschaft fungierten. So ist etwa die Inszenierung von Haarmenschen als „missing links“ als Reaktion auf die Verunsicherung durch Darwins Abstammungslehre zu verstehen, die in einer Gesellschaft, die die Theorien der Schöpfungsbiologie bislang als maßgebend betrachtet hatte, zu Verunsicherungen und der Angst, sich nicht mehr sicher einordnen oder klar abgrenzen zu können, führte. Vergleicht man die Präsentationsweisen von Abnormitäten im 18. mit denen im 19. Jahrhunderts, so zeigt sich ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Spezialisierung und Diversifizierung der Schauobjekte, die auf die sich ausdifferenzierenden Inszenierungsstrategien der Impresarios zurückzuführen sind. Zunehmend beinhalteten die Schaustellerzettel und Werbeinserate neben einer Beschreibung der Abnormität auch Erklärungen für deren Normabweichung. Allerdings wurden keine medizinischen Diagnosen angeboten, sondern vielmehr Bilder des Fremden rekurriert. Dabei entsprang insbesondere die exotisierende Präsentationsweise dem eurozentrischen Bedürfnis, die Überlegenheit des eigenen Landes und die sichtbare Unterlegenheit nicht-westlicher Länder zu demonstrieren. Gleichzeitig begegnete man dem Unbehagen des von Normalisierungsprozessen967 geprägten Zuschauers, Teil einer Gesellschaft zu sein, die fehlgebildete Menschen hervorbringt. Die Exotisierung beziehungsweise Mystifizierung der Abnormitäten resultierte letzten Endes in deren „Entpathologisierung“, der fehlgebildete Mensch wurde primär als „fremd“ und „exotisch“, nicht als „krank“ wahrgenommen. All diese Implikationen dürfen indes nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Impresarios bei der Zurschaustellung von fehlgebildeten Menschen primär kommerzielle Interessen verfolgten. Dabei ist der lang anhaltende Erfolg der Schauen insbesondere auf die Inszenierungskonzepte der Impresarios zurückzuführen, die sich bei der Präsentation ihrer Abnormitäten einerseits an den zeitgenössischen Diskursen 966 M. Toggweiler: Kleine Phänomenologie der Monster. S. 77. Im 19. Jahrhundert werden Normalisierungen wesensbestimmend für das Militär, die Industrialisierung, die Erziehung und die medizinische Versorgung; „die sich etablierende bürgerliche Gesellschaft wird zur Normalisierungsgesellschaft.“ Erstmals tritt die binäre Unterscheidung normal-anormal zutage, infolgedessen diejenigen pathologisiert oder kriminalisiert werden, die sich nicht der Norm anpassen können. (Vgl. E. v. Stechow: Erziehung zur Normalität. S. 22, S. 38). 967 129 orientierten und andererseits bei etablierten Märchen und Mythen bedienten. Auf dem Jahrmarkt war die Abnormität Teil einer karnevalesken Gegenwelt, die Abenteuer und Lust versprach und in der kulturelle Schranken aufgehoben wurden. So dienten etwa Kolossalfrauen als Figurationen sexueller Freizügigkeit, die damit das fleischgewordene Gegenbild zur restriktiven Sexualmoral des Wilhelminischen Reiches konstituierten. Dabei konnte der Erfolg der Schauen nur so lange währen, wie die Abnormitäten als Einzigartigkeiten der Natur und somit als außeralltägliche Phänomene wahrgenommen wurden, was die Impresarios dazu veranlasste, ihre Abnormitäten immer wieder in neue Kontexte einzuordnen und mit neuen Zuschreibungen zu versehen. Als in Folge des Ersten Weltkrieges Entstellungen und Behinderungen kriegsversehrter Soldaten zu einem Massenphänomen wurden, wandelten sich „[d]ie Zeichen der Missbildungen […] zu einer Inschrift des Krieges, der staunende, leicht erschauernde Blick auf das Schauobjekt wich dem mitleidigen Blick auf die Kriegsversehrten“968. Die körperliche Abweichung faszinierte nicht mehr als sonderbare Einzigartigkeit, sondern wurde zum alltäglichen Anblick, infolgedessen die Monstrositäten allmählich ihre Attraktivität verloren. Der Rückgang der Schauen Anfang der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts ist indes nicht allein damit zu erklären, dass fehlgebildete Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend vom sozialen Netz aufgefangen wurden969, sondern auch damit, dass sich die historischen Voraussetzungen, die zu einer Popularisierung des Monströsen geführt hatten, wandelten. Wie eingangs bereits angemerkt wurde, sind die Gründe, die im 16. und 19. Jahrhundert zu einer Diskursivierung des Monströsen führten, „beide Male fast die gleichen, ebenso wie die gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Voraussetzungen, die sie herbeiführten.“970 Nach Röcke evozierte die Zeitenwende um 1500 eine apokalyptische Angst vor dem bevorstehenden Strafgericht Gottes, einem Bewusstsein vom Ende der alten und dem Anfang einer neuen Welt.971 Im 19. Jahrhundert sind es Schlagworte wie Urbanisierung, Industrialisierung, soziale Unsicherheit und wirtschaftlicher Wandel, kurzum der Wandel von der Agrar- zur Industriegesellschaft, die Ängste vor dem Neuen und Unbekannten evozierten. Das gesellschaftliche Bedürfnis, sich verorten und abgrenzen zu können, ist ein grundlegendes, doch besonders in Zeiten der Verunsicherung durch soziale, wirtschaftliche oder kulturelle Umbrüche suchen Menschen nach Orientierungspunkten und festen Werten, die der durch die Abnormitätenschauen vermittelte Dualismus von Normalität 968 U. Zürcher: Monster oder Laune der Natur. S. 275. Vgl. F. Dering: Das Oktoberfest. S. 342. 970 H. Scheugl: Showfreaks & Monster. S. 154. 971 W. Röcke: Zeitenwende und apokalyptische Ängste in der Literatur des Spätmittelalters. S. 12. 969 130 und Abnormität bieten konnte. Dabei füllt das Monströse, das befremdlich Andere, eine flexible Nische aus, die sich in dem Maße verändert, wie sich die Gesellschaft wandelt. 131 5. LITERATURVERZEICHNIS Quellen Ungedruckte Quellen Bittschreiben an die Kurfürstliche Landesregierung von 1689 bezüglich des fahrenden Heilers Andreas Johann Eisenbarth [Mappe mit Sign. 026/0011, 1689 8/2, Stadtarchiv Mainz]. Brief der Kurfürstlichen Landesregierung von 1704 bezüglich des fahrenden Heilers Andreas Johann Eisenbarth [Mappe mit Sign. 026/0011, 1704 26/7, Stadtarchiv Mainz]. Konzessionsgesuch und Flugblatt des Schaustellers Antonio Cetti [Mappe mit Sign. 026/0011, 1780, Stadtarchiv Mainz]. Konzessionsgesuch und Flugblatt [Mappe mit Sign. 026/0011, 1786 1/7, Stadtarchiv Mainz]. Tagebuchaufzeichnungen von Joh. Peter Heyl (1671-1699) und Jost Henrich Sprückmann (1689-1812). [Best. S5, Sign. 16, ISG Frankfurt/ Main] Gedruckte Quellen Enzyklopädien, Wörterbücher, Lexika Busch, D. W. H./ Gräfe, C. F./ Hufeland, C. W. (Hrsg.): Encyclopädisches Wörterbuch der medicinischen Wissenschaften. 37 Bde. Band 20. Berlin 1828 – 1849. Der große Brockhaus. 16. Aufl. 12 Bde. Band 4. Leipzig/ Berlin 1954. Diderot, Denis/ d’Alembert, Jean Baptiste le Rond (Hrsg.): Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des Sciences, des Arts et des Métiers. 35 Bde. Band 10. Neuchatel 17511780. Herders Konversations-Lexikon. 3. Aufl. 9 Bde. Band 6. Freiburg 1906. Meyer’s neues Konversations-Lexikon, ein Wörterbuch des allgemeinen Wissens. 2. Aufl. 16 Bde. Band 11. Hildburghausen 1872. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. Aufl. 27 Bde. Band 1. Leipzig/ Wien 1909. Pierer, Johann Friedrich (Hrsg.): Medizinisches Realwörterbuch: zum Handgebrauch practischer Aerzte und Wundärzte und zu belehrender Nachweisung für gebildete Personen aller Stände. Erste Abtheilung Anatomie und Physiologie. Band 4. Leipzig 1821. Pschyrembel. Klinisches Wörterbuch. 260. Aufl. Berlin/ New York 2004. Zedler, Johann Heinrich: Großes Vollständiges Universallexikon Aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Band 5. Halle/Leipzig, 1747. Zedler, Johann Heinrich: Großes Vollständiges Universallexikon Aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Band 21. Halle/Leipzig, 1747. 132 Zedler, Johann Heinrich: Großes Vollständiges Universallexikon Aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Band 53. Halle/Leipzig, 1747. Zedler, Johann Heinrich: Großes Vollständiges Universallexikon Aller Wissenschaften und Künste. 64 Bde. Band 64. Halle/Leipzig, 1747. Zeitungen, Zeitschriften Anzeige-Blatt der Kreis-Hauptstadt Speyer. Speyer 1848 [1855-1867. Stadtarchiv Speyer]. Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt. Hrsg. v. Ernst Keil/ Ernst Keil’s Nachfolger. Leipzig 1835-1944. Frankfurter Staats-Ristretto: oder kurzgefaßte Erzählung der neuesten und merkwürdigsten Nachrichten und Begebenheiten der Europäischen Staaten, wie auch der Wissenschaften, der Künste und nützlichen Erfindungen. Frankfurt a. M.: Schillers Erben. [1772-1818. ISG Frankfurt/ Main]. Frankfurter Meß-Relation, das ist: halbjährliche Erzehlungen der neuesten Staats - und WeltGeschichten. Frankfurt a. M. [1598-1774. ISG Frankfurt/ Main]. Intelligenz-Blatt der freyen Stadt Frankfurt. Hrsg. v. Holtzwart/ Streng. Frankfurt a. M. [1819- 1866. ISG Frankfurt/ Main]. Intelligenz-Blatt der Stadt Frankfurt am Main. Hrsg. v. Holtzwart/ Streng. Frankfurt a. M. [1866-1910. ISG Frankfurt/ Main]. Affiches, annonces et avis divers de Mayence. Mainzer Anzeigeblatt. Mainz. [Mikrofilm: 04.01.1812 – 04.05.1814 (cpl.). Sign. MF 66:2°/5, Stadtbibliothek Mainz] Mainzer Anzeiger. [Mikrofilm: 01.05.1854 – 19.03.1945. Sign. MF 66:2°/3, Stadtbibliothek Mainz]. Mainzer Intelligenzblatt. [Mikrofilm: 1774-1811. Sign. MF Mog 483, Stadtbibliothek Mainz] Mainzer Wochenblatt. [Mikrofilm: 07.05.1814 – 31.12.1871. Sign. MF 66:2°/5, Stadtbibliothek Mainz]. Neuester Mainzer Anzeiger. [Mikrofilm: 02.12.1879 – 31.03.1920 (cpl.). Sign. MF 66:2°/7, Stadtbibliothek Mainz]. Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte [=Beilage der Zeitschrift für Ethnologie. Organ der deutschen Gesellschaft für Völkerkunde]. Bd. 1-74. Braunschweig 1869-1944. Wöchentliche Anzeigen für das Fürstenthum Ratzeberg, Nr. 15, vom 3.März 1865. Zeitschrift für Ethnologie. Organ der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Bd. 1-74. Hrsg. v. Adolf Bastian/ Robert Hartmann. Braunschweig 1869-1944. 133 Aufsätze, Zeitschriftenartikel, Vorträge Beigel, Herrmann: Ueber abnorme Haarentwicklung beim Menschen. In: Archiv für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medicin. Hrsg. v. Rudolf Virchow. Bd. 44. Berlin 1868. S. 418-427. URL: http://books.google.de/books?id= DOcVAAAAYAAJ&pg=PA418&dq=beigel&lr=&client=firefox-a#v=onepage&q =beigel&f=true. Carus, Gustav Carl: Ueber die sogenannten Aztekenkinder. In: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Mathem. Phys. Classe I. Leipzig 1856. S. 11-19. URL: http://books. google.de/books?id=ayYWAAAAYAAJ&pg=RA1PA14&dq=bartola+maximo&lr= &client=firefox-a#v=onepage&q=bartola%20maximo&f=true. Die Frankfurter Herbstmesse im Jahr 1801. In: Der Komet, Nr. 858, vom 31. August 1901, S. 4-6. Die Kunst zu hungern. In: Der Komet, Nr. 2139, vom 24. April 1926. S. 5-6. Der ‚wilde’ Mensch. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt. Hg. v. Ernst Keil’s Nachfolger. Leipzig 1888. S. 879-883. Hartmann, Robert: Die sogenannten Azteken. Sitzung vom 21. Februar 1891. In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Band 23. Berlin 1891. S. 278-279. URL: http://www.archive.org/ details/zeitschriftfre23berluoft. Hr. [Felix] v[on] Luschan stellt einen Haarmenschen vor. Sitzung vom 25. Mai 1907. In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Band 39. Berlin 1907. S. 425-429. URL: http://www.archive.org/ details/zeitschriftfre39berluoft. Hr. [Max] Bartels stellt eine bärtige Dame, die Esau-Lady Miss Annie Jones vor. Außerordentliche Sitzung vom 14. Februar 1891. In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Band 23. Berlin 1891. S. 243-247. URL: http://www.archive.org/details/zeitschriftfre23berluoft. Hr. Rud[olf] Virchow bespricht die sogenannten Azteken und die Chua”, Sitzung vom 21. März 1891. In: Verhandlungen der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. Band 23. Berlin 1891. S. 370-377. URL: http://www. archive.org/details/zeitschriftfre23berluoft. Hüetlin, Thomas: Tränen mit Susie Simple. In: SPIEGEL, Nr. 18, vom 27. April 2009. S. 148-150. Isolani, Eugen: Bärtige Frauen. In: Der Komet. Nr. 862. Pirmasens, 28. September 1901. S. 4. Julia Pastrana, ein Menschenungeheuer. In: Die Gartenlaube. Illustrirtes Familienblatt. Hrsg. v. Ernst Keil. Leipzig 1857. S. 657-659. Kummer, Bernhard: Schwangerschaft. In: Handwörterbuch des Deutschen Aberglaubens. Hrsg. v. Eduard Hoffmann-Krayer/ Hanns Bächtold-Stäubli. 10 Bde. Band 7. Berlin/ Leipzig 1932-1933. S. 1406-1427. 134 Kunsthungern nach Hungerkunst. In: Der Komet, Nr. 2141, vom 8. Mai 1926. S. 6-7. Moebus, Jean: Über 500 Jahr Mainzer Messe. In: Der Komet. Nr. 2152. Pirmasens, 24. Juli 1926. S. 5-6. Strack, Karl: Nachricht von einem Kakerlaken. In: Medicinisch-chirurgische Zeitung. Dritter Band. Salzburg 1808. S. 413-414. URL: http://books.google.de/books?id=NgAH AAAAcAAJ&pg=PT416&dq=georg+gamber&lr=&client=firefox-a#v=onepage&q =georg%20gamber&f=true. Virchow, Rudolf: Die Siamesischen Zwillinge. Vortrag vor der Berliner medicinischen Gesellschaft am 14. März 1870. Berlin 1870. URL: http://de.wikisource.org/wiki/ Die_siamesischen_Zwillinge. Vogt, Carl: Ueber die Mikrocephalen oder Affen-Menschen. In: Archiv für Anthropologie. Zeitschrift für Naturgeschichte und Urgeschichte des Menschen. Bd. 2. Braunschweig 1867. S. 129-284. URL: http://books.google.de/books?id=Zh4XAAAAYAAJ&pg= PA276&dq=eine+partielle+atavistische+Bildung+ist&lr=&client=firefoxa#v=onepage&q=eine%20partielle%20atavistische%20Bildung%20ist&f=true. Monographien Barnum, Phineas Taylor: The Life of P.T. Barnum. London 1855. URL: http://books.google.de/books?id=wisLAAAAIAAJ&printsec=frontcover&dq=The+Li fe+of+P.T.+Barnum&lr=&client=firefox-a#v=onepage&q=&f=true. Barnum, Phineas Taylor: The Humbugs of the World. An Account of Humbugs, Delusions, Impositions, Quackeries, Deceits and Deceivers. Generally, in all Ages. New York 1866. URL: http://books.google.de/books?id=5N4OAAAAIAAJ&pg=PA11&dq= The+Humbugs+of+the+World&lr=&client=firefox-a#v=onepage&q=&f=true. Bingen, Hildegard von: Wisse die Wege, Scivias. Salzburg 1954. Blondel, Jacques: Dissertation physique sur la force de l’imagintion des femmes enceintes sur le fetus. Leiden 1737. Blumenbach, Johann Friedrich: Über den Bildungstrieb. Göttingen 1791. Buffon, Georges Louis Le Clerc de/ Ulmenstein, Friedrich Wilhelm von (Hrsg.): Naturgeschichte des Menschen. Berlin 1807. URL: http://books.google.de/books?id= c4Y5AAAAcAAJ&pg=PA731&dq=anna+maria+herrig&lr=&client=firefoxa#v=onepage &q=anna%20maria%20herrig&f=true Canstatt’s Jahresbericht über die Fortschritte der gesammten Medicin in allen Ländern im Jahre 1859. Redigiert von Prof. Dr. Scherer, Prof. Dr. Virchow und Dr. Eisenmann. Band 4. Würzburg 1860. Darwin, Charles: The descent of man, and selection in relation to sex. The Concise Edition. Hrsg. v. Carl Zimmer/ Frans de Waal. New York 2007 [1859]. Evelyn, John: The Diary of John Evelyn. Hrsg. v. Guy de la Bédoyère. Woodbridge 1995 [London 1818]. 135 Fischer, Friedrich Christoph Johann: Lehrbegrif sämtlicher Kameral- und Polizeyrechte. Sowohl von Teutschland überhaupt als insbesondere von den Preussischen Staaten. 3 Bde. Band 1. Frankfurt an der Oder 1785. Geppert, Carl Eduard: Chronik von Berlin von Entstehung der Stadt an bis heute. 3 Bde. Band 2. Berlin 1840. URL: http://books.google.de/books?id=EN0AAAAAcAAJ &printsec=frontcover&dq=Chronik+von+Berlin+von+Entstehung+der+Stadt+an+bis +heute&lr=&client=firefox-a#v=onepage&q=&f=true. Goltwurm Athesinus, Caspar: Wunderwerck vnd Wunderzeichen Buch. Darinne alle fuernemste Goettliche/ Geistliche/ Himlische/ Elementische/ Irdische vnd Teuflische wunderwerck/ so sich in solchem allem von anfang der Welt-schoepfung biss auff vnser jetzige zeit/zugetragen vnd begeben haben/ Kuertzlich vnnd ordentlich verfasset sein/ Der gestalt vor nie gedruckt worden. Caspar Goltwurm Athesinus. Luce. 12: Wem aber dieses alles anfehet zugeschehen/ so sehet auff/ vnnd hehet erere haeubter auff/ Darumb das sich ewer erloesung nahet. Hrsg. Von David Zephelius. Frankfurt / Main 1557. URL: http://www.obrasraras.usp.br/obras/000154/. Haller, Albrecht von: Tagebuch seiner Beobachtungen über Schriftsteller und über sich selbst. 2 Bde. Band 2. Bern 1787. URL: http://books.google.de/books ?id=XD8JAAAAQAAJ&printsec=frontcover&dq=Albrecht+von+Hallers+tagebuch& lr=&client=firefox-a#v=onepage&q=&f=true. Hauptmann, Gerhart: Atlantis. Berlin 1912. Hutchinson, Henry Neville/ Lydekker, Richard/ Gregory, John Walter: The Living Races of Mankind. A Popular Illustrated Account of the Costums, Habits, Pursuits, Feasts & Ceremonies of the Races of Mankind throughout the World. Hrsg. v. K. M. Mittal. 2 Bde. Band 1. Delhi 1985. [London 1901]. Kafka, Franz: Der Hungerkünstler. In: Ders.: Sämtliche Erzählungen. Hrsg. v. Paul Raabe. Frankfurt a. M./ Berlin 1981. Lavater, Johann Caspar: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Hrsg. v.Weidmanns Erben und Reich, und Heinrich Steiner und Compagnie. 4 Bde. Leipzig/ Winerthur 1776. URL: http://numscd-ulp.u-strasbg.fr:8080/view/authors/Lavater,_Johann_Caspar.html. Lavater, Johann Caspar: Von der Physiognomik und hundert physiognomische Regeln. Hrsg. v. Karl Riha / Carsten Zelle. Frankfurt a. M./ Leipzig 1991 [1772]. Lichtenberg, Georg Christoph: Schriften und Briefe. 4 Bde. Band 3. Hrsg. v. Wolfgang Promies, München/ Wien 1971. Lichtenberg, Georg Christoph: Über Physiognomik; wider die Physiognomen. Zu Beförderung der Menschenliebe und Menschenkenntniß. Göttingen 1778. URL: http://books.google.de/books?id=jMg6AAAAcAAJ&printsec=frontcover&dq=Lichte nberg:+%C3%9Cber+die+Physiognomik.&client=firefoxa#v=onepage&q=gem%C3%BCth&f=true. Lichtenberg, Georg Christoph: Vermischte Schriften. Neue vermehrte, von dessen Söhnen veranstaltete Original-Ausgabe. Band 1. Göttingen 1844. 136 Millingen, John Gideon: Curiosities of medical experience. London 1839. URL: http://books.google.de/books?id=HcAiPaxqBTEC&dq=Curiosities+of+medical+expe rience&printsec=frontcover&source=bl&ots=LniwPZZ1zq&sig=DS7Z8IVjzZzQvkj B19GvLxev0zw&hl=de&ei=yv_9SoOOA9L0_Abf-yHCw&sa=X&oi=book_result&ct= result&resnum= 1&ved=0CAgQ6AEwAA#v= onepage&q=&f=true. Montaigne, Michel de: Les Essais. Hrsg. v. Jean Balsamo/ Michel Magnien/ Catherine Magnien-Simonin. Paris 2007 [Bordeaux 1580-1588]. Montaigne, Michel de: Essais. Erste moderne Gesamtübersetzung von Hans Stilett. München 1998. Münster, Sebastian: Cosmographei oder beschreibung aller länder, herschafften, fürnemsten stetten/ geschichten/ gebreuche/ hantierungen etc. ietz zum drittem mal trefflich sere durch Sebastianum Munsteru gemeret und gebessert/ in welldtliche und naturlichen historien. Jte uff ein neuws mit hübschen figuren unnd landtaflen geziert/ sunderlichen aber werden dar in contrashetet sechs unnd vierzig stett/ under welche bey dreissig auß Teuscher nation nach irer gelegenheit dar zu komme/ und von der stetten oberkeiten do hin sampt irenn beschreibungen verordnet. 3. Auflage, Basel 1550. URL: http://www.digitalis.uni-koeln.de/Muenster/muenster_index.html. Nösselt, Friedrich: Lehrbuch der Weltgeschichte für Töchterschulen und zum Privatunterricht heranwachsender Mädchen. Dritter Theil. Breslau 1836. Paré, Ambroise: Des monstres et prodiges. Hrsg. v. Jean Céard. Genève 1971 [Paris 1573]. Parent-Duchâtelet, Alexandre Jean B.: De la prostitution dans la ville de Paris. Paris 1836. URL: http://books.google.de/books?id=7OMTAAAAIAAJ&pg=PA56&dq=De+la+ prostitution+dans+la+ville+de+Paris#v=onepage&q=&f=true. Pepys, Samuel: The Diary of Samuel Pepys. Hrsg. v. H. B. W. Brampton. London 1962 [London 1660-1669]. Reinöhl, Wilhelm von: Die gute alte Zeit geschildert in historischen Beiträgen zur näheren Kenntniß der Sitten, Gebräuche und Denkart, vornehmlich des Mittelstandes, in den letzten fünf Jahrhunderten; nach großtentheils alten und seltenen Druckschriften, Manuscripten, Flugblättern ec. Erster Band: Zur Geschichte hauptsächlich des Stadtlebens, der Kleidertrachten, des Hauswesens, der Kinderspiele, Tanzfreuden, Gaukler, Bankette, Frauenhäuser, magischen Mittel, kirchenfeste, Pilderfahrten ec. Aus Wilhelm von Rheinöhl’s handschriftlichen und artistischen Sammlungen. Hrsg. v. Johann Scheible. Stuttgart 1847. Ribbert, Hugo: Lehrbuch der allgemeinen Pathologie und der pathologischen Anatomie. 5. Aufl. Leipzig 1915. Schott, Gaspar: Physica curiosa, sive Mirabilia naturæ et artis libris XII. comprehensa, quibus pleraque, quæ de Angelis, Dæmonibus, Hominibus, Spectris, Energumensis, Monstris, Portentis, Animalibus, Meteoris, &c. rara, arcana, curiosaq; circumferuntur, ad Veritatis trutinam expenduntur, variis ex historia ac philosophia petitis disquisitionibus excutiuntur, & innumeris exemplis illustrantur. Würzburg 1697 [1662]. URL: http://imgbase-scd-ulp.u-strasbg.fr/displayimage.php?album= 798&pos=3. 137 Shakespeare, William: The Tragedy of Macbeth. In: Four Great Tragedies. Hrsg. v. William Aldis Wright. New York 1948 [London 1606]. Shelley, Mary: Frankenstein, or The Modern Prometheus. Hrsg. von Marilyn Butler. Oxford 1998 [London 1818]. Soemmerring, Samuel Thomas von: Abbildungen und Beschreibungen einiger Misgeburten, die sich ehemals auf dem anatomischen Theater zu Cassel befanden. Mainz 1791. Stratz, Carl Heinrich: Naturgeschichte des Menschen: Grundriss der somatischen Anthropologie. Stuttgart 1904. Unthan, Carl Hermann: Das Pediskript. Aufzeichnungen aus dem Leben eines Armlosen. Stuttgart 1925. Wunderlich, Karl Reinhold August: Handbuch der Pathologie und Therapie. 2. Aufl. 2 Bde. Band 2. Stuttgart 1852. Zuckmayer, Carl: Als wär’s ein Stück von mir. Horen der Freundschaft. Wien 1966. Zuckmayer, Carl: Die Fastnachtsbeichte. Eine Erzählung. Frankfurt am Main 1959. Sekundärliteratur Adams, Rachel: Sideshow U.S.A: Freaks and the American cultural imagination. Chicago 2001. Angell, Katherine: Joseph Merrick and the Concept of Monstrosity in Nineteenth Century Medical Thought. In: Hosting the Monster. Hrsg. v. Holly Lynn Baumgartner/ Roger Davis. Amsterdam/ New York 2008. S. 131-152. Bachtin, Michael: Probleme der Poetik Dostoevskijs. München 1985 [1929]. Bauer, Thomas: Am Rande der Messe: Bettler, Diebe, Dirnen und Schausteller. In: Brücke zwischen den Völkern – Zur Geschichte der Frankfurter Messe. 3 Bde. Band 2. Hrsg. v. Patricia Stahl. Frankfurt a. M. 1991. S. 308-327. Bäumer, Änne: NS-Biologie. Stuttgart 1990. Becker, Peter: Der Verbrecher als ‚monstruoser Typus’. Zur kriminologischen Semiotik der Jahrhundertwende. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hrsg. v. Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 147-173. Benninghoff-Lühl, Sabine: Die Jagd nach dem Missing Link in den Verhandlungen der Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte. In: Das Fremde. Reiseerfahrungen, Schreibformen und kulturelles Wissen. Hrsg. v. Alexander Honold/ Klaus R. Scherpe. Bern 2000. S. 105-121. Bischoff, Ulrich: Freaks, Abnormitäten, Schaustellerei. In: Zirkus – Circus – Cirque. Katalog Nationalgalerie Berlin. Hrsg. v. Jörn Merkert. Frankfurt a. M. 1978. S. 178-193. Blumberg, Mark S.: Freaks of Nature. What Anomalies tell us about Development and 138 Evolution. Oxford/ New York 2009. Bogdan, Robert: Freak Show. Presenting Human Oddities for Amusement and Profit. Chicago/ London 1988. Bogdan, Robert: The Social Construction of “Freaks”. In. Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland-Thomson. New York/ London 1996. S. 23-37. Bondeson, Jan: A Cabinet of Medical Curiosities. London 1997. Bondeson, Jan: The two-headed boy and other medical marvels. New York 2004. Breitenfellner, Kirstin: Physiognomie und Charakter. Die „Wissenschaft“ der Physiognomik von Lavater bis zum Nationalsozialismus. In: Wie ein Monster entsteht. Zur Konstruktion des anderen in Rassismus und Antisemitismus. Hrsg. v. Kirstin Breitenfellner/ Charlotte Kohn-Ley. Bodenheim 1998. S. 56-76. Bremer, Ernst/ Hildebrandt, Reiner: Stand und Aufgaben der deutschen Dialektlexikographie. Beiträge zu der Marburger Tagung vom Oktober 1992. II. Brüder-Grimm-Symposion zur Historischen Wortforschung. Hrsg. v. Ernst Bremer/ Reiner Hildebrandt. Berlin 1996. Brittnacher, Hans Richard: Der böse Blick des Physiognomen. Lavaters Ästhetik der Deformation. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hrsg. v. Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 127-146. Chenoune, Farid: Dessous. Ein Jahrhundert Wäschekult. München 1999. Cook, James W.: Of Men, Missing Links, and Nondescripts: The Strange Career of P.T. Barnum’s “What is it?” Exhibition. In: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland-Thomson. New York/ London 1996. S. 139-157. Cook, James W.: The Arts of Deception. Playing with Fraud in the Age of Barnum. Cambridge 2001. Crais, Clifton C./ Scully, Pamela: Sara Baartman and the Hottentot Venus: A Ghost Story and a Biography. New Jersey 2009. Daston, Lorraine/ Park, Katharine: Wunder und die Ordnung der Natur 1150-1750. Übersetzung nach Sebastian Wohlfeil/ Christa Krüger. Berlin 1998. Dederich, Markus: Körper, Kultur und Behinderung. Eine Einführung in die Disability Studies. Bielefeld 2007. Dering, Florian: Das Oktoberfest. 175 Jahre bayerischer National-Rausch. Jubiläumsausstellung im Münchner Stadtmuseum vom 25. Juli - 3. November 1985. München 1985. Dering, Florian: Volksbelustigungen. Eine bildreiche Kulturgeschichte von den Fahr-, Belustigungs- und Geschicklichkeitsgeschäften der Schausteller vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Nördlingen 1986. Dreesbach, Anne: Gezähmte Wilde. Die Zurschaustellung „exotischer“ Menschen in 139 Deutschland 1870-1940. Frankfurt/New York 2005 Enke, Ute: Schriften zur Embryologie und Teratologie. Samuel Thomas von Soemmerring: Werke. Hrsg. v. Jost Benedum/ Werner Friedrich Kümel. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Band 11. Basel, 2000. Ewinkel, Irene: De monstris. Deutung und Funktion von Wundergeburten auf Flugblättern im Deutschland des 16. Jahrhunderts. Tübingen 1995 Fiedler, Leslie: Freaks. Myths and Images of the Secret Self. New York 1978. Fischer-Homberger, Esther: Krankheit Frau. Zur Geschichte der Einbildungen. Darmstadt/ Neuwied 1984. Fretz, Eric: P.T. Barnum’s Theatrical Selfhood and the Nineteenth-Century Culture of Exhibition. In: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland-Thomson. New York/ London 1996. S. 97-107. Geitner, Ursula: Klartext. Zur Physiognomik Johann Caspar Lavaters. In: Geschichten der Physiognomik. Text, Bild, Wissen. Hrsg. v. Rüdiger Campe/ Manfred Schneider. Freiburg im Breisgau 1996. S. 357-385. Gerber, David A.: The „Careers” of People Exhibited in Freak Shows: The Problem of Volition and Valorization. In: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland-Thomson. New York/ London 1996. S. 38-54. Gilman, Sander L.: Hottentottin und Prostituierte. Zu einer Ikonographie der sexualisierten Frau. In: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Hrsg. v. Sander L. Gilman. Übersetzung nach Helmut Rohlfing/ Katharina Gerstenberger/ Sabine Gölz/ Vera Pohland/ Catherine Gelbin. Hamburg 1992. S. 119154. Gilman, Sander L.: Das männliche Stereotyp von der weiblichen Sexualität im Wiener Fin de siècle. In: Rasse, Sexualität und Seuche. Stereotype aus der Innenwelt der westlichen Kultur. Hrsg. v. Sander L. Gilman. Übersetzung nach Helmut Rohlfing/ Katharina Gerstenberger/ Sabine Gölz/ Vera Pohland/ Catherine Gelbin. Hamburg 1992. S. 155180. Glenister, T: W.: Fantasies, Facts and Foetuses. The interplay of fancy and reason in teratology. In: Medical History. A Quarterly Journal devoted to the History and Bibliography of Medicine and the related Sciences. Hg. von F. N. L. Poynter. Band 8, London 1964. S. 15-30. Grosz, Elizabeth: Intolerable Ambiguity: Freaks as/ at the Limit. In: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland Thomson. New York/ London 1996. S. 55-66. Grumbach, Torsten: Studien zu Policey und Policeywissenschaft. Kurmainzer Medicinalpolicey 1650-1803: Eine Darstellung entlang der landesherrlichen Verordnungen. Frankfurt a. M., Johann Wolfgang Goethe-Univ., Diss., 2005. Hacker, Jörg: Vom Kuriositätenkabinett zum wissenschaftlichen Museum: die Entwicklung der Zoologischen Sammlung der Kieler Universität von 1665-1868. Hrsg. v. Zoologisches Museum der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Krefeld 1984. 140 Hagner, Michael: Monstrositäten haben eine Geschichte. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hrsg. von Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 7-20. Hagner, Michael: Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hrsg. von Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 73-107. Hagner, Michael: Monstrositäten in gelehrten Räumen. In: Alexander Polzin, Abgetrieben. Hrsg. v. Sander L. Gilman. Göttingen 1997. S. 11-30. Hänel, Dagmar: Überlegungen zur Bedeutung des Monströsen. Zur Normalität des gesunden Körpers und dem Umgang mit Normbrüchen. In: Körperlichkeit und Kultur 2005. geschichtliches, Normen, Methoden. Hrsg. v. Rainer Alsheimer/ Roland Weibezahn. Bremen 2005. S. 59-76. Härter, Karl: Policey und Strafjustiz in Kurmainz. Gesetzgebung, Normdurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat. Frankfurt a. M. 2005. Helduser, Urte: Poetische „Missgeburten“ und die Ästhetik des Monströsen. In: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Hrsg. von Achim Geisenhanslüke/ Georg Mein. Bielefeld 2009. S. 669-687. Hepp, Andreas: Cultural Studies und Medienanalyse. Eine Einführung. 2. Aufl. Wiesbaden 2004. Hoff, Peter/ Miram, Wolfgang/ Paul, Andreas (Hrsg.): Evolution. Materialien für den Sekundarbereich II. Biologie. Hannover 2003. Holländer, Eugen von: Wunder, Wundergeburt und Wundergestalt in Einblattdrucken des fünfzehnten bis achtzehnten Jahrhunderts. Stuttgart 1921. Irsigler, Franz: Markt- und Messeprivilegien auf Reichsgebiet im Mittelalter. In: Das Privileg im europäischen Vergleich. 2 Bde. Band 2. Hrsg. v. Barbara Dölemeyer/ Heinz Mohnhaupt. Frankfurt a. M. 1999. S. 189-214. Kahn, Fitz: Das Versehen der Schwangeren in Volksglaube und Dichtung. Berlin 1912. Karbe, Ariane: Wie aus großen Menschen Riesen werden – Zu den Inszenierungsstrategien von Abnormitätenschauen. In: Zur Schau gestellt. Ritual und Spektakel im ländlichen Raum. Hrsg. v. Karl-Heinz Ziessow. Cloppenburg 2003. S. 143-157. Klunkert, Gabriele: Schaustellungen und Volksbelustigungen auf Leipziger Messen des 19. Jahrhunderts. Eine wirtschafts- und sozialgeschichtliche Untersuchung. Chemnitz, Technische Univ., Diss., 2008. Köhler, Sigrid G./ Metzler, Jan Christian: Extraordinary Bodies. Figuren des Ab/Normen im 20. Jahrhundert. In: Sprach-Welten der Informationsgesellschaft: Perspektiven der Philologie: Tag des wissenschaftlichen Nachwuchses der Universität Münster 2000. Hrsg. v. Doerte Bischoff/ Joachim Frenk. Münster 2002. S. 117- 130. Kunze, Jürgen/ Nippert, Irmgard: Genetik und Kunst. Angeborene Fehlbildungen in verschiedenen Kulturepochen. Berlin 1986. Lange, Britta: „Aechtes und Unächtes“. Zur Ökonomie des Abnormalen als Täuschung. In: 141 Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Hrsg. v. Petra Lutz/ Thomas Macho/ Gisela Staupe/ Heike Zirden. Deutsches HygieneMuseum Dresden in Zusammenarbeit mit der Aktion Mensch. Berlin 2003. S. 214234. Lange, Britta: Echt. Unecht. Lebensecht. Menschenbilder im Umlauf. Berlin, HumboldtUniv., Diss., 2005. Lehmann, Alfred: Zwischen Schaubuden und Karussells. Ein Spaziergang über Jahrmärkte und Volksfeste. Frankfurt am Main 1952. Lesky, Erna: Die Zeugungs- und Vererbungslehren der Antike und ihre Nachwirken. Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Geistes- und Sozialwiss. Klasse, No. 19. Mainz 1950. Lorenz, Maren: Leibhaftige Vergangenheit. Einführung in die Körpergeschichte. Tübingen 2000. Lorenz, Maren: Von Normen, Formen und Gefühlen. Zur Wahrnehmung so genannter ‚Missgeburten’ im 17. und 18. Jahrhundert. In: MenschenFormen. Visualisierungen des Humanen in der Neuzeit. Hrsg. v. Susanne Scholz/ Felix Holtschoppen. Königstein 2007. S. 16-53. Lutz, Petra u.a.: Einleitung der Herausgeber. In: Der [im-]perfekte Mensch. Metamorphosen von Normalität und Abweichung. Hrsg. v. Petra Lutz/ Thomas Macho/ Gisela Staupe/ Heike Zirden. Deutsches Hygiene-Museum Dresden in Zusammenarbeit mit der Aktion Mensch. Berlin 2003. S. 10-17. Macho, Thomas: Zoologiken: Tierpark, Zirkus und Freakshow. In: Anthropometrie. Zur Vorgeschichte des Menschen nach Maß. Hrsg. v. Gert Theile. München 2005. S. 155177. Martin, Charles D.: The white African American body: a cultural and literary exploration. New York 2002. Mauriès, Patrick: Das Kuriositätenkabinett. Köln: Dumont 2002. McKennon, Joe: A pictorial history of the American carnival. Sarasota 1972. Mehl, Heinrich: „Frauenzimmer, ohne Arme gebohren…“. Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16.-19. Jahrhunderts. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 34, 2002. S. 38-69. Merians, Linda Evi: Envisioning the worst: representations of "Hottentots" in early-modern England. London 2001. Moscoso, Javier: Vollkommene Monstren und unheilvolle Gestalten. Zur Naturalisierung der Monstrosität im 18. Jahrhundert. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hrsg. von Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 56-72. Mürner, Christian: Medien- und Kulturgeschichte behinderter Menschen. Sensationslust und Selbstbestimmung. Weinheim/Basel/Berlin: Beltz Verlag, 2003. Neumann, Josef N.: Der mißgebildete Mensch. Gesellschaftliche Verhaltensweisen und 142 moralische Bewertungen von der Antike bis zur frühen Neuzeit. In: Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten. Hrsg. v. Michael Hagner. Göttingen 1995. S. 21-44. O’Connor, Erin: Raw Material. Producing Pathology in Victorian Culture. Durham 2000. Oettermann, Stephan: “Der Leviathan vom Rhein”. Deutschlands erstes und einziges Showboat. In: Programmbuch Nr. 25: Showboat. Staatstheater Darmstadt. Darmstadt 1985. S. 32-48. Overthun, Rasmus: Das monströse und das Normale. Konstellatuionen einer Ästhetik des Monströsen. In: In: Monströse Ordnungen. Zur Typologie und Ästhetik des Anormalen. Hrsg. v. Achim Geisenhanslüke/ Georg Mein. Bielefeld 2009. S. 43-79. Payer, Peter: Hungerkünstler in Wien. Zur Geschichte einer verschwundenen Attraktion. Wien 2000. Pellengahr, Astrid: Von der ‚programmierten’ zur ‚natürlichen’ Geburt. Zur kulturellen Konstruktion von Geburtsvorstellungen und deren Wandel in der Gegenwart. In: Natur – kultur. Volkskundliche Perspektiven auf Mensch und Umwelt. 32. Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Halle vom 27.9. bis 1.10. 1999. Hrsg. v. Rolf Wilhelm Brednich/ Anette Schneider/ Ute Werner. Münster 2001. S. 269-280. Person, Jutta: Der pathographische Blick. Physiognomik, Atavismustheorien und Kulturkritik 1870-1930. Würzburg 2003. Raven, Peter H./ Evert, Ray F./ Eichhorn, Susan E. (Hrsg.): Biologie der Pflanzen. Berlin 2006. Ritzmann, Iris: Sorgenkinder. Kranke und Behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert. Köln 2008. Riedl-Dorn, Christa: Wissenschaft und Fabelwesen. Ein kritischer Versuch über Conrad Gessner und Ulisse Aldrovandi. Wien, Univ., Diss., 1988. Röcke, Werner: Die Zeichen göttlichen Zorns. Monster und Wunderzeichen in der Literatur des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. In: Literarisches Leben in Zwickau im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. Vorträge eines Symposiums anläßlich des 500jährigen Jubiläums der Ratsschulbibliothek Zwickau am 17. und 18. Februar 1998. Hrsg. von Margarete Hubrath/ Rüdiger Krohn. Göppingen 2001. Röcke, Werner: Zeitenwende und apokalyptische Ängste in der Literatur des Spätmittelalters. In: Zeitschrift für Germanistik NF 1. 2000. S. 11-29. Röcke, Werner: Befremdliche Vertrautheit. Inversionen des Eigenen und des Fremden in der deutschen Literatur des 16. Jahrhunderts. In: Reisen über Grenzen. Kontakt und Konfrontation, Maskerade und Mimikry. Münster 2003. S. 119-132. Roth, Harriet: Die Bibliothek als Spiegel der Kunstkammer. In: Sammler – Bibliophile – Exzentriker. Hrsg. v. Aleida Assmann/ Monika Gomille/ Gabriele Rippl. Tübingen 1998. S. 193-210. Rothfels, Nigel: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 18501900. In: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland-Thomson. New York/ London 1996. S.158-173. 143 Rothmann, Michael: Die Frankfurter Messen im Mittelalter. Frankfurt/ Main, Johann Wolfgang Goethe-Univ., Diss., 1995. Sauerhoff, Friedhelm: Pflanzennamen im Vergleich. Studien zur Benennungstheorie und Etymologie. Stuttgart 2001. (=Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik: Beihefte; H 113) Scherpner, Christoph: Von Bürgern für Bürger. 125 Jahre Zoologischer Garten Frankfurt am Main. Frankfurt am Main 1983. Scheugl, Hans: Showfreaks & Monster. Sammlung Felix Adonos. Köln 1974. Schlosser, Julius v.: Die Kunst- und Wunderkammern der Spätrenaissance. Ein Beitrag zur Geschichte des Sammelwesens. Leipzig 1908. Schneidmüller, Bernd: Die Frankfurter Messen des Mittelalters – Wirtschaftliche Entwicklung, herrschaftliche Privilegierung, regionale Konkurrenz. In: Brücke zwischen den Völkern – Zur Geschichte der Frankfurter Messe. 3 Bde. Band 1: Frankfurt im Messenetz Europas. Hrsg. v. Rainer Koch. Frankfurt a. M. S. 67-84. Schoen, Paul: Das evangelische Kirchenrecht in Preußen. 2 Bde. Band 2. Berlin 1910. Schumacher, Gert-Horst: Monster und Dämonen. Unfälle der Natur. Eine Kulturgeschichte. Berlin, 1996. Schwarz, Angela: Der Schlüssel zur modernen Welt: Wissenschaftspopularisierung in Großbritannien und Deutschland im Übergang zur Moderne (ca. 1870-1914). Stuttgart 1999. Secreto, Jim: Larger than Life: Positively Fat. In: Freaks, Geeks, and Strange Girls. Hrsg. v. Teddy Varndell/ Johnny Meah/ Jim Secreto. San Francisco 2004. S. 87-100. Semonin, Paul: Monsters in the Marketplace: The Exhibition of Human Oddities in Early Modern England. In: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland Thomson. New York/ London 1996. S. 69-81. Signor Saltarino ( d.i. Hermann Waldemar Otto ): Fahrend Volk. Abnormitäten , Kuriositäten und interessante Vertreter der wandernden Künstlerwelt. Leipzig 1895. Sonderegger, Albert: Missgeburten und Wundergestalten in Einblattdrucken und Handzeichnungen des 16. Jahrhunderts. Aus der Wickiana der Zürcher Zentralbibliothek. Medizinische Fakultät der Universität Zürich, Diss., 1927. Spann, Meno: Franz Kafka’s Leopard. In: Germanic Review, Vol. XXXIV, Nr. 2, April 1959. S. 85-104. Stechow, Elisabeth von: Erziehung zur Normalität. Eine Geschichte der Ordnung und Normalisierung der Kindheit. Wiesbaden 2004. Stevenson, Jack: Tod Brownings Freaks. München 1997. Strasser, Peter: Die verspielte Aufklärung. Frankfurt a. M. 1986. te Heesen, Anke/ Spary, E.C.: Sammeln als Wissen. In: Sammeln als Wissen. Das Sammeln 144 und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung. Hg. von Anke te Heesen/ E.C. Spary. Göttingen 2001. S. 7-21. Tervooren, Anja: Körper- und Menschenbilder. In: Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft. 5/ 2005. S. 50-59. Thomann, Klaus-Dieter: Das behinderte Kind. “Krüppelfürsorge” und Orthopädie in Deutschland 1886-1920. Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz. Stuttgart; Jena; New York: G. Fischer, 1995. Thomson, Rosemarie Garland: Introduction: From Wonder to Error – A Genealogy of Freak Discourse in Modernity. In. Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland Thomson. New York/ London 1996. S. 1-22. Thomson, Rosemarie Garland: Extraordinary bodies: figuring physical disability in American culture and literature. New York 1997. Thomson, Rosemarie Garland: Making Freaks. Visual Rhetorics and the Spectacle of Julia Pastrana. In: Thinking the Limits of the Body. Hrsg. v. Jeffrey Jerome Cohen/ Gail Weiss. Albany 2003. Toggweiler, Michael: Kleine Phänomenologie der Monster. Arbeitsblatt Nr. 42, Institut für Sozialanthropologie, Universität Bern. Bern 2008. URL: http://www.anthro.unibe.ch/ content/publikationen/arbeitsblaetter/arbeitsblatt_42/index_ger.html. Wahl, Gisela: Zur Geschichte der ätiologischen Vorstellungen über die Entstehung von Missgeburten. Düsseldorf, 1974. Weber, Andreas: Behinderte und chronisch kranke Menschen – „Problemgruppen“ auf dem Arbeitsmarkt? Universität Hamburg, Diss., 2002. Weihe, Richard: Gesicht und Maske. Lavaters Charaktermessung. In: Anthropometrie. Vermessung des Menschen von Lavater bis Avatar. Hrsg. von Gert Theile. München 2005. S. 35-65. Weinhold, Ulrike: Die Renaissancefrau des Fin de siècle. Untersuchungen zum Frauenbild der Jahrhundertwende am Beispiel von R. M. Rilkes Die weiße Fürstin und H. v. Hofmannsthals Die Frau im Fenster. In: Aufsätze zu Literatur und Kunst der Jahrhundertwende. Hrsg. v. Gerhard Kluge. Amsterdam 1984. S. 235-272. Wördemann, Wilfried: Dessous und Moral. Zur Geschichte der weiblichen Unterwäsche im Zweiten Deutschen Kaiserreich. In: Korsetts und Nylonstrümpfe. Hrsg. v. Uwe Meiners. Oldenburg 1994. S. 9-20. Würtz, Hans: Sieghafte Lebenskämpfer. München 1919. Zürcher, Urs: Monster oder Laune der Natur. Medizin und die Lehre von den Missbildungen 1780-1914. Frankfurt/ New York 2004. 145 Quellen aus dem Internet http://entertainment.timesonline.co.uk/tol/arts_and_entertainment/music/article6409751.ece, 1.11.2009, 18:54 Uhr. http://news.bbc.co.uk/2/hi/entertainment/8077075.stm, 1.11.2009, 19.15 Uhr. http://www.schaubuden.de, 13.09.2009, 13:07 Uhr. 146 6. ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: „Der russische Riese Pisjak“. Anzeige im Neuesten Mainzer Anzeiger von 1898. (Quelle: Neuester Mainzer Anzeiger, Nr. 181, vom 6. August 1898)………150 Abb. 2: „Der lange Joseph“. Anzeige im Mainzer Anzeiger von 1917 (Quelle: Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 11. August 1917, S. 6)………….150 Abb. 3: Postkarte von der Riesin Sofia mit ihren Däumlingsmenschen um 1941. (Quelle: Sammlung Nagel)……………………………………………….…151 Abb. 4: Postkarte von Riesin Elfriede und Prinzessin Elisabeth um ca. 1920. (Quelle: Sammlung Nagel)………………………………………………….152 Abb. 5: „Zwergin“; Kupferstich von J. E. Nilson um 1775. (Quelle: Stahl, Patricia: Brücke zwischen den Völkern - Zur Geschichte der Frankfurter Messe. Band 3: Ausstellung zur Geschichte der Frankfurter Messe. Frankfurt a. M. 1991. S. 328)…………………………..153 Abb. 6: Kupferstich von zwei musizierenden Zwergen, Anfang 19. Jahrhundert. (Quelle: Mehl, Heinrich: „Frauenzimmer, ohne Arme gebohren…“. Zur Ausstellung behinderter Menschen auf Jahrmärkten des 16.-19. Jahrhunderts. In: Kieler Blätter zur Volkskunde 34, 2002. S. 53)….154 Abb. 7: „Naturseltenheit“. Anzeige im Mainzer Anzeiger von 1855. (Quelle: Mainzer Anzeiger, Nr. 186, vom 12. August 1855)……………….155 Abb. 8: „Drei ostpreussische Kollossal-Geschwister“. Anzeige im Mainzer Anzeiger von 1903. (Quelle: Anzeige im Mainzer Anzeiger, Nr. 182, vom 7. August 1903)……155 Abb. 9: „Theresia und Marista, die ungarischen Riesen-Kinder“. Anzeige im Komet von 1902. (Quelle: Der Komet, Nr. 905, vom 26. Juli 1902, S. 24)…………………...156 Abb. 10: Postkarte von Teresina, „la plus grosse femme du monde“, um 1900. (Quelle: Sammlung Knocke, Markt- und Schaustellermuseum Essen)…….157 Abb. 11: Zeichnung eines parasitären Zwillings aus dem Tagebuch von Jost Henrich Sprückmann von 1747. (Quelle: ISG Frankfurt/ Main, Best. S5, Sign. 16, Tagebuchaufzeichnungen von Jost Henrich Sprückmann)…………...…….158 Abb. 12: Postkarte von Jean Libbera um 1905. (Quelle: Sammlung Nagel)…………………………………….……………159 Abb. 13: Ausschnitt aus einer Postkarte von Madmoiselle Feodora um 1901. (Quelle: Sammlung Nagel)………………………………………………….160 147 Abb. 14: Souvenirfoto der beiden „Azteken“ Bartola und Maximo um 1880 (?) (Quelle: Rothfels, Nigel: Aztecs, Aborigines, and Ape-People: Science and Freaks in Germany, 1850-1900. In: Freakery. Cultural Spectacles of the Extraordinary Body. Hrsg. v. Rosemarie Garland-Thomson. New York/ London 1996. S.161)……………………………………..…….161 Abb. 15: Schaustellerzettel von Anna Maria Herrig. Holzschnitt, ca. 1782. (Quelle: Ritzmann, Iris: Sorgenkinder. Kranke und Behinderte Mädchen und Jungen im 18. Jahrhundert. Köln 2008. S. 148)………………..………162 Abb. 16: „Krao, the missing link, half monkey, half woman“. Plakat des Zoologischen Gartens zu Frankfurt, 1894. (Quelle: Scherpner, Christoph: Von Bürgern für Bürger. 125 Jahre Zoologischer Garten Frankfurt am Main. Frankfurt a. M. 1983. S. 60)……163 Abb. 17: Fotographie von Krao in Hutchinsons The Living Races of Mankind (1901) (Quelle: Hutchinson, Henry Neville u.a. (Hrsg): The Living Races of Mankind. A Popular Illustrated Account of the Costums, Habits, Pursuits, Feasts & Ceremonies of the Races of Mankind throughout the World. Hrsg. v. K. M. Mittal. 2 Bde. Band 1. Delhi 1985. [London 1901]. S. ii).....164 Abb. 18: „Der Knabe mit der Löwenmähne“. Postkarte um 1903. (Quelle: Stadtarchiv Mainz)………………………………………...………165 Abb. 19: „Lionel, der Löwenmensch, halb Mensch, halb Löwe“. Ausschnitt aus einer Anzeige im Komet von 1908. (Quelle: Der Komet, Nr. 1210, vom 30. Mai 1908. S. 47)………………….166 Abb. 20: Annie Jones, die „Esau-Lady“. (Quelle: Hr. [Max] Bartels stellt eine bärtige Dame, die Esau-Lady Miss Annie Jones vor. Außerordentliche Sitzung vom 14. Februar 1891. In: VBGAEU. Band 23. Berlin 1891. S. 244)……………………….……...167 Abb. 21: Anzeige zu Hedwig Koschinski im Komet von 1911. (Quelle: Der Komet, Nr. 1349, vom 28. Januar 1911. S. 33)…………….…167 Abb. 22: „Das Mädchen aus der Steinzeit“. Postkarte um 1912 (?). (Quelle: Sammlung Nagel)……………………………………..…………..168 Abb. 23: „Joseph-Josephine“, Film still aus Freaks (Regie: Ted Browning, MGM 1932). (Quelle: Stevenson, Jack: Tod Brownings Freaks. München 1997. S. 40)....169 Abb. 24: Postkarte zum „Andenken an Abalutta das Eisweib“ um 1920. (Quelle: Sammlung Nagel)………………………………………………….170 Abb. 25: Postkarte „Zur Erinnerung von der Jüngsten der Polarmenschen“, ca. 1920. (Quelle: Sammlung Nagel)………………………………………………….171 Abb. 26: „Lichtscheue Menschen“. Anzeige im Anzeige-Blatt der Kreis-Hauptstadt Speyer von 1865. (Quelle: Beilage zum Anzeige-Blatt der Kreis-Hauptstadt Speyer, Nr. 129, vom 28. Oktober 1865)……………………………………………172 148 Abb. 27: Gemälde von Maria Sabina in Buffons Naturgeschichte des Menschen. (Quelle: Buffon, Georges Louis Le Clerc de u.a. (Hrsg.): Naturgeschichte des Menschen. Berlin 1807. S. 405)…………………………………...……173 Abb. 28: „Nobont, the Spottet Girl“. Anzeige im Komet von 1899. (Quelle: Der Komet, Nr. 768, vom 9. Dezember 1899. S. 25)…………...…174 149 7. ANHANG Abbildung 1: Anzeige im Neuesten Mainzer Anzeiger von 1898 Abbildung 2: Anzeige im Mainzer Anzeiger von 1917 150 Abbildung 3: Postkarte um 1941 151 Abbildung 4: Postkarte um ca. 1920 152 Abbildung 5: „Zwergin“; Kupferstich von J. E. Nilson um 1775 153 Abbildung 6: Kupferstich von Nanette Stocker und Jean Hauptmann, Anfang 19. Jahrhundert 154 Abbildung 7: Anzeige im Mainzer Anzeiger von 1855 Abbildung 8: Anzeige im Mainzer Anzeiger von 1903 155 Abbildung 9: Theresia und Marista, die ungarischen Riesen-Kinder“ Anzeige im Komet von 1902 156 Abbildung 10: Postkarte von Teresina, „la plus grosse femme du monde“, um 1900 157 Abbildung 11: Zeichnung eines parasitären Zwillings aus dem Tagebuch von Jost Henrich Sprückmann von 1747 158 Abbildung 12: Postkarte von Jean Libbera mit seinem parasitären Zwilling, um 1905 159 Abbildung 13: Ausschnitt aus einer Postkarte von Madmoiselle Feodora, um 1901 160 Abbildung 14: Souvenirpostkarte der beiden „Azteken“ Bartola und Maximo, um 1880 (?) 161 Abbildung 15: Schaustellerzettel von Anna Maria Herrig. Holzschnitt, ca. 1782 162 Abbildung 16: Fotographie von Krao in Hutchinsons The Living Races of Mankind (1901) 163 Abbildung 17: Plakat des Zoologischen Gartens zu Frankfurt, 1894 164 Abbildung 18: Postkarte um 1903 165 Abbildung 19: Ausschnitt aus einer Anzeige im Komet von 1908 166 Abbildung 20: Annie Jones, die „Esau-Lady“ Abbildung 21: Anzeige im Komet von 1911 167 Abbildung 22: Postkarte um 1912 (?) 168 Abbildung 23: „Joseph-Josephine“, Film still aus Freaks (Regie: Tod Browning, MGM 1932) 169 Abbildung 24: Postkarte um 1920 170 Abbildung 25: Postarte um ca. 1920 171 Abbildung 26: Anzeige im Anzeige-Blatt der Kreis-Hauptstadt Speyer von 1865 172 Abbildung 27: Gemälde von Maria Sabina in Buffons Naturgeschichte des Menschen 173 Abbildung 28: Anzeige im Komet von 1899 174 Erklärung gemäß § 19 Abs. 5 der Ordnung für die Prüfung im lehramtsbezogenen Bachelorstudiengang an der Johannes Gutenberg‐Universität Mainz (POLBA), bzw. § 13 Abs. 2 und 3 der Ordnung im Zwei‐ Fächer‐ Bachelorstudiengang an der Johannes Gutenberg‐Universität Mainz (BAPO) Hiermit erkläre ich, _________________________________ (Matr.‐Nr.: ____________________), dass ich die vorliegende Arbeit selbstständig verfasst und keine anderen als die angegebenen Quellen oder Hilfsmittel (einschließlich elektronischer Medien und Online‐Quellen) benutzt habe. Mir ist bewusst, dass ein Täuschungsversuch oder ein Ordnungsverstoß vorliegt, wenn sich diese Erklärung als unwahr erweist. § 19 Absatz 3 und 4 POLBA/§ 20 Abs. 3 und 4 BAO gilt in diesem Fall entsprechend. ________________________________ Ort, Datum __________________________ Unterschrift Auszug aus § 19 POLBA: Versäumnis, Rücktritt, Täuschung, Ordnungsverstoß (3) Versucht die Kandidatin oder der Kandidat das Ergebnis einer Prüfung durch Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel zu beeinflussen, gilt die betreffende Prüfungsleistung als mit „nicht ausreichend“ (5,0) absolviert (…) (4) Die Kandidatin oder der Kandidat kann innerhalb einer Frist von einem Monat verlangen, dass Entscheidun‐ gen nach Absatz 3 Satz 1 und 2 vom jeweils zuständigen Prüfungsausschuss überprüft werden. Belastende Ent‐ scheidungen sind der Kandidatin oder dem Kandidaten unverzüglich schriftlich mitzuteilen, zu begründen und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen. Der Kandidatin oder dem Kandidaten ist vor einer Entscheidung Gelegenheit zur Äußerung zu geben. Auszug aus §20 BAO: Versäumnis, Rücktritt, Täuschung, Ordnungsverstoß (3) Versucht die Kandidatin oder der Kandidat das Ergebnis einer Prüfung durch Täuschung oder Benutzung nicht zugelassener Hilfsmittel zu beeinflussen, oder erweist sich eine Erklärung gemäß § 13 Absatz 2 Satz 5 als unwahr, gilt die betreffende Prüfungsleistung als mit „nicht ausreichend“ (5,0) absolviert (…) (4) Die Kandidatin oder der Kandidat kann innerhalb einer Frist von einem Monat verlangen, dass Entscheidun‐ gen nach Absatz 3 Satz 1 und 2 vom zuständigen Prüfungsausschuss überprüft werden. Belastende Entscheidun‐ gen sind der Kandidatin oder dem Kandidaten unverzüglich schriftlich mitzuteilen, zu begründen und mit einer Rechtsbehelfsbelehrung zu versehen. Der Kandidatin oder dem Kandidaten ist vor einer Entscheidung Gelegen‐ heit zur Äußerung zu geben.