Das ehrenwerte Ziel - Hans

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Das ehrenwerte Ziel - Hans
Das ehrenwerte Ziel
Hans-Ernst Raack
Widmung
Meiner Familie,
meinen Freunden
und allen Menschen
mit aufrechtem Gang.
Spanisches Sprichwort:
„El mundo es de los valientes y de
los cobardes no hay nada escrito.“
(Die Welt ist für die Tapferen, und von
den Feiglingen gibt es nichts zu berichten.)
Personen:
Alexander – Alex – Rat, selbstbewußt, fähig, Schreiner
Karin Rat geb. Klees, weißblond, moralisch, Lebensangst
Brigitte Volb, Freundin, Rechtsanwältin, blond, schlank
Tochter Diana, blond, hübsch, eigenwillig, selbständig
Sohn Richard, intelligent, ruhig, zurückhaltend
Vater, `44 in Rußland gefallen
Mutter, Anna, tüchtig, robust, als Sohn erzogen
Schwester Christina, gutmütig, mit `ner Menge Kinder
Schwager Ernst, arbeitet Tag und Nacht
Schwester Gerlinde unverheiratet, hübsch, nett, Lesbe
Großvater Karl, konnte viel und hat nie aufgegeben
Helge, Freund beim Bund
George, Bauleiterfreund
William Harris, Agent
Neumann, Bankprokurist
Fox, Halbstarkenanführer
Max Scheller, Rechtsanwalt
Gerd, junger Mann im rechten Verein
Peter, Kraftstation in Saudi-Armee-Stadt
Richard, Termin-Planer in Hamburg-Saudi
Kudell, Elektriker-Ing in Saudi
Otto, Baukaufmann in Dubai
Jochen }
Heinz }
} Freunde in Frankfurt
Peter }
Dresse, Oberbauleiter in Abuja
Zosel, Klima- und Lüftungsingenieur in Abuja
Keller, Baukaufmann, Abuja
Konrad, Küchenmonteur, Abuja
Hannes, Einschaler, Abuja
Fritz, Fachbauleiter, Abuja
Max, Strabag-Mann, Werkstattleiter
Schütz, freiberuflicher alter Bauleiter
Schach, Boss in Hamburg
Nolz, Projektprokurist, HH
Christian, Projektleiter, HH
Lusche, Sachbearbeiter, HH
Der Autor mit 33, als er anfing über den
Sinn des Lebens nachzudenken.
Das Ehrenwerte Ziel
Der Mann trat lässig durch die Eingangstür des kleinen, gemütlichen
Restaurants. Er streifte mit kaum merklichen Bewegungen den
braunen Nappaleder-Mantel von den breiten Schultern und hängte
ihn an die Garderobe. Sein kurzer Rundblick schien jede Einzelheit
zu bemerken.
Sie saß an ihrem gewohnten Fensterplatz und hatte beim Geräusch
der Tür neugierig aufgesehen. Es war später Nachmittag; die Hälfte
der Tische war besetzt, und plötzlich wußte sie mit untrüglicher
Sicherheit, noch bevor er sich in Bewegung setzte: Er kam zu ihr.
Mit wenigen, geschmeidigen Schritten stand er an ihrem Tisch. Er
verbeugte sich leicht, sah sie direkt an und fragte: „Ich würde mich
gerne mit Ihnen unterhalten, sind Sie interessiert?“ Sie nickte
mechanisch. Das darf doch nicht wahr sein – dachte sie – so etwas
kann mir doch nicht passieren. Vom ersten Blick bis zum sonoren
Timbre seiner Stimme umfing sie eine wohlige Mattigkeit, die sich
langsam verstärkend zu einem inneren Glühen wandelte. Nimm dich
zusammen – schalt sie sich in Gedanken -, gleich wirst du rot wie
eine dumme Göre. Liebe auf den ersten Blick? Seelenwanderung?
Unbewußte Körpersignale, die nur der ideale Partner versteht?
Schicksal?
Das jähe Gefühl der süßen Vertrautheit, die sonst nur jahrelanges
Zusammenleben in großer Zuneigung ergibt, ließ ihre übliche kühle,
überlegene Gelassenheit ins Wanken geraten. Wie stets, wenn es
galt, eine verzwickte Lage überschaubar zu machen, begann sie die
Fakten aufzugliedern. Der Fremde war etwa vierzig, dunkelblond, um
die 1,80 Meter, schlank trotz der breiten Schultern, lässig und
selbstsicher in seinen Bewegungen, hatte eine angenehme Stimme.
Das Gesicht männlich markant mit Lachfältchen in den
Augenwinkeln. Die Hände – warum sind sie für eine Frau so wichtig?
– waren groß, schön in der Form und gepflegt; kein Ring – aber was
hat das schon zu bedeuten? Mit einer gemurmelten Entschuldigung
stand er auf und beugte sich über den Nebentisch. Seine Hose
spannte sich über einen kleinen, runden Sexy-Po.
Sie preßte ihre Knie zusammen um die aufsteigende Erregung
gefangenzuhalten. Mit der Tischkerze vom Nebentisch in der Hand
setzte er sich wieder, zauberte ein Streichholz irgendwoher und
zündete sie an.
Er sah sie heiter lächelnd an und sagte in normalen Plauderton: „Zu
einer schönen Frau paßt nur Kerzenlicht.“ Du verflixter Kerl – dachte
sie – welche Frau hört sowas nicht gern? Noch ein wenig mehr in
diesem Stil und nach dem ersten Antippen bin ich bereit mich in sein
Bett zu legen. Laut sagte sie: „Danke – und wie wirkt sich Kerzenlicht
bei Männern aus?“ „Leider nur indirekt – nach meinen bescheidenen
Erfahrungen“, meinte er geheimnisvoll. Aha – dachte sie amüsiert –
schon wirft er die Angel aus. Laut gab sie sich interessiert: „ Die
bescheidenen Erfahrungen glaube ich zwar nicht ganz – aber wieso
indirekt?“
Er legte den Zeigefinger an seine Lippen, dachte einen Moment nach
und entgegnete dann versonnen: „ Ein Mann muß nunmal hinaus ins
feindliche Leben und sich mit nackten Tatsachen herumschlagen.
Eine Frau hingegen lebt mehr in der Phantasie und ersinnt sich ihre
eigene Wirklichkeit. Darin sehen wir Männer manchmal besser aus
als wir sind.“
„Von einer solchen Theorie habe ich noch nie etwas gehört“ – meinte
sie skeptisch. „Woher kommt sie?“ „Ist mir auch gerade erst
eingefallen“, gab er lächelnd zu, „und als Beweis möchte ich die
lebenslangen Umerziehungs- versuche so mancher Ehefrauen
anführen.“ „Na“, parierte sie immer noch skeptisch, „ich glaube eher,
wir Frauen nehmen die Fehler und Schwächen der Männer
notgedrungen in Kauf und versuchen das Beste daraus zu machen.“
„Aha“, grinste er schalkhaft, „nach der Devise: Leute kauft Land –
Gott macht nicht mehr.“
Er wandte sich an den herantretenden Kellner, der interessiert
gelauscht hatte: „Was können Sie mir empfehlen – nicht viel, aber
gut gewürzt?“ „Unseren pikanten Reistopf“, schlug er vor. „Ist gekauft
– davor einen Weinbrand, griechisch oder spanisch, und nachher
eine Kanne Kaffee bitte.“
Nun sah er sie wieder mit seinem direkten Blick an, den sie jedesmal
bis in die Zehenspitzen hinein spürte.
„Ehe ich es vergesse. Ich bin auf Alexander getauft, gute Freunde
nennen mich Alex. Und Sie?“ „Brigitte.“ Sie atmete erleichtert auf,
weil er auf das plump-vertrauliche DU verzichtet hatte. Und doch war
sie etwas verwirrt über das irgendwie doch nette Vornamen Angebot.
Dies alles ergab eine recht ungewöhnliche Mischung
von
Liebenswürdigkeit und vornehmer Distanz.
Welches Thema könnte ihn wohl interessieren – dachte sie
verzweifelt – ohne mich als Hausmütterchen oder Emanze
erscheinen zu lassen? Er scheint einfach zu perfekt. Langsam
anpirschen – entschied sie sich. „Ihr Pullover gefällt mir. Das wäre
ein passendes Geschenk für meinen Bruder, können sie mir sagen,
wo man sowas bekommt?“ – fragte sie. „Der Weg zu Einkauf wird
leider etwas weit sein,“ grinste er, „ich habe ihn in Kaschmir gekauft.“
„Waren Sie dort im Urlaub?“ - fragte sie nun dankbar. Denn über
Urlaub, Arbeit, Hobby und Krankheiten können Menschen
stundenlang reden. Politik und Religion sollten in einem solchen
Stadium der Bekanntschaft gemieden werden. Entweder man stimmt
miteinander überein, dann gibt es nichts zu reden. Oder man tut es
nicht und versucht sich gegenseitig zu überzeugen – das artet dann
fast immer in Streit aus.
„Teils – teils“, erwiderte er. Sein Brandy kam, er kostete und schaute
sie fragend an: „Möchten Sie auch mal probieren? Das ist alter
spanischer Brandy – sehr gesund nach dem Essen.“ Sie nickte und
dachte: Schau an, wie raffiniert. Er lädt mich nicht zum Trinken ein
sondern zum Kosten. Und gesund soll er auch noch sein.
Er wandte sich wieder dem Kellner zu: „Por favor, camarero, un
Brandy negro mas.“ „Si senor“ – grinste dieser über beide Backen
und eilte zur Theke.
Ist er ein Angeber? – dachte sie enttäuscht. Er schaute sie prüfend
an und sagte, als hätte er ihre Stimmung erfaßt: „Ich kann mich mal
gerade so ver-ständigen. Aber mich kostet es nichts, und ihn macht
es glücklich, in der Fremde in seiner Muttersprache angeredet zu
werden.“ „Woher wußten Sie, daß er Spanier ist, denn er sieht doch
gar nicht südländisch aus?“ „Er hat auch Metaxa über der Theke
stehen – aber er hat den spanischen Brandy ge-
bracht und dazu noch negro, den besonders alten.“ Aufmerksam und
einfühlig – dachte sie – ich bin verloren.
Sein pikanter Reistopf wurde serviert, reichlich garniert mit
zusätzlichen Gewürzschälchen. Er grinste heiter über ihre
Verwunderung. „Es lohnt sich meistens zu anderen Menschen nett
zu sein.“ Er kostete, verdrehte verzückt die Augen und warf dem
Kellner ein „muy bien“ zu. Dieser drehte sich lächelnd um und
verschwand in der Küche.
„Jetzt gibt er meine Zufriedenheit weiter und alle sind happy“ –
meinte er überzeugt. „Es ist als ob man einen Stein in einen See
wirft, und die Wellen pflanzen sich kreisförmig fort. Nehmen Sie zum
Beispiel das Trinkgeld-Geben. Das ist auch so eine Kunst für sich.“
„Weshalb Alexander?“ fragte sie, durch den Brandy kühn geworden,
den neuen Namen probeweise benutzend. „Na ja“, meinte er,
widerstrebend die Gabel ablegend, „die meisten geben entweder
zuwenig oder sie protzen.“ Er hob den Zeigefinger wie ein Lehrer und
fragte: „Meine liebe Gitte, wenn Sie jeden Tag eine Mark sparen,
haben Sie am Ende des Jahres 365 Märker und in zehn Jahren
3.650 Mark. Und in hundert Jahren – aber das ist ja Unsinn, solange
kann ja niemand sparen. Wenn Sie jeden Tag eine Mark Trinkgeld
geben, leben Sie leichter und angenehmer – glauben Sie mir.“
Er nahm seine Gabel wieder auf und aß genüßlich weiter. Sie stand
auf, und als er sie fragend anblickte, beruhigte sie ihn lächelnd: „Bin
gleich wieder da.“ Wie in Trance ging sie in den Flur zum Telefon,
rief ihre Kanzlei an und gab das Codewort für „heute nicht mehr
erreichbar“ durch. Sie beachtete die aufgeregte Stimme ihrer
Sekretärin nicht und legte auf. Ich habe einen Zipfel vom Mantel des
Glücks in meinen Händen – und ließ die Redewendungen ihres
Vaters in ihren Gedanken kreisen: Wenn sich dir eine Chance bietet,
beruflich oder privat, erkenne und nutze sie; denn das Bedauern
über eine verpaßte Chance begleitet dich lange, mitunter ein Leben
lang.
Mit beschwingtem Schritt ging sie zurück zu ihrem Platz – zu allen
Schandtaten bereit. Sie setzte sich, lehnte sich locker in die Polster
zurück, den Oberkörper seitlich etwas vorgeschoben – um ihre
kleinen Brüste besser zur Geltung zu bringen.
Der Reistopftiegel war abgeräumt und er rührte versonnen lächelnd
in seiner Kaffeetasse. „Glauben Sie an Schicksal, Re-Inkarnation, ein
Leben nach dem Tod und ähnliche Esoterik?“ – fragte er sie.
„Glauben Sie daran?“ fragte sie zurück, um Zeit zu gewinnen. „Das
ist unfair, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“ Sich
einen sichtbaren Ruck gebend, sagte er ernst, beinahe feierlich: „Ich
will es erklären: Als ich hereinkam – und das war ein purer Zufall –
und Sie im Schatten des Gegenlichtes sitzen sah, waren Sie mir
seltsam vertraut und ich kam wie von selbst zu Ihnen.“
Ist das seine große Masche – fragte ihr trainierter Verstand, aber ihr
Herz hüpfte, schlug Purzelbäume und ließ sich nicht mehr bremsen.
Sie sah sich nach dem Kellner um – der versteckte hastig seine
rechte Hand hinter dem Rücken. Sie hob in schweigender Bestellung
ihr leeres Brandy-Glas und sagte dabei leise, mehr zu sich selbst:
„was macht der Kellner für komische Verrenkungen, so kenne ich ihn
gar nicht.“
Alexander, ebenso in verschwörerischem Tonfall: „Können Sie
schweigen?“ „Natürlich“, sagte sie interessiert. „Ich auch“, grinste er
schalkhaft. Ihr perlender Lachanfall sprengte alle aufgestauten
Spannungen und ließ sie gelöst und seltsam glücklich tief Atem
holen.
„Ich komme schon jahrelang regelmäßig zum Essen her“, sagte sie
verwundert, „noch nie hat jemand hier so laut gelacht – und
komischerweise: es macht mir gar nichts aus.“ „Weshalb sollte es
auch?“ entgegnete er, „wir sind ja allein.“
Tatsächlich – sie hatte nicht bemerkt, daß alle anderen Gäste
gegangen waren. „Was war mit dem Kellner, bitte?“ bettelte sie. Er
sah sie einen Moment lang prüfend an, um die Spannung zu
erhöhen, zwinkerte dann lustig mit dem linken Auge und sagte: „Er
hat mir das Viktoria-Zeichen gemacht.“ Als sie ihn verständnislos
anschaute, fuhr er fort: „Er meinte, ich hätte Chancen bei Ihnen.“
„Männer!“ – lachte sie – und dann, ihr Herz in beide Hände
nehmend: „Ein Menschenkenner wie mir scheint.“ Nun nahm er mit
seiner linken ihre rechte Hand, zog sie zu sich heran, drehte sie um,
betrachtete die Handinnenfläche und fuhr mit seinem rechten
Zeigefinger sachte die Hand-
linien nach. „Sehr interessant“ – resümierte er nachdenklich,
während bei der ersten Berührung und der zärtlichen Intensität ein
Wonneschauer nach dem anderen ihren Rücken herunterlief. Ich
bekomme noch hier am Tisch einen Orgasmus – dachte sie; aber um
nichts in der Welt hätte sie ihm Einhalt geboten.
„Verstehen Sie was von der Handlesekunst?“ fragte sie leise, um den
zärtlichen Zauber dieser Stimmung nicht zu unterbrechen. „Leider
nicht genug“, sagte er bedauernd, „es gibt so viele Dinge, die ich
gerne wissen und können möchte. Aber leider, leider: Man lebt nur
so kurze Zeit und ist so lange tot.“
Mit einer Handbewegung tat er das Thema ab: „Lassen wir uns nicht
in einer morbiden Stimmung versinken. Hauptsache man nützt die
Zeit, die man hat, richtig. Und ich bin sehr froh über unser
Zusammentreffen. Die Frage ist nur: Was machen wir jetzt? Ich
würde unsere Bekanntschaft gern vertiefen. Ungebunden bin ich
auch.“ Gott sei Dank – dachte sie – und hoffentlich.
„Aber eine Frau wie Sie: Schön, intelligent, gepflegt, mit aufreizender
Figur und in den besten Jahren – eine solche Frau hat doch
bestimmt Verpflichtungen, eine feste Bindung oder dergleichen. Alles
andere wäre ja wohl unnormal.“ Er sah sie fragend an.
„Schmeichler“ – schalt sie, „der Honig ist wohl etwas dick
aufgetragen. Aber ich habe einen achtzehnjährigen Sohn, der in zwei
Stunden sein Essen erwartet. Ansonsten ist nichts weiter.“
Er hob erstaunt die Augenbrauen: „Einen achtzehnjährigen Sohn? Ist
er unehelich?“ Und auf ihr entrüstetes „natürlich nicht“ fragte er: „Seit
wann kann man in Deutschland mit zwölf Jahren heiraten?“ Sie
drohte ihm scherzhaft mit dem Finger zu seinem hinterhältigem
Kompliment. „Ich bin ein richtiger Kultur-Muffel. Total unmusikalisch,
überhaupt nicht vielseitig zu gebrauchen“, meinte er, sah auf seine
Uhr und befahl nun: „Und nun rufen Sie Ihren Sohn an, er soll sich
selbst was brutzeln. Und wir zwei beiden Hübschen gehen ganz
profan ins Kino – da spielt ein klasse Western
– hinterher dürfen Sie dann bestimmen.
Er rief nach dem Kellner, bezahlte für beide und auf ihren Protest hin
meinte er abweisend: „In dieser Beziehung bin ich eben ein wenig
altmodisch.“ Daraufhin half er ihr in den Mantel, rief dem Kellner ein
„Adios“ zu und zog sie in den Flur.
Noch ganz benommen von seinem Tempo tappte sie hinterher. Bei
der Eingangstür drehte er sich um und sagte: „La belle de jour,
eigentlich könnten wir uns duzen.“ Er zog sie mit unwiderstehlicher
Kraft in seine Arme und küßte sie stürmisch. Mit weichen Knien
klammerte sie sich an ihn und versuchte ein wenig Ordnung in ihre
Gedanken zu bringen. Dauernd überrascht er mich aufs Neue –
dachte sie entzückt, während sie mit Eifer versuchte, seine
leidenschaftlichen Küsse zu erwidern. „Fortsetzung folgt“, sagte er
lachend, „jetzt erst mal telefonieren.“ Sie wählte und lauschte dem
fernen Läuten. „Hallo Ralf!“ – sagte sie immer noch atemlos, „ich
komme etwas später. Mach dir eine Mafia-Torte heiß und warte nicht
auf mich.“ „O.k.“ – tönte es zurück, „geh mir nicht verloren, Mama!“
„Alles klar“, sagte sie, „wir können.“
„Du scheinst ein gutes Partner-Verhältnis mit deinem Sohn zu
haben“ – meinte er, indem er die Tür aufhielt. Sie traten in den
naßkalten Frankfurter Herbstabend hinaus und begaben sich in
Richtung Hauptwache. „Ja“, sagte sie nachdenklich, „ich bin ganz
zufrieden. Aber Probleme gibt es trotzdem.“ „Erzähle“, forderte er sie
auf, nahm ihre Hand in seine und steckte beide in die Manteltasche.
„Mein Mann ist vor drei Jahren gestorben. Herzinfarkt – immer auf
der Jagd nach dem Erfolg. Mein Sohn macht nächstes Jahr sein
Abitur. Er will in Berlin studieren, um nicht zum ‚Bund‘ zu müssen. Er
ist extrem links eingestellt, und das ist eigentlich der einzige
Streitpunkt zwischen uns. Eigentlich ist er Pazifist – und daran bin ich
zum Teil selber schuld. Aber nun driftet er immer weiter in die linke
Ecke ab.“ „Das wächst sich raus“ – beruhigte er sie, „wer mit zwanzig
kein Kommunist ist, hat kein Herz. Und wer mit dreißig noch
Kommunist ist, hat keinen Verstand.“ „Hast du noch mehr solche
Sprüche auf Lager?“ – fragte sie, „den jedenfalls muß ich mir
für Ralf merken.“
Beim Kino angelangt, schlug er vor: „Ich besorge die Karten, Gitta –
und du könntest an der Theke noch etwas zum Anwärmen
bestellen.“
Im Kino-Foyer standen ein paar Grüppchen Jugendliche, die sich
unterhielten – Cola-Dosen in der Hand und Zigarretten lässig im
Mundwinkel. Die Theke in der rechten Ecke war mit der MahagoniPlatte und den teppichbespannten Front-Kassetten überraschend
geschmackvoll gestaltet. Gitta hielt in der Hand ein Glas und ließ mit
eisigem Gesicht die Ansichten eines Skinheads zu Gott und der Welt
über sich ergehen. Alexander trat zu ihr, nahm das Glas aus ihrer
Hand und sagte zu dem Kahlköpfigen: „Verzieh dich Kleiner, du
stinkst wie eine tote Ratte.“
Dieser starrte Alexander mit offenen Mund an. „Wa – wa?“ –
stammelte er. Darauf Alexander, an ihn herantretend und mit starrem
Blick in die Augen sehend: „Wenn du hier noch länger die Luft
verpestest, hau´ ich dir auf den kahlen Kopf, daß deine Socken
platzen.“ Der Skinhead wich langsam zurück, sichtlich an sich und
der Welt verzweifelt, hob seine halbleere Whiskey-Flasche und nahm
einen tiefen Zug, ehe er sich umdrehte und mit rollendem Gang zum
Ausgang stapfte. Dabei grollte er brummelnd: „Hab doch gar keine
Socken an.“
„Prost“, sagte Alexander, nahm einen kleinen Schluck und beäugte
Brigitte, die mit ihrem Glas in der Hand vor unterdrücktem Lachen
bebte. Hinter der Theke stand ein älterer, hagerer Herr mit Brille und
fassungslosen Gesichtsausdruck. „Darf ich Ihnen einen ausgeben?“
– fragte er das Paar, das so offensichtlich nicht zu seinem
Westernprogramm zu passen schien. „Falls Sie etwas Besseres
haben als das hier“, erwiderte Alex, indem er sein Glas hochhielt.
Der Hagere bückte sich, stellte eine Flasche ohne Etikett auf die
Theke und füllte zwei neue Gläser. „Ich darf leider nicht“, sagte er
entschuldigend und sah den beiden gequält zu, als sie genüßlich
kosteten. Alexander hob verwundert eine Augenbraue. „Was ist denn
das für ein Göttertrank?“ - fragte er andächtig. „Eigene Produktion
von meinem Schwiegervater in Südfrankreich“, erwiderte der Hagere.
„Wie unsere Schwaben“, lachte Alexander, „die besten Sachen
saufen sie selber.“ „Ich
hatte schon den größten Krawall befürchtet“, seufzte der Hagere,
„diese Typen sind eine wahre Landplage.“ „Ja, wir tragen eine
schwere Last“, sagte Alexander gedankenvoll. Brigitte, die ihn nun
schon besser kannte, sah ihn an. „Wie meinst du das?“ - fragte sie.
„Na – unsere unfähigen Politiker natürlich. Niemand gibt unserer
Jugend Sinn und Ziel, von Idealen ganz zu schweigen. Das ist eine
Verschwendung ersten Ranges; denn sich zu der eigenen
Überzeugung zu bekennen, schon äußerlich wie diese Typen, ist
doch ein positiver Wert.“ „So habe ich die Sache noch gar nicht
betrachtet“, staunte der Hagere. „Jedes Ding hat meistens zwei
Seiten“, sagte Alexander spöttisch, „und manchmal noch mehr.“
Nach flüchtigem Bezahlen schlenderten Alexander und Gitta
langsam in den Kinoraum, suchten sich einen Platz in der Mitte der
letzten Reihe und sahen einander lächelnd an. Die Lampen wurden
langsam dunkler. Als Alexander sich langsam zu ihr neigte, kam sie
ihm eifrig entgegen. Zum ersten Mal küßten sie sich nun langsam,
gründlich und besonders zärtlich – den anderen mit Lippen und
Zunge erforschend, auf Reaktionen reagierend.
Sie spürte seine linke Hand auf der Haut ihrer rechten Brust und
fragte sich benommen: Wie geht denn das – wo ist denn mein BH?
Seine rechte Hand massierte weiterhin ihren Nacken, seine Lippen
lösten sich von den ihren, glitten am Hals tiefer über den Brustansatz
– seine Zunge umkreiste die Spitze; er saugte sanft. Sofort wurde die
Knospe fast schmerzhaft hart und sandte Schauer der Erregung
durch ihren ganzen Körper. Mit dem letzten Rest von Vernunft
drückte sie seinen Kopf hoch, küßte ihn sanft auf sein Ohr und
murmelte seufzend: „Nicht hier, bitte nicht hier.“
Er drehte sein Gesicht ihr zu, rieb seine Nase an der ihren, grinste
jungenhaft und murmelte eben so leise: „Das war doch nur eine
Versuchs-Attacke. Aber ich glaube, ich habe heute einen
Haupttreffer gezogen. Du bist leidenschaftlich und schmeckst
wundervoll.“ „Bist du ein Kannibale?“ – fragte sie leise kichernd – von
der Vorstellung überwältigt: Beide nackt auf einem großen Fell vor
einem lodernden Kamin – und er überall an ihr herumknabbernd.
Er lehnte sich bequem zurück. Seine rechte Hand legte sich über
ihre rechte Schulter und glitt tiefer in ihre offene Bluse; umfaßte ihre
rechte Brust. Seine Finger begannen sanft über ihre Haut zu gleiten.
Nachdenklich meinte er: „Schmecken und riechen ist fast dasselbe.
Wenn du jemand nicht riechen kannst, dann ist tatsächlich sein
Körpergeruch daran schuld – und dann schmeckt er auch nicht.“
Er beugte sich zu ihr, küßte sie zärtlich auf die Schläfe und fragte sie
neckend: „Und wie rieche ich für dich?“ Sie zog seine linke Hand
herüber, küßte die Innenfläche und sagte ernsthaft: „Du riechst für
mich so schön nach Mann.“ Er hob ihr Kinn, küßte sie sanft auf die
Lippen und murmelte dabei leise: „Das ist ja das schönste
Kompliment, das ich je hörte.“
Seine Hand fuhr langsam unter ihren Rock und auf der Innenseite
ihres Oberschenkels nach oben. Ihre Beine öffneten sich fast
automatisch. Seine Finger fanden den Venushügel, drückten sanft
dagegen, glitten tiefer und drückten wieder sanft zu. Ihr gesamter
Körper explodierte in einem zuckenden Orgasmus, verebbte in
langsamen Wellen und steigerte sich wieder zu zuckenden Stößen –
immer begleitet von dem sanften Druck der streichelnden Finger.
Wieder und immer wieder.
Wie kann ein Mann mit solch eisenharten Muskeln so zärtlich sein? –
dachte sie wie entrückt mit geschlossenen Augen. Sie zog seinen
Kopf herunter. „Küß mich“ – stammelte sie mit zuckenden Lippen
und vergrub sich in seinen Mund. Langsam, nach einer scheinbaren
Ewigkeit, verlor sich das ekstatische Pulsen. Seine Lippen lösten
sich von ihrem wundgeküßten Mund und in einem herrlichen
Nachspiel streichelten seine Hände weiter ihre rechte Brust und die
Innenseite ihrer Schenkel. Ihre Hand glitt in seinen Schoß, fand seine
Erregung und zerrte auffordernd am Stoff seiner Hose. Er zog den
Reißverschluß herunter und führte ihre Hand. Warm und hart lag der
Schaft in ihrer Hand. Die Proportionen entsprechen dem Format –
dachte sie erfreut und begann ihn sanft zu massieren. „Möchtest du
richtig?“ hauchte sie fragend und war bereit sich zu einem Ritt auf
seinen Schoß zu setzen. „Das machen wir später mit Stil“ –
entgegnete er – heiser vor Erregung, „jetzt nur ein bischen Petting
zur Einstimmung.“
Wenn das bei mir nur Petting war, dachte sie glücklich, dann steht
mir ja noch allerhand bevor. Wie die meisten Frauen war auch sie
nach dieser Art Entspannung zum Plaudern aufgelegt. „Ich habe es
noch nie im Kino gemacht – und das hier“ – sie verstärkte ihren Griff
– „auch noch nie.“ „Alles passiert irgendwann zum ersten Mal“,
preßte er hervor. Sein Glied begann in ihrer Hand zu zucken, als
wäre es lebendig geworden.
Erregung stieg wieder in ihr hoch, als sie sich ausmalte, wie sich das
in ihr anfühlen würde. Mit kleinen unverbindlichen Streicheleinheiten
und zufriedenem Geplauder ging der Film zu Ende. Als das Licht
anging, sagte er lächelnd: „Den Film muß ich mir noch mal ansehen.“
„Mann – oh Mann!“ – sagte ein junges Mädchen in Jeans, Pullover
und mit langen, schwarzen Haaren, das ein paar Meter weiter
gesessen hatte. Es sah die beiden bewundernd an, maß ihren
schmalen, jugendlichen Begleiter halb zweifelnd, halb verächtlich
und produzierte eine Kaugummiblase von beachtlicher Größe.
Im Kino-Foyer blieb Alexander stehen, drehte Brigitte zur
Spiegelwand hin: „Schau mal – das hübsche Paar dort; irgendwie
kommen die mir bekannt vor.“ Er schnippte mit den Fingern und
meinte weiter: „Jetzt weiß ich es. Vor ein paar Stunden waren es
noch Einzeller. Jetzt sind es Paarzeller und die Zufriedenheit strahlt
aus jeder Pore.“
Sie lehnte den Kopf an seine Brust – er war fast einen Kopf größer –
und begriff den Sinn der Worte: Vor Glück weinen! Ein Kloß saß in
ihrer Kehle und machte eine Antwort unmöglich. Er schob sie auf
Armeslänge von sich, verbeugte sich leicht und sagte lächelnd:
„Meine Teure, ich hoffe, mein Programm sagt ihnen zu. Ab jetzt lege
ich mein Schicksal in Ihre Hände.“ Sie knickste und erwiderte
feierlich: „Mein Herr, Ihr Programm war überwältigend. Ich werde
mich sehr bemühen, Gleiches mit Gleichem zu vergelten.“
Beschwingten Schrittes eilten sie hinaus – von den meist
jugendlichen Kinobesuchern im Foyer mit teils verständnislosen, teils
sehnsüchtigen Blicken verfolgt. Eine halbe Stunde später saßen sie
in einer Kneipe auf der hintersten Polster-Eckbank. Vor ihnen
dampfte ein heißer Äppelwoi mit Zimtstange. Er kramte in seiner
Tasche und legte eine Münze auf den Tisch; „Zahl oder Kanne?“ fragte er sie.
Wieder einer von seinen Scherzen – dachte sie gespannt. „Erkläre“ –
verlangte sie, „die Münze und weshalb!“ „Kurz und klar so“, lobte er
sie, „dies ist eine Münze aus Arabien, und wer gewinnt, erzählt
zuerst ein paar Schwänke aus seinem Leben.“ „Ich möchte die Zahl“
- wünschte sie. „Aha, das Symbol für Saufen soll ich erhalten“,
grinste er. „Was für eine Kanne?“ – fragte sie, die Münze
betrachtend. „Eine Kaffeekanne“, entgegnete er trocken. „In einer
Männerwelt ist ein Symbol des Haushalts auf einer Münze?“ – fragte
sie erstaunt.
„In Arabien“, erklärte er, „ist Kaffeerösten, -zubereiten und -trinken
jeweils eine Zeremonie. Normalerweise bietet man nur einem guten
Freund Kaffee an.“ Er schnippte die Münze auf den Tisch. Oben lag
die Seite mit der Kanne. „Tja“, seufzte er, „wo soll ich anfangen?“
„Ganz vorn“, verlangte sie, „und daß du nicht allzu vielseitig
brauchbar bist, glaube ich auch nicht.“ „Du bist aber eine
aufmerksame Merkerin“, sagte er erstaunt, sich seiner Worte vom
Nachmittag erinnernd – und fuhr fort: „Da du ein derart exzellentes
Gedächnis hast, werde ich mir nicht erlauben zu flunkern.“ „Das muß
die Grundlage unserer Beziehung sein“, sagte sie ernst. Und etwas
locker meinte sie: „Wer die Wahrheit sagt, kann sich übrigens ein
schlechtes Gewissen leisten.“ Ernst erwiderte er: „Auf eines kannst
du dich verlassen: Zwar sage ich nicht immer alles, was ich denke.
Aber was ich sage, denke ich auch.“
Sie nickte versonnen, seine Worte überdenkend; ein Mann mit
Grundsätzen hat immer Format – sagte sie sich. Sie versuchte,
seinen Erzählungen eine bestimmte Richtung zu geben: „Bitte –
erzähle mir mehr von deinen Ansichten und Grundsätze. Daß du für
mich körperlich gewaltig aufregend und anziehend bist, hast du ja
bereits gemerkt. Nichts möchte ich lieber, als mit dir ins Bett steigen.“
Sie trank hastig einen Schluck um ihre roten Wangen zu kaschieren
und fuhr fort: „Aber ich möchte mich darauf einstellen, ob das eine
normale Affäre wird und ich einfach abwarte, bis dieser Anfall vorbei
ist. Oder eine dauerhafte Beziehung daraus wird.“ „O.k.“, neckte er
sie lächelnd, „dann werde ich dir mal meine Sonnenseite vorzeigen.
Ich bin im Herbst 1941 geboren. Ein deutsches Schicksalsjahr, Stalin
wollte ganz Deutschland überrennen, nachdem Deutschland,
Frankreich und England nach dem Muster des 1.Weltkrieges
abgekämpft
waren. Der schnelle und überwältigende Erfolg der deutschen
Wehrmacht im Westen gegen Frankreich machte ihm einen Strich
durch die Rechnung.
Der deutsche Generalstab hatte die Gefahr erkannt, Stalins
Mißtrauen gegen alles und jeden wurde durch gefälschte ArmeePutschpläne ins Maßlose gesteigert. Stalin ließ 24.000 seiner besten
Offiziere und Generäle erschießen, damit hatte er seine eigene
Armee enthauptet. Und die deutsche Wehrmacht stieß bei ihrem
Angriff direkt in die Angriffsformationen der roten Armee. Anders
lassen sich die ersten, grandiosen Schlachtensiege gegen einen weit
überlegenen Gegner nicht erklären.
In meinen ersten beiden Lebensjahren ging es noch an allen Fronten
vorwärts. Mein Vater fiel in einer der letzten Kurlandschlachten – ich
kenne ihn also kaum. Wir lebten in einer kleinen Stadt in
Brandenburg – ich bin also ein echter Preusse. Mein Großvater war
dort ein kleiner König, ihm gehörten ein Sägewerk, die Schmiede, die
Autowerkstatt, die Tischlerei und noch ein bischen mehr. Er war ein
toller Kerl, hatte alles fest im Griff. Ab 1948 kann ich mich gut
erinnern – in der Zeit davor gibt es ein paar Lücken. Mein Großvater
– damals sechzig Jahre alt – seine Frau zehn Jahre älter. Sie hatte
einen Haufen Geld mitgebracht – und trotz seines Alters ging er
mindestens einmal in der Woche fremd. Die Weiber liefen ihm
förmlich nach.“
Sie unterbrach ihn, maliziös lächelnd. „Wir müssen uns bei
Gelegenheit mal über Vererbungslehre unterhalten – ist ein
interessantes Thema.“ Er machte eine abwehrende Handbewegung.
„Ich bewundere ihn, und dennoch ist er für mich ein abschreckendes
Beispiel. Und deshalb bin ich zum Teil so, wie ich bin. Sonst würde
ich nicht so weit ausholen.“ Er legt seine Wurzeln vor mir frei –
dachte sie beeindruckt, signalisierte zur Theke „zwei neue Heisse“
und trank den Rest ihres Glases in kleinen Schlucken.
„Mein Großvater“, fuhr er mehr nach innen gekehrt fort, „arbeitete
immer wie ein Pferd. Manchmal zwanzig Stunden am Tag. Nach dem
ersten Weltkrieg hatte er einen Betrieb mit zwanzig Mann. Dann kam
die Inflation und alles war futsch. Als der zweite große Krieg zu Ende
war, hatte er ungefähr 180 Mann beschäftigt. Alle unsere Berliner
Verwandten steckten ihre Füße unter unseren Tisch und waren froh,
einen Platz zu haben, auf den
keine Bomben fielen. Vom Kriegsende bekam ich wenig mit. Ein paar
Flüchtlingstrecks kamen durch, denen, soweit ich mich erinnere, von
allen nach besten Kräften geholfen wurde. Von den Russen sah ich
fast nichts. Zu den Kindern waren die jedenfalls recht nett – zu den
Frauen weniger. Ich hörte später von ein paar sehr scheußlichen
Sachen. Und dann waren unsere Betriebe natürlich auch futsch –
enteignet mit der Begründung, mein Großvater würde zuviel Lohn
zahlen. Da staunst du, was?“ – fragte er, als er ihren ungläubigen
Gesichtsausdruck sah.
Die staatlichen Betriebe in der Ostzone zahlten damals 50 Pfennig in
der Stunde, und mein Großvater 60 – weil er der Meinung war, mit
weniger könne man eine Familie nicht vernünftig ernähren. Nur der
Grund ist kurios, enteignet hätten die sowieso. Na und dann nahmen
wir mit nichts in der Tasche ganz fix die Kurve. Damit begann der
Ernst des Lebens, und ein warnendes Beispiel hatte ich auch vor
Augen. Von Großvaters gesamter Arbeit blieb nichts. Jeder
klammerte sich damals an seine Scholle und hoffte auf bessere
Zeiten. Später las ich dann von Adenauers berühmten Ausspruch,
daß für ihn hinter Hannover die asiatische Steppe beginnt. Nun aber
mal eine kleine Pause zum Anfeuchten – die Kehle wird vom vielen
Reden ganz trocken“ – er nahm einen Schluck und fuhr fort. „Und
einen Kuß zum anfeuern – als Belohnung, weil ich so brav bin.“
Der Kuß war zart und innig, mit viel Gefühl. „Der Rest ist schnell
erzählt“, ging es weiter, „Schule in West-Berlin, Lehre als Tischler in
Hamburg, ein paar Jahre als Geselle auf der Walze mit einem 500er
BMW in ganz Deutschland und in der Schweiz.“
Er sah ihren fragenden Gesichtsausdruck und deutete ihn richtig.
„Auf der Walze bedeutet, als Handwerksgeselle herumziehen und
überall mal ein paar Monate arbeiten, um Erfahrung zu sammeln und
das Land kennen zu lernen. Aus dieser Zeit kann ich dir noch Jahre
lang die seltsamsten Erlebnisse erzählen.“
Sie schwieg, beglückt über diesen versteckten Hinweis, und er fuhr
fort in seiner Erzählung: „Dann geheiratet, zwei Kinder bekommen,
weil es sich nunmal so gehört – und damit war ich wohl in die Falle
getappt. Arbeite und bete, damit andere von deiner Arbeit leben
können.
Die ersten Ehejahre sind wohl immer schön, waren es auch bei mir.
Nicht wegen des geregelten Geschlechtsverkehrs“, fügte er hinzu,
als er ihr Lächeln sah. „Da kommt so vieles zusammen; man ist
nunmal eine wirkliche Gemeinschaft. Kinder kommen, man sammelt
Erfahrungen – ist immer noch idealistisch. Wählt links, wenn man
nichts hat – wählt rechts, wenn man was hat oder dumm ist und
wählt patriotisch, wenn man denken gelernt hat. Dann versucht man
vorwärts zu kommen.
Die Meisterprüfung ist die erste Sprosse auf der Leiter, die
Meisterstelle die nächste. Ein Job als Innenarchitekt brachte dann
die Wende. Zwar habe ich kein Studium hinter mir – aber ich kann
recht gut zeichnen und habe einen sicheren Geschmack – den Rest
habe ich mir angelesen. Außerdem wirkt sich mein handwerklicher
Hintergrund sehr positiv aus.“ Er unterbrach kurz und sah sie an.
„Warst du auch bei der Bundeswehr? Ich frage wegen Ralf“ – warf
sie ein. „Ja“, gab er zur Antwort, „das ist auch so ein Ding. Da zeigte
sich zum ersten Mal mein Rebellengeist. Als ich gemustert wurde,
war ich Mitglied im deutschen Motorsportbund und im Judo-Club –
also sportlich gut durchtrainiert. So wollte ich also zu den
Fallschirmjägern. Sagte doch dieser Schreibtisch-Hengst zu mir, ich
solle den Mund halten, das würden andere bestimmen. Also, daß
andere über mich bestimmen – da gehe ich doch glatt die Wände
hoch. Erzähle ich also dem Typ ziemlich lautstark, daß mein Vater in
Rußland gefallen sei, und ich der einzige Sohn bin. Und falls ich nicht
zu den Fallschirmjägern käme, könne er mich am Hobel blasen.
Immerhin besagte das Gesetz, daß ich nicht zum Bund brauchte,
wenn ich nicht wolle – wegen dieser familiären Situation. Mitten in
meinem Vortrag kam ein Offizier hinzu, hörte sich die Sache an und
forderte mich dann für das Luftlande-Batallion 252 an. Der Haufen
war in Ordnung – habe ich nie bereut. Einmal warfen wir einen
Offizier aus dem Hubschrauber in einen See aus zwanzig Metern
Höhe – natürlich ohne Fallschirm. Als er sich beim Oberst
beschweren wollte, fragte der ihn nur, ob er seine Leute nicht im Griff
hätte. Ende der Fahnenstange.“
„Weshalb war der Job als Innenarchitekt eine Wende für dich?“ „Nun,
ich bin der Meinung“, antwortete er auf die Frage, „daß im Leben
gewisse Grundmuster die Richtung angeben. Es kommt nur darauf
an, die Gesetz-mäßigkeiten zu erkennen. Beispiel: Die Menschen im
Norden müssen im Sommer für den Winter planen und arbeiten;
sonst werden sie hungern und frieren und eventuell nicht überleben.
Das wird über zig Generationen über die Gene weitervererbt. Im
Süden ist es dagegen immer warm und irgendwas wächst auch
immer. Deshalb werden die Menschen im Norden denen im Süden
im Planen und Organisieren immer überlegen sein – naturbedingt.
Und so prägen auch ein Beruf und die Erfahrungen einen Menschen.
Durch diesen Job jedenfalls begann ich, hinter die sichtbaren Fakten
zu sehen und sonst als selbstverständliche Dinge zu hinterfragen.“
Der Großvater als Offizier im ersten Weltkrieg
Ich wußte es – dachte sie befriedigt – ich habe ein Nugget gefunden.
„Den Rest erzähle ich dir morgen, heute habe ich genug geredet.
Einverstanden?“ „Ich habe schon verstanden“, sagte sie, ihn
scherzhaft wie ein Vamp von unten ansehend, „und ich bin sehr
einverstanden.“
Zwei Stunden später lag sie starr vor Schreck auf seinem Hotelbett,
schämte sich entsetzlich und verfluchte ihren Körper. Erst ihr
Entzücken und das heiße Begehren – als sie seinen athletischen, gut
proportionierten Körper zum ersten Mal nackt sah. Dann die
aufsteigenden Wellen der Lust bei seinem zärtlichen Vorspiel und
schließlich der Himmel voller Seligkeit, als der Rausch der Ekstase
alle Hemmungen fortspülte. Und nun dieser jähe Sturz! Ihr Herz
hämmerte, und sie hielt ihre Augen krampfhaft geschlossen. Trotz
ihrer Panik hatte sie doch seine Bewegungen genau registriert. Er
lag neben ihr – den Ellbogen aufgestützt – und betrachtete sie im
Halbdunkel des Lichts der mit ihrem Unterrock abgedeckten
Stehlampe. Seine linke Hand begann mit kreisenden Bewegungen
ihren Körper zu streicheln.
Ja – ihr Körper – der reagierte zitternd, und gegen ihren Willen
entrang sich ihrer Kehle ein tiefes Schluchzen. Ich will weder Mitleid
noch Trost – dachte sie trotzig und in neuer Panik: Oh Gott – wie
überstehe ich nur den Abgang?
Langsam drang seine Stimme in Ihr Bewußtsein, verständnisvoll und
überzeugend: „Ohne Zweifel, meine Geliebte – wir sind ein ideales
Paar. Einen solchen Super-Orgasmus wie bei dir habe ich selten
erlebt. Nur wenigen Frauen passiert das und auch nicht jedes Mal.
Und bei uns klappt es dann auf Anhieb – direkt beim ersten Mal.
Normalerweise muß man sich erst ein paar Mal einstimmen, aber wir
zogen uns wie Magneten an und beim Zusammentreffen
explodierten wir.“
Staunend ließ sie seine Worte in ihr gepeinigtes Bewußtsein sickern.
Zögernd schlug sie die Augen auf. Sein Gesicht war zärtlich prüfend
über sie gebeugt. Er weiß und versteht – dachte sie ungläubig. Sie
setzte sich auf, deutete auf den riesigen Fleck auf dem Bettlaken und
fragte – noch halb benommen: „Bin ich so dumm?“
Das erste Blockhaus im Hochsauerland
Und immer noch zweifelnd: „Du mußt mich überzeugen. Ich dachte,
die Kontrolle über meine Blase verloren zu haben.“
Er flüsterte, zärtlich überredend: „Manche Frauen verlieren bei einem
ganz besonders intensiven Orgasmus eine große Menge farb- und
geschmackloser Flüssigkeit. Ich fragte schon ein paar Ärzte danach
– aber keiner konnte es bislang erklären. Ein japanischer Frauenarzt
beschrieb diesen Vorgang in einem Buch – aber auch er konnte
keine Erklärung geben über das Wieso, Woraus und Woher. Was
meinst du, wie erschrocken ich beim ersten Mal war?“ Sie glaubte
ihm.
Nur zu gern wollte sie ihm glauben. Vor Erleichterung sank sie
schlaff, wie hingegossen, auf das Bett zurück.
Träumerisch fragte sie ihn: „Was meinst du, ob es heute noch einmal
klappt?“
Sommer 1944, Brandenburg
Alexander, barfuß und in kurzer Hose, watschelte rund, rosig und
sauber geschrubbt über den Hof zu den Kaninchenboxen. Aus dem
Korb nahm er die aussortierten kleinen Möhren und steckte sie durch
das Drahtgitter. Gespannt sah er zu, wie der Nagezahn des
Kaninchens die Möhre zerkleinerte. Er hörte Schritte hinter sich und
drehte sich um. Ein großer, schlanker Mann mit hagerem Gesicht
kam auf ihn zu. Die Uniform, die er trug, war Alexander vertraut. Die
Männer aus dem Ort, die so angezogen waren, kamen immer nur für
kurze Zeit, und jedes Mal war große Aufregung. Die Frauen liefen
von Haus zu Haus und erzählten die neu gehörten Geschichten
weiter.
Der Mann setzte sich auf die Bank neben die Kaninchenställe und
fragte: „Wie heißt du denn, kleiner Mann?“ „Ich heiße Alexander,
aber meine Mutter ruft mich immer Alex.“ „Und wo ist deine Mutter“,
fragte der Mann weiter, lehnte sich an die warme Bruchsteinmauer
und genoß sichtlich die letzten warmen Strahlen der Abendsonne.
Dieser junge Gefreite wurde 1939 eingezogen und fiel als
Unteroffizier mit 25 Jahren in Lettland (Kurland) im August 1944.
Die Fragerei ärgerte Alexander. Aber der Mann gefiel ihm, und so
sagte er: „Ach – irgendwo, die ist immer unterwegs.“ „Und, gefällt dir
das, so allein zu sein?“ „Ich spiele dann mit meiner Schwester“, gab
Alexander zur Antwort, drehte sich um und fütterte die Kaninchen
weiter.
Plötzlich ein Brummen wie von weit her. Der Mann hatte sich
wachsam lauschend aufgesetzt. Das Brummen steigerte sich zu
einem Dröhnen – dann setzte tackendes Geknatter ein. „Mein Gott“,
sagte der Mann, „jetzt sogar hier.“
Alexander rannte, so schnell ihn seine Beine trugen, zum Hoftor,
blieb am Torpfeiler stehen und schrie über die Straße: „Tissaria,
komm schnell rein – Engländer, die Saubande schießt dich tot.“
Gegenüber war ein großer Obstgarten und eine ganze Anzahl Kinder
im Schulalter kamen gerade aus der Gartentür und liefen zu den
Verschiedenen Häusern. Der Mann neben Alexander sah mit
zusammengekniffenen Augen in den Himmel. „Die good-fellowsportsman machen Jagt auf Zivilisten – die schießen wenigstens
nicht zurück“, knirschte er verächtlich.
Aus der Gartentür trat als letzte eine blonde, schlanke Frau mit
einem langzöpfigen Mädchen an der Hand. Sie rannten über die
Straße. Die Frau stutzte, ließ die Kleine los, lief schneller und fiel
dem Mann neben Alexander in die Arme. „Ich habe dich erst
übermorgen erwartet“, rief sie überglücklich. „Ich führte einen
Kurierauftrag aus und kam mit dem Flugzeug. Glück gehabt“ – lachte
er.
Das Dröhnen war verklungen. Der Mann sah das Mädchen an und
zog scherzhaft an einem ihrer langen, braunen Zöpfe. „Hallo,
Christa-Maria, bald kannst du als Rapunzel gehen“, sagte er lächelnd
zu ihr. Sie sah ihn zaghaft an und sagte: „Guten Tag, Papa.“
Alexander begriff nicht allzuviel, dachte aber zufrieden: Jetzt haben
wir einen Vater. Die aus vielen Erzählungen nebelhaft bekannte
Gestalt war Wirklichkeit geworden. Sie gingen ins Haus. Ihre Mutter
begann das Abendbrot zu bereiten. Die Kinder spielten mit der
Ritterburg und den Bleisoldaten.
Der Vater setzte sich auf die gepolsterte Eckbank, sah ab und zu
aus den Fenster und unterhielt sich mit seiner Frau, die er seit fast
einem Jahr nicht gesehen hatte.
„So wie eben gerade ist es sehr selten hier“, sagte sie in dem
Bemühen, ihren Mann nicht auch noch mit ihren Sorgen zu belasten,
„ich helfe meinem Vater seine Betriebe zu führen. Deine Brüder
versorgen uns mit Lebensmitteln, falls es mal eng wird.“ Er kam aus
einer Bauernsippe. Fünf seiner Brüder besaßen eigene Höfe, und er
hatte diese reiche Erbin geheiratet. Mal sehen, was davon
übrigbleibt, dachte er gleichgültig.
„Ich bin immer noch als Kurier unterwegs“, erzählte er ihr, „bin
deshalb nie in vorderster Frontlinie. Aber brenzlig ist es oft genug.“
Bitter fuhr er fort: „Alles, was wir erkämpft haben, wird aus Dummheit
oder mit Absicht – wer weiß – verspielt.“ „Wie meinst du das?“ –
fragte sie forschend. „Vor drei Wochen war ich zwischen zwei
Stabsquartieren unterwegs“, sagte er erinnerungsschwer. „Ich
übernachtete in einer Bauernkate. Nur ein alter Großvater und eine
junge Frau wohnten dort. In einem Nebenraum bekam ich ein
Strohlager. Aber das Stroh räumte ich vorsichtshalber in eine andere
Ecke. Irgendwann nach Mitternacht fiel aus einer unsichtbaren Luke
über meinem ursprünglichen Lager ein großer Felsbrocken.
Geistesgegenwärtig jagte ich ein paar Kugeln durch die Luke, und
der Alte kam tot seinem Stein hinterher.
Als ich hinauswollte, fiel mich die Frau mit einem Messer an. Ich
fesselte sie und übergab sie dem nächsten Posten an der Straße.
Nach kurzem Verhör erschoß sie der Offizier sofort. Und diese Leute
begrüßen uns kurz zuvor auf dem Vormarsch mit Brot und Salz und
als Befreier. Aber man kann ein Volk, das fähig ist, einen T-34 zu
bauen, nicht als Untermenschen behandeln“, meinte er
abschließend. Sie fragte ihn: „Bist du auch der Meinung, daß es ein
Fehler war, Rußland anzugreifen?“ Worauf er entgegnete: „Wer kann
das schon sagen? In ein paar Monaten wäre Stalin wahrscheinlich
über uns hergefallen, die werden in unser Feuer gejagt, wie
Schlachtvieh, bei denen zählt ein Menschenleben nichts. Die Russen
stecken in der gleichen Falle wie wir. Du tust jeden Tag mehr als
deine Pflicht, um zu überleben – und doch weißt du, daß du das
falsche tust.
Sie verlieren weit mehr Soldaten als wir, und dennoch werden wir
immer weniger und sie immer mehr. Bereite dich darauf vor, daß wir
den Krieg verlieren.“
Taima – Saudi Arabien, auf diesem Berg hat ein Engländer ein Jahr
lang Ausschau nach Rommels Soldaten gehalten.
Alexander verstand von alledem nichts. Aber er vergaß die Worte
nicht und dachte später oft darüber nach. Sein Vater blieb drei
Wochen bei ihnen, besuchte mit ihm seine Brüder, ging mit ihnen im
Wald Beeren und Pilze sammeln, fuhr eines Tages wieder fort und
kehrte nie zurück. Gefallen im Herbst 1944 in einer der
Kurlandschlachten.
Alexander wurde drei, als sie in die nahe Kreisstadt zum Großvater
zogen. Das Leben war aufregend, und bald hatte er den schlanken,
gutaussehenden Mann in Uniform vergessen. Seine Schwester
spielte immer seltener mit ihm. Er wurde schlank und drahtig, konnte
rennen wie ein Wiesel und kein Baum war ihm zu hoch. Seine Mutter
war den ganzen Tag über im Büro. Der dröhnenden Stimme des
Großvaters ging er nach Möglichkeit aus dem Weg. Er durchstreifte
die Betriebe, die einmal ihm gehören sollten, erbettelte sich in der
Schmiede ein „Tomahawk“ und in der Tischlerei ein Holzschwert –
spielte Trapper, Indianer oder Ritter – je nach Lust und Laune. Ab
und an, wenn seine Mutter geschäftlich verreisen mußte, wurde er
bei der Oma, drei Querstraßen weiter, abgeladen und – sie wurde
bald der liebste Mensch für ihn.
Manchmal setzte sich die Oma auf ihr Fahrrad und besuchte ihre
Söhne. Angebote, bei einem von ihnen zu wohnen, lehnte sie ab.
Eine Schwiegermutter im Haus taugt nichts – das war ihr einziger
Kommentar. Alexander kam in die Schule, wurde respektvoll
behandelt und lernte leicht.
Die Mutter und der Großvater machten immer öfter eine sorgenvolle
Miene. Eines Tages wurde er in der ersten großen Pause vom
Lehrer nach Hause geschickt. Nein, nein, kein Unglück – beruhigte
ihn der Lehrer – aber er sei ja ein Freund der Familie und wüßte
daher, daß seine Mutter jetzt alle brauchte. Er solle noch ein wenig
beim Tor warten, seine Schwester käme auch gleich.
Es war ein schöner Sommertag. Da Raten nichts einbrachte,
schlenderten sie gemütlich heim. Ihr Haus stand neben den
Betriebsgebäuden. Es war außergewöhnlich ruhig. Keine Maschine
lärmte. Die Arbeiter saßen in Gruppen im Hof und schwiegen wie
betäubt. Großvater war enteignet – sein Vermögen beschlagnahmt,
die Betriebe und Büros versiegelt.
Unter diesem Wald liegt dieser junge deutsche Soldat auf einem
Soldatenfriedhof: Nach Ende des Krieges wurde den Letten
befohlen, die Gräber platt zu machen und darüber Bäume zu
pflanzen – sie weigerten sich – daraufhin wurde jeder dritte
aussortiert und nach Sibirien transportiert – keiner kehrte zurück.
Nach Beendigung der russischen Besatzung wurden von den
lettischen SS-Veteranen am Waldrand zwei weiße Holzkreuze
aufgestellt, eines für die deutschen und eines für die lettischen
Soldaten.
Dieses Kreuz steht für die gefallenen deutschen Soldaten und dieser
Wald über dem Soldatenfriedhof ist unberührt. Niemand von der
lettischen Bevölkerung hat ihn je betreten, keine Pilze oder Beeren
gesammelt und auch kein Holz geschlagen.
Lettische SS-Offiziere haben kurz vor Kriegsende in Kenntnis des
asiatisch – barbarischen Charakters ihrer Feinde alle
Soldatenfriedhöfe kartographisch vermessen und die Namen der
Gefallenen notiert.
Diese Unterlagen wurden versteckt und sind jetzt wieder zugänglich
durch das Büro der SS-Veteranen in der Altstadt von Riga.
30.000 deutsche Soldaten der Wehrmacht und die SS-Division „Das
Reich“ mit der lettischen Freiwilligen Division schlugen die
vergewaltigenden und mordenden Horden der roten Armee in sieben
Abwehrschlachten zurück. Sie kämpften noch, als Berlin schon
gefallen war und ermöglichten damit die Flucht von mehr als drei
Millionen Ostpreußen über die Ostsee durch die deutsche
Kriegsmarine.
Einmalig in der Geschichte!
Das Schlachtfeld von 1944 – Heute.
Der Großvater war rechtzeitig gewarnt worden und befand sich daher
seit gestern abend in West-Berlin; zwar beinahe ohne Geld, aber heil
und gesund.
Alexander war praktisch veranlagt. „Was machen wir jetzt?“ – fragte
er, „bleiben wir hier, hauen wir auch in den Westen ab, oder ziehen
wir zu Onkel Paul?“ Dieser Onkel Paul war ihm nämlich der liebste
Onkel – mit einem gut geführten Hof, einem schönen Haus am
Waldrand und dem herrlichen großen Obstgarten. „Ich weiß es noch
nicht“, sagte seine Mutter, „ich weiß nur, daß wir niemals und
nirgendwo betteln. Bietet man uns Hilfe an, werden wir weitersehen.
Falls nicht, suchen wir uns einen eigenen Weg.“
„Wir haben doch ein paar Verwandte in West-Berlin wohnen“, stellte
Alexander fest, „die können uns doch sicherlich weiterhelfen.“
„Warten wir erst mal ab“, gab Mutter zur Antwort, „ich möchte sie
nicht beschämen, indem ich mir faule Ausreden anhöre.“
Eine Woche später ging es auf Kundschafter-Reise nach WestBerlin. Die Verwandten waren bereit, mit Rat und Tat zu helfen. Der
Großvater hatte schon eine Villen-Wohnung bezogen und plante
bereits wieder neue Projekte. Die Kinder begleiteten ihre Mutter, als
sie den Flüchtlings-Antrag stellte. Der wurde nach einer Woche
abgelehnt mit der Begründung, für Leib und Leben bestünde keine
Gefahr. Die Mutter war kreidebleich, als sie mit dem
Ablehnungsbescheid in die Wohnung kam. „Wenn das Demokratie
sein soll“, sagte sie, „dann kann ich auf Demokratie verzichten.“ Auch
der Großvater schimpfte verbittert: „1943 gewann ich noch einen
Prozeß gegen die NSDAP; aber gegen solche Verordnungen haben
Rechtsmittel im Augenblick wohl keine Chance.“
Sie fuhren zurück. Das Leben ging weiter, in der Schule änderte sich
nichts. Alexander lernte weiterhin leicht. Seine Freunde blieben
ständig dieselben – ein Wesenszug, der sich bei Alexander später
noch stärker ausprägen sollte.
Sie sammelten Pilze und Beeren, fuhren nach Berlin und verkauften
das Gesammelte auf den Märkten.
Die Mutter besorgte sich irgendwie einen LKW und eröffnete ein
Fuhrgeschäft, was hauptsächlich aus dem Abfahren von Holz aus
dem Wald bestand. „Die kleinen Unternehmer läßt man noch in
Ruhe“, meinte sie. Einen Automechaniker stellte sie als Fahrer ein,
auf der Basis einer Gewinn-beteiligung. Nach einigen Monaten
merkten die Kinder, daß die Beteiligung weiter reichte als
ursprünglich geplant.
Er war aus Schlesien, sehr wortkarg. Als Mechaniker sehr geschickt
und im Großen und Ganzen annehmbar – wenn man den
Männermangel bedachte.
Die Flüchtlingsvorschriften in Berlin wurden geändert. Die Möbel
kamen zu Verwandten in der Hoffnung eines vereinten Deutschland.
Zum zweiten Mal fuhr die Familie nach West-Berlin. Sie mieteten ein
kleines Haus mit großem Garten. Das neue Familienmitglied fand
Arbeit und ernährte die Familie.
Der Großvater hatte eine Brutmaschine gebaut und betrieb eine
Hühnerfarm in einer ehemaligen Gärtnerei. Alexander fuhr
nachmittags mit dem Fahrrad die Kunden ab und verteilte Eier und
gerupfte Hähnchen.
Andauernd hatte er eine Verabredung. Ohne eigene Anstrengung
erhielt er von den Mädchen Einladungen ins Kino, zum Geburtstag,
zu Fahrrad-Touren und ähnlichen Unternehmungen. Die Mädchen
wollten geküßt werden. Alexander wußte zwar nicht warum – aber er
tat ihnen den Ge-fallen. Auf diesem Gebiet war er ein Spätentwickler.
Frankfurt
Alexander sah den riesigen Metallvögeln zu, wie sie langsam hereinschwebten und donnernd zur Landung ansetzten, ausrollten und an
den Terminals anlegten. Andere stiegen auf und verschwanden als
kleiner Punkt in der Ferne. Eine Hand legte sich leicht an seinen
Nacken. Er sah hoch – Brigitte neigte sich zu ihm herunter und küßte
ihn.
Ihre Zunge teilte seine Lippen und erzeugte ein prickelndes Gefühl in
seinen Lenden. Sie löste sich und setzte sich neben ihn.
„Das ist schon ein seltsamer Platz als Verabredung für zwei Frischverliebte“, meinte sie. „Hattest du Angst, ich würde dich sofort
vergewaltigen?“ „Sind wir das – frisch verliebt?“ – fragte er sie
suchend – und auf ihre Frage eingehend: „Du brauchst dir keinen
Zwang anzulegen. Mich stört es nicht und allenfalls kann es uns
passieren, daß wir uns morgen in der Bild-Zeitung wiederfinden.“
Auf Anhieb leicht erschrocken über diese Vorstellung sah sie ihn an,
lächelte amüsiert und fragte weiter: „Was hast du denn da in der
Hosentasche? Oder freut es dich so sehr mich zu sehen?“
„Touche“, grinste er, „und wie hast du geschlafen, mein Engel?“
„Traum-haft“, sagte sie zufrieden. Sie hatten mitten in der Nacht zwei
Stunden geschlummert, waren ineinander verschlungen aufgewacht,
hatten geduscht und in einer Bar gefrühstückt – in einer Weltstadt
kann man das. Danach waren sie für ein paar hitzige Runden ins
Hotelbett zurückgekehrt. Morgens um sieben hatte sie mit der
Gelassenheit einer Grande-Dame beim Portier ein Taxi bestellt und
ihm befohlen, im Bett zu bleiben, sich nicht weiter um sie zu
kümmern.
„Mein Sohn wird gegen acht Uhr aufstehen“, war ihre
vorhergegangene Begründung, „ich kann ihm nicht alle Illusionen
über seine Mutter rauben. Außerdem muß ich wirklich mal ein paar
Stunden schlafen.“ Sie plinkerte neckisch mit einem Auge. „Wenn ich
hierbleibe, wird aus dem Schlaf mit Sicherheit nichts.“ „Sehr
vernünftig“, lobte Alexander, „man soll nichts übertreiben.“ „Angeber“,
neckte sie ihn daraufhin. Ernst werdend setzte sie sich auf den Rand
des Bettes, legte ihren Kopf an seine Brust und flüsterte: „Ich
schwöre dir: Noch nie zuvor habe ich so geliebt; weder gefühlsmäßig
noch rein körperlich. Und noch nie war ich so glücklich.“
Das Telefon summte, ihr Taxi war da. Sie stand auf, warf ihm noch
einen Blick zu und verließ fast fluchtartig den Raum. Er nickte rasch
ein; und als er wieder erwachte, fand er ihre Visitenkarte auf dem
Schreibtisch. Sieh an, die Dame ist vorsichtig, trotz allem. Es war die
Geschäftsadresse:
Dr. Brigitte Volp, Wirtschaftsberaterin – Büroadresse und Bürozeiten.
Er war sicher, daß das Fehlen einer privaten Telefonnummer kein
Versehen war.
Er duschte, frühstückte erneut und diesmal ausgiebig und rief die
Nummer auf der Visitenkarte an – im Telefonbuch war kein privater
Anschluß unter ihrem Namen verzeichnet. „Kann ich bitte Frau Dr.
Volp sprechen?“ Eine Frauenstimme, tüchtig und geschäftsmäßig,
reagierte routineartig mit: „Wie ist Ihr Name bitte – und in welcher
Angelegenheit rufen Sie an?“ „Mein Name ist Alexander und es ist
privat.“ „Frau Doktor ist im Moment nicht erreichbar. Kann ich etwas
bestellen?“ Gut abgeschirmt – dachte er aner-kennend. „Sagen Sie
ihr bitte meinen Namen und einen ‚Guten Morgen’, und ich würde sie
gern am späten Nachmittag auf der Flughafenterrasse treffen.“
Die Stimme am Telefon klang jetzt erstaunt und interessiert. „Ich
habe es notiert und werde es ausrichten.“
Alexander besorgte ein paar Einkäufe, durchstöberte einen
Buchladen nach interessanten Neuerscheinungen, besuchte die
Frankfurter Rundschau und gab eine Anzeige auf. Durch den Duft
verführt, aß er am Hauptbahnhof eine Portion gebratener Pilze mit
Zwiebeln und fuhr dann mit der S-Bahn zum Flughafen. Vor zwei
Monaten war in der Abflughalle eine Bombe explodiert, und jetzt
hatte es fast den Anschein, als würden mehr Polizisten als Fluggäste
die Halle bevölkern.
Kurz darauf kam es zu dem eingangs erwähnten Zusammentreffen.
Sie sahen sich jetzt beide zärtlich lächelnd an – in Gedanken an die
noch nicht lange zurückliegenden gemeinsamen Stunden. „Ich sitze
gern hier“, sagte er, „und denke an all die exotischen Orte, zu denen
diese Maschinen unterwegs sind.“ „Es gibt auch andere Ziele“,
entgegnete sie, „kalt, nüchtern und häßlich.“ „Das liebe ich so an dir“,
grinste er, „mich mit einem Ruck in die Wirklichkeit zurückstoßen.“
Woraufhin sie sarkastisch lächelte. „Von träumen wird die Welt nicht
besser, und essen kann man sie auch nicht.“ „Doch!“ – widersprach
er ernst. „Träume verändern sehr wohl die Welt. Wer keinen Mut zum
Träumen hat, hat auch keine Kraft zum Kämpfen, und wenn du nicht
mehr träumst, beginnst du langsam zu sterben.“
Sie sah ihn überrascht an. „Sprich weiter“, forderte sie ihn auf, „du
sagst schöne Sachen – über die man nachdenken muß.“ „Kannst du
dir vorstellen, nicht mehr in dieser Stadt zu leben, sondern im Süden,
beispielsweise in Spanien?“ – fragte er. „Später im Rentenalter oder
schon jetzt?“ – kreiste sie die Frage ein. „In naher Zukunft meine ich
– etwa in einigen Monaten. Ich will es dir erklären.“
Er zog eine lange, dünne Zigarre aus einer Schachtel, zündete sie
sich an und blies einen Rauchring in die Luft. Sie hatte ihn noch nicht
rauchen gesehen, aber es gefiel ihr. Der Rauch roch würzig und
angenehm. „Dieses unser Land“, er betonte diese ersten Worte
spöttisch, entwickelt sich nicht zum Positiven – sondern, wie ich
meine, sehr negativ. Daran will ich weder teilhaben, noch die Dinge
über mich ergehen lassen. Ich habe nur ein Leben und will gemäß
meiner Natur und meinen Neigungen leben. Wer das nicht tut,
bekommt früher oder später doch nur ein Magengeschwür oder
Schlim-meres wie Krebs oder sonstige scheußliche Plagen.“
„Glaubst du daran, daß auf diese Weise Krebs entstehen kann?“ –
fragte sie erstaunt.
„Natürlich – Krebs ist die Trauer der Zellen, weil der Mensch nicht
natürlich lebt – so, wie er es tun sollte. Er übt den falschen Beruf aus,
läßt sich von Vorgesetzten herumschubsen, kränken, schlecht
behandeln und so weiter. Wie sonst wären die überraschenden
Heilungen in manchen hoff-nungslosen Fällen wohl erklärbar,
nachdem Menschen von ihrem bevor-stehenden Krebstod erfuhren
und daraufhin ihr Leben radikal änderten? Ich glaube, daß diese
Theorie in gewissen Kreisen durchaus bekannt ist. Nur wird sie
totgeschwiegen, weil sich sonst viel mehr Menschen sehr viel stärker
empören würden. Natürlich spielt die Nahrung auch eine ganz
entscheidende Rolle mit, und die ist ja rundum vergiftet. In diesem,
unserem Land stinkt es doch an allen Ecken und Kanten. Die
Krebsrate in der ehemaligen DDR war ein Staatsgeheimnis – warum
wohl? Die da drüben lebten noch sehr viel stärker gegen jede
menschliche Natur. Druck von oben erzeugt nur bei Sklaven Eifer.
Ein normaler Mensch versucht dem Druck auszuweichen oder leistet
Widerstand. Auf Dauer kann man Menschen nicht befehlen, was sie
zu denken haben.“
Brigitte unterbrach ihn mit einer Handbewegung. „Ich bin ganz
konfus. Vieles, was du sagst, hört sich sehr vernünftig an. So glaube
ich beispielsweise auch, daß, wenn alle Bürger definitiv wüßten, wie
es mit der Steuergerechtigkeit wirklich aussieht, uns vielleicht gar
eine Revolution bevorstehen könnte. Bist du nun eigentlich links oder
rechts eingestellt – ich komme da mittlerweile nicht mehr ganz klar.“
„Nun, ich glaube, ich bin so etwas wie der seltsame Fall eines linken
Patrioten“, lächelte er. Und sie lachte: „Ich wußte ja gleich, daß du
eine seltene Ausgabe der Spezies Mensch bist – sozusagen ein
Prachtexemplar.“ „Danke sehr, auch ein Mann hört sowas gern.“ „Ich
weiß“, sagte sie, „Streicheleinheiten gehören zum seelischem
Gleichgewicht.“ „Es wird dunkel, und ich habe Hunger. Was hältst du
von einem kräftigem Steak?“
„Nicht schlecht – aber dazu möchte ich dich zu mir einladen. Ich bin
ja kein Blaustrumpf, sondern kann auch kochen. Und welche Frau
führt ihre Kochkünste nicht dem Mann vor, den sie liebt?“ Er sah sie
überrascht an. Sie meint es ernst – dachte er – so bald schon. „Und
dein Sohn?“ – fragte er – „ist das nicht ein bischen früh?“ „Der fährt
über das Wochenende weg. Seit einer Stunde dürfte er bereits
unterwegs sein. Und wenn mich was oder wer brennend interessiert,
werde ich eben aktiv“, lächelte sie.
„Ich freue mich“, sagte Alexander aufrichtig und fuhr fort. „Aber ich
muß mir noch eine Zahnbürste besorgen.“ „Kein Problem“, gestand
sie, „mein Gästezimmer ist komplett eingerichtet und ausgestattet“.
Als er sie fragend ansah, fuhr sie rasch fort: „Aber seit über einem
Jahr nicht mehr benutzt. Zwar habe ich es mal versucht – aber es
war ein Reinfall. Man wird halt wählerisch mit den Jahren.“ „Geschah
dir recht“, sagte er schadenfroh, „Warum hast du nicht auf mich
gewartet?“ „Ich dachte, es sei Liebe“, verteidigte sie sich, „aber er
war ein Blender und dann...“.
Sie brach ab, über sich selbst wütend geworden. Alexander grinste
sie fröhlich an: „Dann stimmen wir also darin auch überein. Es gibt in
der Welt so viele nette und interessante Menschen – warum sich
also mit Kroppzeug abgeben?“
Mit einem Schlag überfiel sie das Gefühl einer fiebrigen Erwartung.
Sie stand auf, nahm seine Hand und zog ihn wortlos zum Ausgang.
Ihr Auto, mit Stern in sportlicher Ausführung, roch innen angenehm
nach Leder und teurem Parfüm. Sie war eine rasante, aber sichere
Fahrerin. „Ich wohne etwas außerhalb im Taunus“, erklärte sie, „es
ist aber nicht weit.“ „Als Geselle arbeitete ich mal fast zwei Jahre
lang in Kelkheim“, erzählte er, „das war so um 1960. Wir waren eine
Clique von ungefähr zehn Mann und kamen aus allen Teilen
Deutschlands hierher, um in der Stadt der Möbel hinzu zu lernen.
Sonntags sind wir manchmal mit ein paar Mädchen den Feldberg
hoch gewandert. Auf dem Rückweg verstreuten sich dann die Paare
und trudelten nach und nach wieder in der roten Mühle ein.“
„Das kann ich mir gut vorstellen“, sagte sie leicht entrüstet, „daß du
damals so manches Mädchenherz gebrochen hast.“ „aber ich kann
mich nicht entsinnen, daß mir jemals eine ernsthaft böse war, obwohl
ich schon ein paar gemeine Tricks auf Lager hatte.“ „Erzähle“,
forderte sie ihn gespannt auf.
„Gut – damals hatte ich meine 500-BMW“, fuhr er versonnen fort.
„Diese Typen hatten noch keine Sitzbank, sondern zwei gefederte
Einzelsitze. Aus dem Beifahrersitz hinten hatte ich die Federn
ausgebaut. Und wenn ich ab und zu ein Mädchen zur Spazierfahrt
einlud, ging es natürlich mit Vorliebe über Feld- und Waldwege. Was
meinst du, wie die vielen, kleinen Erschütterungen, ungeschützt auf
den Achtersteven meiner Beifahrerin übertragen, auf diese gewirkt
haben? Hielt ich dann irgendwann auf einem lauschigen Platz an,
wurde ich fast vergewaltigt.“
„Du bist ja ein Wüstling“, meinte sie leicht entsetzt. „Aber nein doch –
die Mädchen waren richtig happy und dankbar. Manche hatten zum
ersten Mal einen richtigen Orgasmus.“
Der Wagen hielt vor einer Garage. Brigitte betätigte einen Schalter,
und das ornamentverzierte, schmiedeeiserne Tor schwang auf. Sie
fuhr hinein, stoppte und stellte den Motor ab. „Willkommen daheim“,
sagte sie weich. Er beugte sich hinüber, küßte sie und sagte nur:
„Danke, mein Herz.“ Sie stiegen aus und das Garagentor schloß sich
wieder. Durch eine Nebentür traten sie auf ein parkähnliches
Grundstück mit großen, alten Bäumen. Alexander blieb unwillkürlich
stehen.
In ungefähr 200 Meter Entfernung erhob sich ein vom Mondlicht
übergossenes Schloß in Miniatur-Format – mit Erkern, Giebeln,
Kuppeln und zierlichen Balkonen – wie aus dem Märchenbuch
herausgelöst. „Ha“, rief Alexander, „jetzt weiß ich Bescheid: Du bist
Dornröschen!“ Sie lächelte geheimnisvoll: „Und wann werde ich
wachgeküßt?“ „Diesmal verlangt der Prinz seine Belohnung vorher,
mein Bauch knurrt wie ein Rudel Wölfe.“
Sie lachte und hakte sich bei ihm ein. So schritten sie, den Zauber
des Mondlichts genießend, langsam zum Haus.
Rückblende
Die achte Klasse der ‚Oberschule des praktischen Zweiges‘ aus
Berlin-Neukölln saß im Reisebus mit Ziel Altenau im Harz und sang
„Märkische Heide, märkischer Sand“. Alexander und Regina saßen
ganz hinten in der letzten Reihe und übergaben sich abwechselnd in
eine Tüte. Bei langen Busfahrten wurde ihm regelmäßig
sterbenselend. Mehr tot als lebendig kletterten die beiden in Altenau
aus dem Bus und erholten sich mit festem Boden unter den Füßen in
der frischen Winterluft. Das Gepäck und die Skier wurden abgeladen
und in die Jugendherberge transportiert.
Alexander war ein guter Sportler und erreichte ohne Mühe in jeder
Disziplin gute Leistungen – ohne den Ehrgeiz zu haben, ganz an der
Spitze zu stehen. Wahrscheinlich war er deshalb bei allen recht
beliebt. Zum Entsetzen seines Klassenlehrers fuhr er am nächsten
Tag, im Slalom den Bäumen ausweichend, einen bewaldeten
Abhang hinunter. Natürlich um den Mädchen zu imponieren. Es war
ein herrlicher Urlaub: Wanderungen bis zur Torfhütte, mit Blick auf
den Brocken; Museumsbesuche in Goslar, gegenseitige Streiche
und... die ersten Flirtversuche. Ihre Klasse war gemischt und bestand
etwa zur Hälfte aus Mädchen und Jungs. Wobei die Mädchen schon
sehr entwickelt und den Jungen weit voraus waren.
Alexander hatte sich ein paar Bücher über Liebestechniken besorgt
und wollte es jetzt endlich wissen. Gründlich und zielstrebig wie
immer, wenn ihm etwas am Herzen lag, hatte er sich in die
Beschreibungen vertieft. Regina hatte er, seit ihrer gemeinsamen
Leidenszeit im Bus, als Flirt-Objekt erkoren. Er entschied, daß sie mit
ihren langen, blonden Haaren und ihrem beachtlich gefüllten Pullover
als Forschungsobjekt sehr geeignet war.
Die Jungen saßen in Schlafanzügen auf ihren Etagenbetten und
beratschlag-ten die Pläne für den kommenden Tag. Einer nach dem
anderen kuschelte sich unter die Decke und schlief ein. Alexander
blickte immer öfter auf das Zifferblatt seiner Uhr. Um zwölf war er mit
Regina in der Wäschekammer verabredet.
Endlich war es soweit. Er stieg vorsichtig aus dem Bett, öffnete leise
die Tür und schlich den Flur entlang. Ehe er in den Gang zur
Wäschekammer ein-biegen konnte, schwang hinter ihm eine Tür auf
und eine spöttische Stimme sagte halblaut: „Junger Mann, wo soll es
denn hingehen?“ Er stand stocksteif vor Schreck – langsam drehte er
sich um und sah Frau von Haiden, die Leiterin der Mädchengruppe.
Sie trug einen dunkelroten Bade-mantel und ihr schwarzes Haar hing
lang und offen über ihre Schulter.
Wie aufgesteckte Haare doch verändern können – dachte er
benommen und suchte fieberhaft nach einer Ausrede. „Ich wollte zur
Toilette“, stammelte er. Sie grinste, faßte ihn bei den Schultern und
schob ihn in ihr Zimmer. „Setz dich“, befahl sie und drücke ihn in
einen Sessel. „Ich beobachte dich schon seit Tagen. Du rennst rum
wie ein brünstiger Hirsch. Mit welchem von den Mädels wolltest du
denn vögeln?“ Er zuckte bei ihren barschen Worten zusammen.
„Aber nein, das verstehen Sie miß.“ „Papperlapapp“, unterbrach sie
ihn, beugte sich zu ihm hinunter und sagte: „Sieh mir in die Augen!“
Ihr Bademantel klaffte auseinander und er konnte seinen Blick nicht
von ihren vollen, birnenförmigen Brüsten wenden, die dicht vor
seinen Augen sanft bewegten. Die Spitzen waren groß und hart mit
riesigen, braunen Höfen. Die Hose seines Schlafanzugs spannte
plötzlich wie ein Zirkuszelt.
„Was ist denn das?“ – fragte sie heiser und umfaßte den Schaft mit
drei Fingern. „Nicht schlecht – der Hecht“, sagte sie anerkennend.
„War er schon mal so richtig bei einem Mädchen drin?“ Stumm und
verlegen schüttelte Alexander den Kopf.
„Eine Jungfrau sollte es beim ersten Mal unbedingt mit einem
erfahrenen Partner zu tun haben – und für männliche Jungfrauen gilt
dies ebenso.“ Sie richtete sich auf, öffnete den Bademantel und ließ
ihn herabgleiten. Der Anblick der nackten, reifen Frau so dicht vor
ihm ließ ihn stöhnend Luft holen.
Ein animalischer Duft stieg in seine Nase.
Er bedachte kurz sein theoretisches Wissen aus den Büchern,
rutschte nach vorn über die Sesselkante auf die Knie, umfaßte ihre
Oberschenkel und versenkte seine Nase in dem Kräuselhaar vor
ihm. Sie spreizte die Beine um ihm den Zugang zu erleichtern und
stieß seufzend hervor: „Das ist schon mal eine gute Idee.“
Die Lektionen dauerten bis zum frühen Morgen. Mit den Worten
„Jetzt aber marsch zurück!“ warf sie ihn ermattet aus dem Bett. „Darf
ich wieder-kommen?“ – fragte er eifrig – für ihn hatte sich eine neue
Wunderwelt aufgetan. Erfüllt sah sie ihn lächelnd an: „Ich weiß, daß
du schweigen kannst. Sonst wäre das hier nicht passiert. Ich habe
nämlich Regina erwischt und auf dich gewartet.“ Sie lächelte
schwach über seine Verblüffung. „Und nun geh – wenn du vorsichtig
bist, ist meine Tür nach Mitternacht immer für dich offen.“
Verschlafen traf er nach dem Essen eine geknickte Regina. „Die
Haiden hat mich erwischt und ins Bett gejagt“, wollte sie sich
entschuldigen, „aber komischerweise ist das angekündigte
Donnerwetter ausgeblieben. “Sie holten ihre Skier und nahmen eine
Loipe ins nächste Tal. Dort war eine Wildfütter-Station mit einer
Vorratshütte, und Alexander hatte sich noch vor dem Frühstück beim
Hausmeister erkundigt, wann er dort wohl den Förster antreffen
würde. Als sie über den leichten Abhang hinunter glitten, sahen sie
den Förster schon beim Austeilen des Wildfutters.
Sie hielten bei ihm an, grüßten und sahen ihm zu, wie er Heu in zwei
Raufen füllte und aus dem Sack Kastanien und Eicheln auf dem
Boden verteilte. Als er fertig war, steckte er sich eine gebogene
Pfeife an, betrachtete seine beiden Zuschauer abschätzend und
fragte: „Na, wo kommt ihr denn her?“
Alexander hatte schon seit geraumer Zeit eine Idee hin und
hergewälzt. „Wir sind aus Berlin und bleiben noch zehn Tage. Später
sollen wir einen Aufsatz über unseren Schulausflug schreiben“, und
nach einer Pause: „Ich möchte Ihnen ein Abkommen vorschlagen.
Wir übernehmen für den Rest unseres Hierseins die Wildfütterung,
und dafür lassen Sie uns die Hütte zur Wildbeobachtung benutzen –
o.k.?“
Der alte Förster paffte nachdenklich an seiner Pfeife, grinste
verschmitzt und meinte dann bedächtig: „Ihr Berliner seid schon eine
besondere Sorte. Ich bin einverstanden – aber denkt daran: Alle paar
Tage komme ich kontrollieren.“ Sie bedankten sich und ließen sich
noch einmal die Fütterung erläutern. Der Rest des Urlaubes wurde
für Alexander eine Strapaze: Die Hütte war mit einem Verrosteten
Kanonenofen bestückt, der den Raum im Nu mit molliger Wärme
erfüllte. Täglich gab Alexander im duftenden Heu an Regina – zu
deren Entzücken – seine nächtlichen Erfahrungen weiter.
Wieder in Berlin, begannen die Probleme. Sein Klassenlehrer riet
ihm, das Abitur zu machen und zu studieren. „Von seinen Anlagen
her kein Problem“, sagte er zu Alexanders Mutter, und die war stolz
und ratlos zugleich: Lange Jahre kein Verdienst – und dann die
Kosten! Alexander erhielt die erste ‚System-Lehre‘: In der DDR hätte
er nicht studieren können, weil er kein Arbeiter- und Bauernkind war.
Hier im Westen ging es auch nicht, weil das Geld dazu fehlte.
„Jetzt fahre ich erst einmal mit den Pfadfindern an die Ostsee und
überlege mir alles gründlich“, beruhigte er seine Mutter. Er war mit
guten Noten in die neunte Klasse versetzt worden. Fast alle Freunde
bereiteten sich auf eine Lehre vor, und er hatte die Schule gründlich
satt; er wollte unabhängig sein.
Mit dem Mann seiner Mutter fand er keine Basis. Der las nie ein
Buch. Man konnte nie mit ihm reden. Eine kleine Schwester war
noch als Nachzügler eingetroffen.
Sie waren 24 Falken und gehörten zur Sippe der ‚Schwarzen Eber‘,
mußten ein Zeltlager mit acht Zwölf-Mann-Zelten aufbauen und nach
den großen Ferien wieder abbauen. Dafür konnten sie den ganzen
Sommer über bleiben. Alle zwei Wochen wurden die sechs anderen
Zelte neu belegt. Und jedes Mal mit Mädchen zwischen zwölf und
achtzehn Jahren.
Die Jungen erlebten den Himmel auf Erden. Sie wurden von vorn bis
hinten bedient und gewährten gnädig Verabredungen. Nach dem
Zapfenstreich belebten sich die Dünen und Sandburgen mit
Gekicher, Gelächter und manchmal auch mit wollüstigem Stöhnen.
Die Betreuerinnen der Mädchen versuchten redlich ihre Pflicht zu tun
- aber leichter hätten sie einen Sack voller Flöhe hüten können.
In diesen herrlichen, sonnendurchglühten Wochen lief Alexander ein
paar Mal mit einem gleichaltrigen, gutentwickelten, beinahe
weißblonden Mädchen herum. Sie war jedoch scheu, und Alexander
mied wiederum die Anstrengung einer Verführung – bei den vielen
anderen Angeboten. Sie tauschten Adressen aus, und er vergaß sie.
Sieben Jahre später sollte er sie heiraten.
Alexander war sehr aktiv. Er organisierte Wanderungen und
Wettbewerbe, stellte einen Holztrupp auf, der den nötigen
Nachschub für ihr Lagerfeuer besorgte – und erzählte nachts
Gespenstergeschichten, daß die anderen mit den Zähnen klapperten
und Alpträume bekamen.
Sein Schicksal nahte gegen Ferienende. Mit dem letzten Wechsel
kam eine Betreuerin, die alle Blicke auf sich zog. Gut 180 Zentimeter
groß – mit langem, blondem Haar – kräftig, muskulös und mit
gewaltigen Brüsten sowie einem ausladenden Hinterteil. Wie das Bild
einer Walküre aus der germanischen Sagenwelt. Sein Starren war
wohl besonders intensiv.
„Mach den Mund zu – oder willst du Fliegen fangen?“ – fuhr sie ihn
an. „Verzeihen Sie, aber Sie sind wunderschön.“ Seine offenkundige
und ehr-
liche Bewunderung stimmte sie milde, und sie ließ sich von ihm das
Lager und die Umgebung erläutern. Irene war Innenarchitektin – ihr
Bruder besaß eine kleine exklusive Tischlerei in Hamburg. Sie war
35, schon zwei Mal geschieden und lebte wie ein Mann.
„Ich finde keinen passenden Partner“, klagte sie, „wenn er klug und
kultiviert ist, ist mit ihm im Bett nichts los – und genügt er mir
körperlich, dann ist er strohdumm.“ Sie erzählte von ihrem Beruf –
von der Bedeutung des Geschmacks in der Kultur – von Holz, von
der Gestaltung, vom goldenen Schnitt.
Alexander wälzte sich in dieser Nacht ruhelos auf seinem Strohlager.
Er brannte innerlich lichterloh. Konnte er hoffen diese
außergewöhnliche Frau zu erobern? Er schmiedete Pläne und
verwarf sie wieder. Am nächsten Tag verfolgte er sie mit seinen
Blicken – suchte ihre Nähe, war glücklich und unglücklich zugleich.
Sie war eine erfahrene Frau und erkannte seine Gemütslage.
Als die Sonne unterging, nahm sie seine Hand, wanderte mit ihm in
die Dünen, und mit den Worten „Liebe ist ein Geschenk, das man nie
zurückweisen sollte“ zog sie ihn in den warmen Sand. Anfangs wollte
sie ihn führen – aber nach einer Weile seufzte sie glücklich und ließ
ihn gewähren.
„Beachtlich für dein Alter“ – lobte sie ihn auf dem Rückweg.
Alexander war wunschlos glücklich und dachte nur mit Schrecken an
die wenigen Tage, die ihnen noch blieben.
Gemäß ihrer Natur begrüßte Irene ihn am nächsten Morgen im
Frühstücks-kreis völlig unbefangen mit: „Hast du gut geschlafen,
Liebster?“ Alexander wurde feuerrot. Eine andere Betreuerin,
verknöchert und nahe der Rente, sagte entrüstet: „Aber meine Liebe
...“, woraufhin Irene sie mit einer verächtlichen Geste unterbrach:
„Nonsens – wir Frauen werden unter sech-zehn vom Gesetz
geschützt und über sechzig von der Natur – aber die Männer sind
Freiwild. Ein talentierter jugendlicher Liebhaber ist die reinste
Wonne.“ Ihr kriegerischer Blick schweifte in die Runde.
„Und damit beenden wir das Thema – oder hat noch jemand etwas
zu sagen?“
Die anderen Jungs waren stumm vor Neid – und die Mädchen vor
Bewunderung. Alexander reichte ihr ein Tablett mit Kaffee, Brot,
Wurst und Marmelade. Sie ließ sich neben ihm nieder, balancierte
das Tablett auf den Knien und bedankte sich mit einem Kuß. Das
Lager hatte die nächsten Tage ausreichend Gesprächsstoff. Er fragte
sich später oft, wie viele Mädchen-schicksale wohl an diesem
Morgen beeinflußt worden waren.
Seine Phantasie ging auf den Wogen der Liebe spazieren. Er nannte
sie den ‚fleischgewordenen goldenen Schnitt‘ – sie müßte eigentlich
Sirene heißen, da kein Mann, der sie sieht, sich ihrem Zauber
entziehen kann. Sie lachte über seinen Unsinn – aber in Wahrheit
hungerte sie nach ehrlichen Kompli-menten. Er schnitzte ihre Figur
aus einem Stück Treibholz – überraschend ähnlich. Sie bedankte
sich erfreut und nachdenklich.
Am nächsten Wochenende kam ihr Bruder Horst; von gleicher Statur
wie Irene – ruhig und bedächtig. Alexander fand ihn sofort
sympathisch. Sich unterhaltend wanderten sie am Strand entlang –
an Hohwacht vorbei bis Behrendorf und zurück. Die Zeit verging wie
im Flug.
„Bevor du nach Hause fährst, komm bei mir in Hamburg vorbei“, lud
Horst ihn ein. Er sagte zu, und zwei Wochen später unterschrieb er
einen Lehrver-trag als Tischler-Lehrling.
Die Geschwister hatten zueinander ein harmonisches Verhältnis. Auf
seine Bedenken hinsichtlich des Altersunterschiedes erwiderte sie:
„Ich werde meine Beziehung zu Alexander rechtzeitig beenden. Aber
es ist zu herrlich, um es nicht auszukosten.“
Er lernte Hobeln, Sägen, Furnieren, Holzbindungen und Intarsien
schneiden, zeichnen und konstruktives Denken – er erledigte kleine
Aufträge nebenbei und besuchte ab und zu Irene. Aber nur auf
Einladung, da sie viel unterwegs war und er sich auf keinen Fall
aufdrängen wollte.
Der betrieb lag in Bergedorf, und oft wanderte er durch den
Sachsenwald.
Er suchte die Landungsbrücken auf und ließ sich von den alten
Seeleuten aus fernen Ländern erzählen.
„Das Muster des Schicksals“, sagte ihm ein alter Fahrensmann, „wird
niemand enträtseln. Ich hatte einen Schulfreund, der fuhr über
dreißig Jahre zur See. Zwölf Schiffe, auf denen er fuhr, sanken.
Keiner wollte ihn mehr anheuern. Vor drei Jahren fiel er nicht weit
von hier ins Hafenbecken und ertrank.“
Auch wenn ihn die Seebären manchmal auf den Arm nahmen; es
war immer interessant und lustig.
Alexander hatte seine endgültige Größe von 178 Zentimetern
erreicht. Seine Schultern waren breit und überall hatte er kräftige
Muskeln entwickelt. Irene nannte ihn manchmal verträumt ‚ihren
Adonis‘. Die Kurtisanen an den Landungsbrücken wetteten, welche
ihn wohl als erste herumbekäme. Alle Angebote lehnte er freundlich
lächelnd ab und keine war ihm böse. Einer ganz besonders
hartnäckigen zeigte er ein Photo von Irene, und sie meinte
respektvoll: „Der wäre ich an deiner Stell auch treu – die kann dich
glatt mit einer ihrer Titten k.o. hauen.“
Seine Gesellenprüfung hatte er mit Glanz bestanden. Der Tag der
feierlichen Lossprechung war in zwei Wochen. Er bekam schon jetzt
Gesellenlohn, obwohl sein Lehrvertrag noch lief. Irene wollte er
fragen, ob sie zusammen ziehen würden. Schon jetzt könne er einen
Teil der Kosten übernehmen, und in ein paar Jahren würde er seine
Meisterprüfung ablegen. Die Zukunft sah rosig aus. Seine Mutter
würde zur Feier kommen. Zusammen mit seiner Schwester, die er
sehr liebte. Die Feier verlief harmonisch. Zwei Reihen weiter sah er
überrascht einen frisch gebackenen Gesellen der Fein-mechanikerInnung, in dem er einen Schulkameraden aus Berlin erkannte.
Solche Zufälle sollten ihm künftig noch oft passieren.
*
Seine Mutter fuhr mit seiner Schwester weiter nach Westfalen. Sie
wollte wieder arbeiten und die Leitung eines Kinderheims
übernehmen.
Irene lud ihn zu einer Fahrt nach Helgoland ein. Sie war in dieser
Nacht besonders zärtlich und wich jeder Andeutung über die Zukunft
aus. „Über ernste Dinge werde ich nie im Bett mit dir reden“, neckte
sie ihn, „da kannst du mich zu allem überreden.“
Es war ein schöner Sommertag. Sie saßen an Deck und genossen
die frische Brise und das Spiel der Nordsee-Wellen. Irene nahm
seine Hand und sagte weich: „Wir kennen uns nun schon fast drei
Jahre und ich habe die Zeit sehr genossen.“ Er sah sie sehr
überrascht an, eine dumpfe Ahnung überfiel ihn. „Bist du nicht mehr
glücklich mit mir?“ – fragte er ungläubig. Viele kleine Anzeichen aus
der letzten Zeit verdichteten sich nun zur Gewißheit. Das ist ein
Abschied – dachte er verzweifelt – warum nur, warum?
Sie fuhr weich und zärtlich fort: „Ich bin immer noch glücklich – aber
auch zwanzig Jahre älter als du. Nur wenige Frauen erleben solche
Erfüllung wie ich. Und die Erinnerung will ich bewahren ohne dunkle
Flecken.“ „Was meinst du damit?“ – fragte er, von der Bestimmtheit
ihrer Entscheidung gelähmt. "„Ich erkenne, wie dich schon jetzt
andere Frauen ansehen. In zehn Jahren bin ich fast fünfzig und es
würde mir das Herz brechen.“
„Du wirfst mich einfach raus aus deinem Leben“, warf er ihr bitter vor.
Sie lächelte nachsichtig: „Dir stehen alle Wege offen und mir nur
wenige.“ „Was hast du jetzt vor?“ – fragte er argwöhnisch. „Auf der
letzten Möbelmesse in Kopenhagen lernte ich einen Norweger
kennen. Er hat mich eingeladen. Für mich ist er einer der letzten
Wikinger. Falls er nicht gerade impotent ist, werde ich ihn heiraten.“
Er war halbwegs erleichtert, denn beinahe hätte er sie schon als alte,
einsame Frau gesehen. Unsinn - sagte er sich, sie ist immer noch
eine schöne und attraktive Frau. Und dann erkannte er ihren Beweis
in seinen Gedanken: ‚Immer noch‘, hatte er automatisch gedacht. Die
Natur ließ sich nicht überlisten. Beide hingen ihren Erinnerungen
nach, warfen sich verstohlene Blicke zu und küßten sich schließlich
zärtlich, wie befreit.
Die Lösung war akzeptiert. Sie würden als Freunde scheiden. Was
will man mehr?
Seine Abenteuerlust brach sich Bahn. Hamburg war ihm verleidet –
zu viele Erinnerungen. Er sparte ein paar Monate, in denen er sich
mit Überstunden ablenkte, kaufte sich eine gebrauchte 500-er BMW.
Sein Bündel packend, wunderte er sich, wieviel sich in den
vergangenen Jahren angesammelt hatte. Einem bekümmerten, aber
verständnisvollen Horst und den anderen Gesellen sagte er
Lebewohl.
Bei den anderen Gesellen, die auf der Walze gewesen waren, hatte
er Tips eingesammelt. Aber die meisten Anregungen konnte er nicht
gebrauchen. Die Zeiten hatten sich seit damals geändert. Die
einzigen Handwerker, die den alten Brauch noch hochhielten, waren
die Zimmerleute. Aber die gingen nur zu Fuß, und das war Alexander
dann doch zu mühsam. Der beste Dreh waren immer noch mittlere
Hotels. Die großen Hotels hatten eigene Haus-schreiner. Aber bei
den mittleren Hotels konnte er einige Wochen mit Reparaturen
verbringen und einen guten Stundenlohn verlangen – und er hatte
auch gleich ein Zimmer mit Verpflegung.
Die Zimmermädchen und Kellnerinnen waren fast ausnahmslos
neugierig wie es um seine horizontalen Fähigkeiten bestellt war.
Innerhalb eines Jahres arbeitete er sich quer durch Deutschland, bis
er eines Tages in München landete.
Frankfurt
Brigitte schloß die Haustür auf, und Alexander trat hinter ihr durch
einen kleinen Windfang mit Garderobe in eine große Halle. Ein
großer Kamin mit Kupferschürze beherrschte die linke Wand. Die
Decke wurde durch mächtige Balken sowie Zwischenfelder mit
Brettvertäfelung gebildet. Gegenüber schwang sich eine
aufgesattelte Treppe in einem 90°- Bogen zur ersten Etage empor.
Daneben führten zwei Rundbogentüren mit aufgedoppelten
Faltprofilen zu weiteren Räumen. Die rechte Wand wurde
von einem Einbauschrank gebildet – die Türen in halber Höhe geteilt
und in der oberen Hälfte in Glas gehalten, durch welches man Gläser
und Zinngefäße sehen konnte.
Durch die beiden bleiverglasten Fenster in der Eingangspforte fiel
das Mondlicht und zauberte einen silbernen Schimmer auf den
großen Orient-teppich, der den Fußboden in der Halle fast völlig
bedeckte. Brigitte hatte nur eine Stehlampe eingeschaltet. Das
Eichenholz der Einrichtung war in einem warmen Braunton gebeizt.
Sie deutete auf die Türen: „Dort geht es zur Bibliothek und zur
Küche, oben sind die Schlafzimmer und Bäder.“ Brigitte sah ihn an,
auf einen Kommentar wartend. „Das gefällt mir – solide, zeitlos und
urgemütlich“, er nickte beifällig, „hier kann man sich wohl fühlen.“ „Ja,
ich liebe mein Haus. Hier bin ich aufgewachsen.“ Die Halle war nur
mit fünf großen, bequemen Sesseln rund um den Kamin möbliert.
Neben jedem Sessel stand ein kleiner Beistelltisch.
„Sieh dich ruhig um, Alex“, sagte sie, „ich werde erstmal in der
Küche zu Werke gehen.“ Er öffnete die Tür zur Bibliothek und fand
den Lichtschalter. Alle Wände wurden von Regalen beherrscht. Ohne
jedes System standen und lagen Bücher jeder Größe – seltene
Gesteinsbrocken, Pokale, Flaschen, geschnitzte Figuren und vieles
mehr. Eine wundervolle, beeindruckende Unordnung. Er löschte das
Licht und zog leise die Tür zu, als fürchtete er, jemanden zu stören.
Die Küche war modern und mit der großen, gepolsterten Eßecke
sehr gemütlich. Brigitte war am Herd emsig beschäftigt. Er trat hinter
sie, küßte sie in den Nacken, und während er mit der rechten Hand
zwischen ihre Beine griff, flüsterte er ihr ins Ohr: „Was hältst du von
einem Quicky? Ich habe wahnsinnige Lust auf dich.“ Sie lehnte sich
gegen ihn: „Danke, gleichfalls, aber erst die Pflicht und dann das
Vergnügen.“ „Weib“, drohte er, „wenn du dich mir verweigerst, werde
ich dich verlassen.“ Er wandte sich zur Tür. „In Ordnung, hier störst
du nur. Aber in zehn Minuten wird gegessen, verstanden?“ – gab sie
im gleichen Ton zurück. Beide lachten und er ging, um das
Obergeschoß zu inspizieren.
Die obere Etage bestand aus drei Zimmern und drei Bädern – alle
gleich mit Wanne, Dusche, WC, Bidet und Waschbecken und einem
Frisiertisch aus italienischem Marmor integriert und die ganze Wand
mit Spiegelglas belegt. Ihr Schlafzimmer daneben in grün und gold
und einem breiten Bett im Kolonialstil mit Baldachin entsprach ihrem
Wesen: Weiblich und sicher im Geschmack. Er nahm die Felldecke
vom Bett und warf noch einen Blick in die anderen Räume. Das
Gästezimmer: Typisch Junge – Poster an den Wänden, Turnschuhe,
Boxhandschuhe, Tennisschläger und ein paar Cow-boystiefel lagen
im Raum verstreut.
Er ging hinunter in die Halle, legte die Felldecke über einen Sessel,
schich-tete Holz im Kamin auf, prüfte, ob die Platte geöffnet war und
zündete den Stoß geschickt an. Dann stellte er das Fanggitter davor
und ging zur Küche.
„Na – was treibt dich her? Hast du Hunger oder Sehnsucht?“ – fragte
sie schalkhaft, „dein Hunger muß noch etwas warten – das Fleisch
ist noch nicht gar. Aber bis dahin könnten wir uns die Zeit schon ein
wenig vertreiben. Sie legte ihm die Arme um den Hals und küßte ihn
intensiv und ausdauernd. Er hob sie hoch, trug sie zu dem schweren,
eichenen Küchentisch und legte sie auf die Platte. Hier küßte er sie
weiter und seine linke Hand fuhr unter ihren Slip. Sie drückte ihn
zurück und keuchte: „Was hast du Verrückter Kerl nun schon wieder
vor? Also, ich habe noch nie auf einem Tisch...“ Er grinste: „Dann
wird es aber mal Zeit dazu – und feucht bist du auch schon. So wirst
du wenigstens immer an mich denken, wenn du hier an diesem Tisch
sitzt.“
Sie hob ihren Hintern an, als er begann, den Slip abzustreifen. Er
schlug ihren Rock hoch, beugte sich hinunter, und seine Zunge
umkreiste ihren Nabel, während er gleichzeitig aus seiner Hose stieg.
„Na - wenn schon, dann aber richtig“, stöhnte sie, umfaßte seinen
Kopf mit beiden Händen und drückte ihn an ihren Schoß.
Zwei Stunden später: Sie hatten gegessen, zusammen gebadet und
lagen nun auf der Felldecke vor dem lodernden Kamin, der eine
wohlige Wärme ausstrahlte. Sie unterhielten sich, tranken ab und zu
einen Schluck Brandy,
küßten sich und streichelten sich gegenseitig, bis die Erregung
wieder in ihnen aufloderte.
Um Mitternacht stand sie auf und ging in die Küche. Er sah ihr nach.
Auch ohne Kleidung bewegte sie sich selbstsicher und völlig
natürlich – was nur wenige Frauen können. Mit Kaffee, Zucker und
Tassen kam sie zurück.
„Gitta“, sagte er nachdenklich, „bevor wir uns intensiver miteinander
beschäftigen...“ Sie unterbrach ihn hoffnungsvoll: „Geht das denn –
noch intensiver?“ „Keine Scherze, bitte, ich habe dir etwas wichtiges
zu sagen.“ Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: „Wenn wir so weiter
machen, uns gegenseitig offenbaren, körperlich aneinander
gewöhnen, geraten wir in eine feste gefühlsmäßige Bindung. Ich
werde mich bestimmt unsterblich in dich verlieben.“ Ihre Augen
glänzten: „Du kannst mich allenfalls noch einholen – schon jetzt bist
du mein Schicksal. Es hat mich wie ein Blitzschlag getrof-fen.“
„Mich auch“, gestand er, „aber dennoch muß ich dir sagen, daß es
gefährlich werden und dir Kummer und Sorgen bereiten kann. Aber
was auch geschieht – es ist bereits zu spät für uns beide“, fügte er
resigniert hinzu. Er hatte sich an einen Sessel gelehnt und starrte in
die Flammen. Sie rutschte zu ihm herüber und legte den Kopf an
seinen Schoß, nahm seine Hand und legte sie auf ihre Brust.
„Erzähle!“ – forderte sie ihn auf. „Ich beginne wohl am besten ganz
von vorne. Beziehungsweise dort, wo ich gestern aufgehört habe.
Also, ein paar Jahre arbeitete ich als Innenarchitekt in München. Die
Firma war gut, weniger aber das Gehalt. Bei denen konnte man in
Schönheit sterben. Die standen auf dem Standpunkt, daß es eine
Ehre sei, für sie zu arbeiten. Eine Zeit lang machte ich das mit. Man
konnte viel lernen – die oberen Hundert von den sprichwörtlich
Zehntausend hatten sie als Kunden. Meist war ich als Montageleiter
unterwegs, was immer einen Haufen Spesen ergab. In dieser Zeit
heiratete ich; zwei Kinder kamen und ich begann, als Möbelver-treter
zu arbeiten. Im Handel verdient man nun mal am besten. Zwischendurch machte ich die Meisterprüfung, aber das war auch nicht das
Wahre. Zwar mehr Verantwortung, aber nicht mehr Geld. Und ein
eigener Betrieb?
Zwanzig Jahre lang, Tag für Tag, fünfzehn Stunden arbeiten und
dann noch jede Mark mehrmals umdrehen – nein danke, mit Arbeit
kommst du in diesem Land nicht weit. Mein Schwager ist
selbständig, er arbeitet wie ein Pferd. Von jeder verdienten Mark
behält er rund dreißig Pfennig übrig. Nicht vom Umsatz wohlgemerkt,
sondern von seinem Rohgewinn.
1975 gab es eine Möbel-Absatzkrise. Beinahe alle Vertreter
arbeiteten mit Minus. Ich machte noch elf Prozent Plus. Jeder wurde
einzeln bearbeitet, Kosten müßten gesenkt, der Umsatz mit aller
Macht wieder hochgetrieben werden – nach der Devise: Entweder
ändern sich die Zahlen, werte Herren, oder die Gesichter! Ich hatte
keine Lust, dieses Spielchen mitzumachen, besann mich auf meine
Fähigkeiten als Montageleiter und ging als Fachbau-leiter nach
Arabien.“
„Du sprichst überhaupt nicht über deine Frau“, unterbrach sie ihn.
„Das werde ich auch in Zukunft nicht tun“, entgegnete er, „ich liebe
sie sehr – aber wir entwickelten uns in verschieden Richtungen
weiter. Eines Tages war keine Liebe mehr vorhanden. Ich werde
auch weiterhin für sie sorgen, so gut ich kann – immerhin haben wir
zwanzig Jahre gut zusammen gelebt“ – er schwieg nachdenklich,
„mehr kann man dazu nicht sagen.“
Prima so, er beschuldigt sie nicht – dachte Brigitte zufrieden – er ist
wirklich jede Anstrengung wert. „Ich baute auch ein Haus. In einer
schönen Gegend. Mit eigenen Händen. Auch die Baupläne zeichnete
ich selbst. Nicht wenige Leute blieben vor diesem Haus stehen und
bewunderten es. Aber auch das wurde mir systematisch verleidet.
Erst hatten wir prima Quellwasser aus den Bergen. Dann wurden wir
dem Wasserverband ange-schlossen. Seit dem lief das Quellwasser
in den Bach und unser Leitungswasser schmeckte nach Chlor – und
dafür mußten wir dann auch noch bezahlen.
Eine Nachtspeicherheizung hatte ich eingebaut, und an Stromkosten
fielen monatlich 250 Mark an. Nach fünf Jahren hatte der MagawattClan die Strompreise derart erhöht, daß nun 500 Mark im Monat zu
zahlen waren. Und nichts kannst du dagegen tun. 100.000 Mark
Schulden hatte ich mir für das Haus aufgeladen, während der BankSachverständige es in seinem Gut-
achten mit 400.000 Mark bewertete. Bald wurden auch die Zinsen
erhöht, und ich arbeitete nur noch für die anderen. Damals begann
ich, kritische Autoren zu lesen, wie beispielsweise ‚Der betrogene
Bürger‘ von Professor Freytag.
Eine Unmenge von Parasiten mästen sich am Steuerzahler. Wir
Deutschen sind viel zu geduldig, was schon beim politischen System
beginnt.“
Brigitte unterbrach ihn: „Aber wir haben doch eine Demokratie und
freie Wahlen.“ „Natürlich – aber wer wird gewählt, und wie wird das
bewirkt? Der Teufel steckt doch immer im Detail“, gab er selbst die
Antwort: „Die Parlamente spiegeln ja in keiner Weise einen
Querschnitt der Bevölkerung wider. Vorwiegend werden doch
Beamte als Volksvertreter gewählt. Weil die eine totale
Arbeitsplatzgarantie besitzen und sich ohne jedes Risiko als
Kandidat zur Verfügung stellen können. In den Beamtengesetzen ist
so eine Beurlaubung förmlich vorgesehen – weil die
Gesetzesmacher eben schon Beamte waren und sich so ihre eigene
Lobby zurechtzimmerten. Ein freier Unternehmer hingegen kann es
sich doch gewöhnlich auch bei noch so großem politischen
Engagement nicht leisten, jahrelang seinen Betrieb zu
vernachlässigen – und auch Arbeitnehmer besitzen keine
annähernde Garantie wie die Beamtenschaft. Allein aus diesem
Kuriosum der Zu-sammensetzung heraus ergibt sich doch
zwangsläufig, daß die so genannten Volksvertreter in keiner Weise
das Volk vertreten, sondern vordergründig ihre ganz persönlichen
Interessen. Und dieses politische System und die daraus
erwachsenen Mißstände wurden ja schließlich von den Amerikanern
eingeführt.“
„Aber von den Nachkriegs-Diktaten sind wir mittlerweile doch schon
lange befreit“, wandte Brigitte ein. „Ja – in den public-relations sind
die Amis fast so gut wie Göbbels es war“, erwiderte Alexander
spöttisch. „Weshalb befreien die denn nicht die Menschen in den
Diktaturen, die sie unter ihrem Daumen halten? Der zweite Weltkrieg
war für die Siegermächte ein gigantischer Raubzug – nur die
Engländer wurden beschissen. Churchill war der Totengräber des
britischen Empire. Aber auch dieses Muster ist noch nicht völlig klar
erkennbar. Nach und nach kommen aus einem Berg aus Lügen
immer mehr Wahrheiten zum Vorschein.
Zunächst wird die Geschichte einmal vom Sieger geschrieben.
Dagegen kann ein Einzelner nur wenig tun. Ihm bleibt nur, sich
immer wieder zu informieren. Wem nützt das? Und wie kann er sich
verweigern, wenn etwas gegen seine Interessen gerichtet ist?
Doch nun zu meiner Warnung: Seit einigen Jahren läuft irgend etwas
gegen mich. Ich erhalte zu viele Absagen rundum und bin angeblich
trotz eines hohen Einkommens nicht kreditwürdig. Die Spur ist vage
und führt nach Frankfurt – deshalb bin ich hier. Ich habe ein paar
gute Freunde und ein paar dicke Feinde – aber wohl keine
Todfeinde. Eine enge Bindung zu mir könnte also automatisch zu
ähnlichen Problemen bei dir führen.“ Sie gähnte: „Mich wirst du so
schnell nicht mehr los. Komm, wir gehen ins Bett.“
Sie ließen alles stehen und liegen und stiegen engumschlungen die
Treppe hoch. Brigitte öffnete die Schlafzimmertür: „Das ist eine
Premiere. Nach dem Tod meines Mannes richtete ich das Zimmer
neu ein, und seitdem hat hier kein Mann mehr geschlafen.“ „In einem
Bett muß man ja nicht unbedingt schlafen“, stellte er richtig. „Ich
heute schon“, gähnte sie erneut. Eine halbe Stunde später japste sie:
„Jetzt hast du mich wieder richtig munter gemacht.“ Zufrieden
murmelte er: „War eben ein typischer Fall von Denkste.“
Am folgenden Morgen, es war Samstag, schliefen sie recht lange,
duschten zusammen und frühstückten ausgiebig. „Nun, was hast du
denn in naher Zukunft vor?“ – ermunterte ihn Brigitte. „Du erwähntest
gestern etwas vom Süden. Ich würde gern an deiner Zukunft
teilhaben – aber natürlich muß ich wissen, ob es für mich akzeptabel
ist.“
Er füllte seine Kaffeetasse erneut, fügte zwei Löffel Zucker hinzu und
rührte nachdenklich um. „Aus drei Gründen ging ich als Bauleiter ins
Ausland: Erstens aus Abenteuerlust, zweitens wegen des größeren
Verdienstes und drittens, dies ist wohl der wichtigste Grund
überhaupt gewesen: der größere Spielraum, keine einengenden
Vorschriften,
Helfer
werden
problemlos
eingestellt
und
erforderlichenfalls auch wieder gefeuert. Man ist auf sich selbst
gestellt und muß seine Probleme auch selber lösen. Kurz -–seine
Erfolgserlebnisse hat man so ziemlich täglich. Ein Mittelding gibt es
nicht, lediglich ein Entweder oder ein Oder.
Die Persönlichkeit kann sich frei entfalten. Hier zu Lande darfst du
doch rein gar nichts, weil alles verboten ist, was man nicht
ausdrücklich erlaubt hat. Gleichgültig, was immer du auch tust,
täglich übertrittst du Gesetze und Verordnungen, von denen du
überhaupt keine Ahnung hast.
Selbst das riesige Beamtenheer hat im Gesetzes-Dschungel keinen
Durch-blick mehr. So sieh dir doch mal die deutschen Steuergesetze
an – darin sind wir weltweit Spitzenreiter. Welcher Finanzbeamte hat
denn da überhaupt noch eine Chance zum Durchblick?
Wir Deutschen sind doch ganz zwangsläufig ohne jede böse Absicht
ein Volk von Gesetzesbrechern nach dem Motto: Wo kein Kläger, da
kein Richter. Selbst die Beamten handeln allgemein nach dem
Grundsatz: Gesetze sind dazu da, daß sie umgangen werden. Ein
anderes persönliches Beispiel: Mein Grundstück war etwa 3.000
Quadratmeter groß, eine Lage im Dorf. Nicht mal einen CampingWagen durfte ich darauf abstellen. Bevor du ein Haus bauen darfst,
mußt du Zigtausende ausgeben, um alle möglichen Vorschriften zu
erfüllen. Bei uns hat sich eine unvorstellbare Überbürokratisierung
breit gemacht. Das ist inhuman und freiheitsfeindlich. Die Bürokraten
spielen sich auf, als wären sie die neuen Feudalherren – und
machen sich nicht klar, daß sie ja ausschließlich von unseren
Steuern leben.
Im Süden nimmt man alles nicht so genau – wir sind in allem viel zu
ver-bissen. Mir hat mal ein Italiener gesagt: „Ihr Deutschen befolgt
sogar die dummen Gesetze – wir nicht einmal die Guten.“ Ich möchte
einfach nur nach meinen Neigungen leben und nicht mehr, um den
Bürokraten eine Existensberechtigung zu geben; als Fachbauleiter,
Innenarchitekt oder Handwerker. Eine gute Leistung erzeugt
Zufriedenheit. Worauf kann ein Fabrikarbeiter schon stolz sein, der
jeden Tag dasselbe tut?
Geld ist für mich lediglich ein Mittel zum Zweck – so wie ein Auto ein
Mittel zur Fortbewegung ist und nicht nach typisch deutscher Manier
ein Schmuckstück, das man besser und liebevoller hegt und pflegt
als eine Frau. Ab einer gewissen Menge wird Besitz allerdings zur
Last. Er bringt Ver-pflichtungen und man könnte ihn ja auch klauen.
Und wenn du jeden Tag Kaviar ißt, wird er dir bald nicht mehr
schmecken.
Die spanische Mentalität gefällt mir sehr. In Andalusien an der Küste
leben viele Deutsche, Engländer, andere Nordeuropäer und Araber,
und man kann gut mit und von ihnen leben. Ich habe mir auch Italien
und Griechenland angesehen – aber das größte Vergnügen der
Leute dort ist, andere übers Ohr zu hauen.“
„Du bist ja ein Aussteiger“, staunte Brigitte. „Eigentlich nicht – eher
ein Umsteiger“, lächelte Alexander. „Mein Leben soll Sinn haben. Ich
will mich nicht in eine wesensfremde Form pressen lassen. Was
hältst du von einem Spaziergang?“ – wechselte er das Thema.
„In Ordnung, ich muß sowieso noch ein paar Kleinigkeiten einkaufen.
Aber sag mir bitte noch eines: Wenn du ohnehin nicht hier in
Deutschland bleiben willst, weshalb dann diese Nachforschungen?“
Daraufhin sagte Alexander grimmig: „Mir hat noch niemand etwas
gutes oder schlechtes getan, ohne es voll zurück zu bekommen.“
Brigitte sah ihn seltsam an. „Das ist ja ein beängstigender Zug an
dir.“ „Eigentlich nur folgerichtig, finde ich.“ Alexander zündete sich
eine seiner seltenen Zigarren an. Dadurch kam ein männlicher
Akzent in die Küche – es gefiel ihr. „Nach meiner Meinung“, sagte er,
„kann man nicht als Lamm herumlaufen, solange es noch Wölfe gibt.
Man kann zwar die Hand zur Zusammenarbeit ausstrecken, darf
aber nie das Schwert verrosten lassen.“ Er blies einen Rauchring in
die Luft. „Du weißt jetzt fast alles von mir. Bis meine Zigarre zu Ende
geraucht ist, würde ich nun gerne etwas über dich erfahren. Das
Sehen und Fühlen war ja Superklasse – aber neugierig bin ich
trotzdem noch.“
„Danke“, lächelte sie, „von mir gibt es nichts aufregendes zu
erzählen. Wir sind eine alte Frankfurter Familie. Mein Vater war
Professor, ich studierte Jura, im Bekanntenkreis heiratete ich. Die
große Liebe war es nicht, aber es lebte sich sehr angenehm. Mein
Mann war sechs Jahre älter, auch Anwalt und auf Steuerrecht
spezialisiert. Sein Tod kam überraschend, aber er hatte gute
Mitarbeiter in seiner Kanzlei. Ich ließ alles weiter laufen und sehe nur
ab und zu nach dem Rechten. Eigentlich wollte ich mit Ralf nach
Berlin ziehen, damit der Junge nicht so allein ist.“
„Mach das bloß nicht!“ – sagte er entrüstet, „ein Junge muß
selbständig werden. Du kannst ihn doch nicht sein ganzes Leben
lang behüten.“ „Aber ich mache mir Sorgen, wenn es soweit ist“,
wandte sie ein. „Es würde ihm lästig sein“, behauptete Alexander,
„denk an das Sprichwort: Willst du bei anderen was gelten, dann
mach dich selten. Du mußt deinem Sohn die Chance zur Bewährung
geben.“
Er blies noch einen Ring, legte die halbe Zigarre in den Ascher und
stand auf. „So, wir können – die andere Hälfte schmeckt doch nicht.“
Brigitte nahm Einkaufskorb und Regenschirm, und sie traten in den
herbstlichen Sonnenschein.
„Guten Morgen!“ – rief eine Stimme. Brigitte erwiderte den Gruß und
zog Alexander zum Nachbargrundstück. Hinter dem Zaun stand eine
ältere Dame mit weißem Haar, auf einen Stock gestützt. Fragend
hob sie die Augenbrauen. „Hast du endlich einen neuen Mann
gefunden, Kind? Sehr stattlich – er paßt zu dir.“ Brigitte antwortete
lachend: „Nicht nur äußerlich, als Liebhaber ist er einfach himmlisch.“
„He“, protestierte Alexander, „ich hab nichts dagegen, wenn du
meinen Ruhm verbreitest, aber das geht wohl doch zu weit.“ Beide
lachten über sein verlegenes Gesicht. Brigitte rief, ihn schon wieder
weiter ziehend: „Wir kommen am Nachmittag mal auf eine Tasse
Kaffee rüber.“ Neugierige Blicke aus den anderen Häusern begleiteten ihre Einkaufstour.
„Wer ist die alte Dame?“ – fragte Alexander unterwegs. Sie gehört
fast zur Familie, ist eine bekannte Schriftstellerin und machte früher
oft den Baby-sitter für Ralf.“
Sie kamen an einem Gewürzladen vorbei. Alexander hatte eine Idee
und ging hinein. „Riech mal“, forderte er Brigitte auf, die ihm gefolgt
war, „in dem Duft ahnst du den Orient, die Ferne und das Abenteuer.
In Arabien ging ich oft nur wegen der Gewürzstände in den Souk.“
Und an die Verkäuferin gewandt: „Haben Sie Zumak?“ – und als
diese überlegte: „Es wächst in Jordanien, ist ein dunkelrotes Pulver.“
Sie kramte zwei Plastikbeutel aus einem Karton. „Tatsächlich“, freute
sie sich, „ich habe es mal für einen Libanesen bestellt, aber er kam
nicht wieder.“
Alexander lachte. „Von dieser Seite lernte ich die Libanesen auch
kennen.“ Er bezahlte und steckte die beiden Beutel ein. „Jetzt
brauchen wir nur noch Zwiebeln, ein Hähnchen und französisches
Stangenbrot – dann werde ich heute mal kochen.“
Brigitte sah ihn überrascht an. „Das kannst du auch?“ „Ich habe noch
eine Menge verborgener Qualitäten“, lachte er, „wenn man muß,
lernt man alles. Ich war mal in einer kleinen Oase in Saudi-Arabien.
Wir wohnten in Containern, und der nächste Supermark war 260
Kilometer weit entfernt. Die arabischen Gerichte sind ganz einfach zu
bereiten. Weil dort niemand gern arbeitet, aber trotzdem
ausgezeichnet kocht.“
Den restlichen Einkauf bewältigten sie knapp, bevor die Läden
schlossen. Stangenbrot war nicht mehr zu bekommen – dafür
nahmen sie Zwiebelbrot. „Schmeckt mir noch besser“, behauptete
Alexander. Heiter gestimmt, schlenderten sie langsam nach Hause.
Er packte in der Küche die Einkäufe aus. „Jetzt kann ich dich hier
nicht gebrauchen“, bestimmte er, „geh bitte nach oben und wärme
unser Bett an. Ich komme gleich nach, und während unser Hähnchen
gart, können wir ausgiebig Siesta machen.“ „Der Vorschlag klingt
nicht schlecht, falls du nicht Schlafen mit Siesta meinst.“ Alexander
zwinkerte und sagte: „Das, mein Herz, liegt ganz bei dir.“
Er schälte ein Pfund Zwiebeln und schnitt sie in Scheiben, zerteilte
das Hähnchen, goß Speiseöl in einen Tiegel, verteilte die
Hähnchenteile und die Zwiebeln darin, würzte mit Pfeffer, Paprika
und reichlich Zumak und schob alles in den vorgeheizten Backofen.
Leise vor sich hin pfeifend, trat er voller Vorfreude in die Halle und
blieb erstaunt stehen. Brigitte hatte den Kamin angezündet und
breitete gerade die Felldecke davor aus. Schelmisch lächelte sie:
„Mir gefällt es hier am besten.“
Sie sanken auf das Fell und küßten sich lange und intensiv. Er schob
ihren Pullover hoch, löste den BH und saugte sanft an den harten
Spitzen ihrer Brüste. „Deine Antennen sind ja schon ausgefahren“,
schmunzelte er. Sie öffnete seinen Gürtel, zog den Reißverschluß
herunter und streichelte über
Die Wölbung seiner Unterhose. „Wie ein Pfadfinder“, kicherte sie,
„immer bereit zu einer guten Tat.“ Seine Stimme wurde dunkel vor
Erregung: „Eher wie ein Partisan – du weißt nie, kommt er von vorn
oder von hinten.“ Unter Gelächter, Küssen und Seufzen zogen sie
sich gegenseitig aus.
„Ich liebe es, von dir entblättert zu werden“, stöhnte sie, drückte ihn
zurück und flüsterte sanft: „Bleib still liegen – heute werde ich dich
verwöhnen.“ Seine Reaktionen kannte sie schon gut, und während
sie ihn streichelte und mit ihren Lippen und Zunge seinen Körper
erforschte, vertiefte sich ihr Wissen, bis es schließlich keine
Geheimnisse mehr gab und sie sich vor Erregung nicht mehr
zurückhalten konnte.
Langsam, jeden Zentimeter auskostend, senkte sie sich auf ihn
herunter und näherte sich lustvoll, in gleichmäßigen Bewegungen
ihrem ersten Orgasmus. Als die Höhepunkte dichter aufeinander
folgten, wurde ihr Gesicht leer, wie nach innen gekehrt. Kleine laute
ausstoßend, sank sie auf ihn herab. Mit den Wellen ihrer zitternden
Ekstase wurde sein Unterleib stoßweise mit einer warmen Flüssigkeit
überspült.
Ihr Kopf lag mit geschlossenen Augen auf seiner Brust. Sie schob
ihre Hand nach unten zwischen ihre Körper, führte sie an ihre
Lippen, roch und kostete dann mit ihrer Zunge, seufzte tief und
murmelte glücklich: „Jetzt hab ich es bewußt erlebt. Tatsächlich ohne
Geruch und Geschmack, völlig neutral. Vierzig Jahre alt mußte ich
werden, um das zu erleben.“ Er bewegte sich leicht, sie
umklammerte ihn. „Bleib in mir“, flehte sie, „ich will es bis zur Neige
auskosten.“
Er hatte nach seinem Glas gegriffen, trank in kleinen Schlücken und
streichelte dabei mit der linken Hand ihren Rücken. „Laß dir Zeit“,
murmelte er, „nur du bist wichtig.“ Sie schlug langsam die Augen auf.
„Und deine Gefühle?“, fragte sie. „Ach“, erwiderte er gleichgültig,
„das geht wie von selbst. Ich konzentriere mich vollkommen auf dich,
und dann ist dein Höhepunkt für mich automatisch der Auslöser.“
Ihre Augen weiteten sich überrascht. „Das ist die Lösung!“ – rief sie,
„Gefühle kann man mittlerweile als ganz schwache elektrische
Ströme messen, und wenn du deine Gefühle auf mich bündelst,
wirke ich wie ein Verstärker.“
Er grinste: „Jetzt redest du wie ein Techniker, und zur Strafe geht es
nun unter die Dusche. Das Essen ist auch gleich fertig“, fügte er mit
einem Blick auf seine Uhr hinzu, rollte sie trotz ihres Protestes von
sich herunter und stand auf. Kurze Zeit später saß sie erwartungsvoll
am Tisch.
Er hatte gedeckt und Brot geschnitten. Nun öffnete er die Klappe des
Backofens – zog den Tiegel heraus und probierte mit der Gabel das
Fleisch. Sofort erfüllte ein würziger Geruch den Raum. „Das riecht ja
prima“, rief Brigitte. Alexander stellte den Tiegel auf den Tisch – mit
einer Ecke auf ein Frühstücks-Brettchen und die andere Seite hoch
haltend, damit sich das Fett an einer Stelle sammelte. Mit einer
durchbrochenen Kelle hob er Hähnchen und Zwiebeln einen Moment
hoch, ließ den Saft abtropfen und teilte alles in zwei Portionen.
„Ist es dir angebrannt?“, fragte sie besorgt, „aber es riecht gar nicht
danach“ – wunderte sie sich. „Nein, nein“, beruhigte er sie, „das
schwarze dazwischen ist das Zumak. Sieht zwar etwas komisch aus,
aber du kannst es beruhigt essen. Es hat nur die Farbe gewechselt.“
Sie probierte. „Es schmeckt fremd.“ Sie kaute genüßlich. „Aber
ausgezeichnet.“ Sie tranken einen trockenen Frankenwein dazu.
„Und es macht wirklich wenig Arbeit. Ich verstehe die Frauen nicht,
die sich von ihrer Kocherei versklaven lassen. Zwei Stunden stehen
sie am Herd. Ihre Familie putzt alles in zehn Minuten weg, rülpst,
trollt sich und überläßt ihr dann noch den Abwasch.“ Brigitte prustete
vor Lachen: „Du drückst dich immer so bildhaft aus.“ „Das war eben
ein Vorschlag zur Arbeitsteilung“, grinste er. Sie lachte immer noch.
„Gut, ich übernehme den Abwasch.“
„Weshalb bist du eigentlich auf den Staat so sauer?“ – fragte sie,
„nur weil du dich persönlich eingeengt fühlst?“ „Da kommt im Laufe
der Zeit eine Menge zusammen. Aber mein Ärger ist hauptsächlich
grundsätzlicher Art. Weshalb galt der preußische Staat in ganz
Europa als Vorbild? In des Reiches Streusand-Büchse war kein
natürlicher Reichtum. Es war die Idee ‚Alle Kraft für die
Gemeinschaft‘ – aber jeder konnte seinen Platz nach persönlicher
Neigung und Leistung finden. Jeder Bürger konnte nach seiner
eigenen Fasson glücklich werden.
Was jetzt Recht heißt, und was der Staat unter einer Flut von
Gesetzen verbirgt, sind Mittel und Maßnahmen zur Beruhigung
seiner Menschen-massen, und nicht, was er selber achtet und
einhält. Du brauchst nur mal an einige Beispiele zu denken, wie an
die Bestechungsskandale in letzter Zeit, oder an die Minirenten –
niemand kann davon leben. Der Rest muß beim Sozialamt beantragt
werden. Warum nicht eine ausreichende Grundrente? Aber dann
behielte der Mensch ja seine Würde und könnte nicht mehr so herum
geschubst werden.
Oder nehmen wir mal einen der dummen Beruhigungsversuche. Als
damals die Terrorismuswellen aufkamen und man dieser neuen
Gewalt machtlos gegenüber stand, mußte man die Bevölkerung
irgendwie beruhigen – denn die nächste Wahl würde ja bestimmt
kommen. Was tat man – man verschärfte die Waffengesetze und
machte dem unbescholtenen Bürger einen regulären Waffenerwerb
so gut wie unmöglich. Als hätte jemals ein Terrorist seine Tatwaffe
schon mal normal in einem Waffengeschäft gekauft. Aber dem
Bürger war Sand in die Augen gestreut – hintenrum ein weiteres
Stück Entmündigung vollzogen. Nach meiner Meinung besitzt ein
Mensch die größte mögliche Freiheit, wenn er seine Waffe offen
tragen kann.“
Sie sah ihn seltsam an und sagte: „Eines Tages wird man dich
einsperren und den Zellenschlüssel wegwerfen.“ Er lachte und
erwiderte: „Jetzt habe ich ja dich – du wirst mich schon wieder
rausholen.“
In späteren Jahren lächelte er manchmal in Erinnerung an diese
prophetischen Worte. Er hielt ihr den abgenagten HähnchenBrustknochen hin und sagte: „Zieh mal, wer das größere Ende
behält, darf sich was wünschen.“ Sie verlor und fragte: „Was hast du
dir gewünscht?“ „Das darf man nicht sagen, sonst geht der Wunsch
nicht in Erfüllung – und du?“ „Ich habe nur einen Wunsch: Wir
bleiben zusammen.“ „Wir müssen öfter miteinander wetten. Wie jetzt,
wünschen wir uns jeweils dasselbe, und da immer einer gewinnt,
überlisten wir so das Schicksal.“
Sie blickte ihn mit feuchten Augen an, wischte sich die Hände an der
Serviette ab, kam um den Tisch, setzte sich auf seinen Schoß und
küßte ihn
stürmisch und intensiv. „Ich liebe dich“, flüsterte sie nach einer Weile.
„Fühl mal, wie ich dich liebe“, neckte er sie und führte ihre Hand.
„Tatsächlich“, staunte sie, „du kannst ja schon wieder – aber wir
haben ja noch den ganzen Abend vor uns. Jetzt wollen wir erstmal
unseren Kaffee-Besuch absolvieren. Sie heißt Frau Haferkamp, und
man kann sich sehr gescheit mit ihr unterhalten.“
Er schüttete die Knochen in den Abfallbehälter und stellte das
Geschirr zusammen auf die Spüle. „Jetzt werde ich mir ein Glas
Brandy und eine Zigarre genehmigen. So ist die Welt in Ordnung: Mir
geht es gut, und meine Frau hat Arbeit.“ Sie lachte: „Das ‚meine
Frau‘ klingt ja ganz gut, ist aber juristisch nicht ganz in Ordnung.“
Übertrieben kummervoll erwiderte er: „Warum muß ich eine
intelligente, selbstständige Frau lieben? Ein unterwürfiges
Dummerchen aus Asien kann man nach Gebrauch in die Ecke
stellen.“
Er verzog sich in einen Kaminsessel. Durch die Tür rief sie ihm zu.
„Wäre dir so eine lieber?“ „Gott bewahre!“ – rief er zurück, „ein
Kollege hat so eine. Die hat ihn wegen jeder minimalen Kleinigkeit
um Erlaubnis gefragt. Nach einem halben Jahr ging er fast die
Wände hoch.“ Nach ein paar Minuten kam sie aus der Küche, setzte
sich zu ihm und schenkte sich auch ein Glas ein. „Was, schon
fertig?“ – fragte er verblüfft. „Spülmaschine“, antwortete sie
verschmitzt.
Die Haustür des Bungalows wirkte mit ihrem Eichenrahmen und den
aufgesetzten Kassetten sehr massiv. Auf einem einfachen
Messingschild stand ebenso schlicht der Name ‚Haferkamp‘. Diese
wandte sich an die junge Frau: „Du kannst jetzt Kaffee kochen,
Renate – und den Kuchen bringen.“ Auf einer hochlehnigen
Sitzgruppe nahmen sie Platz. Der Raum war modern eingerichtet –
Bücherregale und ein Flügel dominierten. Die Wand zum Garten
wurde von einem großen Fenster gebildet.
„Renate ist Studentin und hilft mir ein paar Stunden am Tag. Dafür
wohnt sie hier und verdient noch ein wenig, „ erklärte Frau
Haferkamp. „Und wie ist das mit euch beiden? Ist die Sache ernst?“
Alexander fand, daß sie die Sache gar nichts anginge und überließ
Brigitte die Antwort.
„Wir kennen uns erst zwei Tage. Aber wir passen wie Topf und
Deckel“, lachte Brigitte. „Ihr legt aber ein Tempo vor“, staunte die alte
Dame. Sie wandte sich an Alexander: „Ich entschuldige mich für
meine Neugier – aber so bin ich nunmal.“
Ihre Offenheit machte sie sympathisch. „Fragen können Sie immer“,
meinte Alexander. „Aha“, schmunzelte Frau Haferkamp, „aber ob ich
eine Antwort bekomme, bleibt dahingestellt, wie?“ „Das werden Sie
dann schon merken“, grinste Alexander, „es gibt Politiker, die können
stundenlang reden, ohne etwas zu sagen. Die müssen dann nur ein
gutes Gedächnis haben, denn ein schlechtes Gedächnis kann sich
nur einer leisten, der die Wahrheit sagt.“ Worauf Frau Haferkamp
den Seitenhieb verstärkte mit der Bemerkung: „Aber nur tapfere und
selbstsichere Menschen wie Sie“, sie sah Alexander freundlich an,
„sagen die Wahrheit. Und auch nur die bekommen dann auch, was
sie wollen.“ Ihr Blick wechselte zu Brigitte und die meinte: „Nicht
immer, aber meistens.“
„Sie sind so herrlich braun“, plauderte die alte Dame, nun wieder zu
Alexander blickend, weiter, „wo muß man dafür hinfahren?“
Alexander war amüsiert über das geschickte Verhör und antwortete:
„Nun, ein paar Jahre Arabien, zwei Jahre Afrika und ein Jahr
Spanien. Aber nicht als Tourist. Mir hat niemand was vererbt – ich
muß arbeiten.“ Renate kam mit einem Tablett herein und verteilte
Teller, Tassen und Bestecke. „Das interessiert mich auch, ich bin
gleich wieder mit dem Kaffee hier“, und im gleichen Atemzug, „ist das
nicht schrecklich, was jetzt in Südafrika passiert ist?“
Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Entweder christlich
oder links – dachte Alexander – auf jeden Fall aber ungenügend
informiert. Sie kam zurück, schwer beladen mit Kaffeekanne und
Kuchentablett, schenkte Kaffee ein und verteilte Kuchenstücke.
„Schwarzwälder Kirschtorte“ – hofierte Alexander erfreut, „eine
Kalorienbombe zwar – aber da kann man ja nicht widerstehen.“ Er
nahm sich zwei Stücke Würfelzucker, goß Milch ein und rührte um.
Eine große Blase bildete sich in seiner Tasse. „Seht mal“, er deutete
auf die Tasse, „heute bekomme ich noch einen dicken Kuß.“ Brigitte
knuffte ihn liebevoll in die Seite: „Dann werde ich dich mal nicht aus
den Augen lassen, sonst kommt mir noch eine andere zuvor.“
Die anderen beiden lächelten. Alexander kostete den Kuchen.
„Schmeckt prima“, lobte er, „und damit zu meiner Meinung über
Afrika: Keine Ideologie, sondern das, was ich sah und hörte. Zuvor
noch eine kurze Feststellung: Das größte Unrecht ist das, welches in
der Form des Rechts geschieht.
Gut, die Neger sind also kein einheitliches Volk, sondern noch
unterschiedlicher als die Europäer. Nigeria beispielsweise ist ein
einziges großes Drecksloch. In meinen zwei Jahren dort traf ich nur
drei oder vier Einheimische, mit denen ich mich an einen Tisch
setzen würde. Am schlechtesten zu ertragen sind Neger auf hohen
Posten – bauernschlau – aber sonst dumm wie Bohnenstroh und
arrogant.“
Renate unterbrach ihn: „Sie wurden eben jahrhundertelang von
Weißen unterdrückt und als Sklaven verschleppt und verkauft.“
„Klarer Fall von Fehlinformation. Das Innere von Nigeria hatte vor
hundert Jahren kein weißer Mann betreten. Westafrika war das Grab
des weißen Mannes. Es gab nur ein paar Stützpunkte an der Küste,
und die Sklaven wurden von anderen Negern gefangen und bei den
Schiffen abgeliefert. Aber auch nur, weil sie zu blöd waren, selber
Schiffe zu bauen.
Kamerun und Togo sind sauber und die Menschen sind freundlich.
Wahr-scheinlich, weil dort erst Deutsche und dann Franzosen waren.
Diese kulturelle Mischung scheint dort ganz gelungen.
In ganz Afrika existiert keine wirklich funktioniernde Demokratie. Die
Südafrikaner wären ganz schön bescheuert, wenn sie die Macht den
Negern übergeben würden. Nach einem halben Jahr würde
vermutlich kaum mehr was funktionieren.
Allerdings müssen die Buren die Neger jetzt in gewissen Bereichen
mitreden lassen. Früher waren sie eben nicht konsequent genug und
zu faul. Die Amis hingegen rotteten ihre Ureinwohner, die Indianer,
aus und erledigten ihre Arbeit selber.“
„Damit bin ich nicht einverstanden!“ – sagte Renate kriegerisch. „Es
ist nicht christlich, die Neger als Menschen zweiter Klasse zu
behandeln.“ Alexander trank seinen Kaffee und fuhr fort: „In der Bibel
wird Skaverei nicht verdammt. Paulus befahl dem entflohenen
Sklaven Onesimus, zu seinem Herrn zurückzukehren. Womit er wohl
meinte, der Skave solle auf soziale Gerechtigkeit im Jenseits warten.
Selbst Voltaire war der Meinung, die Sklaverei sei so alt wie der
Krieg und der Krieg so alt wie die Menschheit. In unserem
Selbstverständnis ist nichts so verächtlich wie die Sklaverei. Weshalb
spielen alle Jungs Indianer – aber nie Neger? Ihren Humanismus in
Ehren – aber gute Menschen richten manchmal ein fürchterliches
Unheil an.“
Alexander nahm sich noch ein Stück Kuchen und ließ sich Kaffee
nach-füllen, mampfte zufrieden und trank noch eine dritte Tasse.
Renate hatte es die Sprache verschlagen. Sie suchte krampfhaft
nach Argumenten. Frau Haferkamp nickte nachdenklich, und Brigitte
blickte Alexander liebevoll an und meinte: „Wie immer bei solchen
kontroversen Auseinandersetzungen wird es wohl auch hier so sein,
daß die Wahrheit irgendwo in der Mitte zwischen beiden
Streithähnen liegt.“
Alexander nickte leicht zustimmend und wollte Renate noch etwas
zum Nachdenken geben: „Es ist immer leicht, als Unbeteiligter aus
der Ferne ein humanes Urteil zu fällen. Wenn man eine bestimmte
Situation aber als direkt Beteiligter miterlebt, urteilt man gewöhnlich
anders. Ich bin ja auch gegen Scheinmoral und Heuchelei,
Verfälschung der Geschichte und ähnliche Dinge. Deshalb drücke
ich mich bewußt kraß und provozierend aus.
Ein guter Tip ist sicherlich, fertigen Meinungen und auch vielen
Informa-tionen zu mißtrauen. Auch ich lese jede Woche treu und
brav meinen Spiegel. Selbst im Ausland. Weil die Fakten meistens
stimmen. Lügen kann man aber auch durch Weglassen. Dazu ein
Beispiel:
In einer kleinen Stadt in Nigeria gab es einen Sektenaufstand. Das
war irgendwo an der Grenze zu Kamerun. Die Armee rückte an, und
es starben gut tausend Menschen. Ich weiß das von unserem Fahrer
auf der Baustelle.
Einige Tage später stand es in einer nigerianischen Zeitung. Es war
aber weder im Spiegel zu lesen, noch im Stern, noch in einer
anderen deutschen Zeitung. In Südafrika hingegen werden drei
Polizistenmörder hingerichtet. Darüber berichtet dann sogar das
Fernsehen, und unser Bundeskanzler sendet ein Protest-Telegramm.
Bei allen Dingen sollte man immer wieder kritisch prüfen, wem diese
mittelbar und unmittelbar nützen. Kurzfristig grausame Maßnahmen
können sich langfristig human auswirken - und umgekehrt natürlich.
Vieles sieht anders aus, wenn man den Dingen auf den Grund geht
und die Folgen bedenkt.“
Renate räumte den Tisch ab und meinte: „Sie sind ein ganz
gefährlicher Mann – denn einige meiner Überzeugungen brachten
Sie ins Wanken.“ Alexander entgegnete ernst: „Ich würde mich
freuen, wenn ich Ihnen Anstoß zu selbständigem und kritischem
Denken liefern konnte.“
Die alte Dame fragte: „Könnt ihr beiden noch ein bischen bleiben?
Ein interessantes Gespräch ist immer ein ganz besonderes
Vergnügen für mich.“
Der Nachmittag war noch jung. Sie blickten sich an und nickten. Frau
Haferkamp erhob sich und setzte sich an den Flügel. „Jetzt werde ich
euch zur Entspannung etwas vorspielen.“ Sie blickte Alexander
fragend an: „Als Hauptgast dürfen Sie bestimmen.“ „Wagner oder
Beethoven“, bat er.
Renate kam herein und erkundigte sich nach den Getränken.
Alexander und Brigitte blieben beim Brandy, Frau Haferkamp
entschied sich für einen Sherry. Dann griff sie in die Tasten und
erwies sich als ausgezeichnete Interpretin. Alexander war nicht
musikalisch, konnte aber Musik beurteilen. Er lehnte sich zurück, zog
eine Zigarre hervor und hob sie fragend hoch. Die alte Dame nickte
lächelnd, und er begann, Rauchringe zu produzieren. Er fühlte sich
wohl: Angenehme Gesellschaft – satt und zufrieden und die Aussicht
auf eine leidenschaftliche Nacht mit einer schönen, phantasie-vollen
Geliebten. Schön vorsichtig – dachte er – nichts kann der Mensch
schlechter ertragen als eine Reihe von besonders guten Tagen.
Frau Haferkamp setzte sich wieder in ihren bequemen Sessel und
wandte sich an Alexander: „Sie sind ja hautnah mit vielen Sorten
Menschen zusammen gekommen. Was halten Sie von unserem
Ausländerproblem?“
„Solche Themen werden üblicherweise auch sehr emotional
behandelt“, erwiderte Alexander nachdenklich. „Zur sachlichen
Abhandlung muß man das Problem auf die Wurzeln reduzieren. Erst
mal ist es nicht nur unser Problem. In England, Frankreich und
einigen anderen Ländern ist es kaum anders. Da machen sich die
meisten Menschen wohl ein falsches Bild, beispielsweise von den
Türken. Denn wer aus der Türkei hierher kommt, um zu arbeiten, ist
meist anatolischer Bauer und vielfach auch noch Analphabet. Ein
gebildeter kultivierter Türke bleibt gewöhnlich zu Hause, hat
Beziehungen und eine gesicherte Position. Es ist vielfach eine Frage
der Menge. Ein paar sind exotisch und werden geduldet. Aber zu
viele schaffen Nachteile für die eigene Bevölkerung, nehmen
Arbeitsplätze weg, besetzen billigen Wohnraum und bringen das
Schulsystem durcheinander. Und wenn die dann noch überwiegend
aus einer bestimmte Bevölkerungsgruppe kommen, wie der
ungebildete Arbeiter oder Bauer – dann verfälschen sie leicht das
Bild über ihr Volk. Außerdem sind sie Mohammedaner, und ein
anderer Glaube ist immer ein spürbarer Fremdkörper.“
„Aber wir haben sie doch gewollt und geholt!“ Wieder war es Renate,
die ein Gefühlsargument ins Spiel brachte. „Deshalb können wir sie
doch jetzt nicht einfach wieder rauswerfen.“ Alexander grinste
spöttisch: „Wer rief sie denn? Bestimmt nicht die Menschen, die jetzt
Nachteile haben. Meiner Meinung wurden die Ausländer geholt, um
die Gewerkschaften unter Druck zu setzen nach dem Motto: Wenn
ihr mit euren Forderungen nicht maßvoll seid, holen wir noch mehr
und verhandeln mit euch gar nicht mehr!
Aber das wahre Problem kommt wohl erst noch. Das sind nämlich
die Kinder – eine wahre Zeitbombe. In Spanien konnte ich mit
einigen spre-chen, die in Deutschland als Gastarbeiterkinder
aufgewachsen waren, die Eltern sind dann wieder zurück. Anfangs
konnte sie nur mit Mühe ihre eigene Sprache sprechen. Nirgends
fühlen sie sich so richtig zu Hause. Dabei gehört Spanien zu Europa
und ist ein altes Kulturland.“
„Aber das ist doch ein Argument für ihre Eingliederung“, warf die alte
Dame ein. „Wie viele wollen Sie denn eingliedern? Bis jeder zweite
ein Ausländer ist? Das führt uns zu der berühmten Frage: Volk ohne
Raum? Wie viel Platz braucht ein Mensch? Je mehr Menschen auf
einem Haufen
leben, um so komplizierter wird das Zusammenleben und um so
weniger Freiraum verbleibt dem Einzelnen. Lemminge stürzen sich
bei Über-bevölkerung ins Meer. Sperrt man Ratten in Massen in zu
kleine Käfige, werde sie unfruchtbar und zerfleischen sich
gegenseitig.“
Brigitte saß zurückgelehnt neben ihm auf der Couch und hatte die
Augen halb geschlossen. Alexander legte seine rechte Hand kurz
oberhalb ihres Knies auf ihren Oberschenkel und drückte mit seinen
Fingern seitlich zu. Mit einem Quietschen fuhr sie auf. „Ich dachte
schon, du bist einge-schlafen“, sagte er und lachte über ihre
entrüstete Miene. „Aber nein – ich habe nachgedacht.“ „Das kann nie
schaden“, spottete er, „und mit welchem Ergebnis?“ „Ich frage mich,
ob es einen Zusammenhang gibt zwischen dem Zusammenleben in
der heutigen Enge und dem Rückgang der Geburten.“
„Der Aspekt ist interessant“, gab Alexander zu, „aber ich denke, die
Über-bevölkerung in der dritten Welt wird hauptsächlich durch den
Zwang zur Alterssicherung verursacht. Und das sind dort nun mal die
Kinder. Würden diese Staaten Altersrenten Zahlen, hätten sie wohl
bald keine Überbevölkerung mehr. Aber du meinst sicher die Sage
vom Volksunterbe-wußtsein – oder?“
„Mein Vater hat daran wissenschaftlich gearbeitet – so sehr war er
davon überzeugt“, sagte Brigitte. Die alte Dame warf nachdenklich
ein: „ich unterhielt mich öfter mit deinem Vater darüber, und die
Theorie hat viel für sich.“ Renate war neugierig geworden. „Erzählen
Sie bitte – ich kann mir nichts darunter vorstellen.“
Brigitte dachte kurz nach, nippte an ihrem Glas und führte aus: „Mein
Vater glaubte, daß ein Volk ein kollektives Unterbewußtsein besitzt,
das sich aus vielen Informationen und Fakten bildet. Und die Massen
würden aufgrund dieses unbewußten Wissens handeln. Falls man
dieses Muster herausfinden könnte, würde man imstande sein,
Manipulation und Verführung der Massen zu verhindern oder die
demokratischen Verhältnisse zu bessern. Beispielsweise durch die
Verbesserung der Wahl-Beurteilung durch die Wähler. Die
Wahlergebnisse würden objektiver ausfallen, weil die WahlVerblendung der Wähler aufgedeckt werden könnte.
Womit viele Wähler nicht mehr SPD wählen würden, weil die ja die
Arbeiterpartei sein will, aber oft gegen diese Ausrichtung handelt.
Aber auch nicht die CDU, weil die sich ja christlich nennt, aber sehr
oft völlig unchristlich handelt. Diese Fehlerliste könnte man noch
lange fortsetzen. Mein Vater hielt eine Art von Strichliste für optimal,
in der jeder Wähler abhakt, welche Partei für ihn persönlich etwas
getan hat – und dementsprechend dann wählt.“
„Richtig“, warf Alexander ein, „aber nur, wenn klar zu unterscheiden
wäre zwischen scheinheiligen oder hinterlistigen Wahlgeschenken
und wirklich positiven Handlungen.“ „Da könnte ich mich
anschließen“, meinte Renate, „die Informationen müßten umfassend
und die Bildung hoch sein – dann würde sich mancher Politiker
wundern.“
Die alte Dame fragte in die Runde: „Stört es euch, wenn ich mir mal
kurz die Nachrichten einschalte? Ich möchte gern die
Auseinandersetzung über Faßbinders Theaterstück verfolgen.“
„Würde ich auch gern sehen“, schloß sich Alexander an, „der
Hintergrund ist auch ein Lehrstück über das kollektive
Unterbewußtsein. Aber reden wir nachher darüber.“
Sie sahen schweigend die Nachrichten. Danach wurde der
Fernseher wieder abgestellt. Renate stand auf und sagte: „Ich mache
schnell noch einen kleinen Imbiß. Das wird bestimmt noch eine
anregende Diskussion.“ Frau Haferkamp sagte: „Abends gibt es bei
uns immer Tee. Sie können aber auch Bier oder Wein haben.“ „Tee
ist schon recht. Aber wir werden Renate etwas helfen. Sie möchte ja
wohl nicht ausgeschlossen sein.“ Er ging in die Küche, und Brigitte
folgte ihm.
Als er das gut sortierte Tee-Regal sah, verkündete er: „Den Tee
könnt ihr mir überlassen.“ Er setzte Wasser auf, hängte den Teefilter
in die Kanne und fischte sich aus dem reichhaltigen Angebot seine
Lieblingssorte heraus: Schwarzen Tee mit Wildkirsche. Die beiden
Frauen belegten Brote mit Käse, Schinken und Salami. Er nahm
einen vollen Teller und brachte ihn ins Wohnzimmer. „Vertragen Sie
schwarzen Tee am Abend?“ – fragte er Frau Haferkamp und als sie
bejahte: „Wie möchten Sie ihn?“ „Anregend – bitte.“
Er ging wieder in die Küche, maß den Tee ab, goß das kochende
Wasser darüber und ließ ihn fünf Minuten ziehen. Dann saßen sie
wieder alle um den Tisch, kosteten den Tee, nickten anerkennend
und stärkten sich erst mal an den Broten. Renate hatte eine Kassette
mit
klassischer
Musik
eingelegt
und
eröffnete
den
Meinungsaustausch.
Rückblende
„Morgen Helge, wie geht’s?“ Der junge Mann, 170 Zentimeter groß,
strohblond und drahtig, drehte sich um. „Morgen Alex, wie soll’s
schon gehen? 83 Zentimeter und der Rest von heute.“ Sie
schlenderten zum Kasino, um in Ruhe zu frühstücken. Ein paar Tage
hatten sie Gammeldienst.
„Mal sehen, was der Alte sich wieder ausdenkt“, unkte Alex. Sie
sahen sich beide an und grinsten in Gedanken an ihren letzten
Streich. Ganz zu Anfang hatte Hauptmann Gerke ihnen klar
gemacht, wo es lang ging:
„Ihr seid hier, Männer, um Kämpfer zu werden. Ihr werdet Muskeln
spüren, von denen ihr bisher keine Ahnung hattet, usw...“. Was für
ein Angeber – dachte Alexander. Er war sportlich mit ausgeprägten
Muskeln; hatte ein paar Geländerennen mit seiner BMW gewonnen,
besaß den braunen Judo-Gürtel und hatte eigentlich vor nichts
Respekt.
Tatsächlich lernte er auch noch ein paar unbekannte Muskeln
kennen. Waffen hatten ihn schon immer interessiert, und so machte
ihm die ganze Sache Spaß. Nach der Grundausbildung zeigten sich
erst richtig die entsprechenden Talente. Dauernd testete Hauptmann
Gerke die Erhöhung der Leistungsbereitschaft.
Eines Tages gab er bekannt: „In zwei Wochen nimmt unser bester
Zug an einer Sturmboot-Prüfung der Pioniere teil. Mal sehen, auf
welchen Platz unsere Mannschaft landet.“ Das gesamte Bataillon
rannte, hüpfte und quälte sich freiwillig. Alex gewann mit seinem Zug.
Er war Zugführer infolge einer außergewöhnlichen Eigenschaft:
Niemals verfranzte er sich.
Er brauchte nur Karte und Kompaß, um sich seinen Standort und das
Ziel einmal fest einzuprägen – er konnte in dunkler Nacht los gehen
und kam an.
Die Aufgabe bestand aus einer Rhein-Überquerung mit Sturmbooten.
Die Boote mußten aus einer Deckung heraus ans Ufer gebracht
werden. Dann war der Fluß zu überqueren, und drüben kam es
darauf an, das Boot zu verlassen und schnell eine Deckung zu
finden. Die Prüfungsoffiziere be-saßen einen guten Überblick von
einer Felskanzel aus.
Alexander hatte die Stelle der Überquerung herausgefunden. In der
Schreibstube wurden die Transportbefehle ausgefertigt, für Alex war
es ein Leichtes, den genauen Übungsort heraus zu finden. Die
Sturmboote mußten verladen und die Lastwagen bereit gestellt
werden. Die Schreibstuben-Bullen waren meist gelangweilt,
geschwätzig und angeberisch und sehr dankbar, wenn sie von einem
Elite-Krieger wie den Fallschirmjägern ernst genommen wurden. Alex
fuhr ein paar Tage vor der Übung zur Ortsbesich-tigung. Er
betrachtete sich die Ufer an beiden Seiten und wußte, was zu tun
war. Die Boote durften nur seitlich im Abstand zu Wasser gelassen
werden – wegen des angenommenen feindlichen Feuers. Vom
Parkplatz der Boote aus gab es nur einen leichten und idealen
Zugang.
Beim Startkommando dirigierte Alexander sein Boot sofort zur
richtigen Stelle, die anderen mußten seitlich ausfächern. Mit fast zwei
Minuten Vorsprung konnten sie ihr Boot ins Wasser werfen. Fast
wäre ihr Vorteil dahin gewesen, da der Motor erst nicht anspringen
wollte. Sie hatten alles eingehend durchgesprochen. Alexander saß
am Steuer und jagte das Sturmboot mit Höchstgeschwindigkeit und
kurzen Schlenkern auf den Markierungspunkt am Ufer zu. Rechts
und links am Bootsrand, dicht hintereinander, saßen sprungbereit
seine Kameraden, um beim Auflaufen am Ufer heraus zu springen
und einen beherrschenden Hügel hundert Meter weiter zu besetzen.
Hinter dem Hügel gab es eine alte Vorratshütte aus Felssteinen. Weit
und breit gab es keinen besseren Platz. Aber der Mensch denkt, und
Gott lenkt.
Alex hatte nicht unter Wasser sehen können. Direkt am Ufer unter
der Wasserlinie befand sich ein großer, langgestreckter Felsblock.
Badeausflug am arbeitsfreien Freitag in Abu Dhabi.
In voller Fahrt krachten sie dagegen, alle, außer Alexander am
Steuer, wurden in Fahrtrichtung seitlich rechts und links hinaus
geschleudert. Sie waren ja ohnehin bereit gewesen, hinaus zu
springen. Als Fallschirm-springer hatten sie keine Probleme mit der
Landung und dem Abrollen. Das Boot war noch ein wenig weiter
gerutscht und lag nun fest zwischen Strand und Felsen. Alex sah den
eingedrückten Bootsboden aus den Augenwinkeln und sprintete
hinter den anderen her. Sie erreichten den Hügel und schossen eine
Leuchtpatrone ab. Alexander trug zur Kontrolle die Zeit ein und
sagte: „Feuer frei, Jungs.“ Alle zündeten sich Zigarretten an und
harrten zuver-sichtlich der Dinge, die da kommen sollten.
Sie rechneten mit zwei bis drei Stunden, bis die Wertung vorliegen
würde. Alexander kannte seine Pappenheimer, hatte am Tag zuvor
gesammelt und hinter der Hütte pro Nase zwei Flaschen Bier
versteckt. Diese Kleinigkeiten sind’s, aus denen Legenden
entstehen. Als er in späteren Jahren ab und zu einen aus dem Zug
wiedertraf, hatte jeder diesen Biervorrat jeweils am besten in
Erinnerung behalten.
Nach zwei Stunden kam Hauptmann Gerke und strahlte: „Also, ihr
seid die Nummer Eins. Am schnellsten über den Fluß, die beste
Deckung habt ihr auch - aber am allergrößten war eure Landung am
Ufer. Meine Kollegen von der Jury waren enorm beeindruckt. Ihr seid
ja wie die Kastenteufel aus dem Boot an Land gehüpft.“
Alle grinsten vor Freude. „Jetzt schnappt euch euren Kahn und bringt
ihn wieder rüber zu den Trailern.“ Alexander mußte jetzt
notgedrungen ihre Havarie berichten. Das Gelächter und die
Schadenfreude bei den Pionieren war groß. Dennoch wurde die
Auszeichnung nicht zurück genommen – der Felsen war ‚höhere
Gewalt‘.
Am meisten Spaß bereitete das Überlebens-Training. Alexander und
Helge waren ein paar Wochen zuvor mit dem Fallschirm abgesetzt
worden. Fall-schirm zusammen legen und beim nächsten
Kontrollposten abgeben. Ein Fallschirm kostet viele Steuermärker.
Und dann in drei Tagen 200 Kilo-meter zurück zur Kaserne. Als
Hilfsmittel nur ein Messer. Fahren per Anhalter war nicht gestattet.
Regenwürmer und Schnecken, um den Hunger zu stillen, waren
nicht Alexanders Fall. So realistisch brauchte das Training ja auch
nicht zu sein.
Gleich am ersten Nachmittag trafen sie es richtig. Sie klopften bei
einem Almbauern an, und als der ihre Schwingen auf den Ärmeln
erblickte, war er ganz aus dem Häuschen. Mit Schmeling war er über
Kreta abgesprungen und später in Tunis nach einer mörderischen
Schlacht gegen eine erdrückende Übermacht in amerikanische
Gefangenschaft geraten. Zwei Tage lang unterhielt er die beiden mit
Witzen und Geschichten aus großdeutscher Zeit, was Küche und
Keller zu bieten hatten und fuhr sie am dritten Abend zur Kaserne,
setzte sie einige hundert Meter vorher ab und lud sie ein, mal wieder
zu kommen.
Hauptmann Gerke musterte die beiden prüfend und fragte, an
welchem weichen Busen sie sich die letzten Tage herum gedrückt
hätten. Sie erzählten eine wilde Story mit unglaublichen Strapazen
und er glaubte ihnen kein Wort.
Alexander und Helge hatten ihr Frühstück beendet und rauchten in
Ruhe eine Zigarette, erzählten sich die neuesten Witze und
überlegten sich einige Argumente für die nächste Diskussion. Auch
das war immer interessant, lag aber nur an ihrem Alten. Der
verstand, Zusammenhänge plastisch darzu-stellen und kannte auch
kein Tabu. Sein ständiger Spruch war: „Die Zukunft gehört dem
Einzelkämpfer, und auch der Geist muß geschult sein. Es darf nicht
wieder geschehen, daß selbst Offiziere einem dialektisch geschulten,
kommunistischen Spezialisten fast hilflos gegenüber stehen.“
Helge und Alexander übernahmen wechselseitig die Position des
Westens und des Ostens – sie konnten sich damit gut vorbereiten
und später andere in Verlegenheit bringen. Hauptmann Gerke war
ein unbarmherziger Schiedsrichter.
Diesmal hatte der Alte wieder eine Überraschung für sie: „Ich habe
mit den Amis eine Vereinbarung. Die haben auch ein bischen
Training nötig. Wir werden ihre Raketenstellung mit Kommandos
angreifen. Der amerikanische Oberst und ich legen die Stellung und
die Woche fest.
Diese bestimmte Raketenstellung müssen wir also an einem der
einge-grenzten Tage zu erobern versuchen. Nun meine Warnung:
Nur die Offiziere besitzen scharfe Munition. Die Gis sind zu zwanzig
Prozent Analphabeten und lesen nur Comics wegen der Bilder. Es
gibt keine Garantie, daß nicht doch einer versucht, euch eine blaue
Bohne in den Hintern zu jagen. Sie sind wegen Vietnam mächtig
frustriert. Bei denen macht das Gerücht die Runde, wir würden sie
auslachen, weil sie nicht mit 250.000 Vietcong fertig würden, wobei
wir damals im Rücken der Ostfront 300.000 Partisanen hatten, und
der Gegner vor der Hauptkampflinie auch noch zahlenmäßig ein paar
mal überlegen war.“
Anschließend lief eine Diskussion, in der Helge die Position des
Ostens übernahm. Er begann mit einem allgemeinen Angriff auf
Amerika: „Amerika ist auf Gewalt und Mord gegründet. Die Lüge
beginnt schon bei der Verfassung, wo steht: Wir sind das Volk von
Amerika. Dabei wurde diese Verfassung nicht vom Volk, sondern von
ein paar besitzenden Bürgern entworfen, und die zementierten erst
mal ihre eigenen Interessen. An den nachfolgenden Wahlen durften
sich dann nur je nach Staat zwischen vier und zehn Prozent der
Bevölkerung beteiligen – also im wesentlichen nur, wer Grundbesitz
und Vermögen hatte. Und wie ist es heute dort?
Drei Prozent der Amerikaner verfügen über achtzig Prozent des
Eigentums und des Produktionsapparates. Und dann die angeblich
so demokratischen Wahlen. Die Wahlbeteiligung an den
Präsidenten-Wahlen beträgt selten mehr als fünfzig Prozent. Wenn
also dreißig Prozent der Amerikaner den Präsidenten wählen, dann
hat er die Mehrheit.
Bezeichnend für die Moral der Amerikaner ist, daß der Sprecher
einer Handelskammer öffentlich erklären kann: Profit sollte den Rang
haben von so geheiligten Begriffen wie Heim und Mutter.
Welche der großen Parteien man auch wählt – immer wählt man die
Draht-zieher der Geld-Oligarchie. Für die Massen existieren die
Aufstiegs-illusionen wie ‚vom Tellerwäscher zum Millionär‘. Aber dies
ist nur ein Ventil. Dadurch verpulvert sich die revolutionäre Kraft, die
nach einem Platz an der Sonne drängt, im Kampf der Kleinen
gegeneinander.
Wenn zwei sich streiten, freut sich nun mal der Dritte – oder
einfacher: Teile und herrsche!“
Alexander übernahm die Gegenposition: „Die Fakten an sich sind
nicht zu bestreiten – nur die Schlußfolgerungen stimmen nicht. Die
kleinen hungrigen Jungs aus den Slums bringen die Welt vorwärts.
Nehmen wir als Beispiel den Sport. Wettbewerb bringt Leistung.
West- und Ostdeutschland zusammen erringen bei den olympischen
Spielen meist mehr Medaillen als Amerika oder Rußland – weil von
den beiden deutschen Teilstaaten jeder besser sein will als der
andere.
In Frankreich steht der Lebensgenuß an erster Stelle. Deshalb
werden die Franzosen nie eine herausragende Sportnation sein. Für
Spitzenleistungen muß man sich nämlich quälen. Im Grunde läßt
sich dies alles auf die gegebenen Voraussetzungen zurück führen. In
Amerika hat man eben die Möglichkeit, sich selbständig zu machen
und reich zu werden – was im Osten nicht möglich ist. Das
Wolfsverhalten der amerikanischen Unternehmen gegenüber ihren
abhängigen Arbeitern finde ich auch nicht gut. Kein
Kündigungsschutz, erbärmliche Renten usw. Aber dagegen wirkt hier
bei uns in Westeuropa unsere christlich-humanistische Tradition.
Diese Unterschiede zeigten sich selbst im letzten Krieg – Beispiel:
Die Stadt und das Kloster Monte Cassino in Italien war ein
geographischer Sperriegel gegen die vorrückenden Amerikaner und
wurden
von
der
deutschen
Armee
entsprechend
als
Verteidigungsstellung ausgebaut. Anstatt aber die Stellung zu
umgehen, verarbeiteten die Amerikaner mit ihren Bomberflotten
Stadt und Kloster zu Kleinholz. Die unersetzlichen Kunstschätze des
Klosters wurden von deutschen Soldaten rechtzeitig in Sicherheit
gebracht.
Ein Beispiel von Moral: Bei Kriegsbeginn mit Japan wurden in
Amerika alle Japaner interniert. Gleichgültig, wie lange sie schon
amerikanische Staatsbürger waren. Ihr Vermögen wurde
beschlagnahmt. Die jungen Männer durften sich als Soldaten gegen
Deutschland melden. Diese amerikanisch-japanischen Freiwilligen
bildeten ein gesondertes Bataillon und stürmten, in der Hoffnung auf
Erleichterung für ihre internierten Familien, unter fürchterlichem
Blutzoll die Gustav-Stellung in Oberitalien. Die Versprechungen
ihnen gegenüber wurden nie erfüllt.
Damit will ich nur eins sagen: Die Amerikaner sind für uns kein
leuchtendes Vorbild, aber das kleinere Übel. Wir dürfen uns auch
keine Illusionen darüber machen, daß irgendeiner unserer
Verbündeten uns in der Frage der Neu-Vereinugung helfen würde.
Den meisten sind wir jetzt schon wieder zu stark.
Achte auf deine eigenen Interessen – als Einzelner wie als Volk. Hilf
dir selbst, dann hilft dir Gott.
Das wirklich positive an Amerika ist in den kleinen Gemeinden zu
suchen. Die Nachbarn leben intensiv miteinander und helfen sich
gegenseitig oft vorbildlich.
Jetzt möchte ich aber eine interessante Frage in die Diskussion
einbringen: Die Russen sind eine Nation von Schachspielern, die
Amerikaner dagegen sind Pokerspieler. Ist das Zufall oder Ausdruck
des Volkscharakters?“
Hauptmann Gerke griff ein: „Dazu müssen wir erst einmal definieren,
wodurch die beiden Spiele sich unterscheiden.“ So ging es dann
lustig weiter.
Wobei auch noch manche interessante Ansicht zum Ausdruck
gebracht wurde, wie etwa die von Helge: Mit Geld muß man etwas
nützliches tun – oder eine von Alexander, die da lautete: Kein Mann
gibt freiwillig her, was er hat – alles andere ist Quatsch.
Hauptmann Gerke schärfte ihnen zum Schluß für den
bevorstehenden ‚Kampf‘ noch ein, unbedingt nach der Regel zu
handeln, die Absichten des Gegners gründlich zu analysieren: Was
ist das Ziel des Gegners – wie sein Charakter – was kann er tun?
Eine Woche später war es dann soweit. Alexander lag mit
Feldstecher und Skizzenblock zwischen zwei Tannen und sah von
einem Hügel zu dem eingezäunten Areal der Raketenstellung
hinüber. Die Abdeckungen der Raketen waren schräg in den Hang
eingelassen und sahen aus wie vergrößerte Kanaldeckel. Ein
langgestreckter Steinbau für Autos, Geräte und Vorräte begrenzte
die ‚Kanaldeckel‘ nach links.
Am rechten Ende befanden sich zwei versetzt angeordnete,
viereckige Bauten. Nach dem regen Verkehr zu schließen waren in
dem ersten die Küche und das Kasino untergebracht, während in
dem hinterem die Schlaf-räume sein mußten.
Zwei Doppelstreifen mit je einem Schäferhund umrundeten das
Gelände pünktlich jede halbe Stunde. Sie trafen sich am Tor und am
hinteren Ende der Kanaldeckel. Alexander stoppte die Zeit und trug
sie in der Skizze ein. Das Schema änderte sich auch nach der
zehnten Runde nicht. Und dabei wissen die doch, daß wir es diese
Woche versuchen werden, dachte er und schüttelte den Kopf.
Er hatte die vier Außenposten im Wald außerhalb der Umzäunung
gesehen und ihre Positionen und die Ablösezeiten eingetragen. Als
es dunkel wurde, löste ihn Helge ab. Er hatte ein Nachtglas mit
Restlichtverstärker dabei. Sie lösten sich jeweils im VierstundenRhythmus ab und benutzten getrennte Aufzeichnungen, um sie dann
am Ende zu vergleichen.
Am nächsten Tag besprachen sie ihren Plan mit Hauptmann Gerke.
Dieser gluckste vor Vergnügen: „Die Amis denken natürlich an
Narkosepatronen, Blendgranaten, Tränengas und Nebeltöpfe – die
werden Augen machen.“ Er versprach, die präparierten
Sprengladungen zu besorgen und legte ihnen nochmals ans Herz,
bei der Überwältigung der Wachposten aufzupassen: „Einem Neger
könnt ihr drei Mal auf den Kopf hauen – der blinzelt bloß. Bei einem
Weißen genügt ein Schlag und der ist hin.“
Alexander rief den Zug zusammen und erläuterte den Plan. Alle
waren begeistert, steuerten noch ein paar Verbesserungsvorschläge
bei und trainierten den Rest des Tages. Abends zogen alle los, um
nach einer heißen Schäferhündin zu suchen. Sie fanden sogar zwei
und gewöhnten sie daran, Schokolade zu mögen. Was jedoch keine
Anstrengung bereitete, denn die beiden Hundedamen hatten einen
Heißhunger darauf. „Typisch Weiber“, meinte Helge, „halte ihnen
was Süßes vor die Nase, und sie können nicht widerstehen.“ Den
kommenden Vormittag verbummelten sie. Gegen Mittag kamen ihre
Spezial-Sprengsätze, und einen probierten sie aus. Nach dem
Mittagessen wurde gepackt. Sie wollte für alle Fälle beide Hündinnen
mitnehmen.
Dann ging es auf Umwegen mit Privatwagen zum Zielort, um
eventuelle Späher zu täuschen. Etwa eine Stunde vor Beginn der
Dämmerung kamen sie auf ihrem Beobachtungshügel an, und Alex
zeigte seinen Kameraden die einzelnen Positionen. Als es dunkel
wurde, hatten sich die anderen alles eingeprägt, und das
Nachtsichtgerät ging von Hand zu Hand.
Angreifen wollten sie erst im Morgengrauen, wenn die Nebel stiegen.
„Ihr müßt davon ausgehen“, warnte sie Alex, „daß die ebenfalls mit
Nachtsichtgeräten ausgerüstet sind – und zwar jeder Posten.“ Keiner
wollte schlafen. Sie stellten zwei Mann als Wache auf, und die
Wachen wurden jede Stunde abgelöst. Die Zeit verging mit leise
erzählten Geschichten, und auf einmal war es soweit. Als Alex das
Kommando gab, wußte jeder, was er zu tun hatte. Pro Außenposten
waren zwei Mann zur Ausschaltung einge-teilt. Alex und Helge hatte
Alfred mitgenommen. Der Hellste war er zwar nicht – aber
bärenstark. Alfred sollte ihnen die Rucksäcke über den Zaun werfen
und bei der Rückkehr die Sprungstäbe bereit halten. Daß Alex Alfred
dafür einteilte, brachte ihm dessen lebenslange Freundschaft ein.
Die restlichen fünf Mann stellte die strategische Reserve dar und
sollten sich an der rechten Zaunseite postieren, um, falls etwas
schief gehen sollte, mit genügend Lärm für Ablenkung zu sorgen.
Später taten die acht Mann ihre Überwältigungs-Aktion mit lässiger
Hand-bewegung als Kleinigkeit ab. Einer der Posten schlief. Er war
gefesselt und geknebelt, bevor er richtig wach werden konnte. Der
zweite Posten gurgelte wegen der Morgenkühle kräftig mit Whiskey,
verschluckte sich und wäre fast erstickt, als er angegriffen wurde.
Der dritte saß mit heruntergelassener Hose am Waldrand und
drückte mit aller Macht. „Es stank bestialisch“, erzählte Roland, „ich
hab ihn erst mal in seinen Haufen gedrückt, vor Schreck verschlug
es ihm die Sprache.“ Nur der letzte beobachtete aufmerksam die
Umgebung mit einem Nachtsichtgerät, rauchte aber wie ein Schlot
und konnte auch keinen Warnschrei ausstoßen.
Alle hatten Trillerpfeifen und Leuchtpistolen dabei. Sie wurden
sorgfältig geknebelt und an den nächsten Baum gebunden. Die
Ablösung würde sie in einer halben Stunde finden. Die acht sollten
eine halbe Stunde warten und dann den Rückzug antreten.
Die vier am Tor hielten die beiden Hundedamen kurz und ließen sie
hin und wieder etwas Schokolade naschen. Plötzlich kamen von
beiden Seiten des Tores die beiden Doppelstreifen in Sicht. Die vier
Mann trafen sich am Tor und unterhielten sich leise. Es war fast
windstill – aber die Hundenase ist um ein Vielfaches empfindlicher
als eine Menschennase.
Gerd nahm einen Doppelriegel Schokolade, ließ eine Hündin daran
riechen und warf ihn dann zum Tor. Er ließ die Hündin los, und diese
rannte japsend los, mit der Nase am Boden. Sofort war am Tor die
Hölle los. Die beiden Hunde stießen ein winselndes Heulen aus,
sprangen am Tor hoch und versuchten, am Maschendraht
hochzuklettern. Die Posten riefen aufgeregt durcheinander,
schalteten ihre Taschenlampen ein und leuchteten die Gegend ab.
Sie entdeckten die Hündin, welche die Schokolade bereits
verschlungen hatte, sich die Lefzen leckte und nach mehr
schnupperte. Dabei wedelte sie verächtlich mit ihrem Hinterteil vor
den Nasen der beiden Rüden hin und her, völlig unbeeindruckt von
deren Getobe.
Ein fragender Ruf erscholl vom Kasino her. Die Posten am Tor
antworteten lachend mit Erklärungen. Das ganze Intermezzo dauerte
fast zehn Minuten, bis die Posten wieder ihre Runden aufnahmen,
ihre Hunde mühsam mit sich zerrend. Die Hundedame kam wieder
hinter den Holzstoß getrottet, nach mehr Schokolade bettelnd. Die
vier Mann hatten ihre Aufgabe erfüllt, leinten die Hündinnen an und
machten sich auf den Rückweg.
Alex, Helge und Alfred gelangten ohne Schwierigkeiten an die
hintere Ecke des Zaunes – in etwa zwanzig Meter Entfernung lag der
erste Raketen-schachtdeckel. Als die Hunde anfingen zu toben,
nahmen sie kurz Anlauf und schwangen sich mit ihren Sprungstäben
über den drei Meter hohen Zaun. Der Mond war als schwache Sichel
hinter den Wolken und dem auf-steigenden Nebel kaum zu sehen,
aber ihre Augen hatten sich gut an die Dunkelheit gewöhnt. Alfred
warf die beiden Rucksäcke über den Zaun. Alex und Helge fingen je
einen auf und rannten sofort los. Mit der linken Hand den Rucksack
haltend, mit der rechten eine Sprengladung nach der anderen auf die
Deckel klatschend, rannten die beiden die Reihe der Kanaldeckel ab.
Die Magnethalterung löste beim Kontakt gleichzeitig die Zündung
aus. Drei Minuten hatten sie Zeit.
Nach zwei Minuten waren sie fertig und liefen zum Zaun. Alfred hielt
ihnen die Sprungstäbe hin, und nach kurzem Anlauf waren sie
hinüber – gerade rechtzeitig. Die erste präparierte Sprengladung
brannte ab, bis auf ein kleines Zischen unbemerkbar. Die Ladung
bestand aus einen Zünder und Buttersäure. Noch Wochen später
weigerten sich Techniker, in die stinkenden Raketenschächte zu
klettern. Eine halbe Stunde später war der Zug vollzählig in
aufgekratzter Stimmung auf dem Heimweg.
Roland hatte in seinem Bericht ein kleines Detail ausgelassen –
nämlich, als er dem Ami, als er ihn mit heruntergelassener Hose
erwischte, erst mal kräftig in die Eier getreten hatte. Das war seine
private Rache, weil seine Verlobte ihn vor drei Monaten verlassen
hatte, und einem heimkehrenden GI über den großen Teich gefolgt
war. Jahre später hatte er sie dann wieder getroffen. Sie war
geschieden und besuchte ihre Eltern. „Hätte ich mich bloß vorher
informiert“, jammerte sie ihm vor, „Bill nahm mich mit in seine
Heimat, ein gottverlassenes Nest in Texas. Nichts als Staub und
Wind – dagegen ist Ostfriesland hinterm Deich direkt die große
Welt.“ Geschah ihr recht – dachte Roland später schadenfroh, erst
die Dose hinhalten und dann hinterher jaulen.
Die Amerikaner wollten natürlich Revanche, und diesmal war ein
anderer Zug dran. Die Amis boten alles auf, was mit moderner
Technik machbar war. Infrarot-Überwachung des gesamten
Geländes,
Wärmesensoren,
die
die
Körperwärme
sich
anschleichender Gegner erfaßten; meist waren es Hasen oder Rehe,
aber die Übungen hielten die Posten munter. Distanzradar, mit dem
selbst Messer und Pistolen erfaßbar waren – und noch ein paar
Spielereien mehr. Der Erfolg der ersten Aktion hatte sich
herumgesprochen, und wo Ruhm zu ernten war, durfte natürlich ein
Offizier nicht fehlen.
Leutnant Haferkamp teilte seine Leute in vier Ablenkungstrupps ein,
die als Waldarbeiter, Pilzsucher und Elektriker an der nahen
Hochspannungstrasse die Amerikaner in Atem hielten. Haferkamp
spazierte mit zwei Leuten und gefälschten Papieren in die
Raketenstellung und zeigte einen Auftrag zur Überprüfung der
Raketenschächte vor. Als sie nach sechs Stunden abzogen, hatten
sie in jedem Schacht eine Rauchbombe zurückgelassen und im
Kasino drei Tränengasgranaten versteckt, die dann beim
Abendessen
alle
gleichzeitig über Funk gezündet wurden. Weitere Vorschläge zu
ähnlichen Tests stießen auf wenig Gegenliebe. Ein Gerücht aus gut
unterrichteter Quelle besagte, die Verbündeten wollten mit den
deutschen Fallschirm-jägern nichts mehr zu tun haben. Die hatten zu
viele hoffnungsvolle Karrieren gestoppt.
Alex saß mit Helge im Kasino, nuckelte an seinem dritten Bier und
langweilte sich. „Wollen wir den Sani ärgern?“ – fragte er Helge. Als
der nur nickte, rief er dem gerade Eintretenden zu: „Hallo Ralf, setz
dich zu uns!“ Der krausköpfige, zierliche Sani setzte sich eifrig in ihre
Richtung in Bewegung. Keiner mochte sonst mit ihm zu tun haben –
er war ein fanatischer evangelischer Christ. Eine seltene Sache,
denn die Protestanten sind meist sehr laue Christen. Dieser war ein
Waisenkind und als Baby ausgesetzt worden. Seine Kindheit und
Jugend verbrachte er in Waisen-häusern. Deshalb hatte er die Kirche
als seine Familie erkoren.
Alex wollte weder bekehrt werden, noch Ralf von seinem Glauben
abbrin-gen – aber dieser Fanatismus interessierte ihn. Wenn er mit
Ralf debattierte, bekam er eine Ahnung davon, wozu Fanatiker fähig
sind. Am meisten konnte man ihn auf die Palme bringen, wenn man
die Zeugen Jehovas lobte – die hätte er am liebsten auf glühenden
Kohlen gebraten. Helges Tante war Mitglied und hatte die beiden in
den Kaisersaal mitgeschleppt. Alex war beeindruckt von der Disziplin
und der Gläubigkeit der Versammelten, doch langweilte er sich
tödlich. Er war neugierig gewesen – ein zweites Mal würde ihn
niemand mehr zu einer solchen Versammlung bringen. Zwar vermied
er es, andere Menschen zu verletzen – aber sein gesunder
Egoismus ließ ihn derartige Situationen vermeiden. Damals
drängelte er sich durch die Gemeinde und wartete das Ende der
Veranstaltung in der nächsten Kneipe ab.
„Ralf, hock dich nieder!“, befahl Alex, „ich weiß einen neuen Witz:
Kommt ein alter Sünder ans Himmelstor und klopft bescheiden an.
Petrus öffnet das Tor und fragt nach dem Namen. Peter Krüger, aha.
Petrus blättert in einem großen Buch. Hier ist alles vermerkt.
Raufbold, Säufer, hinter allen Röcken her – und arbeitsscheu auch
noch.
Peter
Krüger
zieht
den
Kopf
immer tiefer zwischen die Schultern. Petrus zeigt mit dem Daumen
hinter sich. Na, dann mach mal, daß du reinkommst. Peter Krüger
rennt fast im Laufschritt in den Himmel. Darf ich wirklich? - fragt er
ungläubig. Worauf Petrus erwidert: Hast du gedacht, wir haben hier
ein Punktesystem wie ihr in Flensburg? Peter Krüger sieht sich im
Himmel um und fragt Petrus: Was ist denn mit dem Mann dort los?
Weshalb schlägt der seinen Kopf denn dauernd gegen die Mauer? –
Der war auf Erden ein braver Mann, grinst Petrus. Hat nicht
getrunken, nicht geraucht, seine Frau nicht betrogen, von früh bis
spät gearbeitet und auch geglaubt, wir hätten ein Punktesystem.“
Alle lachten, und Ralf lächelte gequält. „Du bist doch gebildet, Ralf“,
fing Alex an, „über der Erde sollen sich Magnetbahnen ziehen, an
denen sich zum Beispiel die Zugvögel orientieren. Und an den
Kreuzungspunkten dieser Bahnen sind die großen Kathedralen und
Klöster errichtet worden. Deshalb hat man dort das Gefühl der Ruhe
und des Friedens. Was meinst du – ist da was dran?“ „Mußt du
immer versuchen, Gottes Wunder auf natürliche Art und Weise zu
erklären?“ „Ach“, sagte Alex, „gegen den alten Herren habe ich ja
nichts, nur seine irdischen Stellvertreter kann ich für gewöhnlich nicht
leiden. Ist doch eine alte Jacke: Wer Tabus aufrichtet, will Macht. Die
zehn Gebote sind eigentlich auch Verbote. Sie zeugen von einer
genauen Kenntnis der menschlichen Natur. Denn was verbieten sie?
Genau das, was unserer Natur und unserem Instinkt entspricht. Also
sind es Verbote wider die Natur des Menschen – wenn man aber
einem Menschen etwas verbietet, was er gerne möchte, erzeugt man
in ihm ein schlechtes Gewissen. Und ein schlechtes Gewissen stellt
wirksame Ketten dar zwecks Domestizierung.
Vor allem der Sex, in der biblischen Epoche gab es keine
Liebesfeindlichkeit. Nimm nur mal den Kreuzzug gegen die Ketzer.
Die Kirche erzeugte die Illusion, es ginge ihr um das Seelenheil der
Abge-fallenen. In Wahrheit ging es aber um die Macht. Die
Ausrottung der Kirchenabtrünnigen wurde als notwendig und
gottgefällig ausgegeben. Und gleichzeitig wurde Nächstenliebe
gepredigt. Bei der Hugenottenverfolgung fragte ein Hauptmann
seinen Bischof: Was sollen wir mit den Mischehen machen? Der
antwortete: Tötet sie alle, Gott wird sie sortieren. Und jetzt aber keine
Bibelsprüche zur Antwort.
„Grundsätzlich“, erwiderte Ralf, „glaube ich, daß die Kirche Gottes
Antwort und Waffe gegen das Böse in der Welt ist, und die
Reformation ist wieder die Antwort auf den Machtmißbrauch der
katholischen Kirche.“ „Dann meinst du also, Gott duldet das Böse,
aber nicht für immer.“ Innerhalb kurzer Zeit hatte sich um ihren Tisch
ein Kreis gebildet, und die Argumente flogen hin und her. Es wurde
noch ein interessanter und lustiger Abend.
Besuch, Nachforschungen, Überfall
Alexander wachte auf und dachte darüber nach, wo er sich befand.
Alles war ruhig. Draußen war es schon hell – gedämpft war ab und
zu ein Auto zu hören. Richtig, das Wochenende mit Brigitte, gestern
nachmittag ihr Abschied. „Vergiß mich nicht“, hatte sie leise gesagt,
„und ruf mich bald an.“ „In ein paar Tagen muß ich ein, zwei Besuche
machen, und du kennst ja mein Hotel. Dort bleibe ich vorerst
wohnen.“
Er dehnte und reckte sich schläfrig. Eigentlich hatte er keinen Grund
aufzu-stehen. Aber auch keine Lust, weiter zu schlafen. Er schlug die
Decke zurück und ging unter die Dusche. Erst heiß und dann das
Gesicht kalt abschrecken – als Gegenmittel für seine Augenränder.
Wenn er nur ver-schwitzt war, duschte er ohne Seife, um nicht
seinen biologischen Haut-schutz mit abzuwaschen. Er stellte das
Radio an, putzte seine Zähne, rasierte sich, machte ein paar
Übungen nach dem chinesischen Schattenboxen für die Gelenkigkeit
– und zwei Minuten Isometrik für die Muskeln. Das ganze war wie ein
Ritual, von dem er nie abwich.
Er hatte sich die Reihenfolge bei seiner ersten Bauleitung in SaudiArabien angewöhnt – seit er gesehen hatte, wie manche Monteure
nach einigen Wochen total verwilderten. Morgens kamen sie in die
Camp-Kantine – ungewaschen, ungekämmt – und stanken drei
Meter gegen den Wind.
Alexander ging nach unten frühstücken und überlegte sein
Tagesprogramm. Abends wollte er einen Bauleiterkollegen in
Wiesbaden besuchen und mit
ihm ein wenig über alte Zeiten und ihre vergangenen Erlebnisse in
Nigeria plauschen. Vorher mußte er die Adresse eines Mannes
herausbekommen. Sie stand nicht im Telefonbuch – aber er kannte
den Namen und seinen Arbeitsplatz, und das Gesicht würde er auch
nicht vergessen. Immerhin ging es um einen Scheck von 300.000
Mark. Er hatte das Geld schon sicher geglaubt, und dann war es ihm
entwunden worden. Dabei hatte er sich in Geduld gefaßt und
versucht, das Geheimnis langsam und methodisch zu lüften. Aber
überall war er gegen eine Wand gelaufen. Das war jetzt über drei
Jahre her – hoffentlich waren die Spuren noch nicht vollständig
verwischt.
Alexander nahm die S-Bahn, zog vorher eine Tageskarte und kaufte
eine Zeitung. Am Hauptbahnhof stieg er um und fuhr zur
Hauptwache. Er fühlte sich nicht zum Detektiv berufen, und zu einer
zeitraubenden Verfolgung verspürte er keine Lust. Erst mal den
direkten Weg versuchen – dachte er – mal sehen, wie er reagiert. Er
ging an dem Café vorbei in Richtung Bank und schaute
gewohnheitsmäßig durch die Scheibe, um die Inneneinrichtung
einzuschätzen. Am Ecktisch sah er die beiden Männer, und in
seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Unter Streß wurde er immer
ruhig und gelassen.
Den Bankangestellte hatte er sofort erkannt – und auch den anderen
Mann. Die beiden waren in ein angeregtes Gespräch vertieft.
Alexanders Gesicht lag im Schatten, und die letzten Jahre hatten ihn
doch verändert. Er ging vorbei, ohne im Schritt zu stocken, trat an
einen Obststand, kaufte ein Pfund Äpfel, aß langsam einen nach
dem anderen und behielt den Eingang des Cafés im Auge. Der
Finger des Schicksals hatte ihn berührt.
Diesen Mann mit dem hageren Gesicht hatte er im D-Zug von
Hamburg nach Frankfurt getroffen – zwei Monate, bevor die
Scheckgeschichte passiert war. Alex reiste in Zug immer erster
Klasse. Der Mann war irgendwo, wahrscheinlich in Hannover
zugestiegen – beide hatten gegrüßt, und ein Gespräch hatte sich
entwickelt. Der andere hatte sich als kanadischer Professor für
Geschichte vorgestellt, der nach einem Kongreß in England nun
Europa bereiste. Sie sprachen Englisch und kamen auf das
Nahostproblem.
Alex kannte inzwischen die Araber gut, und mit ein paar Ausnahmen
konnte er sie gut leiden. Besonders die Beduinen-Mentalität sagte
ihm zu. Da auch er seine Heimat verloren hatte, teilte er den
Standpunkt der Palästinenser. Er hatte viele von ihnen kennen
gelernt und fand sie tüchtig und angenehm. Alexander sagte
unverblümt seine Meinung. Dadurch widerfuhren ihm zwar oft
Nachteile – aber er haßte Arschkriecher und faule Kompromisse.
Seine ständige Ermahnung an seine Kinder war: Es gibt schon viel
zu viele Menschen mit krummen Rücken. Er erinnerte sich an den
entscheidenden Dialog. Alex: Die Israelis machen einen
entscheidenden Fehler, indem sie den Palästinensern die
Selbstbestimmung als Volk verweigern. Wer will schon im eigenen
Land einen fremden Herrn über sich haben?
Der Professor verließ zwei Mal das Zugabteil, erinnerte sich Alex.
Jetzt zweifelte er nicht mehr daran, daß ihm eine Menge Fehlschläge
weniger passiert wären, wenn er damals den Professor aus dem Zug
geworfen hätte.
Ein paar Meter weiter saßen Jugendliche auf Blumenkübeln aus
Beton, tranken Bier und unterhielten sich lärmend. Alex beobachtete
sie aus den Augenwinkeln, bis er den Anführer herausgefunden
hatte. Er trat zu ihm und sagte: „Bist du an einem geschäftlichen
Vorschlag interessiert?“ Der machte ein skeptisches Gesicht. „Laß
mal hören, dann sehen wir weiter.“ Gut, dachte Alex, bei zu schneller
Bereitwilligkeit wäre er kaum brauchbar gewesen. „In dem Café dort
drüben sitzen zwei Männer. Für ihre Adressen gibt es hundert Mark.
Könnt ihr das schaffen?“ – reizte er ihn zusätzlich.
„Pro Adresse hundert Mark, und die Sache ist geritzt, forderte der
Junge, „und einen Fünfziger auf die Hand.“
„Ist o.k., komm mit – ich zeige sie dir.“ Alex zog unauffällig einen
Fünfziger aus der Tasche. Sie bekräftigten die Abmachung mit einem
Hand-schlag und der Schein wechselte den Besitzer. Sie gingen am
Schaufenster des Cafés vorbei. Gerade noch rechtzeitig – der
Professor bezahlte bei der Bedienung die Rechnung. Die beiden
schlenderten zurück.
„Man nennt mich Fox“, sagte der Junge, „weil meine Pläne immer so
gut sind. Und wie soll ich dich nennen?“
„Ich warte drüben in der Kinobar. Falls ich nicht da bin, frag nach
Monte Christo. Es geht um Vergeltung für erlittenes Unrecht, und da
paßt der Name“, kam Alex weiteren Fragen zuvor. Fox zog mit
einigen seiner Kameraden los, und die übrigen blieben bei den
Motorrädern. Alex sah sich die Kinobilder an, machte eine Runde
durch die Unterwelt der Hauptwache, hörte den Straßenmusikanten
zu und warf einem eine Mark in seinen Hut. Eine Menge kaputter
Typen treibt sich hier herum. Er kaufte an einem Imbißstand einen
Kaffee und ein Schinkenbrötchen.
„Kannst du sowas für mich spendieren?“, fragte eine Stimme neben
ihm, „ich bin total abgebrannt.“ Alexander drehte sich um und sah
einen in mittleren Jahren vor sich. Sauber, aber in abgetragenen und
zerknautschten Sachen. „Warum sollte ich?“ - fragte er. Er war nicht
geizig – manchmal sogar eher freizügig. Aber einem arbeitsscheuen
Penner das Leben erleichtern wollte er auch nicht. „Nur so“,
erwiderte der Mann, „ich komme gerade aus dem Knast. Hatte im
Supermarkt `ne Wurst geklaut, und weil ich keinen festen Wohnsitz
hatte, saß ich zwei Monate in U-Haft. Bis der Richter für mich Zeit
hatte. Das hat den Steuerzahler pro Tag rund hundert Mark gekostet.
Aber in unserer bürokratischen Welt muß alles seinen geordneten
Gang gehen.“
Alex fischte ein Fünfmarkstück aus der Tasche und gab es ihm. Der
andere nickte dankend und holte sich Kaffee sowie ein
Käsebrötchen. „Schinken schmeckt mir zwar besser, aber Käse
stopft und hält länger vor.“ Nachdem er das Brötchen verdrückt hatte,
wollte er sich mit seiner Geschichte revanchieren. „Runterpurzeln
kannst du schnell. Aber sich dann wieder hocharbeiten ist mühsam,
und meist hat man auch keine Lust mehr dazu.“ „Erzähl weiter“,
forderte Alex ihn auf und holte noch zwei Kaffee. Der Mann hatte,
allein schon nach seiner Ausdrucksweise zu schließen, zweifellos
schon bessere Tage gesehen. Und Alex liebte Geschichten, die das
Leben schreibt.
„Ich war selbständig als Fernsehtechniker. Reparierte die Apparate
und montierte Antennen. Meine Frau schmiß unseren kleinen
Verkaufsladen. Mit Verkauf war aber nicht viel. Wir konnten gerade
zu dem Preis einkaufen, wie die großen Kaufhäuser verkauften –
doch
die
bekommen
Rabatte, da fällt dir nichts mehr ein. Es ging aber dennoch. Manchen
Auftrag machte ich nebenbei, und dabei konnte ich noch so manche
grüne Witwe abstauben. Bin zwar nicht hinter den Weibern
hergerannt – aber wenn ich ein eindeutiges Angebot bekam,
schubste ich sie auch nicht von der Bettkante. Bei uns Männern hat
das ja selten mit Gefühlen zu tun. Bei den Weibern dagegen
schlägt’s meist direkt in die Zentrale ein.
Was soll ich sagen? Lernt doch meine Frau in ihrer Torschlußpanik
eines Tages einen jungen Hüpfer kennen – ausgeruht und ohne
Sorgen. Der arbeitete immer nur soviel, daß sein Arbeitslosengeld
weiter bezahlt wurde. Sie schmeißt mir also den Kram vor die Füße,
krallt sich unser Sparbuch und haut ab. Die Scheidung war
schweineteuer, obwohl ich mich zuvor mit ihr geeinigt hatte. Sonst
hätte sie mir nämlich übers Finanzamt gewaltigen Ärger machen
können. Über einige Jahre hinweg mußte ich ihr fast zweitausend
Mark pro Monat zahlen. Ging natürlich nicht lange gut. Wenn du alles
alleine machen mußt, hast du kaum noch eine Chance – und leben
willst du ja schließlich auch noch. Ich brauchte eine Verkäuferin –
und die kostete. Jeden Monat mußte ich rund 6.000 Märker
heranschleppen, um halbwegs leben zu können. Netto – versteht
sich.
Eines Tages begann ich, etwas mehr zu saufen als normal. Das
merkste anfangs gar nicht. Naja, nicht mehr genügend Aufträge,
Gerichtsvollzieher, Pleite. Mich tröstet bloß, daß meine Alte auch
angeschmiert ist. Als nämlich kein Kies mehr rollte, kratzte der junge
Hüpfer die Kurve. Heute rennt sie jede Woche zum Ball der
einsamen Herzen.“
„Und was willst du jetzt machen?“ – fragte Alex. „Ja, sinnierte der
andere, „die Lage ist bescheiden. Meine Bude ist weg – die letzten
zwei Monate zahlte ja keiner die Miete. Arbeit habe ich auch nicht,
und weil ich dem Richter meine Meinung über die U-Haft sagte,
wurde in meinem Ausweis offiziell ‚ohne festen Wohnsitz‘
eingetragen. Damit kann ich nun nicht mal mehr Sozialunterstützung
beantragen.“
„Ich denke, du hattest bei deiner Festnahme ohnehin keinen
Wohnsitz?“ – fragte Alex, dem der Widerspruch aufgefallen war und
sich nicht gern verkohlen ließ. „Ich hatte eine Bude ohne
Anmeldung“, kam die Antwort.
„Daß die Ausweisadresse nicht mehr stimmte, stellten die Bullen
rasch fest. Ich kann mich doch nirgendwo anmelden – gleich
belästigt mich wieder der Gerichtsvollzieher. Und offiziell arbeiten
geht auch nicht – sofort hagelt es Lohnpfändungen. Das hat aber
kein Chef gern – und schon biste wieder draußen.“
Alex war neugierig. „Erst mal Kohle besorgen. Dann Stütze
beantragen und ein bischen schwarz arbeiten. Denn vom Sozialamt
kann man nicht leben“, erläuterte der andere seinen Fahrplan. „Und
weshalb mußtest du den Richter wegen der U-Haft anmachen?“ –
bohrte Alex weiter. „Na – findest du es richtig, daß
Untersuchungshäftlinge unter wesentlich schlechteren Beding-ungen
leben müssen als Strafgefangene – obwohl ihre Schuld noch nicht
feststeht?“ Alex war verblüfft. „Tatsächlich?“ „Das kannste dir hinter
die Ohren schreiben. Und da kommt man schneller rein, als mancher
glaubt. Und rauskommen ist gar nicht so leicht. Es heißt zwar, die UHaft solle nicht länger als ein halbes Jahr dauern – aber einige sitzen
dort schon seit Jahren.
Richtet man einen Schaden von einigen hundert Millionen an, hat
man sogar in U-Haft Vorteile. Graf von Galen hat eine Doppelzelle
für sich allein – auf der Sonnenseite in der zweiten Etage. Natürlich
ohne Sichtblenden vor den Fenstern.“ Alex grinste: „Ein paar
Unterschiede müssen schon sein. Immerhin ist er tiefer gefallen als
du, denn er residierte ja in anderen Höhen.“
Für Alex wurde es langsam Zeit, seinen Posten in der Kinobar zu
beziehen. Er gab dem anderen noch zehn Mark mit der Bemerkung:
„Wenn es dir besser geht, gib den Schein an einen weiter, der auch
gerade klamm ist“, und schlenderte langsam davon.
Alexander nippte gerade an seinem zweiten Brandy, als Fox
hereinkam und sich zu ihm setzte. Heute war ein junges Mädchen
hinter der Bar. Es stellte ungefragt ein Bier vor Fox auf die Theke.
Sie himmelte ihn an, aber Fox beachtete sie nicht. „War einfach“,
berichtete er, „er fuhr mit der S-Bahn nach Bad Homburg, wohnt auf
dem Monte Bonzio.“ Er schob Alex einen Zettel mit Namen und
Adresse zu.
„Im Telefonbuch steht er aber nicht – ich habe nachgesehen.“ „Wird
eine Geheimnummer haben“, sagte Alex gleichmütig. Der Name
stimmte: William Harris! Fox hatte sein Geld korrekt verdient.
„Und die andere Adresse?“ – „Dauert noch ein wenig, die beiden
anderen sind noch nicht zurück.“ Fox zögerte und fuhr dann, sich
einen Ruck gebend, fort. „Das Ganze ist keine Spielerei, nicht wahr?
Haben Sie noch mehr Arbeit für uns? Sowas macht Spaß.“ „Mal
sehen. Es wäre möglich. Zuvor müßte ich aber mehr über dich
wissen. Alter, Beruf, Hobbys, Verbindungen, Vereine, Familie,
Vorstrafen beziehungsweise den Bullen schon mal aufgefallen? Was
hältst du von den Parteien, welche Probleme ärgern dich, was macht
dir Spaß? So in der Richtung. Aber dafür müssen wir uns mehr Zeit
nehmen, als ich heute habe. Ich komme öfters hierher, und bis zum
nächsten Mal kannst du dir schon mal die Antworten überlegen.“
„O.k. – mache ich.“ Fox war ganz aufgeregt und rutschte auf dem
Barhocker herum. „Ist doch aber nicht ungesetzlich, oder?“
Alexander entgegnete nachdenklich: „Wenn wir zusammenarbeiten,
erzähle ich dir genug, damit du die Sache beurteilen kannst. Auf
jeden Fall ist das Recht auf meiner Seite. Manchmal sind aber Recht
und Gesetz nicht identisch.“
Er lenkte ab: „Was ist denn mit der Kleinen hinter der Bar. Sie steht
doch auf dich?“ „Ich weiß“, sagte Fox gleichgültig, „sie arbeitet hier
jeden zweiten Tag. Während der letzten Vorstellung suchen wir uns
immer einen ruhigen Platz und vögeln ein paar Runden. Komisch: Im
Kinosaal ist sie richtig wild, bei ihr oder mir zuhause dagegen eher
lahm.“ Sicher eine Exhibitionistin – dachte Alex – und laut zu Fox:
„Wenn du ihr eine Freude bereiten willst, dann mach mit ihr eine
Nummer auf der Autobahnbrücke, mitten am Tag.“
Fox sah ihn ungläubig an, ging hinter die Bar und flüsterte mit dem
Mädchen. Sie hatte auf einmal hektische, rote Flecken im Gesicht
und krallte ihre Finger in seinen Oberarm. Nach einer Weile kam Fox
zurück und sagte leise: „Sie will sich über das Geländer beugen, und
ich soll es ihr von hinten besorgen. Ich glaube, von Ihnen kann ich
noch
`ne
Menge
lernen.“ „Du mußt nur die richtigen Bücher lesen“, antwortete Alex,
und beide brachen in schallendes Gelächter aus. Kurze Zeit später
kamen die anderen beiden Späher und brachten die zweite Adresse,
sogar mit Telefon-nummer. G.Neumann – den Namen hatte Alex
nicht vergessen. Ein mittel-großer, farbloser Beamtentyp,
Bankprokurist. Hatte ihm damals die Telexe gezeigt, die Bankbegriffe
und Abkürzungen erläutert. Alex hatte nur eines kapiert: Der Scheck
von Abdul konnte nicht eingelöst werden – über 300.000 Mark. Die
Regierung von Bahrain hatte Abduls Konto beschlag-nahmen lassen.
Palastintrigen – Abdul unauffindbar.
Seit heute Mittag kreiste nur ein Gedanke durch seinen Kopf: Waren
die beiden nur ganz normale Gauner oder steckte mehr dahinter? Mit
zwei Gaunern würde er fertig werden. Aber das war nicht sonderlich
logisch. Bei Nachforschungen konnten einfache Fälschungen
auffliegen. Und falls mehr dahinter steckte, würde er Verbündete
brauchen. Erst aber mußte er mehr wissen. Erst mal die Information
und den Schock verdauen. Er bestellte für alle noch eine Runde.
Dann bezahlte er und nahm die S-Bahn nach Wiesbaden.
Er freute sich auf ein Wiedersehen mit George, den er vom ersten
Augenblick gut hatte leiden können. Sie hatten sich in Abu-Dhabi
kennen gelernt und später in Nigeria wiedergesehen. Er hatte eine
zehnjährige, kinder- wie ereignislose Ehe hinter sich. Sein Job füllte
ihn aus. Er war Spezialist für Großkücheneinrichtungen. Sein Einsatz
im Ausland beschränkte sich immer auf wenige Wochen. Sein dickes
Fell befähigte ihn, die Nörgeleien seiner Frau mit stoischer Ruhe zu
ertragen. Bis sie ihm eines Tages mal zu viel gemeckert hatte. Er
schrie und drohte nicht – packte einfach seinen Koffer und verließ
das Haus. Seine Frau konnte das nicht glauben. Sie stand an der Tür
und keifte: „Wenn du jetzt gehst, betrittst du nie wieder dieses Haus.“
Worauf er sie nur ruhig angesehen hatte: „Was glaubst du denn,
warum ich gehe?“ Und damit war der Zehnjahresirrtum zu Ende.
George lebte jetzt wieder mit einer Freundin zusammen. Sie hatte als
Krankenschwester gerade Nachtschicht. Es wurde ein langer Abend
mit vielen Flaschen und vielen ‚weißt du noch?‘ – ein richtiger
Männerabend.
Sentimental und nützlich – denn er drängte die Probleme in den
Hinter-grund. Als die Gespräche eine philosophische Wendung
nahmen, hatten sie schon fast die nötige Bettschwere.
„Alex, du hast ja schon beinahe erwachsene Kinder. Wie ist deine
Meinung über Erziehung? Meine Freundin will unbedingt noch
eigene Kinder, und bevor wir was ansetzen, will ich mit ihr einen
gemeinsamen Weg in der Kindererziehung finden. Ihr Wunsch
überraschte mich, aber mittlerweile hab ich mich mit der Idee
angefreundet. Sie will sich im Alter nicht als unfruchtbarer Acker
fühlen. Gute Formulierung, was?“
Alex dachte eine Weile nach. „Erziehung ist wie ein Balanceakt auf
dem Drahtseil. Du mußt zwar eine gerade Linie verfolgen, aber auf
jedes Schwanken reagieren. Jedes Kind ist anders. Unsere Tochter
zum Beispiel klettert auf jeden Baum, ist zu jedem Unsinn aufgelegt
– will immer mit dem Kopf durch die Wand. Der Junge hingegen ist
vorsichtig, schaut sich erst den Baum an und überlegt, ob er da nicht
eventuell herunterfallen könnte. Grundsätzlich würde ich sagen, man
soll den Kindern gewisse Grenzen ziehen – ihnen innerhalb dieser
aber soviel Freiraum wie möglich lassen.“
„Was meinst du mit Grenzen?“ „Ich meine“, definierte Alex, „ein paar
grundsätzliche Regeln, von denen sich vieles ableiten läßt.
Beispielsweise hilfsbereit und höflich zu alten Menschen zu sein –
sich kein Unrecht gefallen zu lassen – zu wissen, daß die eigene
Freiheit bei der des Nachbarn aufhört, und so weiter.“ „Meine Martina
glaubt, die antiautoritäre Methode sei die beste“, warf George
fragend ein. „Ganz ohne Regeln geht es nicht“, meinte Alex, „Kinder
probieren dauernd aus, wie weit sie gehen können. Und wenn die
Eltern sich nicht einig sind, oder mal so und mal so entscheiden,
dann herrscht im Nu das schönste Durcheinander. Ebenso wichtig
sind nachher die Schulen. Meiner Meinung nach sind die Waldorf
Schulen bei uns das Beste. Sie haben nur ein Manko: Erziehung
zum agressionslosen Verhalten. Solange es auf der Welt aber Neid,
Gier und Mißgunst - also eine Wolfsmentalität – gibt, sind diese
Kinder durch solche Erziehung benachteiligt.“
„Na, bis dahin läuft noch eine Menge Wasser den Rhein hinunter“,
lachte George, „aber wenn überhaupt, wird es langsam Zeit – meine
Kinder sollen nicht Opa zu mir sagen.“
Alex schlief auf der Couch und wurde am nächsten Morgen von
Kaffeeduft geweckt. Martina war von ihrer Nachtschicht
heimgekommen und hantierte in der Küche. Alex schlich sich ins
Bad, damit der erste Eindruck von ihm nicht allzu übel ausfiele. Es
wurde eine lustige Frühstücksrunde und Alex mußte versprechen,
bald wiederzukommen. Er fuhr bis Bad Homburg, sah sich im
Bahnhof den Stadtplan an, ging durch die Altstadt, durch den
Kurpark und am Spielkasino und dem Tennisplatz vorbei.
Es war ein sonniger Altweibersommer, und der Thai-Tempel glänzte
golden inmitten der alten Bäume. Auf dem Hügel am Wald wohnte
überwiegend die Geldaristokratie von Frankfurt. Ihre Häuser hatten
sie in Festungen verwandelt. Wahrscheinlich – dachte Alexander –
durchstreifen Detektive die Gegend, um Einbrecher und deren
Kundschafter rechtzeitig zu erkennen. Die wirklich wichtigen Dinge
im Leben kann man zwar mit Geld nicht kaufen – aber Geld macht
doch eine Menge möglich.
Alexander las das Schild an der Gartentür: W.H. – kein Name,
sondern nur die Initialen. Aber die Straße und die Hausnummer
stimmten. Langsam ging er an dem Grundstück vorbei. Das Haus
war unscheinbar und dennoch gediegen. Ringsum ein kleiner
Zierrasen, schmiedeeiserner Gartenzaun und dahinter mannshohe
Büsche. Keine auffällige Alarmanlage auf dem Dach – aber sowas
war ohnehin nur für Amateure. Die wirklich effektiven Alarmanlagen
melden Eindringlinge lautlos zum nächsten Polizeirevier. So, das
mußte erst einmal genügen. Blieb nur noch die Frage, wie und wo
Fox den Namen erfahren hatte.
Er ging die Parallelstraße zurück und begegnete zum zweiten Mal
einem Mann mit dem Gesicht eines englischen Bullterriers. Alex
stellte in Gedanken fest: Dies ist die einzige Gerechtigkeit auf Erden,
daß die Gesichter wie die dazu gehörenden Menschen werden.
Sicher ein ehemaliger Kripo-Mann, der hier seine Pension
aufbessert. Und gewiß nicht der einzige.
Durch den Park ging er zurück zur Spielbank, las am Eingang auf
einer schwarzen Marmortafel die Öffnungszeiten ab und begab sich
dann für einige Stunden in die Taunus-Therme. Am Eingang hatte er
sich Badetuch, Shampoo und Seife gekauft. Danach besichtigte er
zuerst die obere Etage mit den Sonnen, Whirlpools und
Bräunungsliegen.
An der Bar trank er einen Kaffee, und mit Interesse besah er sich die
gutge-wachsenen, nackten Frauen, welche die verschiedenen
Serviceeinrichtungen wahrnahmen. Einige Male fing er interessierte
Blicke auf. Er seufzte und erkundigte sich nach einem Telefon, ging
zum Apparat auf der inneren Galerie und rief Brigitte an. Diesmal
wurde er sofort verbunden und hörte gleich ihr erfreutes „Hallo!“
„Selber hallo“, sprach er in die Muschel, „hast du Zeit für mich? Ich
vermisse dich sehr.“ „Hoffentlich“, lachte sie, „wo bist du denn?“ „In
der Taunus-Therme in Bad Homburg. „Na, dann kann ich mir
vorstellen, warum du mich vermißt.“ „Dann würde ich mich an deiner
Stelle beeilen – sonst erliege ich womöglich noch der Versuchung.“
„Das darf ich auf keinen Fall zulassen“, kicherte sie, „wo finde ich
dich?“ „Im Restaurant oder im Kino, beide sind in der unteren Etage.“
„Ich weiß, war schon mal dort. Bis in einer Stunde. Ich liebe dich.“ Es
machte ‚klick‘, und er war glücklich.
Er sah über die Brüstung nach unten auf das riesige
Schwimmbecken mit seinen Natursteininseln, Wasserfällen und der
künstlichen Bepflanzung. Die Innengestaltung hätte man nicht besser
hinkriegen können, dachte er, aber die Pflanzen könnten ruhig echt
sein. Erst jetzt sah er das Schild: Untere Etage bitte nur in Badehose
betreten. Noch mal rausgehen und eine kaufen – das war ihm zu
umständlich. Deshalb ging er zur Badeaufsicht und fragte nach den
Fundsachen. Vor einigen Tagen hätte er seine Badehose vergessen.
Eine ältere Dame zeigte ihm einen Raum – vollgepackt mit Bällen,
Ringen, Bademänteln und zwei großen Kisten. Eine voller Bikinis, die
andere voll mit Badehosen. Dort suchte er sich eine dunkelblaue in
passender Größe heraus; dann bedankte er sich. Nun ging er
nochmals in den Duschraum, wo er die Badehose gründlich einseifte
und ausspülte. Die restliche Wartezeit vertrieb er sich mit einigen
Runden im großen Becken. Brigitte wollte er hier unten erwarten.
Eine schöne Frau ist in spärlicher Bekleidung aufregender als
vollkommen nackt - dachte er bei sich. Als die Stunde nahezu um
war, schwamm er nur noch im hinteren Teil des Beckens nahe dem
Restaurant. Sie kam langsam am Rand entlang und sah sich
suchend um. Er winkte ihr und schwamm zur Treppe. Sie sah
hinreißend aus in ihrem dunkelroten Bikini – mit ihren halblangen,
blonden Haaren. Auf der obersten Treppenstufe erwartete sie ihn.
„Mein Apoll entsteigt den Wogen“, lachte sie, dann küßte sie ihn heiß
und drängend. „Und wo können wir uns richtig begrüßen?“ – flüsterte
sie ihm fragend ins Ohr. Er blinzelte ihr zu und sagte: „Komm mit“,
nahm sie an der Hand und schlenderte mit ihr in die obere Etage. Am
Eingang zum Sauna-bereich zogen sie ihre Badesachen aus und
legten sie in eines der Holz-regale. Nur noch mit dem Badetuch
versehen (sie hatte auch eines dabei) zog er sie in die Dampfsauna.
Diese war kaum besucht, und durch den starken Dampf konnte man
kaum einen halben Meter weit sehen. Sie legten ein Badetuch auf
die umlaufende Sitzbank und setzten sich darauf. Gedämpftes
Gemurmel irgendwo im Raum – sie waren allein, wie auf einer Insel.
Sie küßten sich. Ihre Hand streichelte die Innenseite seines
Schenkels – sein kleiner Bruder begann sich zu regen. Ihr Atem
wurde heftiger. Ohne den Kuß zu unterbrechen, drehte sie sich
herum und setzte sich rittlings auf seinen Schoß. Wie selbstverständlich glitt er in sie. Sie bewegte langsam ihren Unterkörper
und seufzte lustvoll.
Die Spitzen ihrer Brüste rieben sich im Rhythmus ihrer Bewegungen
an seiner Hand. Ihr Seufzen wurde zum Stöhnen. Ihre Fingernägel
krallten sich in seinen Rücken. Schließlich wurde ihr Körper schlaff
und sank in sich zusammen. Langsam wurden beider Atemzüge
wieder normal. „Schlaf nicht ein“, neckte er sie. „Noch ein paar
Minuten, dann bin ich wieder da. Weißt du noch: Unsere
Sonntagmorgen-Gymnastik ? Ich war gleich danach aufgestanden,
weil ich zur Toilette mußte. Mir wurde ganz schwindelig – wie
betrunken bin ich herumgetorkelt.“
„Ist hier doch beinahe ein idealer Platz“, lächelte er, „sogar eine
Dusche ist dabei.“
Sie aßen im Restaurant einen Erbseneintopf, schwitzten in zwei der
sieben Saunen, sahen sich im Kinoraum den Film an, schwammen
ein paar Runden und saßen am Ende zufrieden noch etwa eine
halbe Stunde im Whirlpool. Als sie vor dem Eingang standen, fragte
Alexander: „Hast du Lust auf einen Spaziergang? Einen solch
schönen Platz findest du in unseren zubetonierten Städten nicht
mehr oft.“ „Gern“ – sie hakte sich bei ihm ein, „dabei kannst du mir
gleich erzählen, was du gestern getrieben hast.“
Er erzählte von seinem Besuch bei George, erwähnte aber Fox nicht.
„Hast du viele solcher Freunde wie George? Deine Arbeitskollegen
im Ausland müßten doch eigentlich eine ähnliche Geisteshaltung
besitzen, Abenteurer und Individualisten!“ „Die Motive sind so
verschieden wie die Menschen. Nur tritt im Ausland der Charakter
stärker zutage, wenn man längere Zeit auf einander angewiesen ist.
Tags bei der Arbeit und abends im Camp kann sich keiner auf Dauer
verstellen, und nach einiger Zeit weiß man schon im voraus, wie
jeder reagieren wird. Man kennt jeden Lebenslauf, jeden Witz und
jede Schwäche. Viele beginnen zu saufen, andere werden irgendwie
seltsam. Du kannst dabei die absonderlichsten Dinge erleben.“
„Ich dachte“, unterbrach ihn Brigitte, „in den strenggläubigen
Moslem-staaten gibt es keinen Alkohol?“ „Ist schon richtig. Aber wo
ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Es gab Typen, die konnten ein
Wässerchen destillieren – da warst du von den Socken. Was
besseres kannst du hier im Laden auch nicht kaufen. Man nannte
dieses selbstgebraute Zeug ‚Satiki‘ und das heißt ‚Freund‘. Es wurde
natürlich auch viel geschmuggelt. Die Baustellen erhielten laufend
Material in Lastwagen oder per Seetransport, und in manchen dieser
Container waren vorher Verstecke verabredet worden.
Schinken beispielsweise gibt es dort auch nicht, weil Schweinefleisch
ver-boten ist, und nach einiger Zeit entwickelt man auf bestimmte
Dinge einen wahren Heißhunger. Die religiösen Vorschriften
kommen manchen komisch vor – aber sie haben schon ihre
Berechtigung. Alkohol bei dieser Hitze ist äußerst schädlich, und im
Schweinefleisch gibt es Trichinen. Eine amtliche Kontrolle wie bei
uns existiert nicht und würde wohl auch kaum funktionieren. Ich
erlebte so viele seltsame Sachen. Die meisten fallen mir aber erst
dann wieder ein, wenn ich ein passendes Stichwort höre.
Was mich immer wieder ärgerte, war das Verhalten der meisten
Deutschen im Ausland. Muß wohl am Volkscharakter liegen. Den
Spruch ‚Ich fürchte mehr als Sturm und Wind, Deutsche, die im
Ausland sind‘, gibt es schon lange. Sie stolpern tölpelhaft durch die
Gegend, stoßen jeden vor den Kopf und machen sich gegenseitig
das Leben schwer. Ganz ohne Sinn und Verstand – anstatt
zusammen zu halten und sich gegenseitig zu helfen.“
„Das kann ich kaum glauben“, unterbrach ihn Brigitte, „denn es bringt
doch nur Nachteile.“ „Rational ist das auch nicht erklärbar“,
entgegnete Alex nachdenklich, „ich habe schon oft darüber
nachgedacht, bin aber zu keinem Ergebnis gekommen. Ein typisches
Beispiel ist folgender Fall:
In Dubai saß ich in einem Hotel. Das war bekannt für sein gutes
arabisches Essen. Kamen vier Deutsche rein. Im Vertrauen darauf,
daß niemand sie versteht, oder auch in purer Gedankenlosigkeit
sagte einer: ‚Mal sehen, wie der Schweinefraß hier ist‘. Sie setzten
sich neben mich, und ich konnte mich nicht beherrschen und sagte
denen meine Meinung.
Nach ihrem Benehmen würde jeder Deutsche und auch unser Land
beurteilt. Sie waren der Meinung, von den anwesenden Arabern
verstünde doch keiner unsere Sprache, und ich solle mich um
meinen eigenen Kram kümmern.
An einem der Nachbartische erhob sich ein älterer Araber, trat an
den Tisch der vier und sagte in fließendem, einwandfreien Deutsch:
‚Meine Herren, wenn Sie sich nicht benehmen können, wäre es
besser, das Lokal zu wechseln‘. Sie wechselten das Lokal – du
hättest mal ihre Gesichter sehen sollen. Das war ihnen bestimmt
eine Lehre. Wir dürfen uns nicht erhaben dünken, nur weil diese
Länder nicht unseren technischen Standart haben. Diese Menschen
lassen sich nicht hetzen, haben viel Zeit, um über sich und die Welt
nachzudenken und abzuwägen, was für sie wichtig und notwendig
ist. Schau dagegen bei uns, ob in der Fabrik oder im Büro, auf jeder
Stufe der Leiter. Alle sind total gestreßt – mehr Wachstum, mehr
Umsatz, mehr Profit. Irgendwo gibt es doch zwangsläufig eine
Grenze. Die Menschen können doch nicht unendlich konsumieren
und den Konsum unaufhörlich steigern.
Kaum ein Mensch bei uns findet die Zeit, über den Sinn seines Tuns
nach-zudenken und darüber, wie er lebt und ob sein Leben
überhaupt die Qualität hat, die es haben könnte.“
„Aber viele denken doch schon in diese Richtung: Aussteiger,
alternative Handwerksbetriebe, Biobauern.“ „Natürlich, die Anfänge
existieren; wurde ja auch höchste Zeit. Erst kam die Freßwelle, dann
die Konsumwelle – damit war der Nachkriegs-Aufholbedarf erst mal
gestillt. Jetzt ist gerade die Qualitätswelle dran und danach kommt
die große Ratlosigkeit.
Die Kirchen sind verbeamtet – die Menschen laufen zu den Sekten,
weil sie dort noch oft die vermißte menschliche Wärme finden.“
„Was meinst du mit Qualitätswelle?“ – fragte Brigitte. „Sieh dich in
der Wirtschaft um. Die Firmen, die gute Produkte liefern und einen
guten Service bieten, haben gut zu tun. Nimm mich selbst: Mein
Schrank ist voll, und ich kaufe mir nur noch etwas, wenn es mich
ganz besonders anspricht. Und dann seit Jahren nur beste Qualität,
das hält ewig. Viele Frauen gehen dazu über, sich nicht nach der
Mode, sondern ihrem Typ entsprechend zu kleiden.“
Inzwischen war es dunkel geworden – sie gingen an Harris Haus
vorüber. Dies war der Zweck seiner Übung gewesen. Alex wollte in
unverdächtiger Begleitung einen Eindruck bei Dunkelheit gewinnen.
Im Erdgeschoß brannte Licht hinter den dichten Vorhängen. Die
Garage war geschlossen, und über der Haustür brannte eine
Ampelleuchte. Am Vormittag hatte Alexander ein Hinweisschild zu
einem Restaurant gesehen. Er fragte einen Spaziergänger danach.
Es war nicht mehr weit und erwies sich als überraschend gemütlich
und preiswert.
Sie aßen eine Kleinigkeit und wanderten dann zurück. Das Haus von
Harris war unverändert wie vorhin. Alex prägte sich die Lage der
Straßenlaternen und der anderen Lichtquellen ein. Sie kamen an
Brigittes Auto an und fuhren los. „Heute abend bin ich zu einer Party
eingeladen. Hast du Lust mitzukommen, Alex?“ „Kommt darauf an,
Gitta. Auf die Leute und auf die Art der Party.“
„Es ist immer sehr interessant. Ein Studienkollege gibt die Party und
lädt immer kontroverse Typen ein. Das ergibt lustige Streitgespräche.
Aber immer sehr höflich und nicht aus dem Rahmen fallend.“ „Ist
gebongt – kommst du später noch mit zu mir?“ „Was meinst du,
warum ich dich abhole? Ich hoffe doch, das vorhin in der Sauna war
lediglich die Vor-speise.“
Sie hielten gerade vor einer Ampel. Alex beugte sich rüber zu ihr,
küßte sie und fuhr mit seiner rechten Hand unter ihren Rock.
Stöhnend zerwühlte sie sein Haar. Hinter ihnen wurde gehupt – die
Ampel war grün geworden. Brigitte schubste ihn zurück in seinen
Sitz. „Du verrückter Kerl, gleich werde ich alle Hebel verwechseln –
aber ich mag es.“ Mitten in der Stadt stoppte sie auf einem
Parkstreifen. Er sah sie erstaunt an. „Keine Villa im Grünen?“ –
fragte er. „Nein“, lachte sie, „ein Penthaus ganz oben“, und zeigte auf
das größte Hochhaus. „Er heißt Horst Weller und liebt es gern
zwanglos. Zwar könnte er auch im Grünen wohnen – denn er hat
einen Bungalow in Bad Soden geerbt. Aber er ist halt praktisch, will
nicht jeden Tag mehrmals den weiten Weg zur Stadt und zurück
fahren.“
„Manche haben es gut – erben schon mal eine gute Grundlage. Für
die meisten aber gilt: Wer nichts erheiratet und nichts ererbt, der
bleibt ein armes Luder, bis er sterbt“, grinste Alex, „aber dafür
kennen die auch nicht den Triumph über einen selbst errungenen
Erfolg.“ Sie klingelten, die Rufanlage quakte, Brigitte antwortete und
der Türsummer ertönte. Mit dem Lift fuhren sie nach oben, wo sie
von einem sportlich gekleideten Mann in Empfang genommen
wurden. „Ich freue mich, daß ihr kommen konntet. Und Sie sind also
der Abenteurer? Wir müssen uns nachher natürlich unterhalten – ich
war mal ein halbes Jahr in Kabul, um meine Tochter dort aus dem
Gefängnis zu holen.“ „Wie war sie dort hineingeraten?“ Alex war
interessiert.
„Sie war nach Poona ausgerissen, und auf einmal erhielt ich ein
Telegramm von der deutschen Botschaft in Kabul. Aber wir reden
nachher weiter.“ Die Lifttür öffnete sich schon wieder. Brigitte nahm
Alex beim Arm und stellte ihn einigen Leuten vor. Sie versorgten sich
mit ein paar Appetithäppchen und gefüllten Gläsern und gingen aufs
Dach.
Der Ausblick auf das Lichtermeer von Frankfurt war atemberaubend.
Die Scheinwerfer der Autoschlangen krochen durch die Straßen wie
Tausendfüßler.
Der
Lärm
drang
gedämpft
durch
die
Häuserschluchten zu ihnen hoch. Alex blickte nach oben – kein Stern
war zu sehen. „Diese Wohnanlage“, sagte er zu Brigitte, „wird ihn
zehn Jahre seines Lebens kosten. Ich sah Frankfurt mal am Tag aus
einiger Entfernung durch ein Flugzeugfenster. Die gesamte Stadt lag
unter einer Dunstglocke – Smog. Wenn du die Sterne über Arabiens
Wüsten oder den Dschungeln von Afrika gesehen hast – und hier
siehst du nur ein müdes Flimmern, dann merkst du erst, was der
Fortschritt wirklich kostet.“
Sie gingen wieder in das große Wohnzimmer und beteiligten sich an
verschiedenen Gesprächen über Politik, Kunst, Skandalen und
vielem andern Themen. Alex kam mit einem mittelgroßen,
weißhaarigen, älteren Herrn mit scharf geschnittenen Gesichtszügen
ins Gespräch. Brigitte hatte sie vorgestellt. Er hieß Max Scheller und
war Rechtsanwalt – Strafverteidiger und seit Kriegsende in Frankfurt.
„Was treiben Sie so, junger Mann?“ – fragte er Alex. „Ich suche nach
dem Sinn des Lebens“, grinste Alex, „und wenn ich damit nicht weiter
komme, bin ich Ausbaubauleiter für internationale Spitzenhotels.“
„Da haben Sie sich aber viel vorgenommen. Und Ihr Beruf ist gewiß
auch recht interessant.“ „Ich bin zufrieden – man lernt dadurch Land
und Leute kennen. Mein erstes Auslandshotel richtete ich in der
Schweiz ein, in Chur. Ein Stückchen weiter in den Bergen bei Illanz
entspringt der Rhein. Dieses ganze Tal war in früheren
Jahrhunderten eine Nord-Süd-Heerstraße. Dort wird noch eine Abart
des alten Latein gesprochen, das Rätoromanisch. Das Komische: In
den Seitentälern, die vom Haupttal abgehen, spricht man ein altes
Deutsch wie in den ersten Bibeln. Die Einheimischen erklärten mir
den Sachverhalt folgendermaßen: Als Kaiser Barbarossa dort auf
seinem Kreuzzug durchkam, ließ er an jedem Paß eine Wache
zurück. Quasi zur Sicherung eines reibungslosen Rückmarsches.
Nun ersoff er aber in Kleinasien und das heimkehrende Heer nahm
einen anderen Weg über Ungarn. Und seit diesen Zeiten also sitzen
diese Kerle dort und verzogen sich in die Seitentäler – samt ihrer
Sprache.“ Der alte Herr sah Alex prüfend an, ob der ihn nicht
vielleicht auf den Arm genommen habe.
Alex fuhr heiter lächelnd fort: „Sie kennen doch die Frankfurter Szene
und sehen sicher auch etwas hinter die Kulissen. Weshalb gelingt es
ein paar ausländischen Spekulanten, in dieser Stadt ein
Riesenvermögen zu ergaunern? Sind die deutschen Geschäftsleute
alle Flaschen?“ „Wieso sprechen Sie von Ergaunern?“ „Na, bei
Gewinnen von fast hundert Millionen Mark in kürzester Zeit kann
man wohl nicht mehr von verdienen reden.“
„Sie meinen die internationale Politmafia?“ – und als Alex nickte,
„das ist relativ einfach. Will ein Mitglied dieser Geheimgesellschaft
erfolgreich sein, muß er mehr Widerstände überwinden als ein
normaler Bürger. Das schärft den kritischen Verstand. Und ein
kritischer, wendiger Verstand, über Jahrhunderte hindurch trainiert,
muß den satten, zufriedenen Bürgern überlegen sein. Dazu kommt
noch enorme gegenseitige Hilfe, Druck, Erpressung und Bestechung
– die kennen keinerlei Skrupel gegenüber Ungläubigen.“
„Hier in dieser Stadt gibt es doch eine starke nationale Strömung.
Darüber würde ich mich gerne informieren. Zuvor aber hätte ich doch
noch einige Bemerkungen zur Religionsfrage loszuwerden: Wenn es
einen Gott oder ein jüngstes Gericht gibt, dann wird ein jeder nicht
nach den Dingen beurteilt, die engstirnige Priester für Sünden halten
– sondern nach seinem Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen
und ob er wohl seine persönlichen Möglich-keiten ausgeschöpft hat.
Das eine bedingt das andere. Mitleid und Hilfe bei Katastrophen sind
in Ordnung. Aber permanente Hilfslieferungen an Völker, die
keinerlei Anstrengungen unternehmen, ihre Probleme in den Griff zu
bekommen, stellen reine Dummheit oder Machtpolitik dar, denn
sowas erzeugt Abhängigkeit und Trägheit. Die Fleißigen und die
Klugen sollen für die Dummen und Faulen sorgen? Und mit
Möglichkeiten ausschöpfen meine ich, daß jeder die Pflicht hat, sein
Bestes zu geben und nicht als Parasit zu leben. Ein Handwerker hat
gute Arbeit zu leisten, ein Ingenieur hat nützliche Dinge zu
konstruieren und nicht irgendwelchen Mist, der lediglich den Umsatz
seiner Firma hebt und dabei die Umwelt schädigt. Ein
Wissenschaftler sollte für eine bessere Welt forschen und nicht für
alternative Vernichtungswaffen. Ein Bauer sollte seine Produktion mit
der Natur im Einklang halten.
Ein Beamter sollte ein Diener des gesamten Staatsvolkes sein und
sich nicht als selbstherrlicher Unterdrücker aufspielen. Ein Richter
sollte den Menschen und seine Situation beurteilen und Paragraphen
lediglich als Hilfsmittel benutzen. Und Reporter schließlich sollten
Fakten berichten und nicht Lügen verbreiten.
Die Menschen und die Welt sind leider nicht vollkommen. Aber jeder
kann in seinem Bereich ein klein wenig dazu beitragen, die Welt
etwas besser und schöner zu gestalten. Das Maß allen Strebens
sollten der Mensch und seine Umwelt sein – nicht Macht und Geld.
Denn die wirklich wichtigen Dinge im Leben kann man nicht kaufen.“
Der alte Herr sah ihn interessiert an, nickte zustimmend und fuhr
dann mit dem zuvor angeschnittenen Thema fort: „Hier gibt es alles
mögliche: dumpfe Heldenverehrung, Unverbesserliche, die nicht
differenzieren kön-nen, und auch patriotische mit guten
Programmen. In welche Richtung: Kosten-Nutzen. Und zwar zum
eigenen Nutzen bei ausgewogener Vertei-lung. Nicht nur auf ein paar
Taschen.“ Herr Scheller zog eine Visitenkarte aus seiner
Blazertasche und gab sie Alex mit den Worten: „Kommen Sie mal
vorbei. Ich suche ein paar Adressen heraus, und wenn Sie sich
umgesehen haben, unterhalten wir uns ausführlich.“
Einige Verbündete zu finden – dachte Alex, wird wohl nicht schwer
sein. Im weiteren Gespräch entdeckten sie auch andere
gemeinsame Über-zeugungen, wodurch sie sich rasch näher kamen.
Alex sah das Winken des Hausherrn und ging quer durch den Raum
zu dessen Gruppe. „Sie sind ja schon ganz schön herumgekommen.
Welche Auffassung vertreten Sie zu unserer Entwicklungshilfe?“ –
wurde Alex gefragt. Die anderen Umstehenden, ein Mann und zwei
Frauen in mittleren Jahren, sahen ihn gespannt an. „Meine Gefühle
sind gemischt“, antwortete Alex, „ich muß wohl ein wenig ausholen:
Die wirklichen Motive zur Entwicklungshilfe liegen in politischer und
wirtschaftlicher Einflußnahme begründet. Eine andere Motivation
würden die Empfänger auch kaum verstehen. Dazu ein Beispiel: Die
Entwicklungshilfe des früheren Ministers Bahr war an keinerlei
Bedingungen geknüpft.
Ein klassischer Fall dafür, wie Idealisten Unheil anrichten: Wir geben
ihnen Hilfe – sie treten uns dafür vors Schienbein. Wir geben
ungeniert weiter, und sie halten uns für Idioten oder vermuten hinter
unserer Haltung einen finsteren Grund. Ein Geschäft auf
Gegenseitigkeit
verstehen
sie.
Das
einzige,
was
den
Entwicklungsländern wirklich hilft, ist die Hilfe zur Selbsthilfe – nicht
aber Prestigeobjekte. Natürlich muß eine genaue Kontrolle sein. So
mancher Experte vor Ort geht seinen persönlichen Motiven nach und
begründet mitunter äußerst trickreich die Fortführung eines
Projektes, das eigentlich schon längst sinnlos geworden ist. Dann ist
auch die Mentalität der Empfänger zu berücksichtigen. Wird
irgendwo ein Notstand ausgerufen, und rollt daraufhin die Hilfe an,
merken diese Menschen schnell, daß sie nur laut genug zu schreien
brauchen, um ohne Arbeit gefüttert zu werden. Das kann dann sehr
schnell zur Gewohnheit werden. Beispiel Äthiopien: Riesige Mengen
von Hilfsgütern liefert der Westen. Die kommunistische Militärjunta
gibt für ihre Zehnjahresfeier Hunderte von Millionen Mark aus,
bestellt in England ganze Flugzeug-ladungen Whiskey und verlangt
für die Hilfsgüter auch noch Zoll. Mit einem Großteil davon wird die
Armee sogar verpflegt. Die müssen uns doch für total vertrottelt
halten.“
„Aber die Hilfsgüter werden doch von den kirchlichen Organisationen
verteilt“, warf eine Dame ein. Alex grinste spöttisch. „Die Kirche hat
andere Prioritäten. Die Priester vor Ort können die einfachen
Menschen mit Nahrungsmitteln beeindrucken und für die Kirche
gewinnen. Wer weiß, welche Kuhhändel hinter den Kulissen auf
höchster Ebene vereinbart werden mit der Drohung, die Lieferungen
zu stoppen.“
Die ersten Gäste brachen langsam auf, und Brigitte löste sich von ein
paar Frauen – alle sehr elegant, intelligent und unterkühlt wirkend.
Beim Herum-schlendern hatte Alex einige Sätze aufschnappen
können – Frauen-befreit-euch-Themen. Brigitte sah ihn fragend an
und sagte: „Ich möchte dich ein paar Freundinnen vorstellen. Aber
werde bitte nicht gleich aggressiv, wenn sie ihre feministischen
Meinungen darlegen.“ „Mit Frauen streite ich nur, wenn ich
persönlich angegriffen werde, sonst sind sie doch sehr nützlich.“ „In
welcher Beziehung?“ – fragte eine aus der Gruppe, die die letzten
Worte mitbekommen hatte.
„Also erstens sind Frauen für das Weiterbestehen der Menschheit
absolut notwendig – und zweitens für mich persönlich als Lustobjekt.“
Womit er natürlich voll ins Wespennest gestochen hatte. Die Damen
um ihn herum schnappten gemeinsam nach Luft. „Aber“, fuhr Alex
fort, „das beruht natürlich auf Gegenseitigkeit. Erwählt ein
ansehnlichen Weib mich zum Lustobjekt, fühle ich mich
geschmeichelt und versuche, den in mich gesetzten Erwartungen
gerecht zu werden.“
Er hatte die Damenriege vollkommen aus dem Konzept gebracht –
sie wurden abwechselnd blaß und rot und setzten mehrmals zum
Reden an. Da aber der Angriff die beste Verteidigung ist, sprach Alex
gleich weiter: „Ich möchte ihnen ein Beispiel zum Nachdenken
geben, wie Völker ihre eigene soziale Ordnung finden. In Westafrika,
ich weiß es von Togo, aber in den Nachbarländern soll es sich
ebenso verhalten, gibt es seit langem einen Frauenüberschuß von
eins zu drei. Deshalb teilen sich dort auch drei Frauen einen Mann.
Die Frauen in diesem Gebiet waren schon immer sehr selbständig.
Vor einigen hundert Jahren gab es gefürchtete Amazonenheere.
Heute beherrschen die Frauen den gesamten Handel – die Männer
haben nicht viel zu sagen. Sie werden unterhalten und haben nur
zwei Funktionen: Erzeuger und Beschützer der Kinder zu sein.
Arbeiten müssen sie nicht. Von ihren Frauen erhalten sie soviel Geld
wie nötig. Manche Europäerin, die dort heiratete, fiel aus allen
Wolken, als sie in der Heimat ihres Mannes ankam und dann
arbeiten und den Mann unterhalten sollte.“
Brigitte machte ein ungläubiges Gesicht. „Jetzt willst du uns aber
verschau-keln?“ „Aber nein.“ Alex lachte über die entrüsteten
Gesichter. „Denkt doch an Tibet. Dort herrscht Frauenmangel. Eine
Frau hat mehrere Männer, und das funktioniert auch. Die EmmaMasche, pausenlos die Männer anzugreifen, ist auch nicht das
Wahre. Wenn man irgendwas will, muß man es sich erkämpfen.
Dabei sollte man aber auch bedenken, was man eventuell verlieren
könnte. Oder wollt ihr keine Blumen mehr geschenkt bekommen und
nicht mehr in den Mantel geholfen – und auch auf die vielen anderen
kleinen Aufmerksamkeiten verzichten?“ Er sah fragend in die Runde.
Hiermit hatte er nun einen Nebenkriegsschauplatz geschaffen. Das
weitere Gespräch drehte sich darum, welche Dinge man für die
Gleichberechtigung
der Frau aufgeben wolle, könne oder müsse. Kurz nach Mitternacht
verab-schiedeten sie sich, und der Gastgeber sagte bedauernd:
„Jetzt kam ich immer noch nicht dazu, Ihnen von meinen Erlebnissen
in Kabul zu erzählen. Das holen wir aber demnächst mal nach.“
Alexanders Hotel lag in einer ruhigen Gegend, und sein Zimmer
befand sich in der zweiten Etage. Der Lift machte einen ziemlichen
Lärm – deshalb gingen sie zu Fuß die Treppe hoch. „Mein Sohn wird
mich langsam für einen Nachtfalter halten“, lächelte Brigitte. Fast
schon wie ein Ehepaar zogen sie sich aus und gingen zusammen
unter die Dusche und trockneten sich dann gegenseitig ab. Vom
heißen Wasser und der steigenden Erregung rosig glühend, sanken
sie engumschlungen auf das breite Bett. Alex war kein besonders
ausdauernder Liebhaber – aber er fand immer für jedes Problem
eine brauchbare Lösung. Deshalb erlebten die meisten Frauen die
Liebe mit ihm als rauschhaften Taumel der Sinne.
Brigitte hatte inzwischen gelernt, sich bei ihm völlig gehen zu lassen.
Als sie anfing, spitze Schreie auszustoßen, verschloß er ihr mit einen
langen Kuß den Mund. Das steigerte ihre Erregung und bewahrte
ihren Zimmer-nachbarn einen ruhigen Schlaf. Als die Schauer der
Erregung abebbten, fuhr er im Nachspiel mit der Zunge zwischen
ihren Brüsten nach unten. Ein Schweißfilm bedeckte ihren ganzen
Körper – sie wand sich wohlig. „Du schmeckst salzig“, murmelte er.
„Einmal täglich schwitzen soll gesund sein. Ich finde, das hier ist die
beste Methode dazu“, lächelte sie ermattet. Nach einer Weile
krabbelten sie aus dem Bett, duschten erneut und schliefen
anschließend aneinander geschmiegt zufrieden ein. Sie hatte wegen
der Party zu Hause Bescheid gesagt, im Büro auf ihrer bequemen
Liege schlafen zu wollen. So konnten sie gemeinsam frühstücken.
Der Morgen war heiter und sonnig. Sie saßen am Fenster zur Straße
und sahen den Menschen zu, wie sie geschäftig ihren jeweiligen
Zielen zustrebten. Über den Tisch hinweg sahen sie sich an und
lächelten in der Erinnerung an ihr gemeinsames Liebeserlebnis.
Beinahe gleichzeitig fragten beide den anderen: „Was hast du heute
vor?“ Sie mußten über den Zufall, der eigentlich keiner war, herzlich
lachen.
„Kurz ins Büro und dann einkaufen. Wenn es klappt, bringe ich
meinen Wagen noch zur Inspektion“, fing Brigitte an, „und du?“ „Erst
mal zur Zeitung - nach Zuschriften fragen; danach werde ich ein
wenig bummeln.“ „Glaubst du, es klappt?“ – fragte sie. „Die Vorteile
liegen auf der Hand“, erwiderte er, „aber sicher ist natürlich gar
nichts. Mir kommt es manchmal so vor, als ob wir Deutschen lieber
auf einen Vorteil verzichten würden, als einem anderen etwas zu
gönnen. Bevor ich seinerzeit baute, wollte ich fünf Handwerker
suchen, die mit mir zusammen einen Altbau kaufen und
modernisieren sollten. Dann hätte jeder eine Eigentumswohnung
erhalten – und zwar zum halben Preis. Das war aber einfach nicht
machbar. Unmöglich, fünf Mann unter einen Hut zu bekommen.
Inzwischen jedoch befindet sich der Mittelstand meiner Idee
gegenüber eventuell aufgeschlossen.“
„Aber vielen Handwerksbetrieben geht es doch recht gut. Übertreibst
du da nicht ein wenig?“ Alex entgegnete wegwerfend: „Einigen geht
es sicherlich gut. Aber viele wissen noch gar nicht, daß sie eigentlich
schon pleite sind. Wenn es pro Jahr mehr als 19.000 Pleiten im
Mittelstand gibt, bedeutet das die Vernichtung von 200.000 bis
300.000 Arbeitsplätzen. Das wird gar nicht recht registriert. Wackelt
aber eine große Firma mit nur einigen tausend Arbeitsplätzen,
rennen die Politiker mit Koffer voller Geld an. Großfirmen, die es
eigentlich gar nicht nötig hätten, schmeißt man die Subventionen
hinterher. Bei uns läuft nun mal vieles verkehrt. Im dritten Reich gab
es die Frontbewährung. Hier sollte man die Wirtschaftsbewährung
einführen: Alle Beamtenanwärter erst mal ein Jahr lang in der
Wirtschaft arbeiten lassen, damit sie begreifen, wie die Steuern
verdient werden.“
Sie bestellten sich noch eine Kanne Kaffee, welche sie in gelöster
Stimmung tranken. „In zwei Wochen weiß ich mehr. Klappt es nicht,
muß ich mir was Neues ausdenken.“ Sie lächelte ihn verliebt an und
sagte: „Zwei Wochen mit dir werde ich schon überstehen.“ Er lachte
und sagte: „Aber ich werde mich mit den Interessenten meist am
Abend treffen müssen. So haben wir gleich eine überschaubare
Regelung. Solltest du aber zwischendurch aber mal ganz große
Sehnsucht haben: Spät abends bin ich immer hier.“ Ihr Gesicht hellte
sich auf. „Top, die Regel gilt.“
Etwas später setzte sie ihn bei der Zeitung ab. Einige Briefe waren
eingegangen. Er überflog sie und steckte sie in die Tasche. Ein
Anfang – am Wochenende würde er mehr wissen.
Alex machte einen Schaufensterbummel und kaufte sich ein Paar
Leder-handschuhe. Die Sonne schien, die Luft war mild. Ein paar
Straßen-musikanten erzeugten beinahe südländische Atmosphäre.
Er zündete sich eine seiner schlanken Zigarren an und genoß den
Tag. Zwei Rentner diskutierten über der BILD-Aufmacher
„ABGEORDNETE DISKUTIEREN ÜBER HÖHERE DIÄTEN“ – ihre
Empörung war einhellig. Alex war zu einem Spaß aufgelegt. Er sagte
zu den beiden: „Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber
gemacht, warum das eine Überschrift wert ist? Die könnten ja auch
beispielsweise veröffentlichen, wer – sagen wir mal eine runde
Summe – pro Tag 50.000 Märker aus seinem Vermögen kassiert,
und dann auch noch beschreiben, wie er zu diesem Vermögen
gekommen ist.“ Die beiden ratlos dreinschauenden Rentner grinste
er dabei an.
„Gibt es sowas denn?“ – fragte der eine. „Aber sicher doch. Und
weshalb sind Sie nun wirklich gegen die Diätenerhöhung?“ „Ist
einfach zuviel“, nuschelte der andere. „Nach meiner Meinung ist das
eher viel zu wenig“, widersprach Alex, „ich würde ihnen pro Monat
mindestens 30.000 Mark geben, denn dann würden sich auch
hochkarätige Leute für den Job interes-sieren. Ein vermurkstes
Gesetz, durch unfähige Abgeordnete verabschiedet, kostet mitunter
Milliarden. Andererseits müssen aber Beratungsverträge und andere
Nebenjobs für Abgeordnete tabu sein, und auf Bestechung muß es
bis zu zehn Jahre Knast setzen.
Aber so drängen nur Leute mit Beamtenmentalität auf die
Abgeordneten-bänke. Und doch wohl keine wirklichen Spitzenleute
mit Führungsquali-täten.“
Langsam dämmerte Verständnis in den beiden Gesichtern. Alex
schlenderte weiter – sicher, daß die beiden nun hinreichend
Gesprächsstoff für den Rest des Tages hatten. Er sah Fox mit
einigen seiner Gefährten bei ihren Motor-rädern stehen. „Hallo“,
grüßte er und stiftete einen Zehner für eine Runde Bier.
Dann zog er Fox etwas abseits und fragte ihn, wie er Harris‘ Namen
ermittelt habe. „Im Briefkasten steckte eine Zeitung, doch der Name
stand nicht auf dem Aufkleber. Ich hab‘ die Zeitung geklaut und beim
Nachbar-haus geklingelt. Gefragt, ob das deren Zeitung sei – und die
alte Tante an der Tür wußte natürlich, wie ihr Nachbar heißt.“
„Und weshalb befand sich die Zeitung noch am Nachmittag im Briefkasten?“ „Das hat die Alte mir von ganz allein erzählt, die redete wie
ein Wasserfall. Der Harris ging früh aus dem Haus, und die Post kam
erst später. Außerdem nimmt der Harris die Post nie in die Finger –
dafür hat er einen Butler.“ „Was hat der?“ – fragte Alex ungläubig.
„Die Alte sagte ‚Butler‘. Er soll aber alles machen: Rasen pflegen,
kochen, putzen. Nur einkaufen geht er nicht. Er ruft im Geschäft an
und läßt sich die Sachen ins Haus bringen.“
Leibwächter – dachte Alex, und die Sache mit der Post könnte
bedeuten, daß Harris Angst vor einer Briefbombe hat. „Kannst du
herausfinden, wie der aussieht?“ „Schon geschehen“, gab Fox
leichthin zur Antwort – mit spürbarem Stolz in der Stimme. „Weil die
Alte doch das Haus und die Umgebung fast ununterbrochen
beobachtet, mußte ich doch so tun als ob – und ich bin dann zurück,
um die Zeitung in den Briefkasten zurück zu stecken. Da kam der
Butler aus dem Haus. Ich hab ihm das mit der Zeitung erzählt. Er
nahm die Zeitung und bedankte sich.“
Also doch ein Leibwächter – dachte Alex. Der schirmt Harris ab und
achtet auf Verfolger. Fox darf sich dort nicht mehr sehen lassen.
„Beschreib mir diesen angeblichen Butler!“ „Etwa einssiebzig groß,
untersetzt, rundes Gesicht, Walroßbart, kaum Hals – der Kopf
scheint direkt aus den Schultern zu wachsen, graue Haare, Igelfrisur.
Macht einen sturen, beharrlichen Eindruck, breite Handgelenke und
Hände wie Bratpfannen.“ Die Beschreibung war gut. Einer von den
Typen, die vor Kraft kaum laufen können. „Du bist ja besser als ich
dachte“, lobte er Fox und dachte sich dabei, daß ein paar
Streicheleinheiten manchmal ganz nützlich und moti-vierend sind.
„Und nun zur weiteren Zusammenarbeit. Erleuchte doch mal den
Hinter-grund – die wichtigsten Dinge zuerst. Hattest du schon mal mit
der Justiz zu tun?“
„Nur mal ein Wochenendkratzer, ansonsten sind wir sauber.“ „Und
wo steht ihr politisch – rechts oder links?“ „Weder noch, mit Politik
haben wir nichts am Hut“, sagte Fox verächtlich, „ob CDU oder SPD
– ist doch Jacke wie Hose. Die einzig Ehrlichen sind doch die
Grünen. Die haben zwar `ne Menge Spinner in ihren Reihen, aber
keine klebrigen Finger; und sie rutschen nicht auf dem Bauch vor
Geldsäcken rum. Manchmal gehen wir zu den Nationalen. Die haben
eine dufte Kameradschaft. Aber eintreten in den Verein wollen wir
auch nicht. Da herrscht eiserne Disziplin. Wenn da einer mal nicht
spurt oder bei einer Aktion keine Lust hat, spricht ein paar Wochen
keiner mehr mit ihm. Der wird soo klein mit Hut“, zeigte er mit den
Fingern, „und reißt sich künftig dann die Beine aus.“
Ein Weilchen unterhielten sie sich noch so weiter. Fox hatte
Schlosser oder Mechaniker werden wollen, aber noch keine
Lehrstelle gefunden. Er suchte schon zwei Jahre und verdiente sich
das nötige Kleingeld mit Gelegenheits-jobs. Ich verdiente als Lehrling
fünfzig Mark im Monat; und damals konnte sich jeder eine Lehrstelle
aussuchen, dachte Alex. Dann gingen die Politiker auf Stimmenfang
und wollten den Lehrlingen etwas Gutes tun. Heute verdienen sie
500 Mark. Plötzlich kostet ein Lehrling viel Geld und bringt nichts
mehr, und dann wundern sich die Idioten, weshalb es keine
Lehrstellen mehr gibt. Bald werden Eltern ihren Kindern eine
Lehrstelle kaufen müssen. Ein neuer Schwarzmarkt wird sich auftun,
und der Spruch vom ‚Lehrgeld bezahlen‘ wird wieder real und
zeitgerecht sein.
Alex stiftete noch eine Runde Bier und verabschiedete sich für
diesen Abend. Er nahm die S-Bahn zum Hauptbahnhof, ging in ein
Restaurant, bestellte sich eine Kanne Kaffee und suchte im
Stadtplan die Adresse des Bankprokuristen Neumann. Nach der
Karte ein ruhiger Vorort. Erst mal die Lage sondieren, dachte er.
Dieser Neumann ist sicher das schwächste Glied in der Kette – mit
dem richtigen Druck müßte aus dieser Quelle etwas sprudeln. Ein
praktischer Mann, den Bahnhof ganz in der Nähe. Alex suchte den
richtigen Bahnsteig und wartete auf den Zug. Wenn man Frankfurt
nach seinem Hauptbahnhof beurteilt, sind die Deutschen wohl
ausgestorben, dachte er. Nach zwanzig Minuten stieg er aus dem
Zug und schlenderte durch die stillen Straßen.
Zwei- und Dreifamilienhäuser mit gepflegten Vorgärten vermittelten
eine Biedermaieridylle. Nummer 26 war ein verschachtelter Bau mit
drei Etagen und einer nachgestylten Toreinfahrt. Hier hatte sich wohl
ein moderner Architekt ein Denkmal gesetzt. Alex ging durch die
Toreinfahrt auf den Hof. Rechts und links waren Garagen
angeordnet. Am Ende des Hofes begann eine ungepflegte Wiese mit
viel Unkraut und einigen Büschen – in ihrer Naturbelassenheit nicht
so recht zu den übrigen ‚typisch deutschen‘ Hausgärten passend. Ein
Trampelpfad führte in Schlangenlinien weiter.
Wie immer war Alex neugierig. Nach kurzer Zeit endete der Weg in
einem Geländeausschnitt – ungefähr vier Meter tief. Unten lief ein
Rinnsal aus schwarzer Brühe. Auf beiden Seiten fiel die Böschung
steil ab. Über dem ehemaligen Bachlauf lag als Fortsetzung des
Bachlaufs des Weges ein Eisenrohr mit mindestens einem Meter
Durchmesser. Auf der anderen Seite müßte sich irgendwo ein
Bahnhof befinden, dachte Alex. Der Trampelpfad ist eine Abkürzung,
und die Metallröhre sicher eine Mutprobe für alle Jungs aus der
Umgebung.
Die Dämmerung setzte ein. Er ging langsam zurück und überlegte,
wo und wie er diesen Neumann wohl abfangen könnte. Ihn erst in
seine Wohnung lassen und dann bei ihm klingeln erschien ihm zu
riskant. Langsam packte ihn die Erregung. Ich besitze zuviel
Phantasie, dachte er, dauernd gehe ich in Gedanken eine geplante
Aktion durch und male mir dann aus, was alles schief gehen kann.
Sobald es aber losging, war er immer ruhig und gelassen. Er ging am
dunklen Hauseingang vorbei. Neben diesem befand sich eine
Fahradbox. Alex war fast daran vorbei, als er wie im
Unterbewußtsein den Alarm schrillen hörte. Blitzartig sackte er in die
Hocke, wobei er überdeutlich, beinahe in Zeitlupe an der Stelle, wo
sich gerade eben noch sein Kopf befunden hatte, die Metallkugel
eines Totschlägers ein Stück Putz aus der Hauswand fetzen sah.
Fast vergessene, eingedrillte Reflexe traten in Aktion. Alex schnellte
hoch und hieb mit einem gewaltigen Ruck seinen rechten Ellbogen
nach hinten. Er fühlte Rippen bersten und vernahm ein dumpfes
Gurgeln. Als er kampfbereit herumfuhr, sank die breite Gestalt
langsam in sich zusammen.
Hinter ihm schwenkte ein Scheinwerferpaar von der Straße her in die
Toreinfahrt. Wenn schon, dann kommt alles zusammen, dachte er
ärgerlich. Er packte die Gestalt und zog sie in die hinterste Ecke der
Box. Der Wagen fuhr vorbei zu den Garagen. Im seitlichen Licht der
Scheinwerfer bestätigte sich sein Verdacht: Der Butler! Das Auto
hielt an und eine Tür klappte – ihm blieb nur wenig Zeit. „Weshalb
hast du mich angegriffen?“ – fragte er den Mann, den er an der Brust
zu sich heranzog, seinen Kopf gegen die Hauswand stoßend.
Diesem brachte der kurze Schmerz das Bewußtsein zurück, und
Alex wiederholte seine Frage. Unter gurgelndem Stöhnen stieß der
Butler hervor: „Drei Mal ist zuviel!“ Danach verstummte er.
Schritte näherten sich vom Hof her. Alex drückte dem Butler die
Hand auf den Mund. Die Haustür schloß sich, und alles war wieder
ruhig. Die Gestalt lag wie ein Bündel Lumpen in der Ecke.
Alexanders Verstand arbeitete ruhig und logisch. Eine polizeiliche
Untersuchung durfte er nicht riskieren, weil er dann wohl erst mal für
ein halbes Jahr in Untersuchungshaft wandern würde. Der nächste
heimkehrende Hausbewohner konnte ihn entdecken – Neumann
durfte nicht gewarnt werden.
Während diese Gedanken in Windeseile durch sein Gehirn rasten,
zog er den Butler ins Freie und warf ihn mit einer explosiven
Kraftanstrengung über seine Schulter. Er drehte sich suchend um,
sah den Totschläger und stieß ihn mit dem Fuß in eine dunkle Ecke.
Aufheben war jetzt unmöglich – die Gestalt über seiner Schulter wog
mindestens zwei Zentner.
Mit schnellen, gleichmäßigen Schritten ging er los und hielt erst an
der Metallröhre an. Er ließ den Körper von seiner Schulter gleiten
und leerte ihm die Taschen, nahm ihm die Uhr ab und rollte ihn in
das ehemalige Bachbett. Schon auf halben Wege war ihm
klargeworden, daß er einen Toten trug. Langsam ging er über die
Röhre, fand den Bahnhof und fuhr mit der nächsten Bahn zur
Stadtmitte.
Der Mensch versuche die Götter nicht, dachte er, für heute habe ich
mein Glück aufgebraucht. Er sortierte seinen Fund: Eine Brieftasche
mit 360 Mark, ein Schlüsselbund, ein Notizbuch und ein Umschlag,
der mit ‚Neumann‘ beschriftet war.
Alex war allein im Abteil. Er merkte sich die Daten im Ausweis und
blätterte das Notizbuch durch: Nur Bemerkungen über Einkäufe und
Besorgungen. Er öffnete den Briefumschlag: Ein Blatt mit Namen
und Adressen. Alex steckte dieses Blatt, den Schlüsselbund und das
Geld ein und warf den Rest aus dem Fenster. Er würde nun ein paar
Tage Zeit haben, aber nicht mehr.
Rückblende
Bochum 1963. Alex stand am Band und schätzte die Entfernung.
Sechs bis sieben Minuten, dann würde sein Wagen bei ihm sein. Zeit
für eine Zigarette.
Einmal im Monat hatten sie sich damals geschrieben. Manchmal
verstand sich Alex selber nicht. Einmal war er weitergezogen und
hatte sie vergessen – fast ein Jahr lang kaum mehr an sie gedacht.
Sie hatte ihn über das Einwohnermeldeamt aufgespürt und
eingeladen. Er war überrascht und erfreut gewesen und besuchte
sie. Das erste Mal noch unverbindlich – aber beide hatten schon
Feuer gefangen. Als der Bund nach ihm rief, wollte er dem Staat das
Geld nicht schenken und die beiden heirateten.
Die erste Nacht zusammen war ein arge Plackerei gewesen, denn
sie war noch unschuldig. Die Hochzeitsreise auf einem HeinkelRoller nach Jugoslawien hatte vier Wochen gedauert. Braungebrannt
und buchstäblich mit der letzten Mark waren sie glücklich
zurückgekommen – zuversichtlich, alle Probleme des Lebens
meistern zu können. Sein Motorrad hatte er verkauft – das wilde
Leben war vorbei.
Die Autofabrik Opel wurde in Bochum gebaut. Sie suchten Schreiner
für die Karosseriekosmetik und zahlten dreihundert pro Monat mehr.
Alex mußte nach Preßfehlern suchen und diese bei ungefähr jedem
vierten Wagen ausbügeln. Angeblich sollten Schreiner für diese
Arbeit am besten geeignet sein. Normalerweise brauchte er etwa fünf
Minuten und konnte dann einige Minuten Pause einlegen.
War ein Wagen mit vielen Fehlern behaftet, wurde er abgetrieben
und brauchte bis zu einer halben Stunde, um an seinen alten Platz
zu gelangen. Wurde es zu arg, drückte er mit dem Knie eine große
Beule in die Seite, und diese Wagen kamen aufs Reparaturgleis.
Alex langweilte sich tödlich. Sein Kollegen kannten keine anderen
Interessen als Mädchen, Bier und Fußball. Wenn man denen eine
Kugel in den Kopf schießt, dachte er, fliegt sie innen tausendmal als
Querschläger hin und her, bis sie das Gehirn findet.
Nach zwei Monaten kündigte er und meldete sich zur Meisterprüfung
an. Der Meisterkurs lief schon seit einem halben Jahr, und er hatte
enorm aufzu-holen. Tagsüber arbeiten – manchmal mit Überstunden,
zweimal in der Woche Abendkurse und am Wochenende
Hausarbeiten. Für ihn war`s kein Problem, dies alles zu schaffen.
Tausende junger, fleißiger Männer strebten nach einem besseren
Platz im Leben.
Zwei Jahre später hatte Alex dann seine erste Meisterstelle:
Abteilungsleiter in einer Möbelfabrik. Sechsundzwanzig Männer und
vier Frauen arbeiteten in seiner Abteilung, doch die Frauen
bereiteten dreimal soviel Ärger wie die Männer zusammen.
Nach längerer Suche hatten sie ein kleines Haus gefunden. Mit
Garten, Wiese und Obstbäumen. Ihre Tochter wuchs heran, und ein
Sohn hatte sich auch noch eingestellt. Das Gehalt war nicht hoch,
aber Alex wurde respektiert, und das Leben war angenehm. Er wollte
das gemietete Haus kaufen – mit 20.000 Mark war es preiswert zu
haben. Dazu hätte er eine Bürgschaft gebraucht. Sein Chef lehnte
ab. Alex begann sich zu langweilen.
In der Produktion konnte er nicht höher aufsteigen und zum
Betriebsleiter hätte er ein Studium benötigt. Im Verkauf war mehr zu
verdienen. Alex konnte gut zeichnen und kalkulieren. Bei einer
Einrichtungsfirma fand er einen Job. Sein Chef war nur eine Sprosse
auf der Firmenleiter – aber für ihn ein Glücksfall. Oft begleitete er ihn
zu Auftragsverhandlungen, weil Alex aus dem Handgelenk
kalkulieren konnte. Er plazierte sich bescheiden im Hintergrund und
spitzte die Ohren.
Seine erste Bauleitung kam zufällig auf ihn zu. Sein Chef drückte ihm
eine Fahrkarte in die Hand und sagte: „Ab in die Schweiz nach
Arosa.
Unser
dortiger Bauleiter bekam Streit mit dem Bauherrn und muß die
Baustelle verlassen. Zwar ist er im Recht, aber der andere besitzt
das Geld.“ Fünfunddreißig Schreiner-Monteure warteten auf seine
Anweisungen. Eine Woche lang ging alles gut. Dann verrenkte er
sich das Fußgelenk und mußte ins Krankenhaus. Für die Mutter
Oberin ließ er eine große Pralinenschachtel und einen riesigen
Blumenstrauß bringen, und eine Stunde später befand sich das
Krankenhaus fest in deutscher Hand. Seine Bauzeichnungen
bedeckten das Bett und stapelten sich im Zimmer. Sein Chef hatte
ihm mal auf einer Autofahrt eine Geschichte erzählt:
„Kurz nach Kriegsende bin ich raus aus München. Mit einem vollen
Ruck-sack zu den Bauern, um uns was zum Futtern einzutauschen.
Unterwegs traf ich einen, der besaß lediglich eine Aktentasche. Der
fragte mich, ob ich nicht mit ihm mitmachen wollte. Natürlich schlug
ich gleich ein – meine Sachen konnte ich immer noch loswerden.
Wir kommen also zu einem Bauernhaus, und mein neuer Partner holt
aus seiner Aktentasche eine Glühbirne. Die waren damals mehr als
selten. Ich sollte also vorne klopfen, die Glühbirne anbieten und dafür
mindestens eine Speckseite und zwanzig Eier verlangen. Die
Bauersfrau fackelte nicht lange – so happy war sie über die neue
Glühbirne. Als ich rauskomme, wartet mein Partner schon auf der
Straße. Als ich ihn frage, was nun weiter, macht er seine
Aktentasche auf, holt Sandpapier und einen Öllappen heraus und
aus der Jackentasche eine verschmutzte Glühbirne. Die solle ich
putzen, die hätte eben noch im Stall gehangen. Mit diesem Trick
grasten wir allerhand Bauern ab. Und was kann man daraus lernen?“
Er blickte Alexander grinsend an. „Man soll erst denken, bevor man
zu arbeiten beginnt“, gab er selbst die Antwort. Und auf dieser Basis
verstan-den sich die beiden ausgezeichnet.
Zwei Jahre war Alex zufrieden. Dann wurde er langsam unruhig. Das
Gehalt war nicht gerade üppig, aber ausreichend. Sich auf die
Ochsentour in der Firma hocharbeiten, war nicht sein Fall. Ihm bot
sich eine Chance als Fachbauleiter in Arabien. Die Abenteuerlust
war dabei sein stärkstes Motiv. Seine Ehe war zur Routine
geworden. Noch immer gut und beständig, aber ohne Höhepunkte.
Ein Urlaub von der Ehe wird uns beiden gut tun, dachte
Alexander und behielt Recht damit.
Wie immer informierte er sich auch hier zuvor gründlich. Er bestand
auf einem freiberuflichen Bauleitervertrag. Hat die Firma weiterhin
Aufträge, und ich bin gut, geben die mir schon einen neuen Vertrag;
hat die Firma keine Aufträge, oder mache ich Fehler, fliege ich
sowieso, dachte er sich folgerichtig. Der Unterschied bestand aus
rund viertausend Mark pro Monat. Dafür hatte die Firma keinen Ärger
mit Urlaub, Kündigungsfrist und Sozialabgaben. Alex hatte seine
Marktnische gefunden. Mit 10.000 bis 12.000 Mark im Monat konnte
man prima leben und auch mal einen Halbjahresurlaub einlegen.
Es war der erste Achtstundenflug in seinem Leben. Die Wüste sah
vom Flugzeug einsam, kahl und feindlich aus. Später sollte er sie
lieben lernen.
Mit neugierigen Augen betrachtete er die sagenhafte Welt aus seinen
Abenteuerbüchern – heiß und staubig. Taxifahrer bestürmten ihn am
Flughafen. Auf einem Zettel hatte er sich in der Firma den Weg zum
Camp skizziert und den üblichen Taxipreis notiert. Nach einer halben
Stunde hatte er einen Taxifahrer gefunden, der diesen Preis
akzeptierte – dabei aber Stein und ein schwor, er würde dabei samt
seiner großen Familie verhungern.
Begrüßung auf der Baustelle. Der Campmanager zeigte ihm sein
Appartement, die Kantine und den Laden und versprach, ihm in den
nächsten Tagen auch die nahe Stadt zu zeigen. Der Oberbauleiter
erläuterte den Stand der Arbeiten, und wo der Ausbau zu starten
habe. Am nächsten Tag nahm Alex sein Handsprechgerät, einen
Teleskop-Meterstab, eine Wasserwaage und machte sich an die
Kontrolle der Vorarbeiten. Das Ergebnis besprach er mit dem
Oberbauleiter. Herr Schneider besah sich deprimiert das Ergebnis
und berief eine außerordentliche Baubesprechung ein.
„Ich kann nur so gut sein wie meine Mitarbeiter“, begann er, „und der
Consulting muß unsere Arbeit abnehmen, sonst gibt es kein Geld.
Wie Sie sicher schon alle wissen, ist Herr Rat unser neuer
Ausbauleiter. Er hat keine firmeneigenen Leute, sondern beauftragt
Subunternehmer,
die
in
den
nächs-
ten Tagen eintreffen. Wenn die Vorgewerke nicht in Ordnung sind,
werden diese Subunternehmer zusätzliche Forderungen stellen, und
dies müssen wir dann der Firmenleitung vertreten und begründen.
Herr Rat hat eine Reihe von Fehlern entdeckt, die beseitigt werden
müssen, bevor die Ausbau-Subunternehmer mit der Arbeit beginnen.
In diesem Sinne also, danke.“
Und schon begann der Ärger. War er nun zum arbeiten hierher
gekommen, oder um die Arbeit anderer zu kontrollieren? Wir sind
hier in Arabien und nicht in Europa, da kann man so pingelig nicht
sein, und so weiter und so fort. Alex hörte sich das eine Weile an und
hob dann die Hand. Langsam verstummte das erregte
Durcheinander. „Ich muß zu Beginn gleich etwas grundsätzliches
sagen, dann werden wir uns in Zukunft nicht mehr mißverstehen.
Unter Kollegen, die im Ausland gemeinsame Probleme lösen, sollte
man sich duzen. Mein Name ist Alexander, und gute Freunde sagen
Alex zu mir. Unsere Firma hat diesen Auftrag bekommen, weil wir die
bekannte deutsche Qualitätsarbeit leisten - und nicht, weil wir so
schöne blaue Augen haben. Von mir wird verlangt, eine gute Arbeit
abzuliefern und dabei im Rahmen der Kalkulation zu bleiben. Wir
können erkannte Probleme einfach und leise lösen, auch die meisten
Fehler ohne großes Aufsehen ausbügeln. Ich kann aber auch alles
an die große Glocke hängen. Beim Ausbau kommt alles heraus.
Jeder zuvor begangene Fehler wird sichtbar; denn die Ausbaupläne
beruhen ja aus Termingründen auf den Architektenplänen und nicht
auf den Rohbaumassen.
Und zur Pingeligkeit: Falls eine Stahlzarge einen halben Zentimeter
aus der Waage ist, werde ich es tolerieren. Aber ich fand welche, die
um zwei Zentimeter schief sind – und das geht nicht. Deckenhöhen
wurden auch nicht eingehalten, Rohre und Luftkanäle hängen
teilweise zu tief.“ „Was macht denn das schon aus, wenn eine
abgehängte Decke einige Zentimeter tiefer montiert wird?“ – wendete
einer ein. „Im Prinzip nichts“, entgegnete Alex. „Wenn die Decke aber
an einem Fensterkämpfer anschließt, oder ein raumhoher
Einbauschrank eingeplant ist, kann das eine große Rolle spielen.
Nach meinen Erfahrungen sind in den Plänen schon genügend
Fehler enthalten, die wir hier auf der Baustelle ausbügeln müssen,
weil wir nicht wochenlang warten können, bis die zu Hause eine
Lösung finden. Ein Aus-landsbauleiter zeichnet sich dadurch aus,
daß
er
seine
Probleme
selbst
löst.“
Es gab noch eine Menge ‚Wenn‘ und ‚Aber‘, doch am Ende gelobten
alle eine gute Zusammenarbeit. Dennoch geriet Alex nacheinander
mit allen mal aneinander – das lag in der Natur der Sache. Er leitete
die abschließenden Gewerke, und wenn die Vorgewerke nicht gut
oder pünktlich hergestellt waren, hatte er das auszubaden. Die Arbeit
machte ihm Spaß. Organisieren, Planen, etwas durchsetzen,
Probleme lösen – das lag ihm. Seine Subunternehmer machten ihm
noch zusätzliche Sorgen.
Hardy sollte 15.000 Quadratmeter abgehängte Decken montieren
und hatte dazu zwölf Mann mitgebracht. Nach seiner Rechnung
würde er die Termine einhalten können. „Hast du auch bedacht“,
fragte ihn Alex, „daß ein Monteur in dieser Hitze höchstens fünfzig
Prozent seiner üblichen Leistung erbringt?“ Hardy war geschockt –
das brachte ihm doch tatsächlich seine gesamte Kalkulation
durcheinander. Unbarmherzig fuhr Alex fort: „Du hast einen Vertrag
mit Konventionalstrafe unterschrieben. Begeh´ einen Fehler, und
dein Häuschen zu Hause ist weg.“ Hardy bekam das große Jammern
und war dann drei Tage lang besoffen. Dann fand er die Lösung: Er
stellte sechs Somalineger als Helfer ein. Vier davon waren so gut,
daß sie bei einfachen Arbeiten einen deutschen Monteur ersetzten.
Hardy war happy – seine Kalkulation stimmte wieder.
Die Somalis arbeiteten natürlich illegal. Sie waren als Mekkapilger
ins Land gekommen und hatten sich dann Arbeit gesucht. Jedes Jahr
machte die saudische Polizei groß angelegte Razzien. Sie fing alle
ein, die ohne Paß waren und ausländisch aussahen und sperrten sie
in große Sammellager. Jeder schwor natürlich Stein und Bein, seinen
Paß verloren zu haben. Nach einer Woche angeblicher
Nachforschungen wurden sie dann abgeschoben.
An die Nachforschungen glaubte Alex nicht. Die Araber waren
praktische Leute. Einer hatte zu Alex gesagt: „Wir haben nicht
gearbeitet, als wir noch kein Geld hatten. Warum sollten wir jetzt
arbeiten?“ Diese Logik fand Alex überzeugend.
Mit dem Jeep fuhr Alex rund 500 Kilometer nach Riad, von zehn
Last-wagen, die ihm dabei entgegen kamen, waren acht von
Mercedes. Die hatten ganze Jahresproduktionen hierher geliefert.
Nach drei Stunden stoppte er an einem Rastplatz, bewunderte einen
besonders bunt verzierten Laster und sah auf dem Boden der Kabine
einen großen Stein liegen. Daneben kochte sich der Fahrer gerade
eine Tee und bot Alex auch einen Becher an. Die Frage nach dem
Stein ergab als Auskunft ein typisches Ergebnis des Zusammenpralls
zweier Kulturen.
Ein Araber sitzt nicht auf einem Stuhl, sondern auf seinem Teppich.
Deshalb dehnen sich seine Beinmuskeln und –sehnen anders als bei
einem Europäer. Die Autos sind aber für Stuhlsitzer konstruiert, und
diese Sitz-haltung ist für Araber ebenso unbequem wie für Europäer
das Sitzen auf Teppichen mit untergeschlagenen Beinen. Dieser
Fahrer setzte sich nun auf seine Art während der Fahrt bequem auf
seinen Sitz, wie früher noch auf sein Kamel. Mit dem Stein
beschwerte er das Gaspedal. Trotz der Hitze rann es Alex bei der
Vorstellung kalt den Rücken hinunter. Da gab es nur eins: Aufpassen
und bei Gefahr in die Wüste steuern. Denn bevor solch ein Fahrer
seine Beine auseinander gewickelt, den Stein vom Gaspedal gerollt
hatte und auf Kupplung und Bremse steigen konnte, war alles zu
spät.
Durch die flimmernden Hitzeschleier schien das endlose Band der
Straße wie lebendig. Wanderdünen wurden mir Rohöl besprüht und
so befestigt. Rechts und links der Hügelkuppen lagen jede Menge
Autowracks. Bei den Steigungen vor der Kuppe überholten die
Araber besonders gern. Es war, als wollten sie mit dem Schicksal
wetten: Kommt von vorn einer oder nicht? Und oft genug kam einer –
‚Arabisches Roulette‘.
Das Campleben hatte seine Reize. Die Familien blieben unter sich –
vermut-lich, um die Junggesellen keiner Versuchung auszusetzen.
Für die Männer ohne Frauen war es eine absolut sexlose Zeit. Die
Sekretärinnenstellen bei der Bauleitung waren von den ledigen
Frauen der Firma hochbegehrt. Ein Mann fand nach einem halben
Jahr ohne Frau, Kino und Playboy die reizloseste Bohnenstange zum
Verlieben.
Abends in der Kantine bearbeitete Alex den Campmanager, einen
Berliner: „Hör mal, Atze, zwei meiner Monteure müssen umziehen.
Sonst drehen die mir durch.“ „Warum? Ihr Wohncontainer ist doch in
Ordnung.“ „Klar, aber ihr Nachbar ließ seine Frau nachkommen, und
die
Wände
sind
zu
dünn.
Die beiden halten das Gejohle jede Nacht nicht mehr aus“, er hörte
hinter sich ein Glucksen und drehte sich um. Eine mittelgroße,
gutgewachsene Blondine in einem langärmligen Overall unterdrückte
mühsam ihr Lachen.
Sie setzte sich neben ihn und fragte: „Fahren Sie nachher noch in die
Stadt? Ich müßte unbedingt noch einkaufen und suche einen
Fahrer.“ „Sie haben ihn gefunden, la belle de jour“ – Alex war
begeistert, „aber das wird Gerede geben.“ „Ach“, meinte sie
wegwerfend, „geredet wird immer und Ihr schnuckeliges Auto gefällt
mir.“ Alex fuhr als einziger auf der Baustelle einen Suzuki-Jeep mit
Vierradantrieb.
„Und Ihr Mann?“ – fragte Alex, „ich möchte nicht wegen einer
Gefälligkeit in eine Prügelei geraten.“ Er grinste und blinzelte mit dem
linken Auge. Sie sollte ihn nicht für feige halten - nur für vorsichtig.
„Mein Mann ist ein Bleistiftspitzer. Wenn er Ihre Muskeln sieht, wird
er vorsichtig sein.“ Sie umspannte mit ihrer linken Hand seinen
Oberarm, was ihr zur Hälfte gelang. Erregung durchrieselte ihn. Ich
hatte zu lange keine Frau mehr, dachte er. „Mein Mann macht für ein
paar Tage Besuche auf anderen Baustellen, und außerdem lasse ich
mir keine Vorschriften machen. Er war letztes Jahr allein in
Indonesien, wo er sich kreuz und quer durch das Land vögelte. Aha
– dachte Alex, sie will sich revanchieren. Also, von mir aus gern.
Dammann war acht Kilometer entfernt. Sie stellten den Jeep mitten
in der Stadt ab. Dann unternahmen sie einen Schaufensterbummel,
kauften im Supermarkt ein und begaben sich anschließend zum
Homusessen. Die Supermärkte führten Erzeugnisse aus der ganzen
Welt. Alex probierte alles aus. Manchmal mußte er nach dem Kosten
eine Dose oder ein Glas weg-werfen – aber oft entdeckte er köstliche
Dinge. Zu dem Homus (ein gewürzter Hirsebrei) tranken sie
Mangosaft.
„Wenn ich nicht allein einkaufen könnte, wäre es manchmal nicht
auszuhalten. Mit den anderen Frauen in der Herde mittrotten mag ich
nicht. Jahrelang würde ich hier nicht leben können. Eine Frau darf
hier nicht Auto fahren – allein herumlaufen ist verpönt und auch
gefährlich. Ich sitze den ganzen Tag im Haus. Mein Mann kommt
abends abgeschlafft nach Hause – manchmal bin ich in der
Stimmung, die Wände hoch zu gehen.
Sie fuhren zurück. Eine Nacht in Arabien ist nie völlig dunkel. Die
Sterne glitzern wie Diamanten auf schwarzem Samt. Es war
Halbmond, und die Sichel lag quer. Ein ungewohntes Bild gegenüber
europäischem Blick-winkel. Er fuhr die Küstenstraße entlang. Das
Meer glitzerte im Mondlicht. „Ist noch früh“, rief er im Fahrtwind, „wie
wär´s mit einem Bad?“ Sie sah ihn an und lachte. Ihre halblangen
Haare umschmeichelten ihr Gesicht. Er hielt an, schaltete den
Vierradantrieb hinzu und fuhr zum Strand hinunter. Hinter einem
Sandhügel stoppte er und schaltete den Motor aus.
Sie beugte sich ihm entgegen, und sie küßten sich. „Genau wie ich
es wollte“, flüsterte sie und schickte sich an, auszusteigen. „Bleib
noch einen Moment“, hielt Alex sie fest, „falls hier Sandvipern waren,
sind sie durch das Auto aufgeschreckt und hauen jetzt ab. Lassen
wir ihnen dafür Zeit.“ Sie schauderte und sagte: „Immer wieder
vergesse ich, wo ich bin.“
Sie küßten sich wieder. Alex schob seine Hand unter ihre weite
Bluse – sie hatte keinen Büstenhalter an. Abwechselnd streichelte
und knetete er ihre Brüste. Je stärker er drückte, desto heftiger und
tiefer stöhnte sie. Die Dame hat es gern brutal, dachte Alex, sprang
aus dem Wagen, zog sie in den Sand, fetzte ihre Hose herunter und
nahm sie ohne jedes Vorspiel. Vom ersten Stoß an stieß sie spitze
Schreie aus, biß ihn in die Schulter und umklammerte ihn mit ihren
Beinen wie mit einem Schraubstock. So plötzlich, wie ihr anfänglicher
Ausbruch begann, sank sie nach einer Weile ermattet zurück. „Jetzt
habe ich genug“, sagte sie, „wir können baden.“
Und damit sprang sie auf und stürzte sich in die Wellen. Sie balgten
sich im flachen Wasser und unterbrachen diese Spiele zweimal für
eine neue Runde. Es war jedes Mal das gleiche – wie ein Sprint
unter Volldampf. Schließlich hatte Alex seinen ärgsten
Nachholbedarf befriedigt.
Auf der kurzen Ladefläche seines Wagens hatte er eine kleine,
verschließ-bare Kiste festgeschraubt, in der er immer Handtücher,
Wasser und Kekse mitführte. Sie trockneten sich gegenseitig ab,
knabberten Kekse und spülten mit Wasser nach. Danach zogen sie
sich an und fuhren langsam zum Camp zurück. Alles war ruhig, die
Leute schliefen und erholten sich für den kommenden Tag.
Er parkte sein Auto, griff nach ihrer Hand und nahm sie mit auf seine
Bude. Die Appartements für alleinstehende Bauleiter waren wie
Hotelzimmer konzipiert. Zusätzlich war im Flur ein Küchenblock mit
Herd und Kühlschrank eingebaut. Alex stellte die Air-Condition ab
und fragte: „Möchtest du `was Kaltes oder soll ich uns einen Tee
oder Kaffee kochen? Alkohol besitze ich nicht; denn bei einer Razzia
möchte ich nicht ausge-wiesen werden noch ins Gefängnis wandern.
Ich brauche das Zeug nicht.“ „Mach bitte einen Kaffee. Der macht
kurzfristig munter, und man kann dennoch später gut schlafen.“
Er brühte arabischen Kaffee, indem er den Kaffee mit dem Wasser
und dem Zucker ein paarmal aufwallen ließ. „Magst du Hel im
Kaffee?“ – fragte er. „Probiert habe ich’s noch nie. Nur davon gehört.
Was ist das eigentlich?“ Er zeigte ihr die kleinen Kapseln und
erklärte: „Ein Kaffeegewürz, wächst an Sträuchern. Man muß die
Kapseln zerdrücken und in den kochenden Kaffee werfen. Nur nicht
zu oft oder zu viel. In größeren Mengen wirkt das Zeug wie Opium.“
Sie saßen nebeneinander auf der Schlafcouch, nippten an ihrem
Kaffee und lächelten sich an. „Bestimmt haben uns vorhin einige von
den Schnepfen beobachtet und kochen nun vor Neid“, kicherte sie.
„Meinst du wirklich? Wie heißt du eigentlich?“ – fragte Alex. „Sag
Inge zu mir – und natürlich hocken ein paar hinter den Gardinen. Die
haben den ganzen Tag nichts anderes zu tun, als über ihre
Mitmenschen ihre Zungen zu wetzen. Fast alle würden auch so eine
Gelegenheit wahrnehmen, aber sie trauen sich nicht“, meinte sie
verächtlich. „Bist du müde oder soll ich noch ein bischen bleiben?"“-–
fragte sie sachlich. Statt einer Antwort zog er sich aus und ging unter
die Dusche, um das Salz des arabischen Golfes abzuspülen. Sie
kam nach und mit dem gegenseitigen Abseifen brachten sie sich
wieder in Stimmung. Am Strand hatte sie den gleichen sexuellen
Notstand wie er; doch nun auf der ausgeklappten Couch verwöhnte
sie ihn langsam, kundig und völlig hemmungslos.
In der Folgezeit besuchte sie ihn manchmal nach Mitternacht und
verschwand vor dem Morgengrauen wieder. Liebe war es nicht, und
sie sprachen auch nie darüber – aber sie konnten sich gut
unterhalten, und körperlich war es eine gute Entspannung.
Der Bau machte Fortschritte, und immerzu passierte irgendwas.
Einmal tobte zwei Tage lang ein Sandsturm, der alle Autoscheiben
blind schmirgelte. Aus den offenen Räumen mußten sie den
hereingewehten Sand hinausschaufeln.
Unter dem Baugelände wurden Kavernen gefunden, die mit Beton
ausgefüllt werden mußten. Dafür wurde eine Spezialfirma aus
Deutschland eingeflo-gen, die diese unterirdischen Hohlräume
aufspürten, anbohrten und dann mit Beton füllten. Das Sportzentrum
hatte Keller mit Abflußrohren von einem halben Meter Durchmesser
bis nach Al Khobar, circa fünf Kilometer entfernt. Eines Tages kam
ein Monteur aufgeregt aus dem Keller und rief, aus den Gullys quelle
eine Betonbrühe. Da hatte doch die Spezialfirma die Abflußrohre
angebohrt und mit Beton gefüllt.
Erich kam aus dem Urlaub zurück – total am Ende. Seine Frau war
mit einem anderen durchgebrannt, die Möbel weg, und in der
Wohnung hatten sich schon neue Mieter eingerichtet. Sein Konto war
vollständig abgeräumt. Ein Jahr harter Arbeit und Entbehrungen
hatte er mithin vergebens hinter sich gebracht. Alle kümmerten sich
liebevoll um ihn. Jeder kam mit einer lustigen Geschichte, um ihn
aufzumuntern. „Erich, kennst du die Geschichte, wie in SaudiArabien das Telefon eingerichtet wurde?“ – fragte Alex, und als
dieser ihn gespannt ansah, fuhr er fort:
„In Saudi-Arabien hat ja nicht der König das letzte Wort sondern der
Rat der Koranwissenschaftler. Und die waren gegen das Telefon,
weil es eine westliche, teuflische und verderbliche Neuerung sei.
Also ließ der König ein Versuchstelefon installieren. Auf der einen
Seite die gläubigen Koran-kundigen und am anderen Ende einen
Typen mit angenehmer Stimme, der den Koran durchs Telefon
vorlas. Ende der Fahnenstange.“
Ein Kollege übernahm den nächsten Part: „In der ersten Zeit war ich
immer verwundert, weil die Autos an der Ampel immer bei Grün
anhielten. Dann kapierte ich es aber; die von der anderen Seite
fuhren bei Rot einfach durch.“ Alle lachten über die verdrehte Logik.
„Wer geht am Freitag mit zum Hackeplatz?“ Das war ein beliebtes
Spiel um Neulinge zu schocken. Der Freitag ist in Arabien ‚Sonntag‘,
also arbeitsfrei.
Um 11.30 Uhr wurden vor der großen Moschee die Hinrichtungen
durchgeführt. Trennte der Henker mit einem Schlag den Kopf ab,
klatschten die Zuschauer. Benötigte er mehr Hiebe, buhten sie,
pfiffen und lachten ihn aus. Mancher Neue, voller Neugier und den
harten Mann markierend, wankte mit grünem Gesicht hinter die
nächste Hausecke, wenn das Blut zwei Meter weit aus dem
Halsstumpf spritzte. Mord, Kindesentführung und Vergewaltigung
wurden so bestraft. Alex hatte sechsmal bei Hinrichtungen
zugesehen und einmal bei einer Handabtrennung wegen Diebstahl.
Das war selten – geklaut wurde fast nie.
Bootsbau in Abu Dhabi
Alte Dhau mit neuem Sonnendach
Karl, dem in Italien ein Auto abhanden gekommen war, hätte am
liebsten ein paar Tausend arabische Polizisten quer durch Italien
geschickt. Dann wäre halb Italien entvölkert, behauptete er, und die
andere Hälfte liefe nur noch mit einer Hand herum.
Notwendige Maßnahmen wurden oft mit verblüffend einfachen
Mitteln durchführt. An Straßenpunkten, wo langsames Fahren
angesagt war, wurden Geschwindigkeitsbrecher gebaut. Einfache,
ungefähr zwanzig Zentimeter hohe Wälle quer zur Fahrbahn. Wer
dort nicht Schrittempo fuhr, konnte hinterher seine Achsen einzeln
zusammensuchen. Welch ein Aufwand dagegen bei uns zu Hause,
dachte Alex: Schilder, Radar, Bußgeldbescheide, Gerichtsverfahren!
Inges Mann war wieder einmal von einer Reise zurückgekehrt. Er
ließ sein Auto immer am Flughafen stehen – im Fünfminutenbereich.
Diesmal hatte die Polizei ihm die Schilder abgeschraubt, den Wagen
abgeschleppt und in einem Flugsandfeld stehen lassen. Er rannte
aufgeregt zur Polizeistation, weil er dachte, sein Wagen sei geklaut.
Die Polizisten lachten. Für die Schilder mußte er umgerechnet 180
Mark bezahlen und aus dem Sand bekam er seinen Wagen nur mit
einem Abschleppwagen heraus. „Ich bin kuriert“, knurrte er, „bis ich
mein Auto wieder hatte, waren drei Stunden vergangen.“
Alex war jeden Freitag unterwegs: An den Strand, zu den nächsten
Städten. In Hofuf fand er im Schutt ein altes Kanonenrohr, zwei
Meter lang und zwei Zentner schwer. Mit einem Balken als Hebel
wuchtete er das verrostete Rohr auf seinen Wagen, auf der
Heimfahrt jeden Moment einen Achsenbruch befürchtend. Mit einer
leeren Kabeltrommel richtete er die Kanone vor seiner Tür auf die
Kantine. Dem Koch erklärte er: „Wenn dein Essen nicht besser wird,
geht das Ding los.“
Seine Tochter hatte Konfirmation. Alex flog für drei Tage nach
Hause. Seine Frau war abgemagert und befand sich in einer
seelischen Krise. Er erkannte erst jetzt, wie sehr sie sich an ihn
gelehnt hatte. Diese Entwicklung paßte ihm gar nicht. „Was willst du
machen, wenn ich morgen tot umfalle, einen Autounfall habe oder
vom Blitz erschlagen werde?“
Saudi-Arabien, bei Al Ula (Sperrgebiet) – die Erbauer und Bewohner
der Felsenstadt Petra in Jordanien bauten nach ihrer Vertreibung
durch die Römer hier ihre neue Stadt.
Ob es wirklich die Nabatäer waren, liegt im Dunkel der Geschichte
Saudi-Arabien, Wüstenausflug nach Al Ula von Taima quer durch die
Wüste in sieben Stunden. Fotopause bei einer kurzen Rast.
Er wollte ein selbständige, selbstbewußte Frau, die die Probleme des
Lebens selbst lösen konnte und sich dafür nicht allein auf ihn verließ
– und ihn dennoch liebte und bewunderte. Er hatte eine lange
Aussprache mit ihr, und sie änderte sich. Später traf sie eigene
Entscheidungen und manchmal auch gegen seinen Willen. Wirkten
diese sich dann negativ aus, kam es zum Streit – und jedesmal starb
ein Stück seiner Liebe. Später fragte sich Alex noch lange und oft, ob
eine solche Entwicklung zwangsläufig sei – oder welche Fehler er
gemacht hatte.
Sein Konto war gut gepolstert. Er kam mit neuem Elan zurück in die
Wüste. Die Israelis befreiten in Entebbe mit einer tollkühnen
Kommandoaktion ihre Leute. Die Araber waren auf die Amerikaner
stinksauer. Am roten Meer befanden sich Radarstationen und
Raketenbasen – die wurden von amerikanischen Technikern betreut.
Die Israelis mußten über das rote Meer nach Entebbe fliegen – alles
andere war Feindesland. Im kritischen Moment fiel die gesamte
Radarkette aus, und die Raketen waren blind.
Ausländer mußten in Saudi-Arabien einen Führerschein machen. Die
Prüfung war einfach: Ein Augentest und ungefähr dreihundert Meter
auf gerader Straße fahren. Das Ganze war in einem halben Tag
abgehakt. Alex brachte einen neuen Kollegen hin. Ein riesiger Ami
schimpfte wie ein Rohrspatz . „Was hast du für Probleme?“ – fragte
Alex ihn. „Ich fahre seit 35 Jahren auf der ganzen Welt Auto, und hier
bin ich jetzt zum achten Mal durchgefallen.“ „Alex wußte, warum die
Araber keine Amis leiden können – wegen ihrer Israelpolitik.
Er sagte zu dem Araber hinter dem Schreitisch: „Ihr prügelt die
falschen Leute – er ist doch nicht schuld.“ Der Araber grinste und
erwiderte: „Der ist hier – einen anderen haben wir nicht.“
Persien war nicht weit weg. Wer weiß, wann ich wieder die
Gelegenheit dazu habe, dachte Alex und flog für ein Wochenende
nach Shiraz, suchte sich ein Hotel und bummelte durch die Stadt. Er
hatte von dem erstklassigen persischen Kunsthandwerk gehört. Der
Basar war eine einzige Enttäuschung – außer schönen Teppichen
nur Plastikmist aus Hongkong. Wenn ein Staat keine zufriedenen
Handwerker mehr hat, dann ist sein Rückgrat gebrochen,
dachte Alex. Nachts sah er Studenten unter Straßenlaternen Bücher
lesen und lernen; in der Altstadt Gestalten in Mauerwinkeln schlafen.
Er hatte nicht an die Zeitgrenze gedacht und kam erst morgens um
zwei Uhr ins Hotel zurück.
Am nächsten Tag fand er eine wunderschöne Teestube mit
Springbrunnen, mosaikverkleidetem Deckengewölbe und einen
Kellner, der weder Deutsch noch Englisch konnte und auch mit
seinen wenigen arabischen Worten nichts anzufangen wußte. Tee
wurde überall verstanden, und er wollte wissen, was Küche und
Keller zu bieten hatten. Eine Karte gab es nicht. Als er schon
entmutigt aufgeben wollte, sagte ein Gast am Nebentisch in tadellosem Deutsch: „Kann ich Ihnen helfen? Was möchten sie
bestellen?“
Das Lokal schenkte nur Tee aus – aber fünfzig verschiedene Sorten
– für jede Stimmungslage und für jede Krankheit die dazu passende.
Alex bestellte einen Rosenblütentee mit Eis. Der Mann, Doktor
Barani, war ein Ingenieur, hatte in Berlin und Aachen studiert und
suchte neue Arbeitskräfte für seine Brunnenbaufirma. „Das dürfte
doch nicht ganz so schwer sein“, meinte Alex, „in der ganzen Stadt
lungern doch junge Männer herum.“
Doktor Barani befand sich etwa in seinem Alter und trug männlich
schöne Gesichtszüge. „Das sieht nur so aus“, lächelte er schwach,
„sahen Sie nicht die schwerbewaffneten Polizisten an allen
Straßenecken? Diese Typen wollen gar nicht arbeiten. Sie kommen
in der Mehrzahl über die grüne Grenze von Afghanistan herüber und
arbeiten nur einige Tage, wenn sie unbedingt müssen. Ansonsten
warten sie auf eine gute Gelegenheit, einen Coup zu landen. Täglich
findet man irgendwo ermordete Menschen. Afghanistan wird bei uns
‚Das Land Kains‘ genannt – gemeint ist damit: Land der Mörder.“
Alex überrieselte es kalt, als er an seinen nächtlichen Streifzug durch
die verwinkelten Gassen der Altstadt dachte. Aber seine
Selbstsicherheit und das Vertrauen in seine Fähigkeiten, mit
Problemen fertig zu werden, hatte sich durch seine Körpersignale an
die dunklen Gestalten in den Ecken und Winkeln mitgeteilt. Er hatte
von einem interessanten Experiment in Amerika gelesen:
Dort wurde verurteilten Straßengangstern ein Film gezeigt von
Menschen, die einfach eine Geschäftsstraße entlang gingen. Die
eine Hälfte bestand aus Polizeibeamten in Zivil und die andere aus
Menschen, die schon mehrmals überfallen worden waren. Die Frage
an die Gangster war, wen sie sich als Opfer für einen Überfall
aussuchen würden. Keiner zeigte auf einen Polizisten. Das
Unterbewußtsein nimmt Körpersignale auf und deutet sie
automatisch richtig. Jetzt werden Kurse abgehalten, die Politikern
beibringen, über Körpersignale zu lügen.
Alex fragte Doktor Barani nach den früher so berühmten
Kunsthandwer-kern. Der entgegnete bitter: „Der Schah hat keinen
Kontakt zum Volk und kennt seine Probleme nicht. Seinen Vater
wagte niemand zu belügen – ihm gegenüber wagt keiner, die
Wahrheit zu sagen.“
Ein älterer Herr trat an ihren Tisch und sagte: „Ich höre, Sie
unterhalten sich auf Deutsch. Meine Frau und ich möchten gern
einen bestimmten herz-stärkenden Tee – der tat uns vor einigen
Tagen sehr gut. Nun ist mir aber der Name entfallen.“ Doktor Barani
rief den Kellner und schrieb dem Gast den Namen des Tees für alle
Fälle auf.
Der alte Herr hatte als deutscher Flieger in den zwanziger Jahren
dem Vater des Schahs geholfen, eine Rebellion niederzuschlagen –
und jetzt ein Buch darüber geschrieben. Der Schah schenkte ihm
daraufhin als Anerkennung einen Jahresaufenthalt in den besten
Hotels seines Landes. Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was
erleben, dachte Alex, und interessante Leute lernt er auch noch
kennen. Schwer bepackt mit einem alten Samowar und einer
Wasserpfeife flog er wieder zurück.
*
Das Meer an diesem Küstenstreifen war fast einen Kilometer weit nur
knietief. Nur ab und zu gab es mal ein etwas tieferes Loch, wo man
schwimmen konnte. Ein Monteur war am Freitag in solch ein Loch
getreten und wie ein Stein untergegangen. Niemand konnte sich die
Sache erklären. Ein giftiger Fisch oder eine Seeschlange, die
besonders gefährlich waren? Jeder wußte es anders und besser.
Eine englische Subfirma kam mit zwölf Monteuren an. Sie wurden in
einem langgestreckten Bau zusammen mit Deutschen untergebracht.
Von einem langen Flur gingen rechts und links die Zimmer ab. Vorn
am Eingang befanden sich drei Toiletten und drei Duschen. Entrüstet
beschwerten sich die Deutschen beim Campmanager: „Mit diesen
Inselaffen kann man nicht zusammen leben. Die kommen aus der
untersten Schublade. Eine Toilette war verstopft. Dennoch haben sie
die solange benutzt, bis die Scheiße überlief. Und dann lassen wir ja
immer unser Shampoo auf dem oberen Rand der Dusche stehen.
Diese Kretins nehmen sich einfach, was da ist. Und nicht nur ein
bischen davon, sondern gleich die halbe Flasche. Es kostet ja
nichts.“
Alex war gerade im Büro. „Die könnt ihr doch schnell kurieren. Füllt
einfach die Shampooflaschen mit Pattex.“ Der Vorschlag wurde
begeistert aufgenommen, und ein wenig später liefen einige
Engländer kahlgeschoren und mit Mord im Herzen über die
Baustelle.
Alex erhielt eine Lektion in arabischer Mentalität: Der Bürgermeister
betrieb ein Café mit Kaffeerösterei. Sie fuhren abends öfter hin, um
Kaffee zu trinken, zu schwatzen und mit den tiefverschleierten
Araberinnen zu flirten, die dort Kuchen und Kaffee einkauften. Der
Besitzer war nur 160 Zentimeter groß – schon grauhaarig, aber
quicklebendig und sehr sym-pathisch. Er warnte sie öfters – sie
sollten es nicht übertreiben, sonst würden sie im Gefängnis landen.
Nach den funkelnden, glutäugigen Blicken und dem Gekicher zu
urteilen, hatte die andere Seite noch mehr Spaß an dem harmlosen
Spiel als Alex und seine Freunde.
Der Cafébesitzer besaß italienische Kaffeeröstmaschinen, die
dauernd repariert werden mußten. Alex sollte Prospekte von
deutschen Firmen besorgen. Per Telex angefordert und mit Luftpost
übersandt trafen sie nach einer Woche ein. Der Cafétier und
Bürgermeister bestellte reichlich, und nach zwei Monaten wurden die
Maschinen geliefert und von einem Elektriker der Baustelle
angeschlossen. Der Chef war hochzufrieden und sagte etwas später
zu Alex, er solle dem Chef der Lieferfirma seinen Dank und viele
Grüße bestellen, wenn er ihn das nächste Mal besuchen würde.
Alex, noch völlig unbedarft und das erste Mal in Arabien, entgegnete,
er kenne den Mann überhaupt nicht. Daraufhin ging ein
Donnerwetter über Alex nieder. Wie er denn nur eine Firma
empfehlen könne, deren Inhaber er nicht persönlich kenne!
Hardy bekam Probleme mit seinen Negern. Die abgehängten
Decken waren fast alle montiert, und er hatte deshalb seinen Helfern
gekündigt. Jetzt waren sie mit einer langen Liste gekommen, was
ihnen nach arabischem Recht noch alles zustünde. „Ich sagte dir
doch damals, was du nach den Landes-gesetzen alles zahlen mußt“,
sagte Alex und holte die Übersetzung hervor. „Und nach unseren
Erfahrungen würden die Arbeiter zwar nicht streiken, aber an ihren
Rechten gibt es nichts zu rütteln. Schauen wir mal, ob da noch etwas
nachkommen kann.
Der vereinbarte Lohn galt als Grundlohn. Nach der achten Stunde
25% und nach der zehnten Stunde 50% Überstundenzuschlag; an
Sonn- und Feiertagen gar 100%. Fahrtgeld zur Arbeit mußte der
Arbeitgeber tragen. Bei Kündigung gab´s eine Woche bezahlt, damit
der gekündigte Arbeiter sich einen neuen Job suchen konnte. Zwei
Monate im Jahr für Krankheit waren auch zu zahlen. Vertrauensärzte
und Krankschreiben waren unbekannte Begriffe.
Hardy war ein typischer Handwerker. Er konnte arbeiten, aber mit
Schreibkram hatte er nicht viel im Sinn. Er hatte mit seinen Helfern
einen höheren Grundlohn vereinbart – dafür sollten alle
Nebenleistungen abgegolten sein. Die Neger waren hocherfreut
einverstanden gewesen, die kannten sich aus. Hardy bekam eine
Vorladung zum Arbeitsgericht – und zwar innerhalb einer Woche. Ein
Polizist überbrachte die Vorladung mit der mündlichen Warnung, daß
er verhaftet würde, falls er nicht erschiene.
Alex ging mit, weil Hardy kein Englisch konnte. Sie saßen alle auf
einem großen Teppich, rauchten und tranken Kaffee. Der Richter, ein
älterer und würdevoller Araber, hörte ruhig beide Seiten an.
Schließlich faßte er zusammen: „An den Buchstaben unseres
Gesetzes gibt es keine Varianten der Auslegung. Der vereinbarte
Lohn ist Grundlohn und alles übrige muß zugerechnet werden.
Private Abmachungen gehen immer zu Lasten des Schwächeren –
und das ist der Arbeiter. Bei euch liegt der Fall zwar anders; aber
Gesetz ist Gesetz. Die Forderung ist berechtigt – also zahlt. Oder ich
muß den Arbeitgeber solange ins Gefängnis stecken, bis die
Forderung erfüllt ist. Auch spielt es keine Rolle, ob sie illegal
gearbeitet haben. Als Menschen haben sie Anspruch auf den Schutz
unserer Gesetze.“
Hardys Kalkulation war schon wieder ins Wanken geraten. Zwar
hatte er an seinen Helfern gut verdient – aber rund 12.000 Mark
waren schwer zu verkraften. „Das bezahle ich nicht!“ – polterte er,
„lieber lasse ich mich einsperren. Eines Tages müssen sie mich ja
wieder freilassen.“ Der Richter überlegte eine Weile und sagte: „Also
ein Vorschlag zur Güte: Wir teilen die Forderung. Die Kläger
verzichten auf die Hälfte und ihr bezahlt die andere Hälfte. Aber
diesen Vorschlag mache ich nur, weil die Arbeiter objektiv nicht
geschädigt sind und ich einen Deutschen nicht gern ins Gefängnis
stecke.“
Hardy verbuchte 6.000 Mark schließlich als Lebenserfahrung und
schaffte das Geld herbei. Die Forderung mußte unter den Augen des
Richters erfüllt werden. Als sie schließlich am Abend mit einigen
Kollegen beisammen saßen und eine Flasche geschmuggelten
Whiskey leerten, faßte Alex zusammen: „Heute lernten wir eine
Lektion in Gerechtigkeit. Klagt bei uns ein Arbeiter, zieht sich der
Prozeß über Monate oder länger hin. Ohne Gewerkschaft im Rücken
besteht kaum Aussicht auf Erfolg. Denn selbst, wenn der Arbeiter in
erster Instanz gewinnt, geht der Arbeitgeber in Berufung, und für den
Arbeiter ist dann gewöhnlich das Ende der Fahnenstange
gekommen.“
„Aber die Arbeiter hier dürfen nicht streiken und haben keine
Gewerk-schaft“, wandte Erich ein. „Na und“, meinte Alex, „dafür steht
ihr Recht nicht nur auf dem Papier. Die Gewerkschaften sind bei uns
notwendig. Aber sie sollten sich auch mal um andere Dinge
kümmern, anstatt jedes Jahr nur ein paar Prozent mehr Lohn
herauszuholen. Hier in diesem Land kann sich ein Arbeiter von
einem Stundenlohn Essen für den ganzen Tag kaufen. Eine Hütte
kann er sich selber bauen. Die Wüste ist groß, und Heizung benötigt
er auch nicht.
Bei uns macht die Heizkostenrechnung schon eine zweite Miete aus,
weil der Megawatt-Clan billige Fernwärme verhindert und durch
größenwahn-sinnige Projekte den Strompreis in die Höhe treibt.
Außerdem stellen die Gewerkschaften Forderungen, die sie in den
eigenen Unternehmen erst einmal vormachen sollten.“
„Was meinst du damit?“ – fragte Erich. „Na, beispielsweise die
Mitbestim-mung. Wenn die Belegschaft mitbestimmen kann, ist das
schon recht. Denn die wissen genau, was wichtig für den Betrieb ist
und wollen sich ihren Arbeitsplatz erhalten – aber keine fremden
Funktionäre. Und warum machen die gewerkschaftseigenen Betriebe
dies nicht vor? Macht ist eine gefährliche Angelegenheit und bedarf
immer der demokratischen Kontrolle. Um effektiv zu arbeiten, muß
ein natürlicher Führer sagen, wo es langgeht. Macht er aber Fehler,
muß man ihn absetzen können. Denkt mal nur an unsere jüngere
Vergangenheit.
Hitler verbuchte bis 1942 unwahrscheinliche Erfolge. Dann wurden
Fehler über Fehler gemacht. Beispiel: Anstelle von Abwehrraketen
gegen Bomber wurden die V1 gebaut, die absolut nichts brachten.
Aber das sind noch offene Fragen. Eines Tages werden wir die
Antworten wissen. Man darf bloß nie nachlassen und muß immer
versuchen, jedesmal ein besseres Ergebnis zu erreichen. Dieser
Kampf hört nie auf!“
Für Erich, der seit seiner Lehrzeit aktiver Gewerkschaftler war, ein
gutes Stichwort. „Und die einzig wirksame Vertretung für die Arbeiter
sind bei uns die Gewerkschaften.“ „Hast schon recht“, meinte Alex.
„Unsere eigene Oberschicht hat uns immer verraten, und wir müssen
aufpassen, daß nicht eines Tages ein paar Gewerkschaftsbosse
auch dazu gehören. Angefangen bei der ersten Revolution in
Europa, den deutschen Bauernkriegen. Die hatten damals einen
guten, zeitlosen Spruch: ‚Geschlagen ziehen wir nach Haus, doch
unsere Enkel fechten´s besser aus‘. Man darf nie aufgeben, und die
Geschichte bleibt ja nicht stehen. Eines Tages gibt es wieder Männer
wie den Freiherrn von Stein mit seinen Reformen, Johann Gottlieb
Fichte mit seinen Reden an die deutsche Nation oder Paul de
Lagarde mit seinen deutschen Schriften.“
Atze kam herein und rief: „Stellt euch vor, was mir passiert ist: Ich will
nach Djidda fliegen, hatte schon die Bordkarte. Kommt ein Prinz mit
seinem Harem und beschlagnahmt das ganze Flugzeug.“ Alle
brachen in großes Gelächter aus. „Dafür bist du in Saudi“, grinste
Alex, „mal sehen ob wir uns nächstes Jahr wiedersehen.“
Wie klein die Welt ist, sollte er vier Jahre später erfahren, als er zwei
Mann aus dieser Abendrunde in Nigeria wiedertraf. Überhaupt waren
die Auslandsbauleiter, die die Ferne im Blut hatten, eine relativ kleine
Gemeinschaft, die sich immer wieder irgendwo trafen. Auch dieser
Bau wurde eines Tages fertig und übergeben. Alex gönnte sich zwei
Monate Urlaub in Griechenland.
Dubai
Alexanders nächster Vertrag war der Ausbau des später schönsten
Hotels am arabischen Golf. Die alte Hafenstadt Dubai besaß noch
den Zauber der alten Geschichten aus Tausendundeiner Nacht. Die
großen, hölzernen Dhaus im Creek transportierten Waren wie vor
Jahrtausenden. Der Goldbasar war berühmt. In den ausgezeichneten
Restaurants gab es Wein und Bier – sogar deutsches Bier vom Faß.
Im Sommer wurde die Hitze nahezu mörderisch: Fünfzig Grad im
Schatten.
Über
der
gesamten
Küstenregion
lag
eine
Wasserdampfglocke und eine neunzigprozentige Luftfeuchtigkeit war
keine Seltenheit.
Für Brillenträger taten sich einige Probleme auf. Sobald sie aus den
gekühlten Räumen ins Freie kamen, beschlugen die Gläser. Die
Hände setzte man besser nicht der Sonne aus, denn die
Fingernägelansätze begannen sonst rasch zu schmerzen.
Der Oberbauleiter war ein Engländer. Mit einem Charakter krummer
als ein Dackelbein. Die Kollegen waren in Ordnung. Ein Deutscher
soff wie ein Loch, verrichtete aber einwandfreie Arbeit.
Wadi an der Grenze nach Oman mit Araberdorf. Die Bewohner
kippen ihre Abfälle einfach den Abhang hinunter. Wenn es ein- bis
zweimal im Jahr regnet, füllt sich das Wadi bis obenhin mit einer
reißenden Strömung, und alles wird weggespült.
Abu Dhabi mit Sheraton Hotel vom Meer aus.
Ein Beispiel, wie eine Stadt für seine Bürger sorgt: Diese
Hochhäuser sind von Ausländischen Investoren gebaut worden.
Diese hatten sieben Jahre Zeit, inklusive Bauzeit, durch Vermietung
die Baukosten hereinzuholen und Gewinn zu machen. Nach diesen
sieben Jahren ging das Gebäude in den Besitz des Staates über und
der Scheich verteilte diese Hochhäuser an verdiente Staatsbürger.
Abu Dhabi, Kamele beim Baden.
Sie schwimmen vom Festland bis zur vorgelagerten Insel Sodiak und
zurück.
Abu Dhabi, das Sheraton Hotel im Bau.
Auch bekannt als ‚Pimmelburg‘.
Es wurde das schönste Hotel an der damaligen Golfküste.
Abu Dhabi, Fischfang
Ein Hamur, der beste Speisefisch im arabischen Golf
Abu Dhabi, Fischbraten am Strand nach Araberart.
Eine Königsforelle, ein Hamur oder ein Barracuda ist nach kurzer
Zeit mit der Schleppangel hinter dem Motorboot gefangen. Treibholz
liegt überall am Strand, und ein Feuer ist schnell entfacht. Frisch
gebraten schmeckt der Fisch köstlich.
Abu Dhabi vorm Wellenbrecherdamm
Als einmal im Sturm die Promenade überflutet wurde, und
Salzwasser die Blumen in den Villenvorgärten ruinierte, wurde dieser
Damm gebaut. Die Felsbrocken kamen per Lastkähne von
Steinbrüchen in Oman. Mit zwei Einfahrten für Fischerboote kostete
der Spaß 365 Millionen Dollar.
Ein Engländer wurde ‚Der Urlauber‘ genannt. Er konnte den größten
Blöd-sinn anstellen – immer wurde er vom Oberbauleiter gedeckt.
Englische Solidarität.
Wie immer am Freitag durchstreifte Alex die umliegende Gegend,
besuchte die Städte Al Aein, wo die Berge von Oman beginnen, und
Abu Dhabi, das fünfzehn Jahre zuvor noch ein Fischernest gewesen
war. An dieser Stadt war deutlich zu erkennen, was Cleverneß
zuwege bringt. Die einheimischen Emirataraber waren gering an der
Zahl. Viermal so viele Gastarbeiter verrichteten die Arbeit. Ausländer
durften investieren, brauchten aber einen einheimischen Partner mit
einem mindestens 51%-igen Anteil. Sie durften Geschäfte eröffnen
und betreiben – aber der einheimische Lizenzgeber kassierte ein
Viertel vom Umsatz. Sie durften auch Häuser bauen – aber nach
sieben Jahren fiel der Bau dem Staat zu und wurde dann von einem
Agenten weitervermietet.
Allen ging es gut. Tausende Pakistanis pflegten die vielen
Grünanlagen. Wasser, Strom, Telefon und Krankenhausaufenthalte
waren beinahe umsonst. Benzin kostete runde zwanzig Pfennig pro
Liter. Im Fernsehen und in den großen Hotels waren die neuesten
Actionfilme zu sehen.
Der Scheich kämpfte mit echten Problemen. Seine Stadt kostete ihn
täglich fünf Millionen Dollar – die Öleinnahmen aber betrugen 55
Millionen täglich. Also wohin mit dem Geld?
Im Sturm wurde die Uferpromenade überflutet. Daraufhin baute man
für 365 Millionen Dollar einen Wellenbrecherdamm. Riesige
Wüstenflächen wurden mit genügsamen Bäumchen bepflanzt. Der
Scheich hoffte, damit das Klima zu beeinflussen – eine nicht
aussichtslose Idee.
Alex bewohnte zusammen mit einem Baukaufmann eine
Fünfzimmer-Firmen-Wohnung – zum Preis von dreitausend Mark im
Monat, ein Jahr im voraus zahlbar. Die Lebensmittel waren aber
billiger als in Europa, denn der Scheich erhob weder Zölle noch
Steuern. Der Baukaufmann Otto war ein armer Typ. Er hatte Angst
um seinen Job, und wenn einer der Leitenden von der
Firmenzentrale kam, riß er sich fast die Beine aus.
Alex ging mit ihm zusammen oft essen, auf den Basar zum
Einkaufen, zu Filmvorführungen oder zum Fischen. Aber sie waren
zu verschieden, um echte Freunde werden zu können. Sie verfügten
über ein firmeneigenes Motorboot und fuhren damit am Freitag oft zu
einer Insel vor der Küste – packten Bier, Brot und Obst ein und
warfen unterwegs die Schleppangel aus. Bei der Insel angekommen,
hatten sie fast immer einen Hamur am Haken – einen Zackenbarsch
mit langen Rückenstacheln. Der wurde ausgenommen, mit Zwiebeln
und Gewürzen gefüllt, in Silberfolie eingewickelt und zwei Stunden
über einem Treibholzfeuer gedünstet. Bei durchschnittlicher Größe
wurden sechs Personen satt – und es schmeckte ganz prima.
Alex schnorchelte gern zwischen den riesigen, bunten
Fischschwärmen. Als er einmal beinahe mit einer großen Moräne
zusammenstieß, wurde er vorsichtiger und blieb im Bereich der
Korallenwälder. Unter Wasser sahen die Korallen phantastisch aus –
an Land aber stanken sie entsetzlich. Abge-brochene Korallenzweige
mußte man eine Woche lang in der Wüste eingraben – dann hatten
die Mikroorganismen alles sauber abgenagt, und der Gestank war
weg.
Otto kaufte sich ein Schlauchboot mit einem Drei-PS-Motor – ein
besseres Spielzeug. Das Motorboot war immer öfter defekt, weil der
Motor für Wasserski zu schwach war. Otto traute sich nicht, einen
neuen Motor zu kaufen, ja noch nicht einmal anzufragen, ob er einen
kaufen dürfte.
Sie fuhren zum Fischen. Das Meer war spiegelglatt und sehr tief.
Alex hielt die Schleppangel und döste zufrieden. Plötzlich ein
mächtiger Ruck an der Leine: Ein großer Hamur zuckte hin und her.
Alex zog ihn langsam zum Boot – Otto nahm den Haken und zögerte
zu lange. Mit einem mächtigen Ruck riß der Hamur sich los und
schlitzte gleichzeitig das Schlauchboot mit seinen Rückenstacheln
auf. Pfeifend entwich die Luft.
Sie nahmen Kurs auf die nächste Insel. Hundert Meter davor tauchte
der Motor unter Wasser und verstummte. Alex sprang über Bord und
zog das halb luftleere Boot schwimmend an Land. Der Fisch hatte
sie versenkt. Das gesamte Flickmaterial reichte gerade, um das Leck
abzudichten. Der Motor jedoch sprang nicht wieder an, und so
mußten sie nach Hause paddeln.
Alex hatte schon immer einen Sinn für das Besondere. Er kaufte sich
eine kleine, alte Dhau, baute darauf einen Baldachin und konnte ab
sofort stilvolle Fahrten unternehmen. Einer der deutschen Maler vom
Bau malte ihm die Reichskriegsflagge mit Hakenkreuz – und damit
am Mast lief er in den Hafen ein. Die Engländer schäumten vor Wut,
die Araber waren begeistert und hatten wochenlang Gesprächsstoff.
In den Emiraten lebten etwa zweitausend Engländer und
sechshundert-fünfzig Deutsche, und für deren Kinder wurde eine
private deutsche Schule betrieben. Der Lehrer war sehr rührig,
veranstaltete Filmabende, Kaffe-kränzchen und Go-Kart-Rennen.
Alex schaute dort ab und zu vorbei und gab seine ausgelesenen
Bücher ab, knüpfte neue Bekanntschaften und flirtete ein wenig mit
den Frauen, deren Männer die ganze Woche über Straßen durch die
Wüste bauten.
Eine Inderin wurde von zwölf Pakistanis vergewaltigt und starb
daraufhin. Unklar blieb, ob an den Folgen der brutalen
Vergewaltigung oder einen sich daran anschließenden Mord. Bei der
Vorliebe der Araber zum Fabulieren war die Stadt eine einzige
Gerüchteküche. Die zwölf Pakis wurden an die Wand gestellt und
erschossen.
Ein Sikh wollte keinen Turban mehr tragen und seinem Glauben den
Rücken kehren – seine zerstückelte Leiche fand man in der Wüste,
von den Tätern jedoch keine Spur. Irgendwo in Indien wartete eine
Sippe vergeblich auf die nächste Geldüberweisung.
Aus dem Bau fiel ein Mauerstein aus der neunten Etage einem
Belutschi auf den Kopf und tötete ihn auf der Stelle. Ein makaberer
Spruch machte die Runde: Der hat die Druckprobe nicht bestanden!
Über die Haftpflichtversicherung der Firma wurde der Familie 20.000
Mark bezahlt. Die konnten den Plötzlichen Reichtum nicht fassen
und bedankten sich überschwenglich und lange für den Segen. In
ihrer Heimat konnte eine kleine Familie von einer Mark einen Tag
leben.
Alex lernte in der Schule eine lustige Ungarin kennen. Die machte
keinen Hehl daraus, daß sie einen Mann zum Heiraten suchte. Von
ihrem ersten Mann, einem Schotten, war sie gerade geschieden.
Zwar war ihr der Grund nicht zu entlocken – aber Alex hatte die
starke
Vermutung,
daß
der
Schotte
sie mit einem anderen erwischt hatte. Um lustige Geschichten war
sie nie verlegen.
„Bei uns im Haus wohnt eine ältere, dünne, unglaublich häßliche
Eng-länderin. Heute hielt sie mich an und fragte, wieso ich allein in
einem Taxi fahren könne. Sie würde das nie machen – denn wisse
man, ob nicht der Fahrer plötzlich mitten in der Wüste anhielte, um
sie zu vergewaltigen? Ich sah sie daraufhin an und dachte mir: Das
Glück wirst du nicht haben.“
Sie hatte Alex ins Visier genommen. In Bezug aufs Heiraten mußte
er zwar passen, aber einer Romanze gegenüber wäre er nicht
abgeneigt gewesen. Dafür aber war sie wieder zu klug. Sie brauchte
zwei Tage, um einen Architekten zur Strecke zu bringen.
In Souk lernte Alexander einen Ägypter kennen, der gut deutsch
sprach und als Lehrer tätig war. Er beklagte sich bitter über die
Faulheit der Kinder. Die säßen nur ihre Zeit ab, weil der Scheich
jeder Familie pro Kind, das sie zur Schule schickt, 800 Mark zahle
und dazu noch eine kostenlose Wohnung zur Verfügung stelle. Wenn
das richtige Beduinen seien, lebten sie jedoch lieber am Stadtrand in
ihren Zelten und vermieteten die Wohnung.
Otto war ein Fotoexperte. Hatte er eine gleichgesinnte Seele
gefunden, konnte er stundenlang diskutieren über die Vorzüge dieser
oder jener Kamera, des Filmmaterials, über Belichtungs- und hundert
weiterer Aspekte. Ihm wollte Alex etwas zum Grübeln geben:
„Horch mal, Otto! Weißt du, was der ‚Goldene Schnitt‘ ist?“ Otto hatte
darüber nur eine verschwommene Vorstellung und Alex erläuterte:
„Wenn bei einem Möbelstück, einem Haus, einem Menschen oder
irgendeinem Gegenstand die Maße in einem bestimmten Verhältnis
stehen, finden wir das schön. Die Formel dazu stammt von
Pythagoras, einem alten Griechen aus dem Altertum. Naja, so
ungefähr könnte man jedenfalls seinen Lehrsatz zugrunde legen.
Jetzt entwickle du doch mal eine Formel, weshalb manche Gesichter
auf Fotos schön, also fotogen sind und andere nicht.“ Otto mußte
passen, und Alex hatte einen Aufhänger, mit dem er ihn hänseln
konnte.
Nach sechs Monaten erhielt Alex vierzehn Tage Urlaub und einen
Freiflug.
Der Innenausbau war jedoch so kompliziert, und der englische
Subunter-nehmer arbeitete mit derartigen Tricks, daß er es vorzog,
seine Frau einige Wochen kommen zu lassen. Immerhin konnte man
dort angenehm leben – nicht im Camp unter abenteuerlichen
Bedingungen wie in Saudi-Arabien.
Seine Frau war aufgeregt, konnte sich jedoch rasch und gut
anpassen. Alex war eigentlich mehr ein Einzelgänger – aber gerade
jetzt bekam er mehr Einladungen, als ihm lieb war. In Souk
versammelte sich, wo immer sie auftauchten, regelmäßig eine Schar
von Araberinnen um sie. Teils wegen der weißblonden Haare seiner
Frau, die auf sie faszinierend wirkten, teils wegen ihrer mit Händen
und Füßen betriebener Verständigung.
Das Hotel wurde kurz vor Ramadan fertig. Im Ramadan arbeiteten
alle nur jeweils sechs Stunden täglich. Solange es hell war, durfte
nichts gegessen oder getrunken und auch nicht geraucht werden.
Dafür wurden dann nach Einbruch der Dunkelheit wahre Freßorgien
veranstaltet. Wer es sich leisten konnte, verbrachte die Zeit im
Ausland.
Einige Wochen vor Vertragende ließ Alex seine Frau noch mal
kommen und flog mit ihr über Karatschi, Kairo und Istanbul nach
Hause. In jeder Stadt blieben sie eine Woche. Alex besaß eine
Abneigung gegen Luxusher-bergen und ihren Pauschaltouristen und
ließ sich in Karatschi ins beste einheimische Hotel, das Majestic,
bringen. Die Fürstensuite kostete nur ein Drittel dessen, was man im
Interconti hätte hinblättern müssen; das Essen war opulent,
wohlschmeckend und preiswert.
Über der Stadt lag ein undefinierbarer Gestank. Mitten durch die
Stadt schlängelte sich ein Fluß, der die Abwässer der gesamten
Bevölkerung aufnahm und dementsprechend bestialisch roch. Die
Pakistanis in der Stadt kauten Betel und spuckten wahllos in die
Gegend. Es sah aus, als ob sie Blut spuckten. Seine Frau wollte
sofort weiter, aber das nächste Flugzeug ging erst in sechs Tagen.
Alex warnte sie: „Gib keinem Bettler Geld, sonst wirst du ihn nicht
mehr los. Gib vor allem auch nichts den kleinen Kindern, auch wenn
sie auch noch so erbarmungswürdig aussehen. Wenn wir geben,
geben wir bestimmt zuviel, und wie soll ein Kind den Sinn von Arbeit
jemals einsehen, wenn es mit Betteln mehr verdient, als der Vater
mit seiner Arbeit?“
Natürlich hörte sie nicht auf ihn, und bei ihrem nächsten Spaziergang
wartete eine ganze Horde von Bettlern auf sie.
Sie mieteten ein Taxi, und der Fahrer verlangte für den ganzen Tag
dreißig Mark. Vor Staunen vergaß Alexander völlig, zu handeln. Die
Küste war wunderschön – mit steilen Klippen, einem breiten und
weißen Sandstrand und Wogen die bis zu mehreren Metern hoch
wurden. Sie fragten den Taxifahrer nach den Bettlern mit seltsam
verdrehten Armen und Beinen – und ob es sich dabei um eine
Krankheit handele. Dieser druckste herum und erzählte dann: „Wenn
eine arme Familie fünf Kinder hat, und dann noch eins nachkommt,
werden diesem die Glieder verrenkt, damit es durch Betteln Geld
einbringt.“ In dieser und in anderen ähnlichen Städten würden
Lebensmittelhilfen wie in einem Faß ohne Boden versickern.
„Man muß doch etwas tun können für diese armen Menschen“,
empörte sich seine Frau. Dies ist eine andere Kultur“, widersprach
Alex, „in Asien gibt es Leute, die sind so reich – dagegen sind unsere
Reichen die reinsten Bettler. Solange dieser Zustand als normal
angesehen wird, sehe ich nicht ein, warum wir uns einmischen
sollten.“
Er kaufte ein Schachspiel aus Onyx und einen Koffer aus
Wasserbüffel-leder. Die Handwerker stellten ausgezeichnete
Produkte her. Alex erkundigte sich nach Exportmöglichkeiten, da
diese Sachen wohl auch in Deutschland einen guten Markt fänden.
Ein Sachbearbeiter bei der deutschen Botschaft warnte ihn: „Dazu
brauchen Sie einen vertrauens-würdigen Einkaufsagenten vor Ort.
Sonst ist die erste Sendung in Ordnung und die nächste nur Schrott.“
Beim Abflug trafen sie einen Deutschen, der eine Werkzeugfabrik
vertrat, in Griechenland wohnte und seine asiatischen Kunden alle
drei Monate besuchte. Der gab ihnen einen guten Tip für Kairo: Hotel
Concord, schräg gegenüber dem Sheraton Hotel. Es war preiswert,
sauber und modern eingerichtet. Sie hatten Glück, denn sie kamen
gerade zu dem Zeitpunkt in Kairo an, an dem stets einmal im Jahr
400 Paare zur gleichen Zeit bei den Pyramiden heirateten. Das war
wie ein Volksfest, mit Musik, tanzenden Pferden und einer riesigen
Menschenmenge.
Sie besuchten das Nationalmuseum sowie den großen Basar und
erkletterten
die große Pyramide. Alex filmte das unter ihnen liegende Kairo, als
ein blonder, junger Mann hochgeklettert kam und halblaut auf
deutsch über die Hitze fluchte. Alex fragte ihn: „Wo kommst du denn
so alleine her?“ „Bin aus Hatzfeld, und da unten steht mein
Motorrad.“ Alex war platt – der Ort war nicht weit von ihrem Zuhause.
Und allein mit dem Motorrad nach Kairo – das imponierte ihm. Er
hieß Gerd und lebte in Berlin, weil er nicht zum Bund wollte. Wegen
einer notwendigen Reparatur lebte er seit einer Woche von einer
Schüssel Grütze am Tag, um die Reisekasse auf diese Weise wieder
auszugleichen. „Das Zeug kostet nur dreißig Pfennig und schmeckt
erträglich“, sagte Gerd, „Ist hier ein Armeleuteessen – so lernt man
das Land dann richtig kennen. Habe mich leider seit ein paar Tagen
nicht richtig waschen können, und die Straßen sind hier verdammt
staubig.“
Alex lud ihn in ihr Hotel zum Essen und Waschen ein. Erst wollte der
Portier die staubige, schmutzige Gestalt nicht hereinlassen, ließ sich
aber überreden. Als Gerd die Preise sah, wurde er blaß. „Von dem
Preis einer Mahlzeit kann ich fast eine Woche lang leben!“ – stöhnte
er ungläubig. „Drüben im Sheraton sieht es so aus, daß du von dem
Preis einer Mahlzeit einen vollen Monat lang leben kannst“, grinste
Alex. „Wie können Politiker sowas zulassen oder ermöglichen?“ –
fragte Gerd, „solche Gegensätze wirken doch wie Dynamit.“ „Damit
kommt eben Geld ins Land. Aber du hast schon recht. Wenn das
größte Einkommen vierzig mal höher ist, als das niedrigste, dann ist
in einem Land die Revolution nicht mehr weit.“ „Weshalb gerade
vierzig mal?“ – fragte Gerd verblüfft. „Hab ich in einer Studie über
Revolutionen gelesen“, sagte Alex achselzuckend, „wird aber wohl
nicht allgemeingültig sein, sondern lediglich ein Anhalt oder Beispiel.
Manche Völker sind ja auch geduldiger als andere.“
Gerd war mit seinem Motorrad schon in Finnland und Island
gewesen – jetzt wollte er noch nach Luxor und dann wieder
heimwärts. Als er sich auf seine Maschine schwang und losbrauste,
meinte Alex: „Nach zehn Kilometern auf diesen Straßen ist er so
schmutzig wie vorhin.“
In Kairo fühlten sie sich schon halb zu Hause. Viele Händler
sprachen Deutsch und ihre amüsante Beteuerung: „Ich bin kein
großer Gauner – nur ein kleiner!“, wenn sie ihre gefälschten
Antiquitäten verkaufen wollten, trug zur allgemein heiteren und
gelösten Urlaubsstimmung bei.
Sie landeten in Istanbul, der goldenen Stadt des Altertums. Die
Taxifahrer verlangten dreißig Mark für die zwölf Kilometer bis zur
Stadt. Alex entschied sich für den Bus, zahlte pro Person eine Mark
und lachte über die langen Gesichter der anderen, als er später
davon erzählte.
Ein Türke sprach ihn an: „Ich komme gerade aus Deutschland –
habe dort ein Teppichgeschäft. Das Leben in Istanbul ist nicht
ungefährlich. Steigen Sie nie in ein Auto, wenn Ihnen der Fahrer
etwas ganz besonderes zeigen will. Es kann nämlich passieren, daß
er auf irgendeinem verlassenen Hinter-hof hält, wo schon ein paar
dunkle Gestalten warten.“ Alex erkundigte sich nach einem guten
und preiswerten Hotel in der Innenstadt. Der freundliche Türke stieg
mit ihnen aus und brachte sie zu einer Pension in der Nähe der
blauen Moschee – mitten in der lärmenden, quirligen Innenstadt.
Der Basar dehnte sich unendlich aus. Sie hätten Wochen benötigt,
um alles zu sehen. Unmengen von Obst aßen sie – und solche
riesigen, schwarzen und köstlichen Kirschen wie hier hatten sie
zuvor auch noch nicht gegessen.
Alex verhandelte drei Tage lang wegen eines Janitscharensäbels.
Wenn man im Orient den Preis auf die Hälfte herunter handelt, macht
der Händler immer noch einen Gewinn. Aber dieser Basarhändler
wußte, was er da für eine Rarität feilbot. Deshalb gab sich Alex
schließlich mit einem gekrümmten Dolch mit einem geschnitzten
Elfenbeingriff zufrieden.
Sie fuhren über das Marmarameer und die Dardanellen hinauf bis
zum schwarzen Meer. Die Zeit war viel zu kurz, um alles zu sehen
oder alles zu kosten oder auszuprobieren. Der Urlaub ging langsam
zu Ende.
Zu Hause angekommen, mußte Alex eine Weile bleiben. Seine
Tochter wollte auch Tischler werden. Eine Lehrstelle hatte sie schon
ergattert. Er hatte einige Bauleiter kennen gelernt, die schon
jahrelang im Ausland tätig waren und war sich der Gefahr bewußt.
Ohne den direkten Kontakt mit den neuesten Errungenschaften und
Methoden waren sie jahrelang hinter der Entwicklung
zurückgeblieben. Einer erzählte ihm mal:
„Ich bin verdorben, tauge nicht mehr für Deutschland. Fünf Jahre war
ich in der Wüste und hatte dann alles satt. Habe dann eine Baustelle
in Deutsch-land verlangt und auch bekommen.
Die lag an einer Einbahnstraße mitten in der Stadt. Kam zum
Beispiel ein Lastwagen mit langen Eisenträgern, der nicht anliefern
konnte, weil eine Kreuzung zu eng war. Von der anderen Seite aber
war genügend Platz. Also hielt ich den Verkehr an und sagte dem
Fahrer, er solle in Gegenrichtung die Einbahnstraße befahren und
seine Träger abladen. Zehn Minuten später war die Polizei da, und
man hätte mich beinahe auf der Stelle verhaftet.
Dann brauchte ich mal dringend Wasser. Also ran an den Hydranten,
einen Schlauch angeschlossen und alles war paletti – dachte ich.
Kam so ein Typ vom Wasserwerk und veranstaltete ein
Mordspektakel.
Schließlich feuerte ich mal einen Mann mit zwei linken Händen – da
ging aber der Zauber so richtig los. Da bin ich dann zum Boß und
verlangte wieder in die Wüste geschickt zu werden.“
Für Alex ergab sich daraus, daß auf ein Jahr Arabien ein oder zwei
Jahre zu Hause folgen mußten – dann würde er ‚up-to-date‘ bleiben.
Wer als Auslandsbauleiter an den weiten persönlichen Spielraum
gewöhnt ist, kann sich schlecht in die mit Vorschriften und
einengenden
Regeln
gespickte
Firmenhierarchie
wieder
eingewöhnen. Er mußte also jeweils selbständig arbeiten – und zwar
so, daß er immer innerhalb einiger Wochen seine Zelte abbrechen
konnte.
Der Zauber der Wüste und der Ferne hatte ihn gepackt. Er fand
einige geeignete Schreiner und schloß mit ihnen Subverträge ab.
Daraufhin besorgte er Aufträge, organisierte die Arbeit, arbeitete
auch selber hand-werklich mit und kümmerte sich darum, daß die
Rechnungen bezahlt wurden. Es lief gut, und manchen Monat
verdiente er noch mehr als in Arabien. Er legte sich nicht fest und
blieb flexibel. Abgehängte Decken, Wand- und Deckenvertäfelungen,
Ladenbau, Montage von Türen und Fenstern, Einbauschränke,
Trennwandsysteme. Er nahm, was kam – und die Kunden waren
zufrieden.
Frankfurt
Alex kam in das Kinofoyer, wandte sich zur Bar und sah Fox im Kreise einiger
Gestalten in Lederkleidung und Stiefeln sowie mit Sturzhelm im Gespräch vertieft. Er
bestellte einen Brandy und sagte: „Hallo Fox, wie geht’s?“ „Gestern ging´s noch –
heute weiß ich noch nicht.“ – kam die Antwort. Seine Gesprächspartner betrachteten
Alex forschend. Obwohl er jünger aussah, als es in seinem Paß stand, war er doch
eine andere Generation, und in ihren Gesichtern war deutlich der Standpunkt
abzulesen: Trau keinem über dreißig!
„Das sind Freunde aus der rechte Szene“, stellte Fox vor.
„Zuverlässig?“ – fragte Alex. Einer der Lederjacken trat vor und
wurde von einem anderen an der Schulter festgehalten. „Warte mal“,
sagte der, „ich glaube ich kenne den Typ“, und zu Alex: „Waren Sie
vor ein paar Jahren mal in Kairo?“ Alex erkannte ihn – es war Gerd.
Etwas älter und reifer zwar – aber als er jetzt den Sturzhelm
absetzte, mit immer noch denselben blonden Haaren.
„Du wohntest doch in Berlin, was verschlug dich denn nach hier?“
„Eine Freundin – wie es so geht.“ Sie schüttelten sich erfreut die
Hände, und Gerd erzählte den anderen von ihrem Zusammentreffen
an der großen Pyramide. Sofort war Alex akzeptiert. Fox kam nun
endlich dazu, die ihm gestellte Frage zu beantworten: „Die Jungs
sind schwer in Ordnung.“
Alex wollte es genauer wissen: „Ich war ein paar Jahre im Ausland.
Was tut sich denn mittlerweile auf der rechten Seite des Landes?
Damit meine ich nicht die CSU.“ Gerd machte sich zum Sprecher:
„Wir haben ein reges Vereinsleben – einzelne größere Aktionen und
viele kleine.“ „Also Beschäftigungstherapie mit Gleichgesinnten?“ –
fragte Alex. „Was soll man machen?“ – warf ein anderer ein, „das
patriotische Potential liegt je nach Gegend zwischen zehn und
zwanzig Prozent.“ „Ihr braucht eine neue Strategie, beziehungsweise
überhaupt mal eine. Seht euch mal die Grünen an. Mit einigen
Prozent Wählerstimmen haben die ganz schön was in Bewegung
gesetzt.“ „Und wie soll sowas aussehen?“ – fragte Gerd.
„Nur mal so aus dem Stehgreif“, antwortete Alex nachdenklich, „ihr
habt als Basis eine Menge überzeugter Mitglieder, besitzt Disziplin
und haltet zusammen. Der Normalbürger fürchtet Krieg,
wirtschaftliche Notlagen und macht sich Sorgen, wie er seine Raten
zahlen kann – um dann auf Abzahlung noch mehr Dinge zu kaufen,
die er im Grunde gar nicht braucht: Unter solchen Bedingungen eine
schwere Last. Auch bedrückt ihn, daß sein Nachbar eventuell mehr
Geld verdienen könne als er. Und solange er im Kreislauf dieser
Ängste gefangen ist, ist er manipulierbar und somit auch zu
beherrschen. Was glaubt ihr, warum die Radio- und Fernsehbosse
mehr verdienen als der Bundeskanzler? Die sollen diese Angst
verbreiten und wachhalten, dabei aber selbst Angst um ihren Job
und das gute Leben haben. Oder die Spitzenkräfte der großen
Organisationen? Die werden doch nach Fügsamkeit ernannt und
nicht nach fachlichem Können. Und damit sie auch ja nur spuren, ist
das Gehalt entsprechend hoch. Dagegen müßt ihr Zeichen setzen –
aufzeigen, daß es auch anders geht.“
Alex hatte interessierte Zuhörer. Ihm gefielen die Burschen. Er
bestellte eine Runde, und Fox fragte: „Was meinen Sie mit den
‚großen Organisationen‘ und mit ‚Zeichen setzen‘? Der Rest leuchtet
mir schon ein.“ „Gut, erstmal ein Beispiel“, fuhr Alex fort, „der
Präsident des Roten Kreuzes ist adelig durch Adoption. Für mich ist
dies das gleiche, als wenn sich jemand einen Adelstitel kauft. Als er
Bundestagsabgeordneter wurde, verteilte er in Bonn Putztücher –
seitdem heißt er dort der Scheuerlappenprinz. Im Jahr verdient er
rund 600.000 Mark. Seinen Waldarbeitern befahl er, seinen Sohn mit
‚Durchlaucht‘ anzureden. Man könnte meinen, wir befänden uns im
tiefsten Mittelalter.
Alternative Zeichen zu setzen, ist eigentlich gar nicht so schwer. Man
muß sich nur an den Bedürfnissen der Menschen orientieren und
sich fragen, wo der Staat Fehler macht und auf welchen Gebieten die
Staatsverdrossenheit am größten ist. Nehmen wir mal den
Agrarmarkt – ein einziges Desaster. Beim Olivenöl wird die EG von
den Italienern jedes Jahr um 500 Millionen Mark beschissen. Die
Beamten in Brüssel wissen das, können aber nichts dagegen tun.
Wahnsinnsgeldbeträge werden ausgegeben, um Lebensmittel zu
vernichten, und anderswo wird gehungert und verhungert. An
Rußland verschenkt man die Butter beinahe, und die eigenen
Rentner können sich vielfach keine leisten.
Solche Beispiele ließen sich stundenlang fortsetzen. Würde man alle
Subventionen auf diesen und ähnlichen Gebieten zusammenzählen,
könnte man jedem deutschen Bauern damit 5.000 Mark pro Monat
an direkten Zuschüssen zahlen. Dabei geht es vielen kleinen und
mittleren Bauern so schlecht, daß immer mehr aufgeben müssen.
Den Großen wird das Geld aber förmlich hinterhergeschmissen. In
der Viehhaltung herrscht eine enorme Fleischüberproduktion. Und
zusätzlich wird diese durch zweifelhafte Hormonzusätze im Futter
noch erhöht. Hast du schon mal bewußt zugesehen, wie klein ein
Schnitzel beim Braten zusammenschmort?
Aber die Bauern befinden sich in der Zwickmühle. Die Ställe, die
Maschinen und das Futter sind teuer, und die Kosten müssen
erwirtschaftet werden. Dazu müßt ihr einen alternativen
Vorzeigebetrieb einrichten: Kleine Ställe und keine Maschinen –
dafür Wildtierhaltung, beispielsweise Damwild, wie es ja schon im
Kleinen praktiziert wird. Das muß nur im Winter zugefüttert werden.
So wird gesundes Fleisch produziert.“
„Ist ja alles richtig“, meinte Gerd, „aber dazu braucht man ´ne Menge
Knete.“ „Klar – aber von vielen einzelnen ein bischen – das ergibt in
der Summe auch viel. Und nur tote Fische schwimmen mit dem
Strom. Und dann gebe ich dir noch einen zusätzlichen Rat: Schaff dir
Zeiten der Muße. Zum Nachdenken und kritischen Überprüfen
deines Lebensweges – sonst wirst du im Netz deiner eigenen
Aktivitäten erdrosselt. Und was immer ihr euch auch vornehmt:
Glaubt nichts – prüft alles und vor allem – fragt immer wieder: Wem
nützt es?“
Damit wechselte Alex das Thema: „Fox, wann macht der Neumann
Feier-abend? Ich will mir den Typen morgen auf dem Heimweg
greifen und ihn ein wenig ausquetschen.“ „Nach meiner Feststellung
um 18.00 Uhr – aber von einem Mal ist das wohl nicht sicher zu
sagen.“ „Nun, ich muß es versuchen. Er kann ja auch nach der Arbeit
noch ins Kino oder Theater, zum Einkaufen oder auf eine Party
gehen.“
Die Runde war aufmerksam geworden. „Brauchen Sie
Unterstützung?“ – fragte Gerd. „Das wäre nicht unflott“, meinte Alex
nachdenklich, „ich habe Ärger mit einem Israeli und seinem
Handlanger. Genaues weiß ich nicht –
nur, daß vor Gericht nichts geht. Einmal suchte ich mein Recht über
die Justiz. Dabei mußte ich die Erfahrung machen, daß außer den
beteiligten Anwälten niemand einen Streitfall gewinnt. Ich habe
gelernt, daß der Preis der Freiheit dauernde Wachsamkeit ist, sowie
die Bereitschaft, jederzeit für seine Rechte zu kämpfen.“
„Wir würden dir gerne helfen, stimmt´s?“ Gerd blickte in die Runde
und rundum ein zustimmendes Nicken. Alex grinste und versprach:
„Dafür schließe ich euch in mein Abendgebet ein.“ Er zog den
Stadtplan aus der Tasche und zeigte ihnen den Bahnhof: „Seid
morgen kurz nach 18 Uhr dort, und wenn ich mit diesem Neumann
rauskomme, dann fahrt ihr einfach nur in der Nähe hin und her. Das
wird ihn dann schon mürbe machen. Mehr wird sicherlich nicht nötig
sein.“
Er wandte sich an Gerd: „Du gingst doch damals nach Berlin, um der
Bundeswehr zu entgehen. Werden die dich jetzt noch einziehen?“
Gerd lachte verlegen und antwortete: „In Berlin las ich ein Gedicht
von Brecht: ‚Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin – dann
kommt der Krieg zu euch.‘ Daraufhin änderte ich meine Meinung und
riß meine Zeit ab. Denn falls es noch mal krachen sollte, will ich nicht
wehrlos sein und mich herumschubsen lassen. Tja, das Leben ist
nun mal hart.“ „Es könnte schlimmer sein: Es könnte regnen“, meinte
Alex gelassen und fuhr dann fort: „Es kommt halt immer auf den
Standpunkt an“, und dann ernst: „Wenn man ein Ziel verfolgt, muß
man sich darüber klar sein, was schlimmstenfalls passieren kann,
falls es schiefgehen sollte – und es in Kauf nehmen, da man sonst
gehemmt ist. Gewinnen kann man nicht immer. Hauptsache, man
liefert einen guten Kampf, steht danach auf und macht weiter.“
Mittlerweile kamen noch mehr Leute zur Bar und unterhielten sich
über den Film, lokale Politik, ihren nächsten Urlaub und berufliche
Probleme. Alex besuchte die letzte Vorstellung – seine Nerven
hatten sich wieder beruhigt. Trotz seiner vielen hinter ihm liegenden
Erfahrungen war der Tod des Butlers nicht spurlos an ihm vorüber
gegangen. Er grübelte immer noch über die letzten Worte des
sterbenden Mannes nach. Die konnten eigentlich nur bedeuten, daß
der ihn dreimal bemerkt und das dritte Mal nicht mehr für Zufall
gehalten hatte.
Amüsiert beobachtete er ein paar Sitzreihen weiter Fox bei seinem
Ringkampf mit dem Barmädchen. Nach der Vorstellung wanderte er
langsam zu seinem Hotel. Es war Herbst und wurde schon merklich
kühl. Er liebte einsame Spaziergänge - sie regten seine Phantasie
an.
Als er sein Hotelzimmer betrat, dachte er zunächst, das Zimmer
verwechselt zu haben. Denn im Bett lag jemand. Dann sah er die
blonden Haare und dachte: Ein Tag ist 24 Stunden lang – aber an
manchen Stellen besonders breit. Er weckte Brigitte zärtlich, und die
folgende Stunde verlief sehr zufriedenstellend für beide.
Am nächsten Morgen erinnerte er sich nur undeutlich, wann und wie
sie gegangen war. Er frühstückte ausgiebig, las in Ruhe die
Tageszeitung und rief wegen eines Termins bei Doktor Scheller an.
Der Rechtsanwalt hatte Zeit für ihn, und eine Stunde später saß Alex
ihm gegenüber. Das Büro mit seinen braunen Ledersesseln und den
dunklen Mooreichemöbeln strahlte Tradition und Solidarität aus.
Doktor Scheller überreichte ihm einige DIN-A4 Blätter, auf denen in
alphabetischer
Reihenfolge
alle
Parteien,
Vereine
und
Aktionsgruppen mit ihrem jeweiligen Programm aufgeführt waren.
Alex zog die tags zuvor erbeutete Liste hervor und gab sie dem
Anwalt. „Können Sie mit diesen Namen etwas anfangen?“ – fragte
er. „Ich habe einen bestimmten Verdacht – deshalb möchte ich nichts
dazu sagen.“
Beide vertieften sich in ihre Papiere. Doktor Scheller war zuerst fertig
und sah fragend über seine Halblesebrille zu Alex: „Wo haben Sie
die Liste her? Es scheint eine Zusammenstellung von Personen zu
sein, die in letzter Zeit mit nationalen Aufrufen und Aktionen
hervortraten.“
Alex erzählte von seiner Begegnung mit Harris, von Neumann und
seiner Vermutung, dieser habe etwas mit seinem nicht eingelösten
Scheck zu tun. Den Butler erwähnte er nicht – das wäre ihm doch zu
heikel gewesen. „Alles unbestimmt und ohne Beweise“, sinnierte der
Anwalt. „Man wird die Sache im Auge behalten müssen. Konnten Sie
auf meiner Liste etwas entdecken?“
„Ja“, meinte Alex, „das Programm der Volksunion sagt mir zu.“ Der
alte Herr lächelte fein: „Aber zuvor möchte ich etwas über Ihre
Überzeugungen hören. Weshalb interessieren Sie sich dafür?“
„Das ist gar nicht so einfach zu erklären. Die Überzeugung, in dieser
Richtung etwas tun zu müssen, ist allmählich in mir gewachsen. Ich
war einige Jahre als Bauleiter im Ausland, und dabei wird man
automatisch zum Nationalisten. Und wenn man dann hierzulande die
ganzen Fehlentwick-lungen sieht, wird man zum Patrioten. Dabei bin
ich mit einem starken sozialen Einschlag behaftet. Niemandem in
unserem Land muß es schlecht gehen, wenn er nicht zu faul zum
Arbeiten ist. Aber der Staat hat auch die Pflicht, mit allen
Möglichkeiten dafür zu sorgen, daß jeder arbeiten kann. Vierzig
Jahre nach Kriegsende wird es Zeit, endlich wieder nationale Politik
zu betreiben.
Mit unseren Präsidenten hatten wir bislang Glück – mit Ausnahme
von Lübke, den ich als Ausrutscher ansehe. Aber die Herren
Bundeskanzler – oha! Angefangen bei dem Separatisten Adenauer.
Weiter zu Brandt; der wurde nur gewählt, weil er Hoffnungen auf die
Wiedervereinigung weckte. Der beste war bisher noch Schmidt –
aber ein Volk kann man nicht nur managen. Der Mensch lebt nicht
vom Brot allein. Wir sind nicht nur in Wissenschaft, Technik und
Arbeit spitze – wir wollen auch weiterhin das Volk der Dichter und
Denker bleiben.
Ideale sind für uns ebenso wichtig. Weshalb gab es im dritten Reich
so viele Verräter? Stalin wußte eher über Hitlers Pläne Bescheid als
die Generäle der Wehrmacht. Der spätere Justizminister von Bayern
hatte den Angriffstermin im Westen ausgeplaudert. Dies geschah
aus fehlgeleiteten Idealismus und nicht etwa aus Geldgier.
Dieser Staat sollte so aufgebaut und organisiert werden, daß er die
gleiche Ausstrahlungskraft besitzt wie seinerzeit Preußen. Zukünftig
können nur Ideen siegen – nicht der Konsum.“
„Was halten Sie von Rudi Dutschke?“ „Das war ein typischer
Deutscher: Viel Feind – viel Ehr. Er legte sich mit dem Kapital an,
und das brachte ihm eine Kugel in den Kopf ein. Daß der Attentäter
Selbstmord begangen haben soll, leuchtet mir nicht so recht ein.
Dann schrieb er ein Buch über den asiatischen Despotismus bei den
Russen – und das Ergebnis? Tod in der Badewanne. Ich halte ihn für
einen maßlosen Idealisten.“
Der alte Herr betrachtete ihn ruhig und sagte: „Ihre Ansichten sind für
mich äußerst interessant. Aber aller guten Dinge sind drei. Was ist
ihre Meinung zur RAF?“ „Schwer zu sagen“, entgegnete Alex,
„angefangen hat es sicherlich mit der Empörung über ungerechte
Zustände. Was die sich aber von ihrem parteichinesischen
Programm versprachen, ist mir schleierhaft. Obwohl“ , fügte er hinzu,
„die Strategie richtig war. Das Loch im Kopf des Königs – das
machte die Staatsorgane beinahe hysterisch. Bekleidet jemand eine
hohe Position und muß praktisch in einem Bunker leben, macht das
keinen Spaß mehr.“
Doktor Scheller sah auf die Uhr und fragte: „Gehen Sie mit essen?
Ich kenne ein nettes, kleines Restaurant in der Nähe. Meine
Sekretärin kann inzwischen die Empfehlung schreiben.“ Alex hatte
den Stimmtaster auf der Schreibtischablage bemerkt. Aber er wollte
den Rechtsanwalt nicht durch eine Frage in Verlegenheit bringen –
die Empfehlung war ihm Antwort genug.
Das Lokal erwies sich als ein französisches Bistro, das Essen als
vorzüglich und der alte Herr als heiterer Plauderer. Er erzählte aus
seiner Zeit während des Krieges in Frankreich und seinen dortigen
Freunden, die er jedes Jahr im Urlaub besuchte. Alex ließ er aus
Arabien und aus Afrika berichten. Als sie beim Kaffe und einer
Zigarre angelangt waren, meinte er abschließend: „Ich glaube, Sie
sind für jede Gemeinschaft ein Gewinn, obwohl nicht ganz
unproblematisch, da Sie für ihre Überzeugungen eintreten und sich
nie mit dem Erreichten zufrieden geben.“ „Richtig“, lächelte Alex,
„aber
momentan
ist
mein
persönlicher
Zustand
sehr
zufriedenstellend.“
Alex fuhr fort: „Das menschliche Gehirn ist wohl der gefährlichste
Mech-anismus auf dieser Welt. Es denkt Schatten und rechtfertigt
damit die scheußlichsten Taten gegen andere. Heute sind es die
Kapitalisten, Kom-munisten, Faschisten, Imperialisten, und Marxisten
– früher waren es die Häretiker, Hexen, Baptisten und Ungläubige.
Der, der furchtlos seinen eigenen Weg geht, getreu seinen
Überzeugungen, erregt bei der Meute Neid. Und da die auch gern so
wären, es aber nicht sein können, wird aus Neid am Ende Hass.“
Sie schlenderten langsam zum Büro zurück. „Meine Zeit ist ja bald
abgelau-fen“, setzte Doktor Scheller die Unterhaltung fort, „aber Sie
werden noch interessante Dinge erleben. Früher war für die
Unzufriedenheit in Europa die Auswanderung ein Ventil. Heute bleibt
der Kessel nahezu dicht und muß seinen Überdruck selber
regulieren.“ „Na“, widersprach Alex, „Sie haben aber doch noch eine
ganze Anzahl von Jahren vor sich.“ Der andere lächelte traurig und
sagte: „Ich habe meinen Grabsteinspruch schon ausgesucht: ‚Er ging
nicht gerne, aber zufrieden‘! Nur schade, daß ich meine alten
Knochen nicht mehr in meine schlesische Heimat tragen kann.“
„Die Geschichte bleibt nicht stehen“, meinte Alex, „der Trost bleibt
ihnen: Sollte eines Tages ein Interessenausgleich zwischen
Deutschen und Russen nötig sein, werden die Rechnung die Polen
bezahlen. Schon Bismarck meinte: Die Polen muß man schlagen, bis
sie am Leben verzagen. Ein Hausbesetzer ist kein Hausbesitzer.“
Im Büro angekommen fügte der alte Herr der Empfehlung
handschriftlich einige Sätze hinzu und verabschiedete Alex mit der
Mahnung, ihn bei Gelegenheit mal wieder zu besuchen. Am
Nachmittag telefonierte Alex mit den Interessenten, die auf seine
Anzeige geantwortet hatten. Termine machte er für den nächsten
Abend aus.
Um 18.00 Uhr wartete er vor der Bank. Neumann würde ihn gewiß
nicht wiedererkennen – es war ja schon vier Jahre her. Aber
dennoch wollte er, so gut es eben ging, außer Sicht bleiben. In den
Zeitungen stand noch nichts über den Butler – gefunden war er aber
bestimmt schon. Wie es sich für einen leitenden Mitarbeiter gehört,
kam Neumann rund zehn Minuten nach dem großen Rudel der
einfachen Bankangestellten. Alex folgte ihm in gehörigen Abstand
zur S-Bahn und bestieg ein Abteil neben ihn. Durch die
Verbindungstür konnte er ihn weiter beobachten. Das Umsteigen am
Hauptbahnhof verlief reibungslos – der Verfolgte hielt nirgends an
und sah sich auch nicht um. Ein normaler Bürger auf dem Weg von
der Arbeit nach Hause.
Sie stiegen aus. Neumann ging langsam und bedächtig, sichtlich um
einen Abstand zu den anderen Bahnbenutzern bemüht. Er trat aus
der Tür, stutzte über die zwölf Motorradfahrer in ihrer Lederkleidung
und
wollte
sich
nach
links wenden. Alex trat auf ihn zu. „Auf ein Wort, Herr Neumann.“
Der sah sich eher neugierig als erschreckt um. Alex beobachtete
sein Gesicht. Langsam dämmerte bei Neumann Erkennen. Auch gut,
dachte Alex, faßte Neumanns linke Hand und drückte dessen
Mittelfinger mit einem schmerzhaften Judogriff zusammen. Dessen
Mund öffnete sich zu einem entsetzten Schmerzensschrei. Alex hatte
mit seiner linken Hand die Karatepranke gebildet und tippte
Neumann damit leicht gegen den Kehl-kopf. Der Schrei erstickte in
einen Gurgeln, und er zog ihn an den eingeklemmten Fingern nach
rechts fort.
Die Motorräder erwachten zu dröhnendem Leben. Die Fahrer mit den
geschlossenen Sturzhelmen wirkten wie Ritter aus dem Mittelalter.
Neu-mann war bleich. Seine Blicke huschten hin und her. Er wirkte
wie eine in der Falle sitzende Ratte. Mehrmals setzte er zum
Sprechen an, brachte aber kein Wort hervor. Gezwungenermaßen
folgte er Alex mit einem halben Schritt Abstand. Sobald er langsamer
werden wollte, verstärkte sich der Druck an seinem Finger zu einem
grausamen Schmerz. Der Weg führte nach wenigen Häusern
zwischen Wiesen und kleinen Waldstücken hindurch zu einem der
nächsten Vororte. Die Straße war leer bis auf die kreisenden
Maschinen.
Nicht zur Ruhe kommen lassen, dachte Alex, den Druck verstärkend.
„Erinnern Sie sich?“ – fragte er, „und dachten Sie etwa, ich verzichte
einfach so auf 300.000 Mark? Heute ist Zahltag! Vier Jahre habe ich
gewartet, und nun haben Sie exakt zwei Möglichkeiten: Sie bezahlen
– oder Sie sterben!“
Neumanns Gesicht verzerrte sich vor Entsetzen. Sie waren um ein
Wäldchen gebogen. Alex ließ die Hand los. Neumann atmete schon
erleichtert auf, als Alex ihm einen brutalen Nierenhaken versetzte.
Neumann sank in die Knie, ächzte röchelnd und wurde grün im
Gesicht. Alex betrachtete ihn mit kalten, gnadenlosen Augen. Die
Motorräder waren im Halbkreis aufgefahren und verstummten nun.
Die Gestalt vor Alex hielt sich die Seite und wimmerte. Alex trat ihm
in den Bauch. Seine gleichgültige Grausamkeit demoralisierte
Neumann
vollstän-dig.
Der
bedrohliche
Halbkreis
der
ledergekleideten Gestalten mußte ihm vorkommen wie das jüngste
Gericht. Alex zog eine seiner schlanken Zigarren hervor und zündete
sie an.
Ungerührt beobachtete er die sich windende Gestalt vor ihm. Nach
einer Weile forderte er Neumann auf: „Erzähle!“
Der schluckte ein paar Mal, befeuchtete mit der Zunge die Lippen
und stammelte: „Was denn? Ich weiß doch nichts!“ Alex trat einen
Schritt auf ihn zu. Neumann brach schluchzend zusammen. Er
streckte flehend die Hände aus und bettelte: „Nicht mehr schlagen –
ich sage alles – nicht mehr schlagen.“ Alex betrachtete ihn erstaunt.
Der Mann hatte panische Angst vor körperlichen Schmerzen. Unter
Stöhnen und Wimmern begann er zu erzählen: Vor rund zehn Jahren
war er von Harris angeworben worden. Zu Beginn sollte er lediglich
bei bestimmten Kreditanträgen die Richtlinien besonders eng
auslegen. Später, als er nicht mehr zurück konnte, bei bestimmten
Personen und Unternehmen Zahlungen verzögern, Schecks
fehlleiten und Kredite ablehnen. Seit einigen Jahren hatte er sogar
schlechte Bonitätsbeurteilungen in den Computer einzugeben.
„Und was hast du Drecksack mit meinem Scheck gemacht?“ „Den
gab ich Harris. Er wollte sich um alles kümmern. Ich sollte nur alles
so präparieren, als ob er nicht eingelöst würde. Eine entsprechende
Nachricht kam einige Tage später aus der Schweiz, und damit war
ich gedeckt.“
„Wie hast du die Nachricht erhalten?“ Alex war von einer
mörderischen Wut erfüllt. Geld war ihm nicht vordergründig wichtig.
Aber von solchen Typen derart hereingelegt worden zu sein,
verletzte seinen Stolz aufs Tiefste. „Alle paar Wochen erhielt ich per
Bote eine Liste und gab die Namen dann in meinen Computer ein.
Wenn dann ein Geschäftsgang mit einem dieser Namen verbunden
war, schlug der Computer Alarm. Ich konnte mir den Vorgang
ansehen und entscheiden, was zu machen war.“
„Du falscher Hund hast dafür bestimmt noch Belobigungen von der
Geschäftsleitung erhalten, was? Wie sah der Bote aus. Warst du
schon mal bei Harris zu Hause?“ Nach der Beschreibung handelte es
sich bei dem Boten einwandfrei um den Butler. Von Harris hatte er
lediglich eine Telefonnummer für den Notfall. Bei ihm zu Hause sei er
noch nie gewesen – er wisse noch nicht einmal, wo dieser überhaupt
wohne.
„Und wieviel hast du Stück Mist dafür kassiert?“ Neumann hatte sich
aufgerichtet und kniete nun im Gras. Seine Blicke huschten
verzweifelt in die Runde. Alex packte ihn an den Haaren und
schüttelte ihn. Neumann liefen von dem scharfen Schmerz die
Tränen über die Wangen. „Zwei-tausend im Monat“, heulte er. „Paßt
ja prima. Dann müßtest du mit Zinsen in diesen Jahren runde
300.000 Mark an Judaslohn kassiert haben.“
Alex dachte nach. Ihm das Geld abnehmen, das war klar. Aber wie
und für welchen Zweck? Besser wäre es, Neumann arbeitet weiter
wie bisher, dachte Alex, ich weiß immer noch nicht, ob Harris nur ein
cleverer Gauner ist, oder ob dies erst die Spitze eines Eisberges
darstellt. „Wer wartet auf dich zu Hause? Zu wem hast du sonst noch
engen Kontakt?“ – fragte er. „Ich lebe allein. Keine Frau oder
Freundin. Nur entfernte Verwandte. Mit Kollegen mal ein Bier nach
der Arbeit und samstags im Verein kegeln.“ Neumann sprudelte
seine Antwort eifrig heraus und fügte an: „Bitte, bitte – geben Sie mir
eine Chance. Ich will auch alles tun.“
Er war einer von diesen widerlichen Typen, die sich total
unterwarfen, sobald Druck auf sie ausgeübt wurde. „Wir gehen jetzt
zu dir nach Hause. Du zeigst mir deine letzte Steuererklärung. Denn
um die zu fälschen, bist du zu feige. Und dann machst du einen
Schenkungsvertrag und rückst dein ganzes Vermögen heraus. Es
dürfte eine größere Strafe für dich sein als alles andere. Danach
darfst du in der Bank weiter arbeiten und wir verpetzen dich auch
nicht.“
Ein Hoffnungsschimmer zeigte sich auf Neumanns Gesicht. Mit der
Polizei hatte er sicher eines Tages gerechnet und sich vorsorglich
mit entsprechenden Lügen präpariert. Aber nichts hatte ihn auf
Schmerz und plötzlichen Tod vorbereitet. Alex wandte sich an seine
Begleitung: „Ich verfolge seit einiger Zeit eine Idee. Was würdet ihr
davon halten, selb-ständig zu sein? Ihr habt ja fast alle
handwerkliche Berufe.“ „Wie soll das denn laufen?“ – fragte Gerd,
„es gibt da enorme Schwierigkeiten. Was mit dem Meisterbrief
beginnt und bei Werkstatt und Maschinen aufhört.“
„Wie gesagt, die Idee wälze ich schon seit längerer Zeit hin und her.
Ihr eröffnet alle gemeinsam einen Handwerkerservice, betreibt ein
zentrales Bü-
ro mit Werkzeuglager für alle. Größere Dinge produzieren braucht ihr
nicht, denn man kann alles fertig kaufen. Der Reparaturservice und
die Montage sind heute das Wichtigste. Meister als
Konzessionsträger gibt es genügend. Viele solcher Rentner sitzen
herum und wissen vor Langeweile nicht, was sie treiben sollen. Die
können euch manchen guten Rat geben und auch praktisch wertvolle
Hilfe leisten. Etwa beim Ausarbeiten von Angeboten oder Schreiben
der Rechnungen. Und dieses Stück Scheiße sorgt für euer
Anfangskapital. Der hat bestimm keine Frau finden können, weil er
aus allen Poren stinkt.“
Gerd und seine Begleiter begannen aufgeregt durcheinander zu
reden. Alex packte Neumann am Arm, zog ihn hoch und wandte sich
zum Weg zurück. „Überlegt euch die Sache – wir sehen uns in ein
paar Tagen wieder.“ Er warnte Neumann: „Versuche keine Tricks.
Am liebsten würde ich dir die Kehle durchschneiden – und meine
Freunde kennen dich auch.“
Neumann zitterte wie Espenlaub und wankte benommen neben Alex
her. Langsam wurde es dunkel. An der Toreinfahrt vor der Nummer
26 wurden sie von einer älteren, fülligen Dame aufgehalten: „Guten
Abend, Herr Neumann. Haben Sie schon gehört? Hinter unserem
Haus, in dem alten Bach, wurde ein Toter gefunden.“ Ein neugieriger
Blick streifte Alex, als der ruhig grüßte. Neumann stammelte
erschreckt irgendwas, während die Frau mit Genuß die Geschichte
erzählte.
Ein junger Mann aus dem zweiten Stock, der stets die Abkürzung
über das Rohr nahm, hatte morgens den Mann entdeckt und die
Polizei gerufen. Die hatten dann den Toten abtransportiert und die
nähere Umgebung abgesucht. Sie hatte einen der Polizisten
ausgefragt und der meinte, da keine äußerlichen Verletzungen
vorlägen, würde es sich sicher nicht um ein Verbrechen handeln.
Obwohl es etwas merkwürdig sei, daß der Tote weder Brieftasche
noch Ausweis bei sich trug. Vielleicht wohnte er hier irgendwo und
hatte lediglich einen Abendspaziergang unternommen.
Endlich wurden sie in Gnaden entlassen und stiegen die Treppe
hoch. Neumann schloß in der dritten Etage eine Tür auf. Alex wollte
ihm einen endgültigen Schlag versetzen und fragte: „Kennen die
Hausbewohner
den
Boten, der immer die Namensliste brachte?“ „Glaube ich nicht. Ich
wohne noch nicht lange hier. Er war nur einmal abends bei mir.
Sonst trafen wir uns am Bahnhof oder in der Nähe der Bank.“ „Falls
die Polizei dich fragt, dann kennst du ihn nicht. Der Tote im Bach ist
nämlich dein Bote.“ Neumann wurde grau im Gesicht, starrte Alex
entsetzt an und kroch förmlich in sich zusammen. „Und jetzt zeig mal
deine Knete und setz den Schenkungsvertrag auf!“ Alex grinste ihn
unbarmherzig an.
Rückblende
Alex hatte sich vier Auftraggeber besorgt aus Gründen der
Risikostreuung. Für einen baute er abgehängte Decken, für den
nächsten betrieb er Ladenausbau und allgemeinen Innenausbau.
Beim dritten standen Fenster-syteme auf dem Programm, meist in
Alufassaden integriert, was sehr genaues und sorgfältiges Arbeiten
erforderte. Und für den letzten schließlich waren große Serien von
Einbauschränken und Türen zu montieren. Er hatte mit fünf guten
Schreinern Subunternehmerverträge abgeschlossen und somit das
Risiko weiter begrenzt. Er war zwar die ganze Woche über
unterwegs, aber am Wochenende immer zu Hause.
Seine Helfer durfte er nicht aus den Augen lassen, weil sonst die
Kosten aus dem Ruder gelaufen wären. Zwar wurden die
anteilsmäßig bezahlt, aber wenn er nicht die Arbeit organisierte und
einteilte, sowie ständigen Druck ausübte, taten die Burschen so, als
ob es noch Heinzelmännchen gäbe.
Er war gerade in München und montierte bei einem neuen
Verwaltungsge-bäude des Bundesnachrichtendienstes in Pullach
Fenster. Es war kalt und der Schnee lag zwanzig Zentimeter hoch.
Dreimal täglich brühten sie sich einen Grog, und dabei erzählte Alex
seinen beiden Helfern (er hatte diesmal nur zwei mit dabei) von
seinen Erlebnissen in Arabien, und wie schön warm es jetzt dort
wäre. Als er abends bei seinem Auftraggeber wegen Dübeln und
Schrauben vorbeifuhr, lehnte er weitere Aufträge bei solchem Wetter
ab.
Der Kälteeinbruch war erst vor drei Tagen erfolgt. Aber deswegen
hätte Alex niemals einen Auftraggeber hängen gelassen. Ein neuer
Auftrag hingegen war eine andere Sache. Als er am Wochenende
seinen offenen Kamin befeuerte, kam ein Anruf aus Hamburg. Seine
alte Firma, für die er in Dubai gewesen war, hatte einen Auftrag in
Saudi-Arabien für ihn. So schnell wie möglich – am besten
vorgestern (gestern war schon etwas zu spät).
Das war mal wieder typisch: Seit einem Jahr hatten die nicht mehr
von sich hören lassen. Zuerst machte er dem Projektleiter Hild klar,
daß er Aufträge hatte, die fertiggestellt werden mußten. Dann sagte
er seinen Besuch für kommende Woche zu. Die Sehnsucht nach
dem Zauber des Orients zerrte schon seit einigen Monaten an ihn. Er
sagte seinen Leuten Bescheid und nahm einen Zug nach Hamburg.
Lange Strecken fuhr er lieber mit der Bahn. Die erste Klasse war
bequem, und er konnte lesen und sich vorbereiten. In Hamburg
wurde er wie ein verlorener Sohn empfangen. Bei der Baustelle
handelte es sich um eine gott-verlassene Oase mitten in der Wüste.
Alex sah sich die Karte an. „Dafür müßt ihr aber zweitausend Mark
pro Monat drauflegen“, sagte er grinsend. Hild trabte zum obersten
Boß. Für Arbeitsverträge über 10.000 Mark mußte er
Genehmigungen einholen. Erstaunt kam er zurück und sagte: „Sonst
feilscht er um jede Mark, diesmal nickte er lediglich.“
Seinen Reisepaß ließ Alex im Büro. Er packte Pläne und Verträge
ein. Eine ganze Stadt war innerhalb einiger Monate mit Möbeln,
Teppichen, Vorhängen, abgehängten Decken, Wandverkleidungen
und ähnlichen Dingen auszustatten. Ein Luxus-Armeecamp (nur für
Offiziere), Villen, Moschee, Supermarkt, Klinik, Kasino, zwei Schulen
(je eine für Jungen und Mädchen), ein Kino für 1600 Personen – und
fünfzig Großcontainer mit Material wartete schon auf der Baustelle
auf ihn.
Seine Helfer waren geschockt. Sie hatten sich an den reibungslosen
Arbeits-ablauf gewöhnt und kannten keine Sorge um Aufträge oder
Geld. In vier Monaten wollte er wieder zurück sein. Die Firma startete
gerade ein neues Projekt: Ein Riesenhotel der Spitzenklasse in
Nigeria.
Die Bauleitung dafür war ihm bei guter Abwicklung des SaudiProjektes zugesagt worden.
Der Abschied zu Hause war schon beinahe Routine. In Djidda auf
dem Flughafen stand er in der wartenden Schlange vor der
Paßkontrolle und hörte zwei Deutschen zu, die sich über Nigeria
unterhielten. „Könnt ihr mir in Kürze was über das Land erzählen?“ –
mischte er sich in das Gespräch ein, „in einem guten Jahr komme ich
nämlich auch nach Nigeria.“
Einer der beiden meinte: „Ich könnte dir tagelang erzählen, und du
würdest mir sicher kein Wort glauben. Aber seit ich Nigeria kenne,
weiß ich, was wir an den Arabern haben.“ Alex grinste. „Das klingt ja
sehr interessant.“ „Ist es auch, nur nicht angenehm“, sagte der
andere abschließend. Denn sie waren bei der Paßkontrolle
angelangt. Alex mußte umsteigen. Er hatte noch zwei Stunden Flug
vor sich sowie vier Stunden Autofahrt.
Wieder einmal flimmerte die Luft über dem endlosen Band der
Straße – was aussah wie die Wellen des Meeres. Alex fragte den
Fahrer, der ihn abgeholt hatte, nach einem Restaurant oder einen
Laden mit kalten Getränken in der Nähe der Straße. Auf halber
Strecke kämen sie durch einen kleinen Ort und würden dort rasten
können, bekam er zur Antwort. Nun muß ich mich erst-mal wieder an
das Klima gewöhnen, dachte er mit trockenem Mund.
Die Straße war gut ausgebaut und auf der 320 Kilometer langen
Strecke zweimal verbreitert, um Flugzeugen die Landung zu
ermöglichen. Er ließ sich zuerst zur Baustelle fahren. Acht Deutsche
leiteten das Ganze und rund 500 Koreaner leisteten die Arbeit. Alex
baute sich nach kurzer Zeit eine Sondergruppe auf, die aus 25
Ägyptern, Jordaniern und Pakistanis bestand, um notwendige
zusätzliche Arbeiten ausführen zu können. Die Koreaner leisteten
lediglich die vertraglich vereinbarten Arbeiten und reagierten auf
Druck überhaupt nicht. Man mußte sie beinahe den ganzen Tag
streicheln, um Leistung zu erhalten.
Hier erlebte Alex zum ersten Mal räuberische Araber. Die stahlen,
was nicht niet- und nagelfest war.
Ihr Camp nahm sich aus wie eine Wagenburg – einfach ein Platz
mitten in der Wüste zwischen Baustelle und Oase. In der Mitte
befand sich ein Schwimmbassin mit als Grillplatz benutzter Terrasse.
Rundum im Kreis standen die Wohncontainer. Etwas abseits
befanden sich Stromerzeuger und Wassertank. Alex saß abends oft
auf der Terrasse und sah zum sternen-funkelnden Himmel hoch –
dachte darüber nach, wie klein die Erde und wie nichtig doch der
Mensch und seine Ansprüche seien. Denn was bleibt schon von
einem ganzen Leben voller Hasten und Raffen übrig? Was kann das
Ziel des Lebens sein? Wieviel Reichtum wird erworben und zerrinnt
wieder? Wie viele Herrscherreiche wurden gegründet und zerfielen
wieder?
Er hatte ein Buch von Schopenhauer mitgebracht – nun hatte er
abends genügend Zeit zum Lesen und Nachdenken. Eines Abends
huschte ein schwarzer Schatten über den Terrassenboden: Ein
schwarzer Skorpion. Als Alex sich ihn näher betrachten wollte,
stoppte der seinen Lauf und richtete seinen Schwanz mit dem
Stachel angriffslustig hoch. Blitzschnell stülpte Alex eine soeben
geleerte Pfirsichdose über das Tier. Dann schob er ein Stück Pappe
unter die Dose, und so hatte er den Skorpion gefangen. Vorsichtig
bugsierte er ihn in das Eisfach seines Kühlschranks. Nach einigen
Stunden hatte der Skorpion alle Viere (bzw. Achte) von sich
gestreckt. Alex besorgte sich Zweikomponentenkunststoff, übergoß
den Skorpion damit und hüllte ihn dekorativ in eine Messingschale
ein. Danach betrat er nie mehr in Sandalen die Terrasse.
Für viele seiner Kollegen bedeutete diese Zeit weggeworfenes
Leben. Sie brauten sich Bier oder brannten sich Schnaps oder
fabrizierten sich Wein und entflohen so der Langeweile. Für Einkäufe
und den Behördenkram hatten sie in der Oase einen arabischen
Verbindungsmann. Alex freundete sich mit ihm an und wollte ein
Kamelrennen um die Oase organisieren. Trotz des vielen Palavers
kam es nie zustande.
Er ließ sich eine Seidengalabia (das lange arabische Gewandt)
schneidern - in gelb und mit abgesetzten Taschen und Ärmeln. Eine
solche Mode hatte es noch nie gegeben, und für ein paar Wochen
lieferte er hinreichend Gesprächsstoff, wenn er abends in der Oase
das frischgebackene Brot holte.
Frisch und mit Butter schmeckte es vorzüglich. Am folgenden
Morgen jedoch war es beinahe steinhart, und nach zwei Tagen
begann es zu schimmeln. Wehmütig dachte er an das deutsche Brot
in Dubai zurück. Eine Deutsche hatte dort einen Araber geheiratet
und eine Bäckerei eröffnet – das Brot wurde ihr förmlich aus den
Händen gerissen.
Zu bestimmten Zeiten wurden die Skorpione eine Plage und Gefahr.
Der Campboy, der alles in Ordnung zu halten hatte, grub dann eine
Schale ebenerdig in den Wüstenboden und füllte sie zur Hälfte mit
Öl. Das lockte die Skorpione an, sie fielen hinein und ertranken.
Nach einigen Wochen, wenn die Skorpione sich langsam zersetzten,
füllte er das Öl in kleine Fläschchen und verkaufte sie teuer – das
Skorpiongift war in das Öl gezogen. Ein kleiner Tropfen davon, auf
einen Insektenstich aufgebracht, ließ jede Schwellung zurückgehen
und den Schmerz rasch verschwinden, ein ausgezeichnetes
Gegenmittel also.
Seine 25-Mann-Truppe hatte ihr Werkzeug erhalten. Alle auf der
Baustelle, voran die Koreaner, waren derart extrem nachlässig, daß
unaufhörlich Werkzeug nachgekauft werden mußte. Alex rückte
diesen Mißständen zuleibe, indem er bei der Werkzeugausgabe den
Empfang quittieren ließ und eine Nachprüfung auf Vollständigkeit vor
der Lohnausgabe anordnete. Fehlte etwas, wurde der Lohn zunächst
nicht ausgezahlt. Und da eigentlich bei jedem etwas fehlte, konnte
man eine Menge Leute dabei beobachten, wie sie eifrig die Baustelle
nach Werkzeugen absuchten. Bald war ein Zustand erreicht, wo die
Koreaner sich nicht einmal mehr trauten, kurzfristig Werkzeug liegen
zu lassen. Es wurde nämlich rasch von Alex´ Leuten gefunden und
vorsorglich gehortet.
Zwischen den koreanischen Vorgesetzten und den Arbeitern lag eine
scharfe Trennungslinie – bemerkbar an separaten Unterkünften,
Kantinen und Speisen. Alex und seine Leute aßen manchmal bei den
koreanischen Technikern. Zuvor zählten sie aber jeweils die Hunde
hinter der Küchenbaracke nach. Fehlte einer, zogen sie es vor, sich
einige Eier in die Pfanne zu schlagen.
Die Stadt wurde von einer eigenen Kraftstation versorgt. Peter war
der Spezialist dort. Den ganzen Tag saß er vor seinem Schaltpult
und horchte auf das gleichmäßige Dröhnen der riesigen
Dieselmaschinen. Er war schon 53 und nahezu überall auf der Welt
gewesen. Einmal hatte er ganz allein mit zweihundert einheimischen
Arbeitern am Khyberpaß in Afghanistan eine Kraftstation gebaut. Er
unterhielt sich oft mit Alex. Nach Erledigung des momentanen
Auftrags beabsichtigte er, nach Indonesien zu gehen und dort auf
seine Rente zu warten. Er schwärmte von Ruhe und Frieden in den
dortigen Eingeborenendörfern.
Eines Tages stoppten plötzlich alle Arbeiten, die nur mit
Stromversorgung zu erledigen waren. Was ergab, daß gut die Hälfte
aller Leute tätigkeitslos herumstand – mitten am Vormittag. Peter
hatte einfach seine Anlage abgeschaltet, war ins Camp gefahren und
hatte sich an den Swimmingpool gelegt. Weil ihn irgend jemand
geärgert hatte, war nun die gesamte Baustelle ohne Strom. Was die
ganze Sache besonders prekär zu machen schien, war, daß gerade
der Boß aus Hamburg zu Besuch war. Der aber lachte bloß und
meinte trocken: „Wer seit zwei Jahren in Saudi arbeitet, hat das
Recht auch mal auszuflippen.“
Die einzige Sehenswürdigkeit in der Nähe war ein hoher, mit alten
Ruinen gespickter Berg. Vor vierzig Jahren hatten dort Engländer
einige Monate lang nach deutschen Stoßtrupps aus Rommels Armee
Ausschau gehalten. Der Berg bestand aus dunklem Vulkangestein.
Auf manchen Felsplatten waren versteinerte Gräser und Zweige zu
sehen. Sonst waren in weiter Runde nur Sand und Steine
auszumachen.
Seit einem halben Jahr weilte der Terminplaner aus dem Hamburger
Büro auf der Baustelle. Er sollte dafür sorgen, daß die vorgegebenen
Termine auch eingehalten wurden. Nebenbei sollte er auch
praktische Erfahrungen vor Ort für die kommenden Projekte
sammeln. Er hieß Richard und befand sich etwa im gleichen Alter
wie Alex. Er sah gut aus, verkörperte aber den typischen
Büromenschen. Er hatte sich ein Buch eines berühmten englischen
Arabienforschers mitgebracht. Dieser hatte vor 120 Jahren in einer
Entfernung von etwa 200 Kilometern von der Baustelle eine Felsenstadt entdeckt – erbaut von den Ptobetäern, nachdem diese aus
Petra
in
Jor-
danien vertrieben worden waren. Richard hatte schon alles versucht,
um dorthin zu gelangen, aber der Ort war archäologisches
Sperrgebiet und durfte nur mit einer Sondergenehmigung aus Riad
betreten werden.
Alex betrachtete sich die Karte. Dicht neben dieser Tempelstadt lag
die Oase Al Ula. Bis dorthin führte eine normale Straße, aber auch
nicht weiter. Die Fahrt auf der Straße würde einen riesigen Umweg
bedeuten – nach der Karte etwa 700 Kilometer. Quer durch die
Wüste waren es nur 200 Kilo-meter Luftlinie. Alex fiel die Wahl nicht
schwer. In Arabien war vieles verboten, aber alles möglich. Außer
Richard, für den sich sein Traum von einem arabischen Abenteuer
erfüllte, nahm er noch Kuddel mit – ein Elektroingenieur. Ein
Toyotajeep mit Vierradantrieb und einem 130 PS- Motor war
problemlos organisiert. Eine Kühlbox wurde mit Cola, Seven-up und
Wasser gefüllt – und daneben etwas Proviant eingepackt. Eine Fahrt
durch die Wüste mit nur einem Wagen war immer riskant. Deswegen
ließen sie eine Karte mit der genauen Route zurück. Falls sie nach
drei Tagen nicht zurück seien, würde eine Suchaktion gestartet.
Hoffentlich erwischt uns unterwegs kein Sandsturm – dachte Alex mit
schauriger Erinnerung an den Sturm vor einigen Wochen. Der hatte
fünf Stunden lang gewütet und mit einer Kraft an den
Wohncontainern gerüttelt, daß das Material nur so kreischte, was
sich ähnlich einer verstimmten Geigensaite anhörte. Durch kleinste
Ritzen war der feine Sandstaub eingedrungen. Der Campboy hatte
eine ganze Woche gebraucht, um alle Räume wieder zu säubern.
Sie frühstückten gemütlich und fuhren gegen 9 Uhr los. Etwa
zwanzig Kilometer ging es die Landstraße entlang und dann ab in die
Wüste. Einen Kompaß hatten sie mit – aber es mußte Eisenerz in
der Gegend lagern, da der Zeiger kreiste und unmögliche
Richtungen anzeigte. Also mußte die Richtung nach der Sonne
bestimmt werden. Die Landschaft zeigte mehrfach ein völlig anderes
Gesicht: Einmal flach bis zum Horizont, dann sanfte Dünen und dann
wieder Geröll mit einzelnen Felsklötzen. Ein paarmal kamen sie an
schwarzen Beduinenzelten vorbei, wo Kinder die Ziegen hüteten, die
an spärlichen Grasbüscheln knabberten. Gegen Mittag kamen sie an
einen Wadi und legten Rast ein. Dort befand sich eine steil
abfallende Felsschlucht mit einer Quelle und einigen grünen
Büschen. Dieses Loch begann als ein etwa 50 Meter tiefes Loch in
der Landschaft und verlief nach einigen Kilometern in der Wüste.
Ein Fahrtempo von 50 km/h war unmöglich. Bei Geröll und größeren
Sanddünen konnten sie allenfalls mit Tempo 30 fahren. Denn man
konnte nie wissen, was sich auf der anderen Seite des Sandberges
befinden würde. Der Nachmittag wurde länger, und die steil
aufragenden Felswände höher. Alex bestimmte die Richtung nach
der Sonne und seinem Gefühl und zweifelte nicht an seiner
Richtigkeit. Er befürchtete lediglich in einer Schlucht zu landen, in der
man mit dem Wagen nicht weiter kommen würde. Manchmal konnten
sie sich nur im ersten Gang und mit Vierradantrieb weiterbewegen –
doch die 130 PS zogen sie auch über steile Dünen hinweg.
Als die Felswände schon bedrohlich zusammenrückten, stießen sie
auf eine funkelnagelneue Planierraupe, die verlassen an einem Hang
stand. Nun brauchten sie nur noch den Spuren der Raupe zu folgen,
und eine halbe Stunde später trafen sie in Al Ula ein. Sein
untrüglicher Richtungssinn hatte sich wieder einmal bewährt.
Al Ula war eine große Oase mit vielen Dattelpalmen, grünen Feldern,
Lehm- und Steinhäusern und sogar einer Tankstelle – alles
zusammen zwischen hohen Felswänden eingebettet. Sie tankten,
und Alex erkundigte sich nach den Felsentempeln. Er bekam die
gewünschte Auskunft – verbunden mit dem Hinweis, zuerst den
Scheich aufzusuchen und um ein Permit zu bitten. Sonst würde der
Wächter der Felsentempel böse, und der pflegt erst zu schießen und
dann zu fragen.
Der Scheich von Al Ula war ein alter, würdiger Araber und bewohnte
ein großes Steinhaus. Sein Empfangssalon bestand aus einem
großen Raum, der auf dem Boden und an den Wänden mit
Teppichen reich geschmückt war. Alex war über die moderne
Couchgarnitur erstaunt, da man bei Arabern doch gewöhnlich auf
dem Teppich sitzt, in Kissen gelehnt.
Bei der Tankstelle hatten sie sich gewaschen, doch ihre Kleidung
war noch voller Wüstenstaub. Der alte Scheich sprach kein Wort
Englisch, so daß sein Sohn dolmetschte. Alex erläuterte anhand der
Karte ihre siebenstündige Wüstenfahrt und daß sie für die saudische
Armee eine Stadt bauten und nun gern die Tempelstadt sehen
würden.
Später war Alex sicher, daß sie das Permit nur wegen ihrer Fahrt
durch die Wüste erhalten hatten – denn er hatte bemerkt, wie der
alte Scheich während der Erzählung anerkennend die Augenbrauen
hob. Der Scheich schrieb ihnen einen Brief für den ‚Vater der
Felsentempel‘, wie der Wächter offiziell hieß und ermahnte sie
mehrmals, nicht in das Tal der Tempel hinein zu fahren, ohne zuvor
diesen Brief zu übergeben. Man reichte ihnen Kekse zum Knabbern,
aber keinen Kaffee. Solche lieben Gäste waren sie dann wohl doch
nicht. Alex bedankte sich höflich und trieb zur Eile, denn es war
mittlerweile schon kurz vor sechs Uhr. In Arabien wird es im Winter
um sechs Uhr dunkel und im Sommer um sieben Uhr. Die
Dämmerung dauert nur zehn Minuten, und beinahe schlagartig ist es
dann stockfinster. Im Dunkeln wollte er nicht den schießwütigen
Wächter suchen.
Die geteerte Straße hörte am Ortsrand auf. Als Alex mit 50 Sachen
die Piste entlangpreschte, zogen sie eine Staubwolke hinter sich her.
Die oberen Ränder der Felswände glühten in den letzten Strahlen
der Abendsonne auf, und sie entdeckten, wie eine eindrucksvolle
Gestalt das Abendgebet verrichtete. Alex stoppte und stellte den
Motor ab, um nicht zu stören. Er öffnete die Kühlbox und nahm sich
eine Büchse Seven-up. Genüßlich zündete er sich eine Zigarre an.
„Weißt du, warum das Zeug hier Seven-up heißt?“ - fragte er
Richard. Als der mit dem Kopf schüttelte, gab er die Antwort: „Weil es
siebenmal wieder hochkommt.“ Sie lachten befreit und froh darüber,
endlich am Ziel zu sein.
Der Wächter hatte sein Gebet beendet. Alex ließ den Motor an und
fuhr zu ihm hin, grüßte und zeigte den Brief. Sein Gegenüber war
hochgewachsen und hatte ein scharfgeschnittenes Gesicht wie ein
Raubvogel. Ein Schnellfeuergewehr hing über der Schulter, im Gürtel
steckte ein Krummdolch in silberner Scheide. Der Wächter führte sie
durch eine Felsenge zu einem großen Zelt, vor dem ein riesiger
Teppich ausgebreitet lag. Ein Junge brachte heißen Tee mit Gläsern,
und sie ließen sich auf dem Teppich nieder. Der Wächter sprach kein
Englisch. Unter Zuhilfenahme von Händen und Füßen und ein paar
Sätzen Arabisch gelang Alex eine einigermaßen flüssige
Verständigung. Es wurde ihnen erklärt, daß sie die Nacht über auf
dem Teppich schlafen und am folgenden Tag die alte Stadt
besichtigen könnten, dies aber nicht länger als zwei Stunden dauern
dürfe.
Denn dann müsse er weg, und sie dürften nicht alleine bleiben. Fotografieren war streng verboten. Alex wagte nicht, ein Bakschisch
anzubieten, denn der Wächter machte einen stolzen und
strenggläubigen Eindruck. Bei einem solchen Araber kann man mit
einem Trinkgeldangebot das Gegenteil des beabsichtigten Zwecks
erreichen und ihn zudem enorm verärgern. Der hier wäre durchaus
imstande gewesen, ihnen trotz des Briefes die Besichti-gung zu
verwehren. Eine dazu passende Geschichte ließe sich schnell
finden. Alle Araber sind mit einer überaus fruchtbaren Phantasie
ausge-stattet.
Sie holten ihre Kühlbox und den Proviant aus dem Wagen. Der
Wächter aber stellte fest, daß sie seine Gäste seien und packte
eigenhändig den Proviant wieder ein. Kuddel rieb sich seinen
knurrenden Magen und meinte: „Dann soll er sich aber beeilen. Mir
ist vor Hunger schon ganz schlecht.“ Aber sie mußten noch zwei
Stunden warten, bis der Wächter wiederkam und von dem Jungen
eine große Platte mit Reis und Kochfleisch bringen ließ. Zwar heißt
es, Hunger ist der beste Koch – dies aber war wirklich
ausgezeichnet.
Außer einem Messer benötigt ein Beduine kein Besteck. Er greift mit
der Hand zu, reißt ein Stück Fleisch ab oder formt mit den Fingern
einen Reisball. Kuddel stürzte sich wie ein Verhungernder auf das
Essen. Der Wächter zog ihm blitzschnell die Platte unter den
zugreifenden Händen weg. „Was ist denn jetzt bloß los?“ – fragte
Kuddel entsetzt, „ich habe Hunger.“ Alex mußte sich das Lachen
verkneifen und erklärte: „Du hast mit der linken Hand zugegriffen. Ein
Beduine ißt nur mit der rechten Hand. Mit der Linken wäscht er sich
nach dem Scheißen nämlich den Hintern sauber, und da es in der
Wüste kein Papier gibt, tut er das mit Sand. Falls genügend Wasser
vorhanden ist – kein Problem. Aber das ist fast nie der Fall, und
deshalb hat er aus seiner Sicht schon recht.“ Kuddel setzte sich nun
auf seine linke Hand, um nicht mehr in Versuchung zu geraten. Unter
den wachsamen Augen ihres Gastgebers durfte er nun mitessen.
Nach dem Essen tranken sie nochmals Tee. Danach spielten sie
Domino und machten zwischendurch Jagt auf große, häßliche
Kamelspinnen, deren Biß zwar nicht gefährlich, aber sehr
schmerzhaft ist. Schließlich schliefen sie tief und fest bis zum
Sonnenaufgang.
Nach dem Frühstück brachen sie auf, um das Tal zu besichtigen. Der
Wächter blieb immer drei schritte hinter ihnen. Alex hatte eine kleine
Pentax-Kamera mit Motor in der Hosentasche. Kuddel und Richard
mußten ihre großen Minolta- und Canon-Kameras im Auto lassen.
Der Wächter war fuchsteufelswild geworden, als Kuddel seine
Kamera hatte auspacken wollen.
Mit dieser Begleitung waren Fotos unmöglich zu machen. Für jedes
Problem gibt es jedoch eine Lösung. Sie gingen gemeinsam bis zur
Mitte des Tales, und dann gingen sie auseinander – jeder in eine
andere Richtung. Der Wächter blieb verdutzt stehen und wußte nicht,
wem er folgen sollte. Nach etwa fünf Minuten trafen sie sich hinter
einem großen Felsen, kletterten in den einzelnen Felsentempeln
herum, machten munter Fotos und überzogen das Zeitlimit glatt um
eine volle Stunde. Dies alles ohne weitere lästige Kontrolle.
Ein Jahr später besuchte Alex Petra, die legendäre Stadt in
Jordanien, deren Häuser, Säulen, Kapitelle und Tempel aus dem
massiven Felsen herausge-meißelt sind. Dagegen war das hier nur
ein schwacher Abglanz. Der Geschichte zufolge wurden die
Ptobetäer aus Petra vertrieben und hatten in diesem Tal eine neue
Heimat gefunden. Für Alex sah es eher so aus, als sei es umgekehrt
gewesen. Als hätten sie hier den Stadtbau geprobt und dann in Petra
ihre bekannte Meisterstadt entwickelt.
Einzelne Felsen ragten wie Findlinge aus dem Wüstenboden. Ein
Tempel war in dreißig Meter Höhe aus dem Felsen gehauen – nur
mit Leitern von unten oder Seilen von oben erreichbar. Sie waren auf
einen Felsen geklettert und besahen sich das Panorama von oben,
als unten ein lautes Hupen ertönte. Über den Rand hinweg sahen sie
den Wächter die Hupe ihres Autos bearbeiten und zwischendurch
wie ein Derwisch von einem Bein aufs andere hüpfend. „Schau mal,
unser Rumpelstilzchen“, grinste Alex, „gehen wir lieber, sonst greift
er womöglich noch zur Knarre.“ Sie packten ihre Sachen ein,
schenkten dem Wächter und seinem Jungen einige Dosen Cola und
Büchsen mit Keksen und brausten los. Diesmal nahmen sie die
Straße – trotz des Umweges. Zwar war die Fahrt eintönig und
dauerte auch immerhin sieben Stunden – jedoch soll der Mensch
nicht die Götter versuchen.
Für dieses Wochenende hatten sie ihr Glück schon arg strapaziert.
*
Alex konnte seinen Termin einhalten und war zum Sommeranfang
wieder zu Hause. Er telefonierte mit seinen Auftraggebern. Arbeit
gab es hinreichend, und seine Subunternehmer waren sichtlich froh,
wieder einen zu haben, der ihnen sagte, wo es lang ging.
Innerhalb eines Jahres änderte sich die Lage vollständig. Alex
verstand es ausgezeichnet, geschickt und zutreffend zu kalkulieren.
Er sah sich eine Baustelle oder die Pläne an und handelte den Preis
aus, mit dem dann beide Seiten zufrieden sein konnten. Jetzt hatten
seine Auftraggeber plötzlich selbst nicht mehr genügend zu tun. Die
Preise waren in den Keller gerutscht, und die Arbeit lohnte schon fast
nicht mehr. Die Zinsen dagegen waren in die Höhe geschossen, und
der Baumarkt nahm sich als ‚tote Hose‘ aus. In Bonn war die ‚große
Wende‘ eingeleitet worden, was in der Praxis bedeutete:
VERNICHTUNG DES MITTELSTANDES!
Alex versuchte ins Ausland auszuweichen. Der zugesagte Job in
Nigeria verschob sich um ein halbes Jahr. Die Hypothek für sein
Haus mußte erneuert werden. Nun sollte er nicht wie bislang 800,
sondern glatte 2000 Mark im Monat zahlen. Die Banken mußten ihre
notleidenden Kredite an Polen und Südamerika ausgleichen und
hatten dazu begonnen, die inländische, geduldige Bevölkerung
auszuplündern.
Alex hatte rund 70.000 Mark Außenstände. Zwar hatte er sich
wöchentliche Abschläge zahlen lassen, aber ein Rest war am Ende
immer noch offen. Mit den fadenscheinigsten Begründungen wurden
diese Zahlungen nunmehr hinausgezögert. Nur der Bayer aus
München zahlte wie immer. Aber auch bei ihm wurde es enger und
es galt, zunächst einmal die eigenen Leute zu beschäftigen. Alex
telefonierte mit einem Kontaktmann bei einer inter-national tätigen
Baugesellschaft. Die Auskunft war deprimierend: Bislang wurden
weltweit jährlich rund 350 Großprojekte mit Einzelvolumen von
jeweils mehr als 100 Millionen gebaut. Der aktuelle Stand lag
lediglich noch bei 50 solcher Projekte.
Mithin würde es auch keinen Sinn haben, bei anderen Firmen
nachzufragen. Alex wurde es zusehends mulmiger, und er versuchte
nun, seine Außenstände einzuklagen. Gutachten waren dazu
notwendig, welche Gegengutachten nach sich zogen. Gewöhnlich
erkannten die Gerichte auf Vergleiche, und nach Abzug der Gerichtsund Anwaltskosten verblieben nur klägliche Reste.
Einen Prozeß verlor er. In diesem Fall hatte er mit dem
Geschäftsführer verhandelt, den er schon lange kannte, während er
dem Betriebsinhaber erst einmal begegnet war. Deshalb konnte der
Geschäftsführer für deren eigenen Betrieb als Zeuge auftreten. Da er
um seinen Job fürchtete, machte er falsche Aussagen im Sinne des
Betriebsinhabers. Alex hingegen konnte nicht mit Zeugen aufwarten,
und das Ergebnis war somit klar. Er mußte nicht nur seine
Forderungen abschreiben, sondern zudem auch noch alle Kosten
tragen. Diesen Fall notierte er unter seiner Merkrubrik ‚Revanche‘
und vertraute darauf, daß sich irgendwann in Zukunft schon einmal
eine geeignete Gelegenheit ergeben würde. Unterm Strich hatte er
letztlich von seinen 70.000 ganze 10.000 retten beziehungsweise
realisieren können. Ihm war eine merkliche Lektion bundesdeutscher
Justizgerechtigkeit erteilt worden.
Alex überlegte angestrengt, wie er seine Erfahrung aus Arabien in
beruflicher Hinsicht zu Geld machen konnte. Bei den alten Häusern
in Dubai war ihm das System der Windkühltürme aufgefallen. Damit
hatte man schon vor Jahrhunderten die Häuser am Golf angenehm
abgekühlt. Heute installierte man in den Neubauten jeweils moderne,
störanfällige und zudem teure Air-Condition-Systeme. Außerdem
existierte kein Fertighaus-Prinzip im arabischen Stil. Alex entwarf
innerhalb von vier Wochen ein hinsichtlich Größe und Nutzung
variables System mit Türmen, Kuppeln und Bogen. Mit
Energieversorgung über Solarzellen und Wassergewinnung aus der
Luft, falls die Luftfeuchtigkeit hoch genug sein würde. Von der
Bestellung bis zur Bezugsfertigkeit sollten drei Monate vergehen.
Dabei würde mit sechs deutschen Monteuren die reine Montagezeit
vier Wochen erfordern. Ein Quadratmeterpreis von 5.000 Mark sollte
bei diesen Konditionen wohl angemessen sein.
Er ließ eine Anzeige im ‚Middle East Trade‘ veröffentlichen erhielt
daraufhin 83 Zuschriften. Nun brauchte er einen Vertreter auf
Provisions-basis, eine Musterkaufvertrag auf arabisch, sowie eine
lokal ansässige Firma für die Bodenplatte aus Beton. Zwei Firmen
aus Amman in Jordanien schienen dazu geeignet. Über die Jordanier
besaß er eine gute Meinung; sein Vormann in Dubai und auch der
beim Saudiprojekt ‚Armee Stadt‘ waren aus dem gleichen Vorort in
Amman gekommen. Mit Arabern hingegen kann man aus der Ferne
schwerlich zu geschäftlichen Übereinkünften gelangen. Alex hatte
seine Lektion damals in Arabien nicht vergessen.
Er rief die deutsche Botschaft in Jordanien an und erkundigte sich,
welche Automarke man dort am besten verkaufen könne. Natürlich
war es Mercedes. Möglichst neu; der Import von Autos, die älter als
fünf Jahre waren, war verboten. Also kaufte Alex einen Mercedes –
außen weiß und innen grün: die Farben des Propheten Mohammed.
Die Reise sollte ihn schließlich nichts kosten, sondern etwas
einbringen.
Dann erkundigte er sich nach den Fährverbindungen. Von Piräus
nach Latakia ging´s jeden Dienstag; das hörte sich ausreichend und
schnell an. Für die Fahrt nahm er sich Zeit. In Jugoslawien besuchte
er die Terrassen-seen, wo er vor zwanzig Jahren seine Flitterwochen
verbracht hatte und später die Karl May Filme gedreht wurden. Auch
besuchte er Sarajevo, und dann kam er bis kurz vor Pristina, als eine
junge Kuh aus dem Straßengraben sprang und direkt vor dem Auto
stehen blieb. Trotz sofortiger Vollbremsung wurde die Kuh durch den
Aufprall fast zehn Meter durch die Luft geschleudert. Später war Alex
der festen Überzeugung, daß er in einem anderen Auto nicht
überlebt hätte.
Ein Bauer kam vom Feld gerannt und schnitt der nur noch schwach
zappelnden Kuh mit einer Sense den Kopf ab. Alex schnappte sich
seine Kleinbildkamera und schoß eine Reihe von Fotos – man
konnte ja nie wissen. Die rechte Frontseite, der rechte Kotflügel,
Motorhaube und Kühler waren arg demoliert. An Weiterfahrt war
nicht zu denken. Also blieb Alex beim Auto und wartete einfach ab.
Er wunderte sich, woher auf einmal die vielen Leute kamen und war
fasziniert, wie rasch die Kuh zerteilt war. Nach einer Stunde kam ein
Polizeiwagen und nach einer weiteren Stunde ein Ab-
schleppwagen der jugoslawischen Pannenhilfe. Der schleppte ihn
erst mal nach Pristina. Der Ort brillierte mit einem modernen
Hotelhochhaus – aber für eine Übernachtung benötigte er die
Erlaubnis der Geheimpolizei; er war in den Albaneraufstand geraten,
und glücklicherweise saß der zuständige Offizier in seinem Büro
hinter der Rezeption.
Als der die Geschichte hörte, lachte er laut. „Aha – Mercedes kaputt.“
Alex grinste zurück. „Kuh kaputt!“ Beide lachten, und Alex konnte
übernachten.
Wer in Jugoslawien einen Unfall hinter sich hat, muß zur Reparatur
oder Ausreise ein Unfallprotokoll vorzeigen. Andernfalls wird das
Auto an der Grenze festgehalten. Reist man bereits mit einer Beule
ein, sollte man sich beim Grenzübergang tunlichst diese Beule
bescheinigen lassen. Der folgende Tag war Freitag und ein Feiertag.
Folglich gab es für ein Protokoll vor Montag keine Chancen. Pristina
war ein trübseliger Ort, das schönste an der Stadt war das Hotel. Die
nächste Autowerkstatt für Mercedes war 120 Kilometer weiter in
Skopje. Möglicherweise konnte er die Sache mit Protokoll von Skopje
aus telefonisch regeln.
Alex hatte bisher keine Ahnung von kommunistischer Bürokratie. Mit
dem Abschleppwagen ließ er sich nach Skopje bringen, wo er die
Werkstatt mit Reklameschildern von Mercedes, BMW, Ford und
Citroen fand, und ein Pförtner das Abstellen seines Wagens auf dem
eingezäunten Werksgelände erlaubte. Er mietete sich ein Zimmer in
einem aus der Jahrhundertwende stammenden, anheimelnden Hotel.
Über das Wochenende besichtigte er die Altstadt, probierte
einheimische Spezialitäten und nahm sich vor, sich nicht weiter zu
ärgern. Am Montag fand er vor dem Hotel einen Taxifahrer, der ein
wenig Deutsch und ein wenig Englisch sprach. Beides zusammen
ermöglichte eine Verständigung. Sie fuhren zur Werkstatt, und der
Leiter schickte ihn zum Magazin. Erst mal checken, ob die benötigten
Ersatzteile auch vorrätig seien. „Aber dazu muß ein Meister doch erst
mal feststellen, was kaputt ist“, wandte Alex ein. „Das macht bei uns
der Magaziner“, war die barsche Antwort.
Das Magazin war geschlossen. Also zurück zum Werkstattleiter.
„Wenn er nicht da ist, müssen Sie warten, bis er kommt.“ Alex fragte
erstaunt: „Hat er
denn keinen Stellvertreter? Was machen denn Ihre Mechaniker,
wenn sie Ersatzteile brauchen?“ „Die warten auch.“ So einfach ist
das. Alex wartete eine Stunde. Niemand öffnete das Magazin. Er sah
sich die große Werks-halle an. Dutzende reparaturbedürftiger Autos
standen herum. Drei einsame Mechaniker werkelten lustlos vor sich
hin. Alex fragte den Taxifahrer, der nicht von seiner Seite wich (denn
ein devisenbringender Fahrgast war selten genug) : „Ist das die
ganze Belegschaft?“ Woraufhin sich der Taxifahrer verlegen wand:
„Normalerweise arbeiten hier fast hundert Leute.“ „Und wo sind die?“
– fragte Alex erstaunt. „Besorgungen erledigen“, murmelte der
andere, „einkaufen, Behördengänge oder einfach spazieren.“ Alex
schwante Böses, und so beschloß er, die Sache selbst in die Hand
zu nehmen.
Er besah sich den Schaden. Außer dem verbeulten Blech und dem
rechten, vorderen Scheinwerfer waren zehn Kühlerrippen
aufgerissen. Er baute den Kühler aus, bog das Blech halbwegs
gerade und ließ für einen Moment den Motor laufen. Soweit war alles
in Ordnung. Der Taxifahrer kannte eine Teilehandlung in der Stadt.
Sie packten den defekten Kühler in den Kofferraum und fuhren los.
Einen passenden Kühler gab es – aber nur gegen D-Mark. Alex
besaß nur noch Euroschecks und Dinar. Da war nichts zu machen.
Er erhielt eine Bescheinigung für die Bank, daß er Devisen für den
Ersatzteilkauf benötigte. Auf der Bank aber gab es keine Devisen.
Aller- dings wartete vor der Bank ein Typ mit einem Bündel
Hundertmark-scheinen. Der war zum Tausch bereit, beanspruchte
aber 20 Prozent Kursgewinn. Alex winkte ab. Bevor er sich von
derart windigen Typen ausplündern ließ, mußte noch allerhand
geschehen. Er fragte den Taxifahrer nach einer anderen Werkstatt,
die den Kühler reparieren könnte. Und tatsächlich, es gab eine. Die
Werkstatt war ein altes Fabrikgebäude aus dem letzten Jahrhundert.
Im Büro war zunächst ein Auftragszettel auszufüllen. Dann war ein
Mechaniker zu suchen, der für 200 Dinar seine andere Arbeit
unterbrechen würde, um den Kühler zu löten. Die Arbeit dauerte
knapp eine Stunde, und nach der Druckprobe gab Alex dem
Mechaniker noch einmal 300 Dinar auf die Hand. Im Büro wurden
ihm acht Arbeitsstunden berechnet.
Knurrend leistete Alex seinen Beitrag zur Sanierung der
jugoslawischen Wirtschaft. Dann begab er sich zur Polizei, wo er sich
erkundigte, ob die Sache mit dem Unfallprotokoll auch telefonisch
oder per Fax zu erledigen sei. Weder noch – war die Antwort, er
müsse persönlich zurück nach Pristina. Kurz hinter Skopje traf er auf
eine Straßensperre. Der Aufruhr hatte sich ausgeweitet, und jeder,
der in Richtung Pristina wollte, mußte sich im Polizeipräsidium einen
Passierschein besorgen.
Langsam war Alex mit seiner Geduld am Ende. „So eine
Schweinerei“, fluchte er. Auf einmal verstand der Polizist an der
Straßensperre Deutsch. „Was war das?“ – fragte er scharf, „möchten
Sie einige Tage in unserem Gefängnis verbringen?“ Der Taxifahrer
rutschte vor Angst beinahe unter seinen Sitz. Alex erzählte von
seinem Unfall und weshalb er nach Pristina müsse. Der defekte
Mercedes besänftigte den Beamten – aber dennoch mußten sie
zurück. Bis sie den Passierschein hatten, war es Abend, und
notgedrungen verschoben sie die Fahrt auf den nächsten Tag. Alex
hatte
mit
dem
Taxifahrer
eine
Tagespauschale
plus
Kilometervergütung ausgemacht, und der war natürlich happy über
den zusätzlichen Tag.
Er lud Alex zu sich nach Hause ein – zum Abendessen. Mit seiner
Familie bewohnte er eine winzige Zweizimmerwohnung. Außer ihm
bestand die Familie aus zwei kleinen Kindern und einer
potthäßlichen Frau. Kochen aber konnte sie. Dauernd kamen
Nachbarn herein, um den Gast zu bestaunen und mit ihren
Sprachkenntnissen zu prahlen. Es wurde noch ein unterhaltsamer
Abend.
Die Fahrt am nächsten Morgen verlief glatt. Bei Gericht mußte Alex
fast zwei Stunden warten. Erst war der Untersuchungsrichter nicht
anwesend, und dann wurde der Bauer auf dem Feld gesucht. Aber
die Wartezeit war sehr unterhaltsam. Auf der unteren Etage befand
sich die Polizeistation. In einer großen Gemeinschaftszelle hatte man
ungefähr zwanzig Albaner untergebracht. Die brüllten und sangen
Lieder. Alle halbe Stunde schloß ein Polizist die Gittertür auf und
zehn seiner Kollegen stürzten mit Schlag-stöcken in die Zelle und
verteilten wahllos Hiebe. Dann herrschte für eine Weile Ruhe, bis
das Getobe wieder anfing, und das Spiel sich wiederholte.
Endlich erschien der Bauer, und das Gefeilsche begann. Alex wollte
seinen Autoschaden bezahlt haben und der Bauer seine Kuh.
Schließlich bezahlte keiner was, und Alex erhielt sein Unfallprotokoll.
Er hatte ja eine Vollkasko Versicherung abgeschlossen und besaß
außerdem den ADAC-Auslands-Schutzbrief. Der Bauer dagegen
hatte die Kuh schon längst verwurstet.
Der Untersuchungsrichter hatte eine bildschöne Sekretärin mit knapp
unter zwanzig Lenzen und einer traumhaften Figur. Ihr Anblick
versöhnte Alex fast mit Jugoslawien. Die Sympathie schien auf
Gegenseitigkeit zu beruhen. Sie flirtete so ungeniert, daß es dem
Richter auffiel. Alex fragte sie, ob sie nicht mit nach Arabien kommen
wollte. Ihr Erröten war ihm Genugtuung. Der Richter drohte ihm
scherzhaft mit dem Zeigefinger und meinte, wenn er so weiter
mache, müsse er ihn wohl einsperren lassen. Alex erwiderte, nichts
dagegen zu haben, wenn ihm die Sekretärin als Wärterin zugeteilt
würde. Unter derart heiterem Geplänkel wurde das Unfallprotokoll
gefertigt und unterzeichnet. Die Sekretärin begleitete ihn zum
Ausgang und winkte dem Taxi nach.
Zurück in Skopje, bezahlte Alex den Taxifahrer, beglich die
Hotelrechnung und nahm die restliche Strecke nach Griechenland
unter die Räder. Er sah die schwarzen Berge von Montenegro,
dachte an den grausamen Krieg vor über vierzig Jahren und daran,
wie viele Gebeine wohl in diesen Schluchten bleichten. (*
Anmerkung: Montenegro kommt vor Pristina, doch verzeihe der
Leser diese kleine Ungenauigkeit *)
Die Bevölkerung lebte noch nach archaischen Gesetzmäßigkeiten.
Vor zwei Jahren war ein junges Paar aus Wetzlar mit seinem VWCampingbus hier abseits der großen Straßen auf Entdeckungsfahrt
gegangen. In der Nähe eines Dorfes war ihnen ein kleiner Junge vor
das Auto gelaufen und war auf der Stelle tot. Der junge Mann, an
deutsche Gesetze und Verhältnisse gewöhnt – auch beim Gedanken
an Unfallflucht, die Folgen und den gerichtlichen Ablauf, hatte das
Auto mit seiner Freundin stehen gelassen und ein Telefon gesucht,
um den Unfall zu melden. Als er zurückkam, hatten die
Dorfbewohner seine Freundin erhängt. Der Anblick der baumelnden
Leiche dürfte ihn wohl bis an sein Lebensende verfolgen –
hoffentlich.
Spät abends kam Alex in Saloniki an, suchte sich ein Hotelzimmer
am Hafen, schlief lange in den Morgen hinein, frühstückte gemütlich
und fuhr schließlich zu einer Mercedes-Werkstatt. Wie sich
herausstellte, hatte das Fahrgestell nichts abbekommen. Die
Ersatzteile waren allerdings nicht alle vorrätig. Vor Ablauf von acht
Tagen war an einem Reparaturabschluß nicht zu denken. Alex regte
auch dies schon nicht mehr auf. Er fuhr in die Stadt und suchte einen
Fotoladen, wo man in der Lage sein würde, die besonders kleine
Kassette aus seiner Pentax zu entwickeln. In zwei Läden verstand
man weder Deutsch noch Englisch. Im dritten Laden antwortete die
angesprochene Dame auf seine Frage: „Klar, ich komme doch aus
Lübeck.“ Wie sie anschließend erzählte, hatte sie einen Griechen
geheiratet und lebte nun schon seit fünfzehn Jahren hier. Alex
erzählte ihr sein Mißgeschick, und sie gab ihm die Adresse eines
Mechanikers, der zehn Jahre lang in einer Mercedes-Werkstatt
gearbeitet hatte, mit einer deutschen Frau verheiratet war und die
gesamte deutsche Kolonie in Saloniki zu seinen Kunden zählte.
„Kann der davon leben?“ – fragte Alex skeptisch, woraufhin die
Lübeckerin lachte und erklärte: „In dieser Stadt hier leben rund 2.000
Deutsche.“ Der Mechaniker benötigte einen vollen Tag, um in der
gesamten Stadt bei Kollegen die Ersatzteile zusammen zu suchen.
Das Auto reparierte er tadellos und entschieden preiswerter, als das
Angebot der Mercedes-Nieder-lassung.
Für die Reparaturdauer hatte sich Alex in ein kleines Hotel am
Strand des ersten Fingers von Chalkidike bringen lassen. Es war ein
kleines Paradies mit verlassenen Dörfern. Einige verbliebene
Einheimische lebten vom Tourismus. Eine Taverne war brechend voll
– über dem Eingang prangte ein Schild, auf dem zu lesen war: Wir
sprechen Deutsch. Alex trat ein, ging in die Küche und stellte sich ein
Wunschmenü zusammen. An der Wand hingen Briefe und
Postkarten von dankbaren Urlaubern aus Deutschland. Ein nettes
Gedicht wünschte dem Wirt und seiner Erika viel Glück für ihre
gemeinsame Zukunft. Er fragte den Wirt nach seiner Frau. Der
verzog gequält das Gesicht. Erika war als Touristin gekommen und,
verzaubert von der Landschaft und von dem Charme des Wirtes,
geblieben. Als es Winter wurde, die kalte Winde wehten und die
Touristen ausblieben, stellte die Langeweile die Beziehung auf eine
harte Probe. Nun sahen die Dinge anders
aus, und eines Tages packte Erika frustriert ihre Koffer.
Seine Zimmernachbarin im Hotel war eine junge, dünne Griechin aus
dem Hinterland, die sich ein paar Tage Strandurlaub gönnte. Sie war
Ver-käuferin, geschieden und kochte ihre Mahlzeiten selbst. Ihr
Mann sei weggelaufen, erzählte sie, er sei eben verrückt. Sie klopfte
bereits am ersten Abend an Alex´ Tür mit dem Ansinnen, die
Funktionsweise einer Pocket-kamera erklärt zu bekommen. Ein
Vorwand – versteht sich. Erst ließ sie die Tür zum Flur auf, und sie
unterhielten sich in einem deutsch-englischem Kauderwelsch – dann
stieß sie wie beiläufig die Tür mit dem Fuß zu, und Alex zog ihr das
Strandkleid über den Kopf. Darunter war sie nackt – viele Umstände
gab es nicht.
Sie knutschte ein wenig herum, legte sich auf der durchlegenen
Matratze zurecht und spreizte erwartungsvoll die Beine. Ihre kleinen,
flachen Brüste paßten irgendwie zu ihren hervorstehenden Rippen –
sie sah schon irgendwie aus wie ein mageres Hühnchen. Als er in sie
eindrang, geriet sie für ein paar Sekunden in Ekstase – danach lag
sie unter ihm wie ein Brett. Alex stützte sich gut ab, um sich an ihren
hervorstehenden Knochen keine blauen Flecken zu holen.
Er mühte sich redlich ab. Aber jede weitere Reaktion ihrerseits blieb
aus. Ihn hätte es nicht gewundert, wenn sie insgeheim die Fliegen an
der Decke gezählt hätte. Als er fertig war, rollte sie sich aus dem
Bett, zog ihr Kleid über, küßte ihn flüchtig und ging. Zweimal kam sie
noch; jedesmal war es das Gleiche. Alex hätte ihr sagen können,
warum ihr Mann davongelaufen war. Aber wann hat jemals eine Frau
von einem Mann einen solchen Rat angenommen? Wenn jedenfalls
eine Frau einem Mann täglich nur für eine halbe Stunde das Gefühl
gibt, er sei für sie der Größte, wird er sich die Beine für sie
ausreißen. Manche Frauen aber begreifen dies einfach nicht.
Nach drei Tagen konnte Alex bereits weiter fahren, und so erreichte
er rechtzeitig seine Fähre nach Syrien. Diese war ein alter Kahn und
wurde scheinbar mit den beiden Antriebsschrauben gesteuert. Denn
als unterwegs einer der beiden Dieselmotoren ausfiel, fuhr sie zwei
Stunden im Kreis, bis der Schaden behoben war. An Bord war alles
international gemischt.
Beladen war die Fähre mit Kisten, Kartons und Ballen jeder Größe.
Auch einige Deutsche hatten sich eingefunden. Alex führte
vergnügliche Diskussionen mit einem alten SPD-Mann –
Stadtoberinspektor von Hannover. Der trauerte der früheren
Regierungsmehrheit nach. „Gäbe es keine weiteren Gründe, hätte
die SPD allein schon deswegen abgeschossen werden müssen, weil
die Lohnsteuer beim gesamten Steueraufkommen den größten Anteil
ausmacht“, behauptete Alex, „und weil es eine Schande ist, wenn ein
normal gebildeter Arbeiter für seinen Lohnsteuerjahresausgleich
schon einen Steuerberater braucht.“
Dann gab es noch eine untersetzte, stämmige Apothekengehilfin, die
mit ihrem syrischen Ehemann und mit ihrer kleinen Tochter zum
ersten Mal das Heimatland ihres Mannes aufsuchte. Das
Töchterchen war der reinste Irrwisch, belästigte jeden und tobte
überall an Bord herum. Alex hätte es nicht gewundert, wenn sie
während der Zweitagesfahrt über Bord gefallen wäre. Aber Kinder
und Betrunkene haben ja bekanntlich Schutzengel.
Im Hafen von Latakia, der nach arabischen Maßstäben gemessen
sehr sauber und ordentlich war, machte die Apothekengehilfin
plötzlich kehrt; packte ihre Tochter und ging wieder an Bord. Alles sei
ja so schmutzig, und hier würde sie keinen Fuß an Land setzen. Alex
vermutete private Gründe. Die Frau müsse wohl Angst bekommen
haben, ihr Mann würde sie und ihre Tochter nicht mehr nach
Deutschland zurückkehren lassen. Der arme Kerl – dachte Alex, wie
soll er nun seinen Eltern in Damaskus erklären, wieso ihm seine Frau
den in Arabien selbstverständlichen Gehorsam verweigert?
Alex nahm sich Zeit, wohnte in Damaskus im Sheraton Hotel,
besuchte den Basar sowie einige arabische Bauwerke, fuhr weiter
zur Kreuzritterburg Krag und kletterte einen halben Tag lang über die
nie erstürmten Mauern.
Entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nahm er sowohl in
Amman als auch in Damaskus im Sheraton Hotel Quartier. Dies, weil
in deren Garagen sein Mercedes sicher war, und weil die Direktoren
in arabischen Spitzenhotels entweder Schweizer oder Deutsche sind.
Die kannten die Gegend und konnten die Chancen für Fertighäuser
im arabischen Stil in ihrer Gegend eher abschätzen. Oder sie
kannten jemand, der jemanden kannte, der dies konnte.
Alex bummelte durch Amman, besah sich die alten römischen
Ruinen, besuchte seine ehemaligen Vormänner, die nur drei Straßen
voneinander entfernt wohnten und ehrlich erfreut waren. Sie
schleppten in den folgenden Tagen eine Menge von
Kaufinteressenten für den Mercedes an und konferierten mit den
beiden Baufirmen. Am Wochenende fuhr er nach Petra, verknipste
zwei Filme und ließ die Jahrtausende dieser alten, aus Sandstein
gemeißelten Stadt auf sich wirken.
Die Vermarktung dieser Kulturdenkmäler war schon in vollem Gange.
An der Zugangsschlucht stand ein Hotel. Man konnte Pferde mieten
und mit Limonadenverkäufern handeln. Eine Poststation mit Bildern
und Postkarten hatte man in der alten Stadt etabliert. Einheimische
Händler versuchten, angeblich gefundene Antiquitäten zu verkaufen.
Auch ein Buch, von einem deutschen Autorenpaar verfaßt, wurde
offeriert. Wir sind nur Gäste, dachte Alex, hier ist es offensichtlich:
Die Erbauer der Stadt waren in den Abgrund der Zeit versunken.
Woanders war es ähnlich. Da gab es zwar Bewohner, aber die
hatten mit den Zeugen der Geschichte nichts mehr zu tun. Die
Italiener beispielsweise sind nur noch ein schwacher Abglanz der
alten Römer, und auf der anderen Seite der Adria begann bei
Belgrad Asien; Griechenland machte dabei keine Ausnahme.
Alex ging mit den beiden Baufirmen in Amman einen Vertretervertrag
auf Provisionsbasis ein. Jede Firma übernahm ein festes Gebiet und
hatte die Fertighäuser gegen Erfolgsprovision zu verkaufen, die
Bodenplatte vor Ort zu erstellen und lokale Arbeitskräfte zu
besorgen. Beide verlangten detaillierte Pläne und statische
Berechnungen. Nachtigall, ick hör dir trapsen, dachte Alex und
überließ nur soviel Unterlagen, wie zu einem erfolgreichen
Verkaufsgespräch erforderlich war.
Das Frühstück im Sheraton Hotel in Amman wurde von einer kleinen
Schar niedlicher Koreanerinnen serviert. Eine hätte gern in
Deutschland gearbeitet und fragte Alex, ob er nicht einen Job
vermitteln könnte. Er wollte nicht unhöflich erscheinen und meinte,
dazu benötige er ein Foto und ihre Adresse. Am Nachmittag kam sie
in sein Zimmer, zog sich aus und wollte fotografiert werden – sie
meinte, ein solches Foto wäre doch wohl vorteilhafter.
Alex betrachtete sie und mußte zustimmen: Sie war zierlich, aber an
den richtigen Stellen gut gepolstert – mit langen, glatten, schwarzen
Haaren und kleinen, straffen Brüsten. Bezahlen wollte sie auf die
einzige ihr mögliche Art, und Alex hatte keine Einwände.
Sie kniete vor ihm nieder und begann mit den Schuhen, ihn
auszuziehen. Als sie seinen Gürtel öffnete und die Hose nach unten
streifte, sprang ihr sein kleiner Bruder fast ins Gesicht. Sie lächelte
und streichelte ihn. Ihre Hände fühlten sich an wie
Schmetterlingsflügel. Sie führte Alex zum Bett und bugsierte ihn sanft
in die Kissen. Er war gespannt, wie es weiter gehen würde und
überließ ihr die Führung. Sie massierte, knetete und streichelte seine
Fußsohlen. Ein angenehmes Gefühl breitete sich in seinem Körper
aus. Nicht schlecht für den Anfang, dachte er. Plötzlich durchraste
ein flammender Orgasmus nach dem anderen seinen Körper, bis er
total erschöpft einschlief. Er erwachte allein – angenehm gelöst und
zufrieden. Er war am ganzen Körper eingecremt und duftete dezent
nach einem Rasier-wasser. Noch schläfrig, lächelte er. Zwar hatte
sie ihn um einen angenehmen Bums gebracht – aber dies hier war
mindestens ebenso gut gewesen.
Alex verkaufte seinen Mercedes – wegen des Unfalls ohne Gewinn,
aber auch ohne Verlust. Die Reisespesen hatte er aber nun selber zu
tragen. Er nahm das nächste Flugzeug nach Hause.
Dort hatte sich die Lage auf dem Baumarkt eher noch verschlechtert.
Die Hypothekenbank drohte die Versteigerung seines Hauses an,
und seine Reserven schmolzen zusammen. Vier Wochen später traf
aus Amman ein Kaufvertrag ein: Ein Haus mit 280 Quadratmetern für
stolze 1,2 Millionen Mark. Ab 200 Quadratmeter Wohnfläche hatte
Alex eine Rabattstaffel zugestanden. Der Reingewinn bei diesem
Geschäft würde bei rund 400.000 Mark liegen. Da aber beim
Transport oder auf der Baustelle eigentlich immer etwas schief zu
gehen pflegte, mußte er sicherheitshalber mit weniger kalkulieren.
Alex schwor sich, nach Erledigung dieses Auftrags die Hypothek
abzulösen und dann nie wieder Schulden zu machen. Die
Versteigerungsanordnung der Bank war ihm in die Glieder gefahren.
Das Haus hatte er nur für die Kinder gebaut. Sie sollten in einer
schönen Umgebung groß werden und nicht in einer engen
Mietwohnung. Der Kunde war mit Anschrift und Bankverbindung
genannt und wollte über die Kaufsumme ein unwiderrufliches
Akkreditiv hinterlegen. Alex hatte über eine Bankbürgschaft die
Auftragserfüllung abzusichern.
In seinem Beruf war er ein As. Wieviel er aber als Geschäftsmann zu
lernen haben würde, wurde ihm erst jetzt bewußt. Die Bank verlangte
zur Absicherung der Bürgschaft geeignete Sicherheiten. „Weshalb?“
– fragte Alex, „das Akkreditiv ist doch so gut wie Bargeld.“ „Aber nur,
wenn der Auftrag vereinbarungsgemäß ausgeführt wird“, war die
Antwort, „und kommt etwas dazwischen, kann der Käufer das
Akkreditiv zurück verlan-gen.“ „Und was sollte dazwischen
kommen?“ – fragte Alex, „der Käufer will das Haus – ich will den
Auftrag ausführen. Und wenn das Akkreditiv hinterlegt ist, kann er
auch nicht mehr vom Vertrag zurücktreten. Wo ist da ein Risiko?“
„Nun, Sie könnten morgen sterben. Eine Revolution könnte dort
ausbrechen, die Bank des Käufers kann pleite gehen.“ Alex hörte
sich noch gut ein Dutzend weiterer Gründe an, weshalb die Bank auf
Sicherheit bestehen mußte. Dann ging er, versuchte es noch bei
zwei weiteren Großbanken und kapierte dann, warum Beziehungen
so wichtig sind. Einen Kredit, so wurde ihm jetzt klar, bekam man
nur, wenn man beweisen kann, daß man ihn eigentlich gar nicht
braucht. Jedenfalls in maßgeblicher Höhe. Die systematische
Bonitätszerstörung kleiner Kreditkunden, indem man diese von
Seiten der Bank aus in immer höhere Kreditsummen manövriert, war
eine andere Sache. Diese Geschäfte brauchen die Banken, um ihr
teures Geld für Kleinkredite loszuwerden. Theoretisch hatte Alex dies
alles immer gewußt. Es aber nun in der Praxis selber zu erfahren,
war eine bittere Sache.
Sein jordanischer Verkaufspartner Abdul Hamar rief ihn beinahe
täglich an, und Alex blieb nichts anderes übrig, als ihn zu vertrösten.
Er suchte nach einigen Partnern – als Lieferanten und um die
Bürgschaft abzusichern. Auf seine Anzeige in der FAZ meldeten sich
fünf Interessenten. Einer war ein windiger Schlawiner, zwei besaßen
keine müde Mark mehr und hatten ihre Todeslinie zur Pleite
eigentlich längst überschritten, und die beiden anderen wollte zwar
gern liefern, aber nur gegen Anzahlung. Und von einer
Auftragsbürgschaft wollten sie schon mal gar nichts wissen.
Einem Araber kann man mit Geld- und Bankangelegenheiten nichts
mehr erzählen. Das richtige Gespür saugen die schon mit der
Muttermilch ein. Alex telefonierte mit Abdul und erzählte seine
Probleme. Der Jordanier hatte sich dies schon gedacht und
unterbreitete ihm einen Vorschlag: 300.000 Mark gegen alle Pläne
und zehn Monate Mitarbeit bei der Auftragsabwicklung. Alex sollte in
diesen zehn Monaten zwei arabische Architekten einweisen, die bei
den folgenden Aufträgen dann die Bauleitung übernehmen würden.
Sie verhandelten zäh und als Freunde. Am Ende erhielt Alex für
sämtliche Pläne 300.000 Mark und für seine Mitarbeit 12.000 pro
Monat plus Spesen. Und für jedes künftig zu bauende Haus wurden
ihm drei Prozent Lizenzgebühren zugestanden.
Abdul Hamar genoß zwei Tage lang das Nachtleben von Frankfurt.
Alex fuhr nach Hause und packte seine Pläne zusammen. Millionär
würde er nicht werden – aber der Kompromiß war nicht schlecht für
ihn. Er übergab seine Pläne, Zeichnungen, Kalkulationen und
Lieferantenadressen an Abdul, erhielt seinen Scheck und brachte ihn
zur Bank. Alex sah an diesem Tag sowohl seinen Scheck als auch
Abdul Hamar zum letzten Mal. Zunächst jedoch war er zufrieden und
machte sich einstweilen keine Sorgen mehr. Er genoß das
Sommerwetter, sah von seiner Terrasse aus den Bauern bei der
Heuernte zu und stellte sich das dumme Gesicht des Angestellten
bei der Hypothekenbank vor, wenn er dort die gesamte Summe auf
einmal auf den Tisch blättern würde.
Er rief die Botschaft an und sandte zur Sicherheit von der Bank aus
ein Telex hinterher. Die Antwort kam drei Stunden später: „Abdul
Hamar ist nicht auffindbar – Gerüchten zufolge in Attentatspläne
gegen einen Minister verwickelt. Firma und Vermögen stehen
vorläufig unter Regierungsarrest.“
Unter Streß wurde Alex besonders ruhig und kaltblütig. Nüchtern
sinnierte er: Wenn sich diese Sache nicht bald aufklärt, bleibt mir nur
noch die Bauleitung in Nigeria. Jetzt aber brauche ich erst einmal
einen doppelten Brandy. In Jordanien persönlich nachzuforschen
würde eine Menge Geld und Zeit kosten und sicherlich nichts
einbringen. In Arabien rollt eher mal ein Kopf zuviel als einer
zuwenig.
Der Versteigerungsvermerk zu seinem Haus wurde eingetragen.
Noch machte sich Alex keine Sorgen – sowas konnte man gut ein
halbes Jahr hinauszögern. Zwei Monate später fuhr er nach
Hamburg und handelte seinen neuen Vertrag aus: Laufzeit 15
Monate – mit der Option einer dreimonatigen Verlängerung. Entgelt
10.000 Mark pro Monat plus Reisespesen zuzüglich 500 Naira in
Landeswährung aus der Baukasse.
Der notierte Kurs war nicht schlecht: Für einen Naira gab es 3,75
Mark. Mit seinem Vertrag in der Tasche machte Alex wieder die
Runde bei den Banken und verlor endgültig seine letzten Illusionen.
Einer der Sachbearbeiter fand ihn sympathisch und erläuterte ihm
die Bankrichtlinien genauer: „Ein Straßenkehrer mit tausend Mark im
Monat erhält eher ein Darlehen als Sie. Sie arbeiten freiberuflich,
sind nicht fest angestellt, nicht in das System eingebunden.“ „Aber
ich arbeite für diese Firma schon zum dritten Mal und besitze eine
Lebensversicherung von über einer Million.“ „Auf ihr Haus ist eine
Versteigerung eingetragen.“ „Die will ich ja gerade abwenden!“ „Tut
mir leid, aber wenn ich Ihnen eine Hypothek einräume, kann ich
morgen meinen Hut nehmen. Mein Vorgesetzter würde auch gar
nicht zustimmen.“ Alex dachte nie an ‚Hätte, Wenn und Aber‘ und
steuerte voll Gegenkurs. Bei den Großbanken also hatte er keinen
Kreditrahmen. Deshalb belastete er das Haus über Bausparkasse
und sogenannten Teilzahl-ungsbanken. Er ging bis zur zulässigen
Belastungsgrenze. Grundbuchein-tragungen waren notwendig. Zwar
hatte er einige Absagen von Institutionen erhalten, die eine
besonders gründliche Kreditprüfung vornehmen. Aber es gab noch
genügend Kredithaie, die nur ihre Provisionen im Auge hatten und
den Institutionen, mit denen sie zusammen arbeiteten, mit den
tollsten Tricks Verträge unterjubelten
Schließlich hatte Alex die Beleihungsgrenze von 80 Prozent des
Verkehrs-wertes voll ausgeschöpft. Mehr Geld hätte er auch bei
einem Verkauf nicht erhalten können. Nun räumte er das Haus,
brachte seinen Sohn wegen der Schule bei seiner Mutter unter,
schickte Frau und Tochter nach Spanien und flog nach Nigeria.
Taten um der Ehre willen nutzten nur Dritten, und ist der Ruf erst
einmal ruiniert, lebt man völlig ungeniert. Über seine persönlichen
Fähigkeiten verfügte er ja nach wie vor, und er wollte sich weder
herumschubsen noch ausbeuten lassen.
Vielmehr beabsichtigte er, seinen Neigungen gemäß zu leben und
seinen Grundsätzen treu zu bleiben.
Die entscheidenden Entwicklungsjahre hatten seine Kinder gut
durchlebt. Die Tochter hatte zwischendurch ausgelernt. Beim Sohn
fehlten leider noch drei Jahre bis zum Abitur. Dennoch dachte Alex,
falls es sie nicht umwirft, ist ein solcher Härtetest ganz heilsam für
die Kinder. Denn die, die immer alles bekommen und ohne Probleme
aufwachsen, sind oftmals die späteren Versager.
Frankfurt
Alex saß Herrn Doktor Scheller gegenüber und packte eine Schenkungsurkunde, zwei Schecks, ein Bündel Aktien und eine Kassette mit
Gold-münzen auf den Schreibtisch zwischen ihnen. Er erzählte von
Neumann – und daß dies eine ‚freiwillige‘ Wiedergutmachung sei.
„Wirklich freiwillig?“ – fragte der Rechtsanwalt, „von einer Straftat
darf ich keine Kenntnis nehmen.“ „Das Gewissen hat ihn geplagt“,
grinste Alex, „ich möchte, daß Sie diese Werte rechtlich einziehen
und verwalten – die Hälfte als meine Entschädigung für mich
aufheben; mit der anderen Hälfte möchte ich eine Stiftung gründen.“
„Was für eine Stiftung?“ – fragte Doktor Scheller interessiert. „Dazu
muß ich ein wenig ausholen und über meine Motive berichten.“ Alex
machte nachdenklich eine Pause und fuhr dann fort:
„Nach meiner Überzeugung konnten wir Deutschen es in unserer
gesamten langen Geschichte nie schaffen, eine freiheitliche
Demokratie als Staats-wesen aufzubauen, in der sich alle Bürger
wohl fühlen können. Eine fundierte Sache kann man nicht einfach
von oben verordnen, die muß sich langsam von unten aus dem
Bewußtsein aller bilden. In den alternativen Kreisen kann ich dazu
gewisse Anfänge ausmachen. Aber solche Bewegungen müssen
auch wehrhaft sein.
Als Idealzustand schwebt mir eine Organisation ähnlich dem
Templerorden aus dem Mittelalter vor. Die Mitglieder mußten damals
als Mutprobe und Eistand einen Löwen mit dem Speer erlegen.
Also keine straffe, von oben gelenkte Organisation, sondern ein
freiwilliger Zusammenschluß von vielen Gleichgesinnten, welche
durch einige gemein-same Grundsätze verbunden sind. Lachen Sie
jetzt bitte nicht: Einen Bund der Gerechten, die Unrecht in keiner
Form dulden, die bösartige Mitmenschen bekämpfen, boykottieren,
isolieren und durch ihr Vorbild der ziellosen Jugend eine Idee und
Ideale geben.
Das muß ein wirklich neuartiger ‚Ritterstand‘ sein. Durch Reden kann
niemand Mitglied werden, nur durch Taten. Alles streng
demokratisch – die Anführer können nur gewählt werden. Wir sind
das Herz Europas, und Europa hat immerhin seine Kultur in die
ganze Welt getragen. Beispiele müssen wir vorleben, damit die
verkommene Parteienmoral durch etwas Besseres abgelöst wird.
Weshalb existiert bei wichtigen Entscheidungen nicht das Instrument
der Volksbefragung. Entweder ist das Volk der Souverän, oder es
herrscht eben eine raffinierte Parteiendiktatur. Überall muß sehr viel
mehr Selbstver-waltung praktiziert werden. Die Fremdbestimmung
nimmt bei uns über-hand. Weshalb erhalten junge Handwerksmeister
und Ingenieure, die einen Betrieb gründen wollen, nicht einfach
100.000 Mark als Darlehen, ohne stapelweise Anträge und
Nachweise auszufüllen beziehungsweise zu erbrin-gen – damit die
meisten Interessenten abgeschreckt werden? Das Diplom oder der
Meisterbrief sind doch Nachweis genug.
Mit diesem Geld hier soll als Anfang ein Betrieb oder ein Bauernhof
gekauft werden. Die Mitglieder erarbeiten sich ihre Anteile und
können sie nur an andere Mitglieder weitergeben. Über eine gewisse
Größe hinaus darf das persönliche Vermögen nicht anwachsen. Aber
alle diese Fragen sollen noch ausführlich diskutiert werden – von
allen gutgeheißen und bei Bedarf auch geändert werden.
Gute Beispiele überzeugen. Es wird viele Menschen geben, die eine
solche Idee unterstützen, wenn man erst einmal sieht, daß sie Erfolg
hat.
Ideen verändern die Welt – und die meisten Menschen geben dem
Guten den Vorzug. Ein Mensch ist nicht frei, wenn er nicht auch
sozial frei ist. Und wer Angst um seinen Arbeitsplatz oder seinen
Lebensstandard hat, lebt faktisch in purer Diktatur. Die menschlichen
Grundbedürfnisse wie ein Dach über dem Kopf oder genügend zu
essen sind relativ leicht zu erfüllen. Der Staat verteilt massenhaft
Geld – aber die meisten Mittel versickern an den falschen Stellen.
Die Mitglieder dieser Organisation sollen immer und bei allem eine
Frage stellen: Nützt es mir, meiner Familie, meinen Freunden,
meinem Volk – genau in dieser Reihenfolge. Dies muß gelten für die
tägliche Arbeit, für den Konsum und auch für utopische
Gedankenspielereien, die Zukunft betreffend.“
„Finden Sie nicht, daß in unserem Staat durch das Grundgesetz
eigentlich genügend organisiert ist?“ – fragte der Rechtsanwalt. „Das
ist ähnlich der amerikanischen Verfassung“, entgegnete Alex, „man
muß sich erst mal fragen, wer das niedergeschrieben hat, was der
Auftrag und was die wirklichen Motive dazu waren. Bei uns suchten
die westlichen Sieger-mächte die sogenannten ‚Grundgesetz-Väter‘
aus und beauftragten sie. Die Fehler, oder sagen wir mal die
Beeinflussung in die falsche Richtung, sind natürlich nicht
offensichtlich – so dumm waren die ja nicht. Nehmen wir die
Verteidigung:
Wozu brauchen wir Angriffswaffen? Einen Angriffskrieg können wir
weder beginnen noch gewinnen. Aber diese unsinnigen Waffen sind
teuer, und somit werden die zur Verfügung stehenden Mittel
eindeutig in die falsche Richtung gelenkt – also vergeudet. Zwei
praktische Beispiele:
Vergleichen Sie den Preis eines Düsenflugzeugs vom Typ Tornado
mit dem eines Kampfhubschraubers. Bei einem Duell gewinnt der
Hubschrauber. Oder ein Panzer und eine Panzerabwehrrakete. Ein
bekannter General rechnete einmal aus, daß bei einem
unwahrscheinlichen Angriff aller 40.000 Ostblockpanzer gegen eine
beweglich gegliederte Bundeswehr mit genügend Abwehrraketen
kein einziger Panzer jemals den Rhein erreichen könnte.
Und wo bleiben unsere Interessen, wenn im Kriegsfall kein deutscher
Politiker oder General etwas zu sagen hat und auch nicht darüber
mitreden kann, ob und wann die auf unserem Boden gelagerten
Atomwaffen eingesetzt werden? Eine demokratische Kontrolle von
unten wäre jedoch ein unbedingtes Muß. Auch dafür möchte ich
Ihnen zwei Beispiele nennen:
Hitler hatte in den ersten Jahren unvorstellbare Erfolge – ab 1942
aber nur noch beinahe unerklärliche Fehler und Pannen. Heutzutage
sind nationale und patriotische Gefühle fast verpönt. Die
Gewerkschaften verbuchten mit ihrem Baukonzern ‚Neue Heimat‘
gewaltige Erfolge. Dann konnten ein paar krumme Typen an der
Spitze ohne faktische Kontrolle schalten und walten – nun werden
die Geldsäcke über gekaufte Politiker die Gewerkschaften mit der
Neufassung des Paragraphen 116 kastrieren.
In dieser Tonart könnte ich tagelang weiter reden. Wir stecken in
einem gewaltigen, stinkenden Sumpf, und die Möglichkeit einer
Reinigung sehe ich nur in einer Demokratie von unten, die diesen
Namen auch verdient. Und es muß eine Rückbesinnung auf die
ureigensten Interessen erfolgen. Viele alte Leute ohne Erben
hinterlassen Häuser und Vermögen der Kirche oder dem Roten
Kreuz. Weshalb nicht auch einem solchen nationalen Bund?
Überall ein paar Häuser, Firmen und Bauernhöfe als Stützpunkte für
ziel- und haltlose Jugendliche, die sonst in die Kriminalität abgleiten.
Alle Stützpunkte selbständig – mit einem gewählten Leiter, nur einer
gemein-samen Satzung und gemeinsamen Idealen verpflichtet – sich
gegenseitig helfend. Mit eigener Zeitung, um die offizielle
Desinformation auszu-schalten. Mit gleichgesinnten Organisationen
soweit wie möglich zusam-menarbeitend. Das wäre so in etwa meine
Utopie.“
„Waren Sie schon mal bei Haferkamp?“ – fragte der alte Herr. Alex
erinnerte sich an das Empfehlungsschreiben und sagte: „Noch nicht
– wollte ich eigentlich heute noch erledigen.“ Doktor Scheller nahm
den Telefonhörer und wählte: „Hallo Haferkamp – hier Scheller. Wie
steht´s? Was macht das Leben und die Liebe?“ Die beiden müssen
sich gut kennen, dachte Alex.
Der Rechtsanwalt lachte leise über die Antwort aus dem Draht und
fuhr fort: „Ich habe hier einen interessanten Mann sitzen – mit dem
müßtest du dich mal unterhalten. Er liegt auf deiner Linie und hat
gerade bei mir eine halbe Million Mark deponiert. Also kein Gerede,
sondern solider Hintergrund.“ Er blickte Alex fragend an. „Wenn
möglich im Laufe des Tages – den Abend möchte ich für mich
freihalten“, sagte dieser, und Doktor Scheller vereinbarte einen
Termin am Nachmittag. „Dieser Neumann muß noch einmal hier im
Büro unter Zeugen die Schenkung bestätigen. Wird das klar gehen?“
Alex grinste: „Da bin ich verdammt sicher.“ Er ließ sich eine Quittung
ausstellen und verabschiedete sich.
Er nahm die S-Bahn, mußte am Hauptbahnhof umsteigen, bummelte
ein wenig umher, kaufte sich einige neue Taschenbücher, aß in
einem Schnellimbiß einen Teller Eintopf und ließ die Hälfte stehen,
weil das Zeug besser gerochen als geschmeckt hatte. Pünktlich fand
er sich bei Hafer-kamps Adresse ein. Es war ein Hinterhof in einer
normalen Wohngegend. Ein Schuppen war zur Hälfte als Werkstatt
ausgebaut, und ein halbes Dutzend Jugendlicher bastelte an Mopeds
oder Motorrädern herum. Die andere Hälfte des Schuppens, mittels
einfacher Bretterwand abgetrennt, war mit Sitzgruppe, einer großen
Turnmatte und Bücherregalen möbliert. In einer Ecke stand ein
einfacher Schreibtisch – dahinter saß ein älterer Mann mit Lesebrille
auf der Nase und lustigen Lachfalten im Gesicht.
Alex hatte Haferkamp gefunden. Er stellte sich vor, und sie fanden
sich gegenseitig sympathisch. Alex erzählte ein wenig aus seinem
Leben, berichtete von seinen Überzeugungen, Standpunkten und
Plänen, und dann war Haferkamp an der Reihe: „Ich beziehe eine
ganz gute Pension“, begann er, „das Haus da vorn, das Grundstück
und der Schuppen gehören mir. Wie die Jugendlichen jeden Tag
mehr vergammeln, konnte ich nicht mehr mit ansehen. Deshalb
richtete ich da vorne die Werkstatt ein. Die, die dort herumbasteln,
haben keine Lehrstelle und keine Arbeit.
Wir kaufen alte Zweiräder, reparieren und verkaufen sie wieder. So
haben die Jungs was zu tun und verdienen ein paar Mark. Das hier
ist unser Vereinsraum. Hier sitzen sie abends, besser als in der
Kneipe. Oft wundere ich mich, warum nicht mehr Rentner sowas
machen.
Al Ula, Oase in der Wüste von Saudi-Arabien.
Endstation der Bagdad-Bahn, der Bau dieser Eisenbahnlinie durch
das deutsche Kaiserreich war einer der Gründe für den Ausbruch
des ersten Weltkrieges.
Ich habe damit eine Aufgabe gefunden, keine Langeweile, und es
macht mir Spaß. Die Jungs kommen mit allen ihren Problemen zu
mir.“ „Haben Sie keine Familie?“ – fragte Alex. „Ich hatte“, erwiderte
Haferkamp ruhig, „meine Eltern, meine Frau und zwei Kinder wurden
bei dem großen Angriff auf Dresden ermordet.“ Die Wortwahl sagte
alles. Dieser Mann nannte die Dinge beim Namen. Seine Familie war
nicht bei einem Luftangriff ums Leben gekommen, wie es sonst
gewöhnlich so verniedlichend heißt, sondern bei einer unsinnigen
und deshalb rätselhaften Massenbombardierung durch englische
Bomber in den letzten Kriegstagen ermordet worden. Einen Soldaten
tötet man – aber Dresden war der größte Einzelmassenmord in der
Geschichte.
„Geheiratet habe ich nie wieder“, fuhr er fort, „aber dennoch kam nie
Langeweile auf. Ich beschäftige mich viel mit der Geschichte – heute
ist noch vieles rätselhaft. Erinnerung lehrt Vorbeugung – Verdrängen
der Probleme hilft nichts. Ich war bei der Canaris-Truppe. Meist
kämpften wir im Rücken des Feindes. Unsere Ausbildung war
erstklassig – dieses eingedrillte kritische Denken wird man nicht
mehr los. Seit ein paar Jahren versuche ich herauszubekommen,
warum in den letzten Kriegsjahren so vieles falsch lief.“
„War
das
nicht
eine
Folge
des
germanischen
Überlegenheitsdenkens?“ – warf Alex ein. „Das ist des Pudels Kern“,
gab der Alte zu. „Ich weiß zuverlässig, daß die Generäle der WaffenSS wußten und das auch sagten, daß sie die Völker in den Weiten
des Ostens nur mit deren Zustimmung beherrschen können.“ „Und
ich dachte, gerade die Waffen-SS sei durch ihre Erfolge beflügelt ein
Verfechter dieser überheblichen Theorie gewesen.“ „Die Legenden
über die SS sind ein besonders düsteres Kapitel“, seufzte der Alte.
Alex bot ihm eine Zigarre an. Beide machten die ersten Züge. Dies
versprach ein richtiges Männergespräch zu werden.
„Ein wenig bin ich informiert“, meinte Alex, „die Waffen-SS und die
Wachmannschaften der KZs waren zwei völlig verschiedene
Organisatio-nen. Himmler verband sie per Federstrich dem Namen
nach.“ „Richtig“, stimmte Haferkamp zu, „und die Sieger nutzten das
weidlich aus. Ein Volk demoralisiert man am besten, indem man
seine
Helden
als
dumme
und
bru-
tale Mörder hinstellt. Nur Generäle der Waffen-SS wagten es, einen
Führerbefehl nicht zu beachten – sogar das Gegenteil zu tun und
Recht zu behalten. Mal sehen, ob ich es noch erlebe, wenn in zehn
Jahren die geheimen Archive der Engländer und der Amerikaner
geöffnet werden, obwohl die ganz brisanten Sachen wohl für immer
begraben wurden.“
Alex hatte Vertrauen gefaßt und erzählte nun dem aufmerksam
lauschenden Haferkamp die ganze Geschichte mit Harris und
Neumann und erläuterte seine Absicht, Harris heute abend einen
Besuch abzustatten. Der Alte holte eine Flasche Cognac und zwei
Schwenker aus den Tiefen seines Schreibtisches und meinte
bedächtig: „Heute ist es zu spät. Falls Harris ein kleiner Gauner ist,
hat er erst mal die Kurve gekratzt, als sein Butler nicht wiederkam.
Sollte mehr dahinter stecken, würdest du in eine Falle laufen.“
Alex hörte ruhig zu. Dieser Mann hatte dem Tod hundertmal in die
Augen gesehen – nur ein Narr beachtet einen guten Rat nicht. Zwar
lag seine aktive Zeit lange hinter ihm, aber sein Geist war noch wach
und klar. „Und welchen Rat würdest du mir geben?“ Unmerklich
waren sie zum ‚Du‘ übergegangen. „Ich will ihn auf keinen Fall
davonkommen lassen. Das würde ich mein Leben lang bedauern.“
Haferkamp grinste und sagte: „Du bist ganz schön rachsüchtig,
was?“ „Das kannst du aber laut sagen. Niemand fügt mir einen
Schaden zu und kommt auf die Dauer davon.“ „Was ein richtiger
Berliner ist“, grinste der Alte, “bezahlt immer seine Rechnungen,
kassiert immer seine Forderungen und fährt nie mit abgefahrenen
Reifen.“ Ernst werdend fuhr er fort: „Zeige mir das Haus von diesem
Harris auf dem Stadtplan. Morgen werde ich es mir ansehen und falls
möglich, kannst du diesen Besuch morgen abend machen. Ein paar
ausgeschlafene Jungs geben dir dann Rückendeckung. Deine
Motorradkumpels mögen ja bei einer Keilerei ganz nützlich sein aber hier ist doch ein wenig mehr nötig. Mein Riecher hat mich
bislang selten getäuscht.“
Alex rief Brigitte an: „Hast du heute abend Zeit für mich?“ „Welche
Frage – für dich habe ich immer Zeit.“ Sie neckten sich noch etwas,
und Alex gab ihr die Adresse durch. Brigitte versprach, ihn
abzuholen.
Er besah sich die Bücher in den Regalen: Alles Themen aus
Geschichte und Politik – kein Schund oder Kitsch darunter.
Haferkamp ging ab und zu nach vorn in die Werkstatt, wenn einer
der Bastler mit einem Problem nicht zu Rande kam. Zwischendurch
tranken sie ein paar Tassen Kaffee und warfen sich Ideen und
Argumente wie Bälle zu.
Nach 18.00 Uhr wurde es in der Werkstatt ruhig. Dafür aber füllte
sich ihr Raum. Zwei trainierten auf der Matte Judogriffe, andere
diskutierten lebhaft. Drei hatten sich in einer Ecke zum Lesen
zurückgezogen – gegen den Lärm mit Kopfhörern abgeschirmt.
Haferkamp stellte ihm nacheinander drei junge Männer vor, jeweils
knapp über zwanzig, an die er seine Kommando-erfahrungen
weitergegeben hatte. „Manchmal mache ich das, wenn mir einer
zusagt und ich sicher bin, daß er die Kenntnisse nicht mißbraucht.
Nicht genutztes Wissen und brachliegende Fähigkeiten sind wie Verschwendung – eine Sünde gegen die Natur“, kommentierte er seine
Einstellung.
Brigitte erschien. Sie erregte interessierende Aufmerksamkeit und
anerken-nende Blicke. In ihrem Kostüm aus Alcantara in den
Herbstfarben sah sie entzückend aus. Alex küßte sie und flüsterte ihr
ins Ohr: „Du siehst wieder aus heute..., gleich wirst du vergewaltigt.“
Sie lachte und flüsterte zurück: „Nur keine Feigheit vor dem Feind,
junger Mann.“
Ein paar Mädchen, Freundinnen der Jungs, waren auch gekommen.
Alex unterhielt sich mit verschiedenen Gruppen – allen war eine
große Zufrieden-heit über Haferkamp und ihren Verein gemeinsam.
Gegenseitige Hilfe und Unterstützung, ein Leben in Harmonie und
Freundschaft war für sie das Wichtigste. Streitfälle wurden von einem
Freundschaftsgericht geschlichtet – die schlimmste Strafe war
Ausschluß aus der Gemeinschaft. Jedes neue Mitglied hatte für den
Verein etwas besonderes zu vollbringen. So etwas überall im Lande,
dachte
Alex,
und
dann
weiterentwickeln;
übergreifende
Zusammenarbeit immer auf der Grundlage der Basisdemokratie und
der Selbständigkeit der einzelnen Gruppen. Haferkamp hatte sich ein
Denkmal gesetzt. Er hatte Geld, Zeit und Ideen eingesetzt und
erntete Liebe, Freundschaft und Dankbarkeit. Ein kluger Mann,
entschied Alex, und ein glücklicher Mann dazu.
Sie gingen erst nach zehn. Während Brigitte ihren Wagen in die
Hauptstraße einlenkte, bemerkte sie: „Wie hast du diesen
interessanten Verein aufgetan? Der alte Haferkamp ist ungewöhnlich
belesen und kann sich über jedes Thema unterhalten.“ „Man trifft
überall Menschen“, antwortete Alex, „mit denen sich ein Kontakt
lohnt. Mir tun immer die Leute leid, die sich aus geschäftlichen
Gründen mit ätzenden Typen abgeben müssen. Lieber möchte ich
weniger haben und verdienen, wenn ich dafür jemandem sagen
kann: Verpiß dich, du stinkst mir. Sowas kann ein richtiger innerer
Reichsparteitag sein.“ Brigitte sah ihn überrascht an: „Ich glaube fast,
du wärst dazu imstande.“ „Na klar“, grinste Alex, „fahr mal in die
Allee dahinten, ich muß mal.“
Es war eine ruhige Villengegend. Mächtige alte Bäume bildeten über
der Straße ein Dach. Brigitte parkte im Schatten, stellte den Motor ab
und das Radio leiser. Alex zog sie an sich. „Ich denke“, begann
Brigitte. Alex unterbrach sie: „Ich meine, ich muß mal... dich erst
richtig begrüßen“, vergrub sich in ihre Lippen und schob seine rechte
Hand unter ihren Rock. Sie lehnte sich in seinen Arm zurück,
rutschte mit ihrem Hintern nach vorn und spreizte die Beine.
Während er sie gründlich und mit Genuß küßte, und ihr Atem immer
schwerer wurde
Er löste sich langsam von ihren Lippen und murmelte: „Wir fahren
besser zu mir – da haben wir ein breites Bett.“ „Mach weiter“, bettelte
sie, und als er keine Anstalten machte, zog sie seinen Reißverschluß
herunter und beugte sich über seinen Schoß. Die ist ja ganz
entfesselt, dachte Alex, wenn uns hier ein Rentner sieht, der seinen
Dackel Gassi führt, dann gibt es Ärger. Aber es war viel zu schön,
um Einspruch zu erheben. Nach einer Weile hob sie lächelnd den
Kopf und fragte triumphierend: „Na, machst du jetzt weiter?“ „Wird
mir wohl nichts anderes übrig bleiben“, grinste er schwach, klappte
den Sitz nach hinten und zog sie über sich. Es wurde eine richtig
tolle Autonummer – mit der zusätzlichen Würze der Gefahr der
Entdeckung. Schließlich suchte sie Slip und BH zusammen und
eröffnete ihm, sie habe Hunger. In Sachsenhausen fanden sie ein
kleines, gemütliches Lokal. Dort bekamen sie noch je zwei gebratene
Fleischspieße. Dazu tranken sie einen milden Rotwein. Nach einer
Stunde waren sie satt und zufrieden und hatten sich gegenseitig
wieder aufgeheizt.
Sie fuhren in sein Hotel und setzten ihre Gymnastik fort, bis sie
erfüllt, ineinander verschlungen einschliefen.
Diesmal frühstückten sie wieder zusammen. „Die werden mir
sicherlich ein Doppelzimmer berechnen“, befürchtete Alex, „aber was
soll´s , so ist das Leben.“ Nachdem sie gegangen war, las er in Ruhe
die Tageszeitung. Später ließ er sich ein Telefon bringen, um
Neumann anzurufen. Er erreichte ihn in der Bank. Scheinbar hielt er
Arbeit für eine gute Therapie gegen den erlittenen Schock. Als er
Alex erkannte, begann er zu stottern. Alex bestellte ihn zu Doktor
Scheller und befahl ihm, einen Computerausdruck aller von Harris
gelieferten Namen und Adressen mitzubringen.
Neumann versprach alles hoch und heilig – wenn er nur in Zukunft
seine Ruhe haben würde. Daß Neumann so einfach sein Geld
verschmerzte, wollte Alex nicht so recht einleuchten. Doch die Aktien
und die Münzsammlung umfaßten drei Viertel von Neumanns
Vermögen. Die Schecks, die er eventuell noch hätte sperren können,
machte nur ein Viertel aus.
Alex ging zur Zeitung, wo er diesmal einen ganzen Stapel von
Zuschriften abholen konnte. Dann begab er sich zurück ins Hotel,
setzte sich an einen Fensterplatz, las die Briefe und vereinbarte
telefonisch Termine für das Wochenende. Mittags aß er eine
Kleinigkeit, machte einen langen Spaziergang und kaufte sich ein
Wurfmesser. Zurück im Hotel bastelte er sich eine spezielle Scheide
für den Unterarm. Sich einen Ballermann zu besorgen, wäre ihm zu
gefährlich gewesen. Aber ganz ohne Waffe wollte er beim nächsten
Mal doch nicht sein.
Er rief Haferkamp an – sie hatten sich auf einen normalen
Geschäftston verständigt. „Mit der Besprechung heute abend ist alles
klar“, tönte die ruhige Stimme des Alten aus dem Hörer, „der
Vertragspartner ist allein. Drei neutrale Zeugen stehen zur
Verfügung. Ich würde 20.00 Uhr vorschlagen. Geht das klar?“ Alex
sagte zu. Also war Harris doch zu Hause und allein. Der gewählte
Zeitpunkt war einleuchtend: Um 20.00 Uhr saßen die meisten Leute
vor dem Fernseher, und falls doch etwas schiefgehen sollte, würde
er irgendwo in der Umgebung drei Helfer haben.
Er war nervös – das würde sich erst kurz vorher geben. Alex mußte
noch gut drei Stunden überbrücken. Lesen oder ins Kino, überlegte
er, entschied sich für einen Western und dachte lächelnd an die
Mutprobe aus seiner Jugendzeit. Wobei er sich nachts einmal in den
Wald geschlichen und auf dem Bellen der Füchse und dem Röhren
der Hirsche gelauscht hatte. Wenn er zuvor gruselige Krimis gelesen
hatte, raste sein Herz, und er konnte nur mit Mühe seine Furcht
unterdrücken. Las er dagegen Trapper- und Western-geschichten,
machten ihm weder die Dunkelheit noch die vielen Geräusche etwas
aus.
Er hatte sich überlegt, ob er sich für dieses Unternehmen einen
Wagen besorgen sollte. Aber damit mußte man sich an Straßen
halten, und die waren leicht zu sperren. Zu Fuß würde er viel
beweglicher sein – immerhin war er trotz seiner 43 Jahre gut in
Form. Er genoß den Film und entspannte sich. Später nahm er die SBahn, fuhr nach Bad Homburg, ging durch den Kurpark und die
lange Steigung den Hügel hinauf. Vor Harris´ Tür angekommen,
öffnete er ohne Zögern oder Umsehen die Gartentür, ging zur
Haustür und klingelte. Wenn Alex sich zu etwas entschlossen hatte,
führte er es stets ohne Zaudern aus.
Harris öffnete die Tür halb und setzte einen fragenden
Gesichtsausdruck auf. Alex ließ ihn gar nicht erst zu Wort kommen
und sagte: „Ich habe Nachricht von Ihrem Butler – lassen Sie uns
drinnen reden.“ Er drückte nun die Tür weiter auf und trat auf Harris
zu. Während dieser die Worte zu verarbeiten suchte, trat er
automatisch zurück. Alex schloß lässig die Tür, drehte sich um und
schlug wie der Blitz einen krachenden Haken auf das ungeschützte
Kinn von Harris. Der war ein wenig kleiner als Alex, etwa 130 Pfund
schwer. Hinter diesem Hieb steckten 180 Pfund, starke Knochen,
eiserne Muskeln und lange aufgestauter Grimm.
Harris flog wie ein Bündel Lumpen ein paar Meter zurück und blieb
mitten im Raum liegen. Alex sah sich um: Der Raum war mit einer
Sitzgruppe, einer Eßecke und Stichen an den Wänden im englischen
Stil eingerichtet. Die Möblierung bestand aus dunkelrot gebeizten
Antiquitäten. Er schaute schnell in die anderen Räume. Ein
Arbeitszimmer mit Schreibtisch, Regalen, Telex und Telefon.
Eine Küche und über einer schmiedeeisernen Wendeltreppe zwei
einfache Schlafzimmer unter dem ausgebauten Satteldach, jedes mit
einem eigenen Bad. Von der Küche aus führte eine Tür direkt in die
Garage.
Alex setzte sich in einen Sessel, steckte sich eine seiner schlanken
Zigarren an und wartete ab. Die Zigarre hatte er zur Hälfte geraucht,
als Harris sich zu regen begann. Er setzte sich langsam auf, hielt
seinen Kopf mit beiden Händen – langsam wurde sein
verschwommener Blick klarer. Keine Furcht und jede Menge
Selbstbeherrschung, dachte Alex, beugte sich vor und drückte seine
glühende Zigarre auf Harris´ Handrücken. Einen Moment lang
geschah gar nichts – dann riß Harris seine Hand weg und stieß einen
erschreckten Schmerzensschrei aus.
„Erzähle, du Kretin“, forderte Alex. So war Harris bestimmt noch nie
behandelt worden. Das mußte ihn schocken, ebenso wie die
Ungewißheit, was der andere schon wußte, die Schutzmauer des
Selbstbewußtseins aus Macht und Einfluß einreißend. Er zog an
seiner Zigarre. „Rede“, forderte er nochmals auf, hielt Harris die
Zigarre vors Gesicht und drohte: „Eine einzige Lüge – und du Kretin
verlierst ein Auge.“ Harris´ Gesicht wurde grau. „Was, warum,
weshalb, wer sind Sie?“ – stammelte er.
Es war noch nicht genug, dachte Alex, legte seine Zigarre weg,
packte Harris, schleppte ihn ins Arbeitszimmer, riß ihm die Kleider
herunter und fesselte ihn mit Klebestreifen an seinen
Schreibtischsessel. Gegen Alex war er hilflos wie ein kleines Kind.
Durch die fehlenden Kleider, ohne jeden gefühlsmäßigen Schutz,
brach er schließlich vollends zusammen.
Innerhalb einer Stunde erfuhr Alex eine erstaunliche Geschichte:
Harris war Einflußagent und der festen Überzeugung, einer guten
Sache zu dienen. Er war in Amerika geboren, hatte Geschichte
studiert und war nach seinem Examen von seinem Professor
angeworben worden. Diese Anwerbung empfand er immer noch als
Auszeichnung. Er hatte dieses Haus erhalten und bekam über sein
Konto die notwendigen finanziellen Mittel, ohne seine Anforderungen
begründen zu müssen; setzte aber seinen Stolz darauf, so wenig wie
möglich zu verbrauchen.
Seine Aufgabe bestand darin, nationalistische Tendenzen
aufzuspüren und zu bekämpfen. Er unterhielt Kontakte zu
Personalchefs
großer
Firmen,
zu
Unternehmensberatern,
Auskunfteien, Zeitungsredaktionen, zu Film und Fernsehen.
Langsam wurden Alex die Ausmaße und Verästelungen dieser Krake
klar. Ihre Fangarme hatten sich über das ganze Land gelegt. Wieviel
Schaden und Leid er verursacht hatte, wird sich wohl nie ganz
ermitteln lassen, dachte er, während eine mörderische Wut in ihm
aufstieg. Harris hatte wohl in seinem Gesicht gelesen, denn er fuhr
fieberhaft fort, seine Taten zu begründen.
Es sei die reine Notwehr, ein neues nationalistisches Deutschland zu
verhindern, man müsse den Anfängen wehren. Gerade bei den
Deutschen sei besondere Wachsamkeit geboten; durch die nationale
Politik im 3.Reich hätte die internationale Politmafia eine einmalige
Machtbasis in Europa verloren. Zweimal brauchte die Welt ein halbes
Jahrzehnt, um Deutschland niederzukämpfen. Dennoch hätten die
Deutschen sich nach jeder Niederlage rasch erholt.
Immer mehr enthüllte sich das diabolische Netzwerk. Einige Leute an
den richtigen Stellen, und bestimmte Firmen erhielten keine Kredite,
Lieferanten keine Aufträge, Bewerber nur Ablehnungen. Namen
wurden in Computer eingegeben, von anderen Computern
übernommen samt den zugefügten Bewertungen – solide Firmen
hatten plötzlich einen wackeligen Ruf, untadelige Menschen
Vorstrafen. Filme und Reportagen wurden nicht gefördert oder sogar
untersagt und blockiert. Die genehme Richtung wurde unterstützt –
unmerklich und subtil. Oft genügten einige passende Bemerkungen
im richtigen Kreis – Finanzbeteiligungen wurden erwähnt. Leute in
einflußreichen Stellungen, die Karrieren beeinflussen konnten. Das
Konzept war alt, erprobt und erfolgreich. Eine Manipulation greift erst
dann richtig, wenn die Manipulation nicht bemerkt wird.
„Wo sind die Unterlagen?“ – fragte Alex, „Namenslisten,
Beschreibungen durchgeführter Aktionen, Kontaktleute – der ganze
Kram?“ „Ich verfüge lediglich über ein Telefonbuch, alles andere
befindet sich in meinem Kopf.“ Harris hatte sich anscheinend wieder
gefaßt. Alex ließ ihn nicht aus den Augen und zündete sich eine
neue Zigarre an.
Die stillschweigende Drohung wirkte mehr als jedes Wort.
Schweißperlen rannen über Harris´ Gesicht. „Wer sind Sie, und was
ist mit Joe geschehen?“ – versuchte Harris abzulenken. „Ein Zufall“,
gab Alex zu, „ich hatte mal einen Streit im D-Zug über das
Palästinenserproblem mit dir, und dann verschwand ein Scheck von
einem arabischen Geschäftsfreund. Vor ein paar Tagen sah ich dich
und Neumann zusammen. Und dieser Joe, dein Butler, hatte mich
bemerkt, als ich dir folgte. Er wurde von einem Auto überfahren, und
ich konnte rechtzeitig seine Papiere verschwinden lassen. Deshalb
rätselt die Verkehrspolizei immer noch, wer er ist.“
Alex wußte selber nicht, warum er diese Version erzählte. Harris
hakte sofort ein: „Ich erinnere mich. Ihren Namen setzte ich damals
nach dem Streit im Zug auf meine Liste. Joe befand sich im
Nebenabteil und fand Ihre Adresse heraus. Ihr Kontakt nach
Jordanien kam uns gerade recht. Wir brauchten damals ohnehin
Deckung für einen Agenten und brauchten der arabischen
Geheimpolizei lediglich einen Sündenbock zu manipulieren. Aber wir
können uns heute einigen. Ich ersetze Ihnen den entstandenen
Schaden – immerhin gehören Sie keiner Organisation an und wollen
nur persönliche Genugtuung. Ich besitze viel Einfluß, Geld, einen
guten Posten und eine Villa im Süden. Sie können alles haben.
Alex glaubte ihm kein Wort. „Wie willst du den Schaden wieder gutmachen, eine runde halbe Million bezahlen und meinen Namen in
den Dateien von den negativen Eintragungen befreien?“ Zur
zusätzlichen Demütigung duzte Alex Harris absichtlich. Der
erwiderte: „Eine Berichtigung kann ich in einem halben Dutzend
Computern bei Banken, Auskunfteien und großen Firmen schon
nächste Woche veranlassen. Die Weitergabe dieser Informationen
läuft dann automatisch ab, weil sich kleine Datenbanken ihre
Informationen von den großen holen. Bis der Prozeß jedoch rundum
abgeschlossen ist, können Jahre vergehen. Dabei spielt die
menschliche Trägheit oder Nachlässigkeit eine große Rolle. Das
sehen Sie doch ein, oder?“
„Und wie sieht es mit der Knete aus?“ Harris sah ihn verständnislos
an. Diesen Ausdruck kannte er bis dahin noch nicht. Er begriff erst,
als Alex Daumen und Zeigefinger im international bekannten
Geldzeichen rieb.
Hoffnungsvoll und eifrig sagte er: „Dies ist das kleinste Problem. Aus
bestimmten Gründen muß ich immer eine größere Menge Bargeld im
Haus haben. Schieben Sie die dritte Wandvertäfelung dort am
Fenster zur Seite.“ Alex schob die Füllung nach rechts, und eine
Mauernische wurde sichtbar – vollgepackt mit Bündeln von
Banknoten. „Wieso hast du weder Tresor noch besondere
Sicherungen?“ – fragte er. „Tarnung und Unauffälligkeit sind der
beste Schutz“, erwiderte Harris und fuhr fort: „Wird ein Tresor oder
eine Alarmanlage gekauft, dann offenbart man damit zu schützende
Werte. Einbrecher könnten Wind bekommen – die haben ihre
Informanten doch überall.“
Alex glaubte nicht, daß eine derart raffiniert konzipierte und geführte
Organisation sich nicht auch ein paar tödliche Überraschungen für
Zufallsdiebe ausdenken würde – oder für den Fall der Entdeckung.
Er nahm ein Lineal vom Schreibtisch und kippte damit die
Geldbündel aus dem Mauerloch auf den Boden. Nur einige leise
Geräusche waren zu vernehmen, und plötzlich waren die linke
Nischenwand und das Holzlineal mit kleinen Nadeln gespickt.
Lächelnd drehte sich Alex zu dem nackten, gefesselten Harris um,
der plötzlich von einem unkontrollierten Zittern befallen wurde.
„Soll ich an dir ausprobieren, wie schnell das Gift dieser Nadeln
wirkt?“ – fragte Alex - und dann sinnierte er. Wo versteckt man ein
Buch mit Notizen und Adressen. Natürlich unter anderen Büchern. Er
sah die Regale entlang. An einer Stelle war der Platz zwischen
Buchrücken und Bodenvorderkante staubfrei und glattgescheuert.
Als er dort ein paar Bände hervorzog, stieß Harris ein ersticktes
Keuchen aus. Von der Tür her erklang eine Stimme: „Das reicht jetzt,
Freundchen.“
Alex sah aus den Augenwinkeln eine schlanke Gestalt – in der
rechten Hand die Waffe mit dem dicken Schalldämpfer. Das war eine
tödliche Botschaft – über einen plötzlichen und lautlosen Tod. Aus
der Drehung schleuderte er die Bücher gegen den Mann und trat
gleichzeitig einen Schritt zur Seite. So entging er knapp der in
automatischer Reaktion abgefeuerten Kugel. Mit einer fließenden
Bewegung zog er das Wurfmesser aus der Unterarmscheide und
schleuderte es in flachem Bogen auf den Gegner.
Die Bücher polterten zu Boden, der Revolver entglitt einer
erschlaffenden Hand. Dann fuhren beide Hände nach oben und
umkrampften das Heft des schweren Wurfmessers, welches aus der
Kehle der schlanken Gestalt ragte. Diese machte zwei taumelnde
Schritte in den Raum hinein. Die Augen quollen hervor, und dann
stürzte sie mit krachendem Geräusch zu Boden. Alex eilte auf die
Gestalt zu, hob den Revolver auf und glitt leise in den Nebenraum.
Er hatte nur überlebt, weil er unterschätzt worden war.
Eine teuflische Falle – mit Harris als Köder. Das Geld – alles nur, um
herauszubekommen, wer er war, und welche Motive ihn antrieben.
Sie wußten über den Butler Bescheid und hatten ihn erwartet. Die
Haustür war geschlossen. Zusätzlich legte Alex die Kette vor und
warf dann einen Blick in die Küche. Die Tür zur Garage war nur
angelehnt. Er schob sie vorsichtig auf und hörte ein keuchendes
Atmen direkt neben sich. Aber da war niemand – doch – ein kleiner
Lautsprecher! Von hier aus hatte der Mann mit dem Revolver ihre
Unterhaltung belauscht und den passenden Zeitpunkt für sein
Eingreifen abgewartet.
An der Garagenlängsseite befand sich noch eine Tür. Alex dachte
nach: Die Garage lag an der Grundstücksgrenze. Also konnte man
vom Nachbar-grundstück aus unbemerkt zu Harris ins Haus und
wieder weg. Sollte er herausfinden, ob im Nebenraum jemand den
Erfolg der Falle abwartete? Gefährlich, denn falls ja, hatten sie
bestimmt Erkennungssignale vereinbart. Noch gefährlicher, eine
solche Gefahr nicht zu beachten – bei den Infrarot-Zielfernrohren
heutzutage.
Er öffnete leise die Seitentür und trat hinaus. Die Garagenwand lag
im Schatten hoher Büsche. „Alex“, wisperte eine Stimme. Er stand
still. Jochen kam hinter einem Busch hervor. Er war einer der drei
Spezialisten aus Haferkamps Trickkiste, trug einen schwarzen
Overall und winkte. Hinter dem Busch lag eine stille Gestalt. „Der
wollte vor einigen Minuten von hier in die Garage“, flüsterte Jochen,
„und ich dachte mir, der würde dich sicher stören.“ „Weißt du, ob es
davon noch mehr gibt?“ – fragte Alex leise. „Hier draußen nicht.
Einer von uns durchsucht gerade das Haus hier nebenan. Was war
drinnen los? Ist alles klar?“ Alex antwortete nicht, lauschte
stattdessen in die Runde – mehr mit dem Gefühl als mit den Ohren.
Der Lärm der Stadt
drang als ein unbestimmtes Summen herüber. Einige Straßen weiter
dröhnte ein Sportwagen, und irgendwo in einem Nachbarhaus
ertönte leise Klassische Musik.
„Wenn das Haus sauber ist, laß einen als Wache draußen und komm
mit den anderen rein. Es gibt Arbeit. Aber vergiß nicht, diesen Typ
hier gut einzupacken. Und such sein Auto.“ Nachdem er dies gesagt
hatte, wurde Alex erst bewußt, daß er immer noch den Revolver in
der Hand hielt. Er hob ihn hoch und zeigte ihn Jochen. „Beutestück“,
bemerkte er lakonisch und ging wieder ins Haus zurück. Komisch,
dachte er, Harris gab keinen Mucks von sich. Als er ins
Arbeitszimmer trat, sah er den Grund: Der lehnte schief
zusammengesunken in seinem Sessel – nur von den Fesseln
gehalten. Alex horchte nach dem Herzschlag und fühlte den Puls.
Harris hatte sich davongemacht. Es war eben doch etwas anderes,
mit Folter und plötzlichem Tod konfrontiert zu werden – oder als
Spinne im Netz die Fäden zu ziehen. Im Lautsprecher vorhin hatte
Alex seine letzten Atemzüge gehört. Möglicherweise glaubte er sogar
an seine Mission, dachte Alex und löste die Armfesseln; oft sind
Idealisten die größten Verbrecher.
Er zog sein Wurfmesser aus der Kehle der namenlosen Gestalt,
reinigte es in der Küche und steckte es zurück in die Scheide. Dann
sammelte er vorsichtig die vergifteten Nadeln in eine Schachtel und
verstaute sie mit den Geldbündeln in einen leeren Aktenkoffer mit
Zahlenschloß. Er stellte eigene Zahlen ein und verschloß ihn. Im
Wandschrank fand er einen modernen Hartschalenkoffer und
begann, schriftliche Unterlagen einzupacken, als Jochen mit Heinz
hereinkam. Peter hatten sie als Wache draußen gelassen. Sie sahen
sich mit schmalen Augen um und anschließend Alex fragend an: „Wir
haben jetzt ein wenig Zeit“, sagte der, „bei Haferkamp erzähle ich
euch alles ausführlich.“ Nach einem kurzen Abriß in Stichworten
meinte er dann drängend: „Tragt den Alten nach oben ins Bett, als ob
er ganz natürlich gestorben sei. Diesen hier“, er deutete auf die
Gestalt am Boden, „packt ihr mit dem anderen in ihr Auto. Ihr habt es
doch gefunden?“ – und als Jochen nickte, „den Toten in den
Kofferraum und den Bewußtlosen auf den Sitz. Einer von euch stellt
den Wagen in der Nähe der Spielbank ab. Wir lesen ihn dann auf.
Ich packe derweil die Unterlagen ein - das ist das Allerwichtigste.“
Jochen grinste grimmig und sagte: „Daß wir hier dabei sein können,
werden wir dir nie vergessen.“
Die beiden gingen an die Arbeit. Der Koffer füllte sich zusehends.
Alex nahm lieber zuviel als zuwenig mit – sortieren konnten sie
später. Die Gestalt auf dem Boden wurde einfach in den großen
Teppich eingerollt, auf dem sie lag – damit erledigte sich auch das
Problem mit der Blutlache. Nach zwanzig Minuten war es soweit: Die
Leichen verstaut – der Bewußtlose hatte sich zu regen begonnen
und noch einen Klaps zum erneuten Einschlafen bekommen. Alex
hatte seine Zigarrenstummel in der Toilette herunter gespült und
stand nun mit Jochen hinter der Haustür.
„Jetzt kommen ein paar gemeine Minuten“, sagte er zu Jochen, „ich
möchte nicht gerade jetzt als Einbrecher festgenommen werden.“
Peter war schon mit seiner makabren Fracht losgefahren – Heinz
sollte in zwei Minuten mit seinem Wagen vor der Tür halten. Sie
hörten das Auto, öffneten die Tür und gingen ruhig los. Jochen
schleppte schwer an dem großen Koffer. Alex zog die Haustür ins
Schloß. Er trug nur den Aktenkoffer und sah sich auf der Straße
aufmerksam um: Alles ruhig, niemand zu sehen.
Sie stiegen lässig ein und fuhren los. Es war noch nicht einmal 23.00
Uhr. An der Tennisbar stieg Peter zu ihnen ein. „Wo ist der Wagen?“
– fragte Alex, „ich möchte mir das Gesicht des Bewußtlosen
einprägen.“ „Ein Stück weiter unter den Bäumen; ich zeige es euch“,
erwiderte Peter ruhig.
Alex stieg aus, ging zu dem Auto und öffnete die Tür. Der Mann lag
wie schlafend im Sitz. Er nahm die Schachtel aus der Hosentasche
und nahm aus dieser vorsichtig eine Nadel. Die drückte er dem Mann
in den Unterarm: Keine Reaktion in dem knochigen nichtssagenden
Gesicht. Und doch – etwas war anders. Er konzentrierte sich: Kein
Atem mehr – ein teuflisches Zeug. Alex verspürte keinerlei
Gewissensbisse. Besser dieser Mörder war tot, als eines Tages
seine drei neuen Freunde oder Haferkamp. Der Mann hatte
möglicherweise Jochen gesehen, und Frankfurt war in dieser Beziehung ein Dorf.
Sie fuhren zu ihrem Vereinsschuppen. Haferkamp war allein und
hatte wie auf glühenden Kohlen sitzend auf sie gewartet. Er atmete
erleichtert auf, als sie grinsend hereinkamen.
„Erst mal ein Glas für jeden, und einen kräftigen Schluck auf unseren
Erfolg“, verlangte Alex. Haferkamp stellte Gläser auf den Tisch, goß
ein, und sie tranken schweigend. Alex begann seinen Bericht. Schon
nach wenigen Augenblicken vergaßen die anderen ihre Gläser und
hörten gebannt zu. Haferkamp wurde immer aufgeregter und
rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
„Das ist ein Ding“, murmelte er immer wieder. Als Alex seinen Bericht
beendet hatte, dachten alle eine Weile ruhig über die Konsequenzen
nach. Denn es war jedem klar, daß die ganze Sache jetzt erst richtig
begann. Alex nahm den Faden wieder auf: „Wir Deutschen sind
bekannt für unsere Gründlichkeit. Ich persönlich mag auch keine
halben Sachen. Die Frage ist, was nun?“ Er sah Haferkamp an. „Du
bist der General und wir die Mannschaft. Also, wie kann es weiter
gehen?“ Haferkamp sah nun alle der Reihe nach an und meinte: „Nur
nichts überstürzen. Ich werde heute Nacht die Unterlagen
durchsehen, die ihr mitgebracht habt. Und dann überschlafen wir die
ganze Sache. Erst die Fakten – dann einen Plan – ganz in Ruhe,
ohne Streß.“
Er wandte sich an Alex, faßte in die Brusttasche, zog ein Foto heraus
und reichte es ihm mit den Worten: „Dein Name kommt mir bekannt
vor. Kennst du jemanden auf dem Bild?“ Alex sah die drei Männer in
Uniform an einem Tisch auf Holzbänken sitzend. Hinter einem
sanften Abhang lag ein breiter Fluß im Hintergrund. Über solche
Dinge wunderte er sich schon lange nicht mehr. „Das gleiche Foto
habe ich zu Hause in meinem Familienalbum. Der Fluß ist die
Memel, und der Mann links ist mein Vater. Es sieht aus, als bist du
der Mann in der Mitte“, stellte Alex fest, und Haferkamp holte tief
Luft.
„Dein Vater war mein Freund. Wir retteten uns gegenseitig das
Leben. Lebt er noch?“ Alex schaute den Alten neugierig an und
erwiderte: „Er fiel 1944 in Kurland. Nächstes Mal kann ich dir seinen
Wehrpaß mitbringen. Möglicherweise kennst du den Ort – ich fand
ihn noch auf keiner Karte. Aber wie habt ihr euch getroffen? Soweit
ich weiß, war mein Vater Kurier – und du warst doch bei den
Brandenburgern?“
Der Alte schenkte nach, trank einen Schluck und wiegte zweifelnd
den Kopf: „Ich weiß es selbst nicht. Dein Vater war Kurier wegen
seiner seltenen Begabung, sich überall zurecht zu finden. Oft wurde
ausdrücklich nur er angefordert. Ich war mit meinen Kameraden
meist in russischen Uniformen hinter den Feindlichen Linien
unterwegs. Wir schickten Truppen in die falschen Richtungen,
sprengten Munitions- und Benzindepots in die Luft – lauter solche
Sachen. Das erste Mal sah ich deinen Vater, als ein paar Partisanen
ihn mir ablieferten.“
Die anderen hatten dieser seltsamen Geschichte erstaunt zugehört.
Alex unterbrach fragend: „Wie denn das?“ – worauf die Antwort kam:
„Ich war als russischer Offizier verkleidet und schickte an einer
Straßenkreuzung ein rundes Dutzend Russenpanzer direkt vor die
Rohre einer 8,8-Batterie, als ungefähr sechs Partisanen deinen Vater
heranschleppten. Er war reichlich ramponiert und grinste trotzdem.
Sie hatten aus dem Hinterhalt sein Motorrad zerschossen und ihn
überwältigt. Zuvor hatte er noch mit Handgranaten, Pistole und
Messer beinahe ein Dutzend von ihnen erledigt. Für gefangen
genommene Kuriere gab es hohe Belohnungen. Die mußten aber in
gutem Zustand dem nächsten russischen Offizier zur Vernehmung
übergeben werden.
Als wir später allein waren, gab ich mich natürlich zu erkennen.
Deinem Vater zeigte ich einen sicheren Weg nach Hause. Einige
Wochen später überfielen wir mit rund dreißig Mann ein
Armeehauptquartier. Die aber hatten mehr Wachmannschaften als
gemeldet, und so blieben von uns nur drei Mann übrig. Alle
verwundet. Natürlich wurden wir gleich an die Wand gestellt. Die
Russen waren auch nur noch zwölf Mann – zum Erschießen hätte es
aber allemal gelangt. Dein Vater befand sich mal wieder auf einem
seiner Schleichgänge, hatte den Lärm gehört und rechtzeitig mit
seinem leichten MG dazwischen gehalten. Damals herrschte ein
gewaltiges Durch-einander von Menschen, Material und Frontlinien –
aber wir trafen uns immer wieder. Und nun treffe ich auf den Sohn
dieses Teufelskerls!“ – sagte der alte Haferkamp mit Bewegung in
der Stimme.
„Das war heute ein denkwürdiger Tag“, meinte Jochen zu Alex
gewandt, „mich wirst du so schnell nicht wieder los. In deiner Nähe
kann man was er-
leben.“ Alle lachten. Alex hob den Aktenkoffer hoch und stellte die
Zahlenkombination ein mit den Worten: „Hier noch was für´s
angenehme Träumen. Die Hälfte dieser Beute gehört euch.“ Er
kippte den Inhalt auf die Tischplatte und meinte dabei: „Aber Vorsicht
– möglicherweise steckt irgendwo dazwischen noch eine dieser
Giftnadeln.“
Die Umstehenden bekamen große Augen, sortierten und zählten
gemeinsam die Scheine und Alex bestimmte: „Das Geld soll
Haferkamp in Verwaltung nehmen. Er soll auch bestimmen, wieviel
jeder auf einmal erhält und ausgeben kann; denn er kennt euch
besser. Ihr könnt euch selbständig machen oder ein Haus kaufen.
Auf jeden Fall aber müßt ihr bei eventuellen Nachfragen über die
Herkunft der Scheine glaubhafte Argumentationen auf Lager haben.
Haferkamp wird’s schon mit euch regeln.“
Seine Hälfte warf Alex wieder in den Koffer, welchen er dann
verschloß. Insgesamt bestand die Beute aus rund 800.000 Mark in
Dollar-, Pfund- und DM-Scheinen. In den folgenden Wochen würden
sie über diesen merkwürdigen Abend noch oft reden – jedes
Argument dabei drehen, wenden und abklopfen. Dadurch würden sie
Fehler entdecken, künftige Fallen vermeiden und die gesamte
Situation seelisch bewältigen.
Alex sinnierte: Weshalb hatte der Vietnamkrieg bei den jungen
amerikanischen Soldaten derart verheerende Wirkung hinterlassen?
Im Urlaub oder am Ende der Dienstzeit stopfte man sie in ein
Flugzeug, karrte sie wie eine Fracht nach Hause oder zum
Kurzurlaub in die Thailandpuffs und ließ sie mit ihren Problemen
alleine. Sie sollten sehen, wie sie damit fertig würden. Im letzten
Weltkrieg hingegen bewältigten deutsche Landser ihre blutigen
Erfahrungen auf langen Urlaubsfahrten in Gesprächen mit
Kameraden und über Kontakte zu anderen Armeeteilen. Deshalb gab
es auch relativ wenig Fälle von Depressionen oder gar
Selbstmorden. Alex wollte besser vorbeugen.
Als sie aufbrachen, war es schon lange nach Mitternacht. Alex ließ
sich am Hotel absetzen, wo er in seinem Fach eine Aufforderung
fand, bei Doktor Scheller anzurufen. Morgen, dachte er, dann fiel er
in tiefen Schlaf.
Nach dem Frühstück und der Morgenzeitung rief er zunächst Brigitte
an, um ihr seine Liebe zu versichern. Dann wählte er die Nummer
des Rechtsanwalts. „In welches Wespennest haben Sie denn
diesmal gestochen?“ – fragte dieser nach dem Austausch der
Einleitungshöflich-keiten. Dann fuhr er fort: „Ihr Schuldner war hier
und nahm die Über-tragung vor. Auf dem Weg von meinem Büro zu
seiner Arbeitsstelle wurde er überfahren: Todesfolge mit Unfallflucht.“
Alex schwieg einen Moment. Das war Profiarbeit. Neumann hatte
wohl den Fehler begangen, sich bei Harris Rat zu holen. Und der
hatte dann einen Killer angeheuert. Deshalb hatten sie ihn in Bad
Homburg auch erwartet. Dieser Dummkopf Neumann mußte
geplaudert haben. Durch das weltmännische Auftreten hatte er die
wahre, mörderische Natur von Harris wohl nicht erkannt. Alex
grinste: Der Killer würde lange auf den Rest seines Geldes warten
müssen.
„Hinterließ mein Schuldner noch etwas?“ – fragte er den Anwalt,
worauf er die Antwort erhielt: „Ja, einen Computerausdruck mit einer
ganzen Menge von Namen. Ihrer befindet sich auch darunter.“ Alex
konterte: „Gut, dann ist alles erledigt, und ich bin nun um eine Sorge
ärmer.“ „Sie sind schon ganz schön kaltblütig“, äußerte der Anwalt
mit erkennbarem Lob, „aber kann da auch nichts nachkommen?“
„Sprechen Sie mit Haferkamp – er ist infor-miert“, beruhigte ihn Alex.
„Oh“, kam es durch den Draht zurück, dann ist ja alles klar.“
„Woher kennen Sie ihn eigentlich?“ – fragte Alex, neugierig
geworden, „Sie sind doch beruflich wie gesellschaftlich ziemlich weit
auseinander.“ „Das sieht nur auf den ersten Blick so aus. Eigentlich
kenne ich ihn schon mein ganzes Leben lang. Im Krieg befanden wir
uns in der gleichen Einheit.“ Alex pfiff durch die Zähne – der dritte
Mann auf dem Foto gestern abend war ihm doch gleich bekannt
vorgekommen. Er verabschiedete sich und lächelte leicht vor sich
hin. Das Muster begann sich deutlich abzuzeichnen.
Heute wollte er sich ein Auto kaufen. Sinnigerweise ein Reisemobil –
damit würde er unabhängig sein. Und falls es in einer Kneipe mal ein
Glas zuviel würde, wartete vor der Tür auch gleich sein Bett auf ihn.
Nach fünf Stunden Suche und Besichtigung fand er, wonach er
gesucht hatte: Einen Mercedes-Diesel aus dem Erstbesitz eines
Vertreters.
Der hatte die ewigen Hotelzimmer satt bekommen und seine
fahrbare Wohnung mit Fernseher und Video, breitem wie bequemen
Bett, Benzinherd, Kühlschrank und einer kleinen Dusche mit
Trocken-WC ausgestattet.
Alex ließ eine gründliche Reinigung vornehmen und kaufte eine
Reihe Videokassetten sowie eine große Felldecke für das Bett. Dann
ließ er sich eine rote Nummer anbringen und probierte den Wagen
eine gute Stunde auf den Taunusbergstraßen aus. Schließlich legte
er 30.000 Mark auf den Tisch. Heute sollte ‚Brigitte-Tag‘ sein, und er
wollte sie überraschen. Das Hotelzimmer mußte er noch über das
Wochenende behalten – dies war so vereinbart. Morgen würde er
sich eingehend mit Haferkamp beraten. Er rief Brigitte an,
verabredete sich im Kino mit ihr und stellte sein Reisemobil neben
einem kleinen, netten Restaurant am Mainufer ab.
An der Kinobar traf er Fox, Gerd und deren Freunde – es gab ein
großes Hallo. Alex bestellte eine Runde und versammelte alle um
sich. Dann rückte er mit einer tollen Überraschung raus: „Sperrt mal
die Lauscher auf. Ich werde mit einer Stiftung 200.000 Mark ein
Projekt finanzieren – es darf auch etwas mehr kosten. Dabei kann
jeder von euch mitmachen. Durch seine Arbeit kann er Anteile
erwerben, die alle zusammen bis zur Hälfte des Wertes gehen
können. Damit soll sichergestellt sein, daß das Projekt zwar weiter
entwickelt, aber nicht verkauft werden kann. Nun müßt ihr beraten,
was ihr am liebsten machen wollt. Dann geht es darum, einen Leiter
oder Anführer zu wählen, der jedes Jahr zu bestätigen oder zu
ersetzen ist. Dieser ist auch Ansprechpartner für meinen Notar und
mich und führt die Aufsicht über die Stiftung, wenn ich nicht
anwesend bin.“
Nun bestätigte sich wieder die alte Erfahrung: Jede Gruppe verfügt
über einen natürlichen Anführer. Zu ihrem Anführer wurde ohne
großen Feder-lesens Gerd bestellt, Fox wurde sein Adjutant. Alex
gab ihnen Haferkamps Adresse, und die beiden machten verblüffte
Gesichter. „Wenn der als Berater zur Verfügung steht“, meinte Gerd
erfreut, „kann ja überhaupt nichts mehr schiefgehen.“ Haferkamp war
bekannt, und seine Ratschläge wurden sehr geschätzt. Fox drückte
es so aus: „Das ist keiner von den Sprücheklopfern, die alles besser
wissen wollen. Der weiß, wo es langgeht.
Und wenn du bei dem nicht spurst, reißt er dir eigenhändig den
Arsch auf.“
Brigitte tauchte am Eingang auf und sah sich suchend um. Alex
winkte ihr zu und stellte sie vor. Sie sah sich verwundert um: „Du
hast ja rasch einen Haufen neuer Freunde gefunden.“ „Ich hab noch
mehr“, sagte Alex, „die anderen wirst du in den nächsten Tagen
kennen lernen. Hast du für heute abend besondere Wünsche?“ –
wechselte er dann das Thema. „Ich dachte, du willst ins Kino, weil du
dich hier mit mir verabredet hast?“ – fragte sie verblüfft. „Aber ich bin
doch kein Snob“, tadelte er, „Oper, Operette, Rock und Heino locken
mich zwar nicht hinter dem Ofen hervor – aber Kino ist doch auch
eintönig. Ein Liederabend mit Johanna Hoffmann oder Hannes
Wader beispielsweise mag ich auch recht gern.“
„Wer ist Hannes Wader?“ – fragte sie ihn. „Ha, da habe dich ja mit
einer Bildungslücke erwischt“, triumphierte Alex und erklärte: „Das ist
ein Liedermacher mit ein paar guten, ein paar schlechten und vielen
morbiden Liedern. Er erinnert mich an Nietzsche. Sein bestes Lied ist
‚Der Rattenfänger‘. Zwar nennt er sich Kommunist, aber drüben säße
er schon lange im Knast. Sein Thema in seinen Liedern ist eigentlich
die Ohnmacht des kleinen Mannes gegen Machtmißbrauch. Ich war
nur mal wegen seines Songs auf einem Kommunistentreffen in
Recklinghausen. Damals hatte er bei dem Rattenfänger einen totalen
Blackout – mitten im Lied. Mein Sohn, damals gerade sechs, kletterte
aufs Podium und sagte ihm den Text vor. Wahrscheinlich wird er sich
irgendwann mal aus Weltschmerz totsaufen. Diese Typen können
nicht mit den Realitäten leben.“
„Und du kannst es?“ – fragte sie ihn sanft, „denn von dir höre ich
auch eine Menge rebellischer Reden.“ Die anderen ringsum
umklammerten die Bierflaschen in ihren Händen, waren verstummt
und erwarteten gespannt seine Antwort.
„Ich finde“, sagte Alex bedächtig, „jeder Mensch ist für sein Schicksal
selbst verantwortlich. Will mich jemand herumschubsen, stehe ich
auf und unternehme was dagegen. Ob man dabei gewinnt, ist nicht
so wichtig. Hauptsache man gibt sein Bestes. Verliert man, muß man
eben erneut aufstehen und solange weitermachen, bis man gewinnt.
Wobei man natürlich nicht mit dem Kopf gegen eine Mauer rennen
darf – durch die Wand kommt man damit letztlich nicht. Besser
nimmt man eine Leiter, um damit die Mauer zu überwinden.“
„Meinen Sie mit der Mauer etwa die anonymen Instanzen?“ – fragte
Fox. „Das kann ganz konkret der Fall sein“, Alex grinste und seine
Phantasie arbeitete auf Hochtouren, „nehmen wir doch die Demos
wegen der Startbahn-West. Die Demonstranten setzten sich ja nicht
nur bloß aus Krawallmachern zusammen. Da waren auch eine
Menge Leute dabei, die ihr ganzes Leben lang treu und brav
schufteten und ein Häuschen abzahlten. Jetzt geht die
Einflugschneise direkt über ihre Häuser hinweg. Die Hütten sind
wertlos – kaum zu bewohnen und wegen des Lärms auch nicht zu
verkaufen. Diese Leute gerieten nun mit den jungen Polizisten
aneinander. Hinter deren Stirn aber hatte sich der Wahn festgesetzt,
sie seien die Machtträger des Staates. Und im Hinterkopf hatten sie
die Beurteilung in ihren Personalakten und ihre Pension. Da hast du
also deine Mauer.“
„Aber diese Leute können doch, notfalls auch über Prozesse,
Entschädigungen beanspruchen“, protestierte Brigitte, worauf Alex
abschätzend
meinte:
„Dann
versuche
mal
als
Ottonormalverbraucher, einer mächtigen Kapitalgesellschaft ein paar
Mark zu entreißen.“
„Aber man muß doch jemanden verantwortlich machen können“,
protestierte Fox. Alex grinste spöttisch und fuhr fort: „Die Araber
haben da ein gutes Prinzip: Die greifen sich einen Verantwortlichen.
In Saudi hatte ich mal einen Kollegen, der hatte mitten in der Wüste
die Fundamente für ein paar Lagerhallen herzustellen. Der Auftrag
über die Ausschachtungs-arbeiten war dreimal weitergegeben
worden und jeder der Subunternehmer verdiente, saß im Kaffeehaus
und palaverte den ganzen Tag. Für die Arbeit hatte der letzte Sub
Ägypter und Jordanier angeheuert – jeden auf einen Kipplastwagen
gesetzt. Diese wurde von einem Bagger mit dem Aushub gefüllt,
fuhren in ein Wadi, kippten den Sand ab, fuhren auf der anderen
Seite wieder aus dem Wadi und kamen im Bogen wieder zurück.
Über die Ausfahrt des Wadis lief in drei Metern Höhe ein dickes
Kabel. Und da die Fahrer nach Ladungen und Fuhren bezahlt
wurden und nicht nach Stundenlohn, fuhren die schon los, bevor die
Ladefläche wieder unten war.
So kam es, wie es kommen mußte. Einer der Wagen zerriß das
Kabel. Roland, mein Kollege, hatte sich schon ein arabisches
Phlegma zugelegt. Er zuckte nur die Schulter und dachte, wenn
irgendwo der Strom fehlt, wird schon einer nachsehen kommen. Die
Leitung war an Masten befestigt und verlor sich am Horizont ohne
erkennbares Ziel in der Wüste. Nach zwei Tagen stoppte ein Jeep
mit Soldaten und Monteuren. Die schimpften erstmal fürchterlich und
reparierten dann das Kabel.
Kaum war die Reparatur beendet, zerriß der nächste Lastwagen das
Kabel erneut. Nun bekam Roland als Bauleiter sofort Handschellen
verpaßt, wurde in den Jeep verfrachtet und abtransportiert. Er
landete beim Geheimdienst und wurde von einem Offizier verhört,
der aussah wie ein Mongole. Jetzt kommt das interessante: Der
Mongole stellte die für ihn wichtigen Fakten zusammen:
‚Du bist Deutscher und hast studiert. Also bist du intelligent und hast
gewiß auch schon als Junge Autos repariert. Du leitest die Baustelle
und trägst die Verantwortung. Die Fahrer wissen gerade, wo sich
beim Auto Gas und Bremse befinden – sonst sind sie dumm wie
Steine. Das Kabel stellt die Feuerleitung zwischen Radarstation und
Raketenbatterie dar. So, nun mußt du uns beweisen, daß du kein
israelischer Agent bist, der vorsätzlich Sabotage verübt.‘
Könnt ihr euch vorstellen, wie Roland begann, Blut und Wasser zu
schwitzen? Er hatte aber Glück und konnte als Bürgen den Vermieter
seines Hauses in der nächsten Stadt angeben, welcher zufällig der
General der Raketenbatterie war. Den Mietvertrag hatte er sogar in
der Tasche. Drei Tage lang wurden die Angaben überprüft. Seine
Frau war schon total mit den Nerven fertig. Sie hatte alle
Polizeistationen und Gefängnisse abgesucht, aber keiner wußte, wer
Roland verhaftet hatte.“
Die anderen in der Runde schwiegen nachdenklich, überdachten
dieses Prinzip der Verantwortung. Alex wandte sich an Brigitte: „Was
hältst du von einem Lokalbummel? Zeigst du mir das Nachtleben von
Frankfurt?“ Sie lächelte kläglich und sagte: „Da muß ich passen. Ich
gehe nur hin und wieder mit Bekannten zum Essen aus.“
Daraufhin versorgte sich Alex in der Runde mit Tips und kreuzte in
seinem Stadtplan an, was ihn interessierte. Dann zogen sie los.
Kurz vor zwölf landeten sie schon leicht beschwipst in einem
Restaurant am Main. Dort aßen sie eine Krabbencocktail, und weil
der so gut schmeckt, noch einen. Dazu tranken sie einen
Bocksbeutel und waren dann reif fürs Bett. Brigitte meinte mit einem
schon leichten Zungenschlag: „Jetzt müssen wir uns ein Taxi
suchen.“ Alex aber bugsierte sie zu seinem Reisemobil. Mit den
Worten „Ich habe eine Überraschung für dich“ schloß er auf und
schaltete das Licht ein.
„Die ist dir auch gelungen“, sagte sie, warf sich auf das Bett mit der
Felldecke und schlenkerte ihre Schuhe von den Füßen. Alex schloß
ab, löschte das Licht, legte eine Kassette ein und begann Brigitte
auszuziehen. Eines wird sich nie ändern, dachte er eine Stunde
später, eine beschwipste Frau ist ein Engel im Bett.
Am nächsten Morgen zeigte er ihr die Dusche mit dem WC, holte
Brötchen, Butter, Schinken und Kaffee, und dann frühstückten beide
im Bett, während an ihnen der Berufsverkehr vorbeiraste. Das gute
Frühstück hatte seinen Appetit geweckt. Brigitte war nackt und roch
aufregend. Bei seinem Vorstoß traf er auf eine freudig strahlende
Partnerin, die mit ihrem Elan sogar das schwere Auto zum
Schaukeln brachte.
Diesmal setzte er sie bei ihrem Büro ab. Anschließend kaufte er noch
ein paar Dinge für das Auto ein. Heute morgen hatten sie den Kaffee
aus Plastiktassen getrunken, und das war nicht nach seinem
Geschmack. Später fuhr er zu Haferkamp. Es wurde schon langsam
kalt – Nebel lag über der Stadt, und die letzten Blätter fielen von den
Bäumen. Die jugendlichen Bastler begrüßten ihn wie einen alten
Bekannten.
Haferkamp saß an seinem Schreibtisch und war in die Unterlagen vertieft. Er befand
sich in Gesellschaft: Doktor Scheller blätterte in einem Buch und machte sich
Notizen. Die beiden erwiderten seinen Gruß und Doktor Scheller sagte feierlich:
„Mein Junge, du hast einen Schatz aus purem Gold gehoben. Es wird noch ein paar
Tage dauern, bis wir genauer Bescheid wis-
sen. Aber schon jetzt darf gesagt werden: Harris war nur für den Raum Frankfurt
zuständig. In Köln und München gibt e jeweils noch einen weiteren Harris. Wir
können damit aber nicht zur Justiz gehen – es sind zu viele ViPs darin verwickelt.
Das würde sofort durchsickern, und für einen solchen Fall haben die bestimmt
irgendwelche Notprogramme in der Schublade. Wir können den Gegner lokalisieren,
das System erforschen und uns derweil einen wirksamen Aktionsplan ausdenken.
Weil Harris und seine Helfer ausgefallen sind, werden die anderen sich in nächster
Zeit mehr als vorsichtig verhalten, bis sie für das alles eine vernünftige Erklärung
haben. Außerdem brauchen wir Verbündete. Die nächste Aktion muß bei allen
gleichzeitig erfolgen.“
„Habt ihr schon die Computerliste der Geschädigten auf Verbündete überprüft? Die
würden zum Teil sicherlich begeistert mitmachen.“ Auf diesen Vorschlag von Alex
sahen sich die beiden Alten an und grinsten. „Gar nicht so dumm, der Junge“, sagte
Haferkamp und dann zu Alex gewandt: „Wir haben auf der Liste bereits ein paar
angekreuzt, die vom Beruf her in Frage kommen können. Kannst du es übernehmen,
die zu kontaktieren?“
Alex war beschämt. Da war er sich wunder wie schlau vorgekommen, und für die
beiden alten Füchse war das die reinste Routine. Der alte Rechtsanwalt legte das
Buch beiseite und fragte: „Was war das für eine Idee mit der Stiftung? Hast du schon
konkrete Vorstellungen? Das muß in eine juristisch einwandfreie Form gebracht
werden.“ Alex zog an seiner Zigarre, blies Rauchringe über den Schreibtisch und
sagte nachdenklich: „Nur eine Idee, ein Gefühl. Für alles gibt es eine bestimmte Zeit.
Als man Flugzeuge brauchte, wurde daran in verschiedenen Ländern zur gleichen
Zeit gearbeitet. Sowas gilt auch für Ideen, glaube ich. Die alten Positionen von Oben
und Unten, das verbissene Gegeneinanderkämpfen um Macht und materieller
Vorteile wegen wird langsam von immer mehr Leuten als unnütz und dumm
angesehen. Funktionieren können diese Ideen natürlich nicht im Stil der Zeugen
Jehovas, den Gegner mit Sanftmut zu besiegen, wenn der andere sich nicht an die
Spielregeln hält. Solange es Wölfe gibt, muß es auch Hirten mit Büchsen geben, um
die Schafe zu schützen.
So war es jedenfalls bislang. Die Hirten schlachten aber auch die Schafe und leben
von ihnen. Man sollte das ganze System auf eine neue Grundlage stellen. Und zwar
von den Bedürfnissen des Einzelnen ausgehen und auf dem kleinsten Nenner die
Interessen verbinden. Zuerst das Gerechtigkeits-bedürfnis – in der Gesellschaft, im
Staat, in der Firma.
Fehlt beim Staat die gerechte Behandlung, ist die Folge eine Staatsver-drossenheit,
eventuell sogar Revolution. In der Gesellschaft brechen Kämpfe ‚jeder gegen jeden‘
aus, und in der Firma gehen die besten Mitarbeiter. Es werden kaum noch Gewinne
gemacht, und die Firma kann in die Pleite steuern. Schuld ist die Führung, weil sie
solche Zustände hat einreißen lassen. Wie aber auch jeder einzelne, weil er dies
zuließ.“
Haferkamp widersprach: „Aber was kann ein einzelner schon machen!“ Alex fuhr fort:
„Wenn jeder nur ein klein wenig für das gesetzte Ziel tut, dann bewegt sich auf
einmal Gewaltiges. Es müssen sich nur alle über das Ziel einig sein – Beispiel: Das
Banksystem beutet die Kunden gewaltig aus. Die Zinsdifferenz zwischen
Geldbeschaffung der Banken wie beispielsweise über die Sparkonten und
Kreditherausgabe ist entschieden zu hoch – für mich ist das schon Wucher. Das
Gegenmittel wäre, sich einfach aus dem System auszuklinken: Kein Sparbuch,
keinen Kredit, keine Euroschecks. Und wenn man schon mit einem Kredit in die Falle
getappt ist, nicht den Rest seines Lebens für ein paar Geldsäcke arbeiten, sondern
zusätzlich soviel Kredit wie möglich aufnehmen, alles verbrauchen oder verschenken
und dann von Verdiensten unterhalb der Pfändungsgrenze leben – offiziell jedenfalls.
Für jedes Problem gibt es eine Lösung; selbst für das Letztge-nannte, was gebrannte
Leute immer wieder beweisen, indem sie eigentlich ganz gut leben.
Bei uns gibt es einfach zu viele Fehlentwicklungen. In Preußen waren die Beamten
einmal das Rückgrat des Staates – und entsprechend geachtet. Heute werden sie
von der arbeitenden Bevölkerung als Schmarotzer angesehen. Ein Beamter hält sich
für etwas Besonderes – ein Könner aber hat für einen solchen Menschen nur ein
mitleidiges Lächeln übrig und geht davon aus, daß es bei dem einfach nicht zu mehr
gereicht hat – geistig und so.
Kurz – ich will einen Anfang machen – ein Beispiel geben, einen ‚Bund der
Gerechten‘ gründen – eine Orden, dessen Mitglieder etwas positives vollbringen
müssen, um überhaupt aufgenommen zu werden. Die wirtschaftliche Basis sollen
Betriebe sein, welche diesen Mitgliedern anteilig gehören. Für sich selbst arbeitet der
Mensch ja bekanntlich wie ein Kuli. Der Betriebsleiter wird für ein Jahr von den
Mitgliedern gewählt. Bei wichtigen Entscheidungen muß die Mehrheit aller Mitglieder
zustimmen. Sicher existieren bereits gut durchdachte Modelle – man braucht wohl
nicht alles neu auszutüfteln.“
„Und wie sollen sich die einzelnen Betriebe zu gemeinsamen Aktionen
verständigen?“ – fragte Haferkamp, „denn über eines mußt du dir klar sein: Nur eine
gute Organisation ist ein Erfolgsgarant.“ „Ich möchte kein starres System“, fuhr Alex
zu seinen Vorstellungen fort, „darüber sollte beraten und abgestimmt werden. Bei
Bedarf muß die Organisation auch geändert werden können. Idee und Form müssen
auch derart überzeugend sein, daß wir überall schnell und leicht Informanten
gewinnen. Dann werden auch Dinge transparent, die man heute noch unter den
Teppich zu kehren pflegt.
Für zwei Projekte müßte das Geld eigentlich reichen: Einen Handwerks- oder
Produktionsbetrieb und einen Bauernhof mit angeschlossenem Altenheim –
zumindest für die Gebäude; das Land könnte man ja anpachten. Auch Rentner
könnten dann noch mitarbeiten, wenn sie dies wollen. So würden sie das Gefühl
behalten, daß man sie noch braucht. Denn richtig alt werden die Menschen erst,
wenn sie sich nutzlos fühlen; dann kommen auch die Krankheiten und Gebrechen.
Das Ganze soll auf zwei Säulen ruhen. Die eine Säule ist das Ideal einer
harmonischen, sich gegenseitig helfenden Gemeinschaft – die andere muß der
wirtschaftliche Erfolg sein. Jedes Mitglied muß sich in der Lage befinden,
beispielsweise nach drei Jahren aktiver Arbeit ein Jahr lang zu pausieren – für eine
Weltreise, ein spezielles Studium oder irgendwas anderes. Danach hat es dann
wieder Anspruch auf seinen Platz in der Gemeinschaft.“
„Die Sache hört sich überzeugend an“, meinte Haferkamp, „darüber denkst
du doch nicht erst seit gestern nach, oder?“ „Nein, das gart schon lange in mir“, gab
Alex zu, „ich lese sehr viel, bin aber eher praktisch veranlagt. Grau ist alle Theorie,
deshalb will ich erst alles praktisch erproben, bevor ich dann vehement meine
Überzeugung vertrete. Die großen Bewegungen haben doch irgendwo alle ihre
Macken. Die Religion ist für mich reiner Glücksersatz und Leidensschutz. Sogar die
Kirchen sind bei uns verbeamtet – Mitglieder und Geld kommen automatisch.
Würden die ihre Aufgaben ernst nehmen, gäbe es nicht so viele Sekten.
Der Kapitalismus nützt nur wenigen und züchtet von seiner Natur her ein
Wolfsverhalten: Nur selber fressen macht satt und fett. Der Kommunismus hingegen
ignoriert die menschlichen Eigenschaften – will einen besseren Menschen schaffen,
verkommt dabei aber zu einer der schlimmsten Diktaturen, die die Menschheit je
kennen lernte. Ein besseres System wird wohl nur über eine Basisdemokratie
ermöglicht, in der die einzelnen Gemeinschaften selbst bestimmen, wie sie leben und
arbeiten wollen. Dabei müssen sie selber für ihre Existenz sorgen können. Wer
abhängig ist, kann auch keine freie Meinung haben. Wirklich frei ist nur der, der ohne
sozialen Druck lebt. Stolz leben kann nur, wer etwas leistet und die Achtung anderer
Menschen besitzt.“
„Na, du alter Miesepeter“, sagte Doktor Scheller zu Haferkamp, „worüber wir beide
nun schon jahrelang diskutieren, das sagt uns dieser junge Freund in ein paar
Sätzen.“ „Wollt ihr nicht mal wieder richtig schimpfen?“ – fragte Alex, „damit
vermeidet man Magengeschwüre.“ Die beiden alten Herren sahen ihn fragend an.
Alex legte die Tageszeitung auf den Schreibtisch.
„Hier las ich, wie viele Millionen es dieses Jahr wieder kostet, die überschüssigen
Lebensmittel der EG zu vernichten. Sowas können sich doch nur tripperverseuchte
Hirne ausdenken – aber doch niemand, der bei wachem Verstand ist. Erst wird die
Erzeugung subventioniert, und dann bezahlt man die Vernichtung der Erzeugnisse.
Dabei gibt es bei uns wie in der gesamten EG genügend Rentner und Arbeitslose,
die jeden Pfennig umdrehen müssen. Die wären froh mit den nicht vernichteten
Lebens-mitteln. Können die Leute, die dies verantworten, eigentlich Christen sein?“
Eigentlich war seine Frage rein theoretisch gemeint, aber Haferkamp griff sie sofort
auf: „Glaubst du an Gott?“ – fragte er Alex. „Ja“, antwortete der, „aber ich glaube
nicht, daß er uns sieht oder überhaupt Interesse an uns hat. Wißt ihr, daß ein
Atommodell eine verflixte Ähnlichkeit mit einem Planetensystem hat? Und nun stellt
euch vor, Gott sieht durch ein Elektronenmikroskop das Atom Sonne und eines der
Elektronen namens Erde. Wie groß sind dann unsere Probleme in seinen Augen?“
Rückblende Nigeria
Diesmal war Alex in Hamburg eine ausreichende Zeit von zwei Monaten zur
Einarbeitung vergönnt. Alle Pläne konnten gründlich durchgearbeitet werden – viele
Fehler konnte er ausmerzen. Die Beschreibung der Türen mit Schließanlage und
Schlössern war so fehlerhaft und unübersichtlich, daß er eine komplett neue
Aufstellung machen mußte, um die Sache in den Griff zu bekommen. Die Werkzeugund Materialbeschaffung konnte er noch rechtzeitig beeinflussen, so daß für die
Dübel zwar 10.000 Mark mehr aufzuwenden waren – damit würden jedoch bei der
späteren Montage 60.000 Mark eingespart werden konnten. Solche Möglichkeiten
ergaben sich aus seinen praktischen Erfahrungen.
Das Hotel in Nigeria mit seinen 800 Gästezimmern der höchsten Luxus-klasse
verkörperte den für Entwicklungsländer typischen Größenwahn. In den Tropen muß
man in Stein, Marmor und rostfreien Stahl bauen. In Europa sahen die Auftraggeber
in den Hotels die üblichen Teppichböden – also mußten sie die auch haben, obwohl
die für die Sandflöhe die reinste Freude darstellten. Der Bau war dreizehn
Stockwerke hoch. Land und Baugrund gab es reichlich - man hätte auch flach bauen
können. Wer sollte später nur die komplizierte Technik warten und reparieren? Aber
ein solcher Riesenbau schindete natürlich weit mehr Eindruck.
Seine Frau und Tochter wußte Alex schon in Spanien. Sie sollten sich dort nach
einem hübschen Fleckchen Erde umschauen. Dieser Job in Nigeria sollte ihm
genügend einbringen, um sich danach im Süden niederzulassen. Danach wollte er
nicht bis zur Rente warten. Er hatte es einfach satt, eine Menge faulenzender
Bürokraten zu ernähren, die sich zum Dank sogar erdreisteten, ihm die Firstrichtung
seines Hauses vorzuschreiben. Seine Zeit in Hamburg versuchte er so gut wie
möglich zu nutzen. Da er in der Handwerksrolle eingetragen war, standen ihm die
Dienste der Industrie- und Handelskammer zur Verfügung.
Er ließ ein paar Datenbanken anzapfen, um sich Informationen über MeeresFischzucht in Netzgehegen auszudrucken. Im Mittelmeer gab es kaum noch Fische.
Er hatte sich auf den Märkten in Patras, Athen und Saloniki nach den Preisen
erkundigt. Ein Kilo Edelfisch kostete rund 30 Mark. Urlauber hatten ihm erzählt, daß
es in Spanien und Italien nicht anders sei.
Ein Fischzüchter würde im Jahr gut 20 Tonnen produzieren können. Eigentlich die
Goldmine der Zukunft. Fischzucht kann man lernen, und essen müssen die
Menschen immer. Der Geschäftsführer überredete ihn, eine Projektstudie erstellen
zu lassen. Die kostete zwar rund 25.000 Mark – aber 90 Prozent übernahm die
Bundesregierung.
Alex kam aus dem Staunen nicht heraus, wie problemlos dies alles ging. Jetzt
brauchte er nur noch genug sparen, eine geschützte Bucht finden, Netzgehege
bauen, Setzlinge kaufen und ein Jahr lang zusehen, wie die Fische wuchsen. Er
arbeitete täglich zehn bis zwölf Stunden im Büro – auch Samstags, und die Zeit
verging rasend schnell.
Sein Abflug kam. Alex flog über Spanien und legte zwei Tage Pause ein. Das mußte
für die nächsten Monate reichen. Seine Frau und Tochter waren bis Malaga
durchgefahren. Er hatte ihnen eine monatliche Überweisung von zweitausend Mark
eingerichtet und mußte sich höchstens über die Spanier sorgen, die sich nach jeder
blonden Frau den Hals verrenkten. Die Costa del Sol war ein Urlaubs- und
Rentnerparadies und immer noch preiswert, wenn man nicht in die Touristenfalle
tappte.
Die Zeitungen beschrieben Spanien als halbfeudal – aber die Gesetze dort waren für
die einfachen Menschen gemacht. Wenn jemand acht Stunden arbeitet, bezahlt der
Patron ein Essen im Restaurant. Wer länger als ein Jahr eine Wohnung oder ein
Haus mietet, wird unkündbar. Und wenn er seine Arbeit verliert und kein Einkommen
mehr hat, muß der Hauswirt auf die Miete verzichten, ohne ihn auf die Straße setzen
zu können.
Die Andalusier sind gewöhnlich ein wenig kurzbeinig – aber sehr freundlich. Das
Essen und der Wein gefielen Alex. Doch er mußte weiter. Diesmal sah er nur wenig
von der schönen Landschaft.
Die Sahara hätte er gern von oben gesehen. Aber er mußte einen Nachtflug nehmen
und landete am Morgen in Kano – der Stadt im Norden. Wie stark wird doch der
Eindruck über ein Land auf das Auge des Betrachters von dem zuvor
aufgenommenen Wissen bestimmt? Wissen aus Büchern und Zeitungen, von Film
und Fernsehen – aus Erzählungen und vielen anderen Informationsmosaiken. Alex
war sich dieser Tatsache bewußt und versuchte stets, dennoch objektiv zu bleiben.
Der erste Eindruck wurde von Schmutz und Gestank vermittelt. Es gab keine
einheimischen Restaurants, die ein auch nur halbwegs genießbares Essen
angeboten hätten. Nur in größeren Hotels, in libanesischen und chinesischen
Restaurants konnte man mit Genuß essen gehen, dafür aber funktionierten in den
Hotels gewöhnlich weder die Air-Condition noch der Kühlschrank – oftmals auch die
Dusche nicht. Nur die Preise lagen extrem hoch, und bevor man ein Zimmer erhielt,
mußte man für zwei Tage im Voraus bezahlen.
Kano liegt am Rande der Wüste. Bis hierhin hatten die Araber ihr Missions-werk
vorantreiben können. 1900 hatten die mohammedanischen Ferlani die
alteingesessenen Haussa in einem der letzten Religionskriege vertrieben und nach
Südwesten abgedrängt.
Der Fahrer erwartete Alex schon und schleuste ihn durch den Zoll. Die Fahrt dauerte
fünf Stunden, und die Straßen schienen nur aus Schlaglöchern zu bestehen.
Die Gegend war leicht hügelig und bestand aus Grasland mit Buschwald,
unterbrochen durch vereinzelte Felsen, die wie verstreut hingeworfen aussahen. Hin
und wieder lag ein Dorf aus runden Lehmhütten mit kegeligen Strohdächern an der
Straße.
Auf halben Weg durchfuhren sie Kaduna, die zweite große Stadt im Norden des
Landes – sogar mit einem nationalen Flughafen versehen. In Kaduna würde er
später noch öfter sein. Nur zwei Stunden von der Baustelle entfernt, war die Stadt gut
für einen Sonntagsausflug, um mal wieder vernünftig essen zu gehen, in einer der
vielen Discos eine schwarze Schönheit aufzureißen oder auch nur Bekannte
aufzusuchen.
Viele Europäer lebten hier. Ein Schweizer betrieb eine Schweinezucht mit
Speiselokal, und viele Gäste kamen wegen seiner beiden hübschen Töchter im
heiratsfähigen Alter zu ihm. Zwei Österreicher leiteten eine große Möbelfabrik.
Dornier bildete mit rund achtzig Mann Flugpersonal aus – natürlich auch militärisch,
da der Alphajet mit wenigen Umbauten in ein Kampfflugzeug umzuwandeln war. Um
das militärische Gleichgewicht in dieser Region nicht zu gefährden, hatte Dornier im
gleichen Zuge auch die Ausbildung im Nachbarstaat Niger übernommen. Was aber
einen Dornier-Techniker nicht davor bewahrte, mitten in der Stadt vor einer Disco
erschossen zu werden, als er seine Autoschlüssel nicht herausrücken wollte.
Die Kriminalität bewegte sich in schwindelerregender Höhe. Jedes bessere Haus
wurde von einem eigenen Wächter bewacht, und deutsche Schäferhunde standen
hoch im Kurs. Eine Firma hatte sich auf Hausbe-wachungen spezialisiert, und wer
einen Bewachungsvertrag kündigte, durfte daraufhin garantiert mit einem Einbruch
rechnen.
Alle Fenster und Türen waren mit Eisengittern versehen, und Privat-personen war
der Besitz einschüssiger Jagtwaffen gestattet. Wurde ein Fremder in einem Haus
angetroffen, durfte mit offizieller Genehmigung auf ihn geschossen werden. Nachts
fuhr kaum ein Auto, weil vorgetäuschte Unfälle, Nagelbretter auf der Straße und
hinter Büschen versteckte Räuber zur Regel gehörten.
Als sie endlich in Abuja ankamen, ließ sich Alex zunächst mal eine halbe Stunde
herumfahren, um einen ersten realistischen Eindruck zu erhalten. Das Ganze kam
ihm nicht wie die neue Hauptstadt vor – eher wie eine Provinzbaustelle. Die Camps
der Baufirmen waren an einer Stelle konzentriert – mit einem doppelten Zaun
umgeben. Mit dem im Zwischen-raum verlaufendem Natodraht und dem halben
Dutzend Wächtern am Tor drängte sich der Eindruck einer Festung auf.
Für einen Kaufmann stellt solch ein Camp in der Kalkulation zunächst mal einen
Kostenfaktor dar – entsprechend sah es dann auch aus. Hinzu kamen ein enormes
Defizit an Phantasie und gutem Willen beim Bau. Gegen die Camps von Berger und
Strabag nahm sich ihr eigenes direkt armselig aus: Fünf normale Fertighäuser der
billigen Sorte für die Führungskräfte mit ihren Familien, elf barackenartige
Steinhäuser, aufgeteilt in je vier Einzel-appartments, eine runde Bar, ein Pool, eine
Kantine und vier Baracken für Portugiesen und lokales Küchenpersonal.
Sie hatten einen deutschen Koch, der zugleich auch noch Campmanager und mit
diesen beiden Aufgaben deutlich überfordert war. An persönlichem Mut fehlte es ihm
nicht. Aus seinem Urlaub hatte er beispielsweise einen Drachen mitgebracht, mit
welchem er von einem hohen und steilen Felsen mit bösartigen Querwinden sprang
– womit er zum ersten Drachenflieger in Abuja wurde. Aber seine Zeit reichte halt nur
für einen Job, und deshalb kamen beide zu kurz. Außerdem war er noch relativ jung
und den Intrigen gegenüber zu wenig konsequent.
Intrigen gab es reichlich. Sie waren zehn Führungskräfte. Anstatt aber gegen die
deutschen und englischen Subunternehmer zusammenzuhalten, ihre Monteure und
die rund 800 Neger, war das gegenseitige Beinestellen schon beinahe kriminell.
Alex unternahm einige Versuche, die Vorteile eines Teamgeistes aufzu-zeigen – er
übernahm auch fremde Arbeiten, um Kollegen zu entlasten, sofern dies in sein
Arbeitsschema paßte. Aber der Oberbauleiter Dresse war der Überzeugung, er
müsse die Fachbauleiter gegeneinander aufhetzen, um seine Position ungefährdet
behaupten zu können.
Alex schwor sich, diesen Vertrag noch zu erfüllen und dann nie wieder. Dresse saß
den ganzen Tag über im Büro und ging einmal die Woche über den Bau. Zwei
Stunden pro Tag hätten für die Büroarbeit auch gereicht. Dafür fragte er dann die
anderen nach den Fehlern der Kollegen aus. Die kümmerten sich somit mehr um
fremde Arbeit als um die eigene. Ein Teufelskreis war entstanden: Wer am meisten
petzte, wurde bei eigenen Fehlern gedeckt, zudem wurde manche Vergünstigung
fällig.
Dresse versuchte es auch mal bei Alex. Dessen Stil war dies jedoch nicht, und er riet
Dresse, statt dessen lieber mal mit offenen Augen auf der Baustelle herumzulaufen.
Zum Consulting hatte Alex dagegen ein gutes Einvernehmen. Der gab ihm manchen
wertvollen Tip, beispielsweise beim Schreiben seiner Berichte. „Im ersten Gästeturm
hast du Probleme, im zweiten hast du große Probleme, und bevor du mit dem dritten
fertig bist, fährst du nach Hause“, prophezeite er ihm. Manchmal war er tatsächlich
so weit. Aber er wollte nicht eine Aufgabe halbfertig liegen lassen, und als Referenz
war ein derartiger Bau auch ganz brauchbar.
Er checkte rechtzeitig die Vorarbeiten, zeigte den Kollegen ihre Fehler und sagte
ihnen auch, bis wann diese zu beheben seien. Erst, wenn das nicht klappte, ging er
zu Dresse, und der freute sich förmlich, wieder einen heruntermachen zu können.
Alex bewältigte den gesamten Ausbau mit neun deutschen Vorarbeitern und 160
Negern. Für jede Arbeit hatte er eine Norm pro Mann festgelegt, und dazu ließ er von
den Vorarbeitern tägliche Arbeitsreporte verfassen. So hatte er eine laufende
Kontrolle über Anwesenheit und Leistung. Jeder Arbeiter hatte für sein Werkzeug zu
unterschreiben. War irgendwas verschwunden, wurde der Gegenwert vom Lohn
einbehalten, und in krassen Fällen flog der Betreffende fristlos. So blieb der Schwund
bei ihm äußerst gering. AEG beispielsweise hatte im gleichen Zeitraum für über
60.000 Mark Werkzeuge zu ersetzen. Das Magazin wurde von einem gestrandeten
Deutschen verwaltet. Er sollte Alex melden, wenn eine Materialsorte zur Hälfte
verbraucht war. So konnte Alex, falls notwendig, Material per Seetransport
nachbestellen. Das dauerte immerhin zwei Monate. Vom Hafen in Lagos oder Worry
aus waren es dann noch einmal 800 Km per LKW, und der landete manchmal auch
in einer Schlucht.
BILD
Der Dämonenfelsen Summer-Rock bei Suleja nahe Abuja / Nigeria
Aus der Nähe sieht es aus, als wäre ein Gesicht im Felsen: Der Geist von SummerRock
BILD
Jagtausflug in Nigeria
Der Bevölkerung sind nur einschüssige Gewehre erlaubt.
Das Wild ist kaum noch vorhanden:
Affen, Schlangen, Meerkatzen, Murmeltiere
BILD
Erster Drachenflug in Abuja / Nigeria
Der Campmanager brachte aus dem Urlaub diesen Drachen mit, sprang von einem
Kegelfelsen, landete in einem Dornenbusch und mußte mühsam befreit werden.
Gegenüber Arabien besaß die Baustelle zwei Vorteile: Unbegrenzte Mengen Alkohol
und ein sagenhaftes Frauenangebot. Am Wochenende verbrauchten manche
Monteure drei Negerinnen – nacheinander oder auch gleichzeitig. Die weißen
Ehefrauen kochten vor Wut, waren aber machtlos. Alex vermutete hinter ihrer
Haltung den blanken Neid, denn die eigenen Männer waren allzu oft müde. Und
wenn die dann sahen, wie die anderen Männer Negerinnen mitnahmen, wußten sie,
daß es eine gewaltige Vögelei geben würde – denn niemand würde ja umsonst
bezahlen. Ein Seelenklempner hätte innerhalb eines Jahres vollständiges Material für
zehn dicke Bücher sammeln können.
Die herrlichsten Charackterstudien waren möglich. Da gab es die ganz raffinierten
Abstauber: Die Negerinnen saßen draußen vor dem Tor in der Buschbar, einem
einfachen Schuppen mit Tischen und Bänken. Bis Mitternacht mußten sie einen
Kunden haben, bei dem sie über Nacht blieben. Andernfalls rückten von der nahen
Polizeistation ein paar Mann an und nahmen sie fest. Auf der Wache hatten sie erst
einmal ihr Geld abzuliefern – danach wurden sie der Reihe nach von allen Polizisten
gevögelt. Deshalb konnten die Abstauber um Mitternacht die, die übrig geblieben
waren, umsonst mitnehmen.
Ganz ungefährlich waren diese Liebesabenteuer nicht. Viele Liebes-dienerinnen
hatten eine Geschlechtskrankheit. Dazu hielten sie noch oft am Körper Messer
versteckt, und im Notfall griffen sie damit bedenkenlos einen Mann an. Alex hatte
wahre Schauergeschichten gehört. Ein Kollege hatte sich etwas seltenes
eingefangen – im Hamburger Tropenkrankenhaus mußte ihm daraufhin die halbe
Eichel weg operiert werden.
Nach ein paar Monaten konnte Alex nicht mehr widerstehen und nahm sich eine
wahre Perle aus Kamerun mit. Die anderen hatten schon gewettet, wie lange er ohne
Frau wohl aushalten würde. Nach der Begegnung fragten sie ihn, wie die Neue aus
Kamerun nun denn gewesen sei. „Wenn man erst mal durch die schwarze Haut ist,
ist es wie zu Hause“, grinste er. „Aber weshalb steckte die mir dauernd ihre
Zeigefinger in die Ohren?“ – wollte er von den anderen wissen, woraufhin Jochen,
der Österreicher sagte: „Das ist selten. Das machen die nur, wenn sie hoch zufrieden
sind.“
Angekommen war Alex im Februar während der Trockenzeit. Die Luft war voller
Wüstenstaub, der über 700 Kilometer weit heran geweht wurde. Manchmal konnte
man kaum ein paar hundert Meter weit sehen. Einige Kilometer von der Baustelle
entfernt erhob sich ein mächtiger Kegelfelsen aus dem Busch – eine
Herausforderung für Alex. Oben befand sich eine Vertiefung, in der sich das
Regenwasser sammelte. Mit den Jahrhunderten waren dort Gras, Büsche und sogar
Bäume gewachsen.
Der Berg wurde von Felsenaffen, Meerkatzen und Murmeltieren bewohnt und war
ohne Bergsteigergerät nur an einer Stelle zu erklettern. Alex nahm den Koch mit. Der
besaß noch Elan genug, am freien Tag etwas zu unternehmen. Mit wenigen
Ausnahmen verbrachten die anderen den Sonntag mit Saufen und Huren und waren
stolz, wenn ihnen auf diesen Gebieten etwas Neues einfiel. Eine Zeit lang war der
Seifentrick beliebt: Jede Negerin wurde erst einmal unter die Dusche gesteckt und
abgeschrubbt. Viele Negerinnen kannten keine Dusche. Wer dabei ungeduldig
wurde, warf die Seife auf den Boden. Und wenn sich die Negerin danach bückte,
bekam sie die erste Nummer von hinten verpaßt. Dies hatte nur einen Nachteil: Die
hielten sich immer am Waschbecken fest, und bald war alles lose oder abgerissen.
Sie fuhren mit dem Wagen soweit es ging. Am Fuße des Berges befanden sich
einige Ferlanihütten. Das sind Nomaden, und sie zogen mit ihren Rinderherden von
einer Weide zur anderen. Schmal, sehnig und hochge-wachsen waren sie völlig
verschieden von den Haussa- oder Yoruba-stämmen – am ehesten hatten sie noch
Ähnlichkeit mit den Ilo. Alex hatte in den ganzen siebzehn Monaten in Nigeria nie
eine Ferlanifrau gesehen, die sich verkauft hätte. Dabei waren sie gut gewachsen
und schön. Bei den Hütten liefen eine ältere Frau und zwei gut gewachsene
Mädchen mit herrlichen Brüsten umher und verrichteten irgendwelche Hausarbeiten.
Alex fragte sie in der Zeichensprache, ob er sie fotografieren dürfte. Daraufhin
rannten sie in ihre Zweighütten und kamen wenig später in ihren Festgewändern
wieder heraus und stellten sich in Pose. So verschieden sind die Ansichten – Alex
hätte sie gern nackt fotografiert, so wie sie den ganzen Tag herumliefen. Sie wollten
natürlich in ihren besten Kleidern abgelichtet werden.
Er hatte wie schon in Arabien immer zwei Kameras dabei: Eine Polaroid, deren Bilder
er ihnen schenkte, und eine Kleinbildkamera für sich. So war jeder zufrieden.
Sie mußten um den Berg herum zur Rückseite, quer durch den Busch immer
bergauf; die Kletterei dauerte zwei Stunden. Und dann noch fast eine Stunde lang
die steilen Felsen hoch – immer mißtrauisch beäugt vom Anführer der Felsenaffen,
der ihnen im Abstand von ein paar hundert Metern folgte.
Von oben genossen sie einen grandiosen Blick über Abuja – sahen die
verschiedenen Großbauten, die vielen kleinen Siedlungen, den Präsidenten-palast
und den Stausee, hinter dem ihr Camp lag.
Mit dem Abstieg mußten sie sich beeilen. Eine Regenwand näherte sich aus der
Ferne, und wenn der Fels feucht wurde, könnten sie rutschen wie auf Seife – das
könnte lebensgefährlich werden. Sie wollten eine Abkürzung nehmen, hatten sich
dabei jedoch gründlich verrechnet. Im strömenden Regen mußten sie haushohe
Felsblöcke überqueren, sich vor tiefen Felsspalten in Acht nehmen, in denen Kobras
und Puffottern Schutz gesucht hatten, und sich durch verfilztes Gebüsch winden.
Bis sie wieder beim Wagen ankamen, waren Stunden vergangen. Zurück im Camp
ging es erst mal unter die Dusche, und danach wurden die Lebensgeister wieder mit
einer Flasche Brandy und zwei Kannen Kaffee geweckt. Seitdem schleppte Alex
sportliche Besucher auf den Affenfelsen, was er dann den ‚Abuja-Härtetest‘ nannte.
Hannes war Zimmermann und Einschaler – Alex nannte ihn scherzhaft ‚die
norddeutsche Eiche‘. Groß und stark wie ein Urwaldriese konnte er arbeiten wie ein
Pferd. Nach Feierabend soff er wie ein Loch. Seine Negerhelfer hatten bei ihm ein
gutes Leben, denn die meisten Arbeiten erledigte er selbst. Wenn er so richtig in
Fahrt war, brachte er witzige und scharfsinnige Sachen heraus. Dresse verzog sich
dann immer rechtzeitig. Einmal jedoch nicht rechtzeitig genug: Hannes pendelte
immer zwischen Campbar und Buschbar. Er schwankte um die Ecke, grüßte alle
höflich, obwohl er in den letzten Stunden schon ein paarmal da gewesen war, und
sagte langsam und
deutlich, wie Betrunkene ja oft reden, wenn sie selber merken, daß sie genug oder zu
viel intus haben: „Dresse, kannst du mir mal sagen, wer dich bei dieser Firma
eingestellt hat?“ „Warum?“ – fragte dieser zurück, nichts gutes ahnend. Hannes
antwortete: „Weil man den feuern müßte!“ – und alle brachen in brüllendes Gelächter
aus. Dresse verzog sich.
Wenn Hannes in dieser Stimmung war, kam noch entschieden mehr von diesem
Kaliber. Alex konnte ihn gut leiden. Gleich in der ersten Woche war er mit ihm
aneinander geraten. Er setzte sich abends in die Bar, trank seinen Brandy, las ein
Buch und beteiligte sich nur selten an den Gesprächen der anderen. Er konnte
inmitten des größten Palavers konzentriert lesen. Hannes war mal wieder voll und
fragte Alex: „Was bist du denn für ein hochnäsiger Pinkel?“ „Auf jeden Fall nicht so
ein dummer Schwätzer wie du“, gab er zur Antwort. „Auch gut“, nuschelte Hannes
und schob ab in Richtung Buschbar. Seitdem war alles klar zwischen den beiden.
Westafrika wird ‚das Grab des weißen Mannes‘ genannt. Es gibt dort bekannte und
unbekannte Infektionskrankheiten in großer Zahl. Alex bekam juckende Blasen an
der rechten Hinterbacke. Die Blasen wurden größer. Er ging zum Arzt bei Berger – in
Abuja gab es ja noch nichts; weder Geschäft noch Apotheke noch Krankenhaus
geschweige denn einen Doktor. Der war auch ratlos. Eine Woche probierten sie
Salben und Pillen aus – als letztes verpaßte er ihm eine Spritze Antibiotika wie beim
Tripper. Was nun wirklich geholfen hat, war nicht nachvollziehbar, aber nach zwei
Wochen verschwanden die Blasen.
Andere hatten nicht so viel Glück. Selbst Hannes, der sich dauernd von innen
desinfizierte, wurde gegen Ende der Bauzeit von einem Parasiten an der Leber
befallen. Er kam knapp mit dem Leben davon und lag dann in Deutschland ein
halbes Jahr im Krankenhaus.
Ostern kam – Ausflüge wurden geplant. Fritz, ein Berliner und zuständig für Mauern,
Putz und Estrich, hatte in seinem Urlaub in Berlin über Weihnachten Malaria
bekommen und im Krankenhaus einen Braumeister kennen gelernt. Die Brauerei lag
nur fünf Autostunden entfernt. Der Braumeister hatte ihn eingeladen und
versprochen, ein paar Kisten Bockbier
zu brauen. So nachlässig, wie er bei der Arbeit war, hatte Fritz auch diese Einladung
gehandhabt. Eine unverbindliche Geste hatte er als fest vereinbart hingestellt – und
so fuhren sie los. Fritz mit Frau, der Koch, ein Engländer mit seiner Frau und
schließlich Alex.
Die Stadt hieß Markuti und das einzig interessante an ihr war eine große Brücke über
den Niger. Die Brauerei hatten sie schnell gefunden – der Braumeister lag jedoch
immer noch in Berlin im Krankenhaus – und Bockbier gab es auch keines. Die
Brauerei war jedoch mit einem Gästehaus ausgestattet. Sie konnten übernachten,
bekamen einen vernünftigen Kaffee und am nächsten Morgen als Reiseproviant zwei
Kisten Bier. Eine andere Route wurde ihnen empfohlen – etwas weiter zwar, aber mit
gut ausgebauter Schnellstraße.
Nach zwei Stunden Fahrt unterlief ihnen ein großer Fehler: Sie ließen den Engländer
ans Steuer. Der bog an einer Kreuzung falsch ab, und als es dunkel wurde, waren
sie nicht in Abuja, sondern am großen Strom – nur auf der falschen Seite. Zwar gab
es eine Fährverbindung, aber die letzte Fähre hatte wegen Niedrigwasser vor drei
Monaten den Betrieb eingestellt.
Am Ufer standen einige baufällige Hütten – und sie waren total erschlagen. Aber dort
fanden sie auch noch zwei Reisemobile von Dornier-Technikern aus Kaduna. Die
waren ebenfalls falsch abgebogen. Von denen konnten sie ein paar Kekse
schnorren. Alex ging im Niger baden, Krokodile hin oder her. Nachher schliefen alle
in dem VW-Bus, mehr schlecht als recht. Alex wachte früh auf, fand einen
Mangobaum und erntete. Dann schlenderte er zu den Hütten, kaufte den Fischern
einen Topf Tee ab und war für den Tag gerüstet.
Zwar hätte er gern noch ein paar Spiegeleier gegessen, aber die Pfanne war mit
einer dicken Schmutzkruste versehen. Und als er auf dem Boden des Teetopfes eine
Sandschicht bemerkte, hatte er das Gefühl, seinem Magen genug zugemutet zu
haben.
Sie brauchten nicht mehr die gesamte Strecke zurück zu fahren. Bis sie aber mit der
nächst erreichbaren Fähre weiter unten am Strom übergesetzt hatten,
war es Mittag. In der nächsten Stadt holten sie sich ein paar gegrillte Hähnchen – in
Afrika noch das Ungefährlichste – und kalte Getränke; das warme Bier hatten sie
mittlerweile gründlich satt.
Nun kam das nächste Problem auf sie zu: Ihr Sprit reichte nicht mehr bis Abuja, und
alle Tankstellen waren leer gekauft. Als der Tankanzeiger bereits leer anzeigte,
erhielten sie den Tip, seitlich in den Busch abzubiegen, da gäbe es noch Benzin.
Nach zehn Kilometern und buchstäblich auf dem letzten Tropfen erreichten sie eine
Buschtankstelle: Ein großer Eisentank mit einer Handpumpe.
Als es dunkel wurde, waren sie noch 50 Km von Abuja entfernt. Alex schaltete das
Licht ein, und der Motor ging aus. Keiner von ihnen kannte sich da aus. So mußten
sie die letzten Kilometer ohne Licht fahren – die Pannenleuchte notdürftig aus dem
Fenster haltend. Diese drei Tage reichten für einen gründlichen Eindruck von Nigeria.
Der Bauleiter für Klimatechnik war für zwei Tage bei seiner schwarzen Freundin
versackt und wurde nach Hause geschickt. Dafür kam ein kleiner Giftzwerg, der
bisher die Planung für Klima und Lüftung in der Firma geleitet hatte und welcher
Angriff für die beste Verteidigung hielt. Er hatte Dresse vor ein paar Jahren in
Arabien mal geärgert, und der wollte sich nun revanchieren. An der Bar wurde
ausgeknobelt, ihm eine Negerin ins Bett zu legen. Eigentlich konnte man ja nicht so
blöd sein, selbst wenn man Zosel hieß – aber vermutlich glaubte er an ein übliches
Willkommensgeschenk. Am Morgen brachte er sie zum Tor und sagte lässig ‚adios‘.
Sie schaute ihn einen Moment lang ungläubig an, dann fiel sie mit Zähnen und
Krallen über ihn her, wobei sie in den höchsten Tönen nach ihrem Geld schrie. Das
gesamte Camp amüsierte sich königlich.
Zosel wollte jedem demonstrieren, welch hohe Position er inne hatte und begann,
sich überall einzumischen. Alex stutzte ihn auf die richtige Größe zurecht: „Ob ein
Hotel Erfolg hat, hängt von zwei Faktoren ab: Der Service durch das Personal muß
den Gast zufrieden stellen, und durch die Inneneinrichtung muß er sich wohl fühlen.
Die Technik ist nicht zu sehen und wird als selbstverständlich vorausgesetzt.“ Und
dann präsentierte er ihm
eine Reihe von Fehlern aus seinem Bereich, wodurch Deckenleuchten nicht an der
richtigen Stell montiert werden konnten oder Lüftungsgitter versetzt werden mußten.
Erst wurde Zosel kleinlaut, später siegte dann wieder seine angeborene Frechheit.
Dresse äußerte sich zwar öfter lobend über Alexanders Arbeit – aber im kleinen Kreis
forderte er seine Zuträger auf, nach Fehlern zu suchen. Er meinte: „Das gibt es nicht,
daß er keinen Fehler macht.“ Kleinere Fehler unterliefen natürlich auch Alex oder
seinen Leuten. Ab und an übersah er auch mal etwas. Aber bislang bemerkte er
stets alles noch rechtzeitig, um es unbemerkt auszubügeln. Ganz zum Schluß, als
Alex abreiste, nachdem sein Vertrag zweimal verlängert worden war, wurde doch
noch etwas gefunden.
Ein besonders fähiger AEG-Monteur, der Alex mit guten Tips versorgt hatte, wurde
nach Jos versetzt, auf das kleine Hochplateau. Er war zu Besuch gekommen und
hatte sich von Alex ein paar Teppichreste als Bettvorleger erbeten. Dresse schickte
Alex nach dessen Abreise einen Brief hinterher, mit Kopie für die Firmenleitung, mit
welchem er das Verschenken von Firmeneigentum mißbilligte. Wäre diese Sache
nicht so traurig gewesen, hätte Alex darüber gelacht. Er tröstete sich mit der
Möglichkeit einer künftigen Revanche.
Konrad war der Monteur für die Hotelküchenteile und eine ganz besondere Nummer:
In allen Großstädten der Welt zu Hause; extrem rechtsnational hielt er den
englischen Monteuren lange Vorträge über deren Unfähigkeit; über den
Zusammenbruch des Empire, die Überlegenheit der deutschen Soldaten und ebenso
die Überlegenheit der deutschen Technik und Wirtschaft.
Alle zwei Monate wurden die Engländer von ihrer Firmenleitung ausge-wechselt – so
konnte er immer wieder neu beginnen. Er hatte fünf Jahre mit einer Frau zusammen
gelebt und zwei Kinder mit ihr. Da er sich aber zu oft auf Montage befand, nahm sie
sich eines Tages einen anderen. Konrad vertrat einen realistischen Standpunkt:
„Früher hatte sie keinen Mann – dafür jede Menge Kohle. Jetzt hat sie einen Mann.
Der hockt aber arbeitslos zu Hause herum, und deswegen muß sie jede Mark
umdrehen. Nun bekommt sie von dem Typ auch noch ihr drittes Kind. Naja, wenn er
schon
keine Arbeit hat, muß er wenigstens auf diese Art etwas verrichten. Wenn der Job
hier beendet ist, werde ich sie besuchen. Und egal, wie das Balg aussieht, werde ich
zu ihr sagen: Da hast du ja einen richtigen Schmutz-buckel geworfen.“ So beweinte
er bei zu viel Bier seine verlorene Liebe.
Der Baukaufmann Keller war ein typischer Vertreter seine Gattung. Im Großen und
Ganzen nicht mal übel, hielt er sich für den wichtigsten Mann auf der ganzen
Baustelle, sah seine Karriere nur in Zahlen und sparte deshalb oft an der falschen
Stelle. Dem Oberbauleiter einer anderen Firma nahm er bei einem zwanglosen
Besuch für ein Telefongespräch dreißig Mark ab. Bis dahin hatte er von ihnen oft
Bagger, Lastwagen und auch Spezialgeräte kostenlos geliehen. In der Folgezeit
mußten Tausend Naira an Leihgebühr entrichtet werden, wenn wieder mal was
ausfiel oder dringend gebraucht wurde.
Der Geschäftsführer Doktor Schade kam aus Hamburg. Alex hatte ihm einen Brief
geschrieben, in dem er vorsichtig verklausuliert einige Mißstände ansprach. Doktor
Schade suchte kein persönliches Gespräch, und es änderte sich nichts. Seine
Sache, dachte Alex. Über Doktor Schades Aussehen erschrak er. Seit Dubai war er
sichtlich gealtert; in Hamburg hatte er ihn kaum gesehen. Selbst für diese Macht- und
Einkommensposition wäre mir dieser Preis entschieden zu hoch, fand Alex.
Er saß in der Campbar und las den neuen Spiegel. Das Nachrichtenmagazin wurde
ihm über die Firma per Luftpost zugesandt. Ebenso die Samstags-ausgabe der FAZ
- wegen der dortigen Auslandsjobs. Ab und zu verschwanden seine Zeitungen
spurlos. Als Dieb hatte er Dresse in Verdacht, aber beweisen konnte er das nicht.
Konrad kam herein, und Alex rief ihn zu sich an den Tisch und sagte: „Hier, lies mal:
Ein interessanter Artikel über ein Massaker an den palästinen-sischen Flüchtlingen in
Beirut durch die libanesischen Milizen unter israelischer Aufsicht. Jetzt können wir
die Israelis im Kreis der modernen Staaten willkommen heißen.“ Konrad vertiefte sich
in den Bericht und Alex spottete: „ Die UNO-Soldaten zählen vermutlich hinterher die
Leichen. Ich möchte mal wissen, wozu die gut sind; lassen die israelische Armee
einfach
den Libanon überfallen und melden danach die Zahl der vorbei fahrenden Panzer.“
Konrad knurrte zustimmend: „Die gesamte UNO ist eine gigantische Quasselbande,
eine Geldverschwendungs- und Postengarantie-anstalt. Bei mir rennst du offene
Türen ein mit deinem Standpunkt. Das ganze Elend beginnt doch damit, daß
Bürokraten anderer Leute Geld in die Hände kriegen. Und wie die sich vermehren!
Dagegen sind Karnickel und Heuschrecken doch gar nichts.“ Alex widersprach ihm:
„Man müßte ihnen nur die richtigen Ziele geben. Das ist wie mit der Jugend. Stell dir
mal vor, ab morgen gelte für die Beamten: Nur der wird noch befördert, der ein
überflüssiges Gesetz ausgräbt. Nach einem Jahr hätten wir keine Gesetze mehr, nur
noch Beamte im Höheren Dienst.“
Beide lachten. Konrad grinste und nickte zum Campeingang hin: „Schau mal, da
kommt Stanislaus. Den könnten wir doch mal wieder in Verlegenheit bringen.“
Stanislaus war Pole und von seiner Staatsfirma an ein nigerianisches Unternehmen
verliehen worden. Er verdiente etwa soviel, wie die Deutschen an Spesen bekamen.
Einmal im Jahr durfte er in Polen Urlaub machen, und einmal jährlich durfte ihn seine
Frau oder Tochter besuchen. Natürlich nie beide zusammen – sonst wäre die Familie
womöglich nicht mehr ins Arbeiterparadies zurück gekommen.
Stanislaus sprach Deutsch und Englisch. Er wohnte in einem kleinen Haus mitten
unter Negern, und wenn er Sehnsucht nach einem Gespräch mit Weißen hatte,
besuchte er die Camps. Ein guter Schachspieler war er. Alex mußte sich voll
konzentrieren, wenn er siegen wollte. Konrad schrie ihm zu: „Hallo Stanislaus, was
sollen wir heute kochen? Polenknochen?“ Stanislaus verzog gequält das Gesicht.
Der rauhe Humor der Monteure war nicht ganz sein Fall. „Was macht die
Gewerkschaft?“ – wollte Alex wissen. Stanislaus war erstaunlich gut informiert. Alex
überließ ihm immer seine ausgelesenen Spiegel, und so wußte der Pole oft besser
und genauer über den Ostblock Bescheid, als es aus seinen eigenen Zeitungen zu
entnehmen war. „Das wird ein Strohfeuer – wirst sehen“, prophezeite Alex, „irgend
jemand probiert aus, wie weit sich der russische Bär reizen läßt. Er kann doch nicht
zulassen, daß die DDR in der Luft hängt. Sonst stürzt noch sein halbes Imperium
ein.“
Der Pole wehrte ab: „Die Gewerkschaft wird gut beraten und ist vorsichtig.“
Alex lachte: „Ihr Polen seid doch Phantasten. In den letzten fünfzig Jahren habt ihr
euch keinen Deut geändert. 1939 tönten eure Generäle, im Falle eines Krieges mit
Deutschland würden sie innerhalb von 14 Tagen in Berlin einmarschieren. Und eure
Diplomaten versuchten, die Franzosen zu einem Angriff an der Westgrenze zu
überreden. Hast du mal darüber nachgedacht, daß es allen Völkern, die im letzten
großen Krieg gegen uns kämpften, nicht besonders gut geht?“ „So gut geht es euch
auch nicht – mit euren vielen Arbeitslosen“, wehrte sich Stanislaus. „Wer weiß, wozu
das gut ist“, meinte Alex, „kann nicht schaden, wenn die Leute mal aus ihrem
Konsumrausch erwachen und darüber nachdenken, daß es noch andere wichtige
Werte gibt. Bei uns im Staat ist vieles faul. Aber immer mehr wachen auf und suchen
nach neuen Wegen. Wir werden unser Haus schon in Ordnung bringen.“
Vom Pool her drang lautes Geschrei zu ihnen. Der Ballermann war in Aktion – einer
von Alexanders Deckenmonteuren. Er sah aus wie ein Grizzly und hatte auch dessen
Kräfte. Er warf gerade nacheinander acht Monteure ins Wasser, die das Gleiche kurz
zuvor mit ihm versucht hatten. Den Spitznamen ‚Ballermann‘ hatte er von Alex,
nachdem er ihm ein wenig aus seinem Leben erzählt hatte.
Er war gelernter Schlosser, hatte schon in Arabien gearbeitet und war als Seemann
um die Welt gefahren. Von jedem Land hatte er ein paar Stories parat. Bier saufen
und Nutten beklauen waren seine Hobbys. In Liverpool hatten sie sich mal ein paar
Hafenmiezen an Bord geholt und später die Polizei gerufen. Nutten an Bord, das war
verboten. Die Bobbies nahmen die Miezen mit – zuvor hatte der Ballermann im
Trubel ihre Handtaschen geleert.
Gleich am ersten Tag hatte er sich im Camp richtig eingeführt. Er besuchte die
Buschbar, schleppte eine Negerin ab. Nach der Nummer ließ er sie im Bett liegen
und ging wieder raus, trank einige Flaschen Bier, hatte die erste vergessen und
nahm die nächste Negerin mit. Als er das Bett besetzt vorfand, warf er die Erste
kurzerhand raus und ihre Sachen hinterher – jedoch nicht ohne vorher mit ihrem
Geld ihre Nachfolgerin zu bezahlen. Bei seiner Größe hatte er selten mit Protesten
zu rechnen.
In Thailand hatte er sich eine Frau gekauft. Nach drei Monaten tauschte er sie aber
bereits um. Die Eingetauschte lebte jetzt in Bremen und hatte ein
Kind von ihm. Sie war nur halb so groß wie er – ungefähr, aber trotzdem konnte sie
ihn um den Finger wickeln. Bereits zwei Monate nach ihrer Ankunft in Bremen kannte
sie jeden dort lebenden Thai – ob Mann oder Frau. „Den ganzen Tag lang ratterte bei
uns das Telefon“, stöhnte der Ballermann.
Alex hatte ihm sechs Neger zugeteilt. Die rannten vor Angst im Galopp umher. Am
ersten Tag hatte er nämlich einen, der sich zu langsam bewegte, mit seiner
Kohlenschaufelhand derart geohrfeigt, daß er einen formvoll-endeten Salto hinlegte.
Dresse konnte den Ballermann nicht leiden und umgekehrt, und einige Flaschen Bier
ließen ihm schnell seine Zunge spazierentragen. „Wenn Alex mir was sagt, dann hat
das Hand und Fuß“, tönte er an der Bar, „aber dieser halbstarke hat doch nur ein
großes Maul.“ Als Alex eines Tages im Fertigteilwerk zu tun hatte und in einer
Werkstatt eine Sperrholzdecke und Regale bauen ließ, war Ballermann von Dresse
gekündigt und innerhalb von drei Stunden mit Ticket und Wagen auf den Weg zum
nächsten Flughafen gebracht worden. Was kann man schon gegen einen
Oberbauleiter ausrichten, der nicht einmal die einfachsten Höflichkeitsregeln einhielt?
Wieder einmal waren drei lokale Feiertage fällig. In Erinnerung an Arabien hatte sich
Alex einen eigenen Suzukijeep gekauft. Das ewige Hickhack um die Firmenwagen
ging ihm auf die Nerven. Dauernd waren die Autos kaputt, und die Werkstatt nicht in
der Lage, sie rasch zu reparieren. Alex fuhr allein nach Jos, dem nigerianischen
Hochplateau an der Grenze zu Kamerun. Es war eine Fahrt von insgesamt 1.500
Km. Am ersten Tag durchfuhr er eine herrliche Hügellandschaft – in der Ferne immer
die imposanten Bergketten in Sicht. Nigeria besaß angeblich 100 Millionen
Einwohner und war fünfmal so groß wie Westdeutschland. Nach den leeren Flächen
zu beurteilen, hätte man dort aber wohl noch die gesamte restliche Bevölkerung
Afrikas unterbringen können.
Am Fuße der Berge hielt er an. Ein paar Hütten bildeten ihm den geeigneten
Rastplatz. In einem offenen Schuppen wurden Getränke und Lebensmittel verkauft.
Alex besorgte sich einen Becher Tee und setzte sich vor den Eingang.
Einige junge Negerinnen saßen herum und schwatzten. Ein Lastwagen stoppte. Der
Fahrer stieg aus und rief etwas in seinem Dialekt. Eines der Mädchen stand auf und
ging zu ihm hin. Er drückte ihr einen Geldschein in die Hand, sie hob ihren Rock und
bückte sich. Innerhalb von wenigen Augenblicken war er im Stehen seine Ladung
los geworden, kletterte wieder ins Führerhaus und fuhr weiter. Das Mädchen kam
zurück und schwatzte unbekümmert weiter, als sei absolut nichts geschehen.
Innerhalb einer Stunde hatte Alex drei Becher Tee geschlürft. Alle fünf Mädchen
hatten in dieser Zeitspanne reihum ihren Service ausgeübt – an der Straße, für
jedermann sichtbar. Er grinste und fuhr weiter. Hier ging noch alles ganz natürlich zu,
und keiner hatte ein Gummi benutzt.
Es wurde dunkel, und langsam mußte er sich nach einem Nachtlager umsehen. Die
Stadt lag noch in weiter Entfernung. Eine Übernachtung im Freien war nicht ratsam;
denn er verspürte keine Lust, am Morgen eine schwarze Mamba in seiner Hose zu
finden. Langsam fuhr er die Serpentinen hoch, voraus hörte er ein Krachen, und
dann kam ihm in höllischem Tempo ein Lastwagen entgegen – mitten auf der Straße.
Ein Glück, daß sein Jeep so Klein war.
Hinter der nächsten Kurve lag ein Pickup-Fahrzeug im Straßengraben auf dem Dach.
Ein halbes Dutzend Gestalten lag herum – die schrien, jammerten oder waren für
immer still. Alex trat aufs Gas und suchte das Weite. Europäisches Verhalten war in
einem solchen Land nicht angebracht. Er hatte schon von Leuten gehört, die zum
Dank für ihre Hilfe wochenlang eingesperrt wurden und nur gegen eine Hohe
Bestechungssumme wieder freikamen. In Arabien verhielt sich die Sache ähnlich:
Starb jemand bei einem Unfall, so war das eben Allahs Wille. Half man einem
Verletzten, und der starb danach, wurde der Helfer als Mörder angeklagt. Eine Frau
durfte von einem männlichen Helfer ohnehin nicht berührt werden. Ein Dummkopf,
wer einheimische Sitten und Gebräuche ignorierte.
Im letzten strahlenden Abendglühen wurde Alex auf eine in einer Seiten-schlucht
gelegenen Zweighütte aufmerksam. Davor graste eine Herde der Mageren, fast
weißen Rinder, und von einem Lagerfeuer stieg Rauch auf.
Er bog von der Hauptstraße ab und fuhr quer durch das hohe Gras, den Büschen
und Palmen ausweichend, auf das Feuer zu. Dort stoppte er den Jeep, stieg aus und
begrüßte einen alten Neger, eine junge Frau und ein paar halbwüchsige Kinder. Der
Alte sprach ein paar Worte Englisch, und als er kapiert hatte, was Alex wollte, lud er
ihn an sein Feuer ein und wies ihm eine leere Hütte als Nachtlager zu. Alex schenkte
der Familie Kekse, Dosenfleisch und Tee – und dem Alten einige Flaschen Bier. Die
junge Frau teilte ihm wie auch den anderen eine Schüssel mit Yambrei und scharf
gewürzten Gulasch zu, den er tapfer verzehrte, und der überraschend gut
schmeckte. Sicherheitshalber spülte er anschließend mit Brandy aus seiner
Taschenflasche nach. Bei den Auslandsbauleitern war eine Erfahrung weit verbreitet:
Wer ab und zu einen kräftigen Schluck Brandy oder Whiskey nahm, kannte kaum
gesundheitliche Probleme. Tägliches Saufen dagegen war zuviel des Guten. Wer
sich hingegen überängstlich verhielt und sogar sein Zahnputzwasser abkochte, hatte
dauernd irgendwelche Wehwehchen.
Die Verständigung mit der Familie klappte ganz gut, sofern er sich mit ihnen über
einfache Dinge unterhielt. Alex erfuhr, daß sich zwei Brüder des Alten seit zwei
Monaten mit einem Teil der Herde auf dem Weg nach Lagos befanden, weil dort die
Preise besser seien. In einem Monat erwartete man sie zurück. Drei Monate
beschwerliche Wanderschaft über runde tausend Kilometer hinweg nahm man mit
der Rinderherde also auf sich für einen Mehrerlös von einigen hundert Mark. Aber
Wandern war ja Teil ihres Nomadenlebens, und im Anschluß daran konnte man
immer prächtige Geschichten erzählen.
Um Mitternacht legte sich Alex schlafen. Der alte Neger schaukelte im Sitzen mit
dem Oberkörper hin und her – die ungewohnten zwei Flaschen Bier hatten ihre
Wirkung getan. Das Bett bestand aus vier in den Boden gerammten Astgabeln,
darüber geflochtene Ruten und einer Grasauflage. Es war richtiggehend bequem. Er
war schon in den Halbschlaf gesunken, als sich eine nackte Gestalt an ihn drängte.
Die junge Frau – nach den schwellenden Formen und den üppigen Brüsten mit den
fast steinharten Spitzen zu urteilen. Sie war mit betäubenden ätherischen Ölen
eingerieben und murmelte sanfte, kehlige Laute.
Er war noch gar nicht richtig wach, als er sich schon in ihr befand, und der wilde Ritt
begann. Bei einigen Stämmen herrschte das Gesetz, daß ein impotenter, kranker
oder abwesender Mann seiner Frau einen Liebhaber zu gestatten hatte. Eine junge
und gesunde Frau besaß das Recht auf eigene Kinder. Diese hier mußte wahrhaftig
ausgehungert sein, denn sie hielt ihn stundenlang in Form. Alex staunte über sich
selber – aber es war leicht: Der ganze Körper der Frau, ihre Lippen, Hände und Haut
zitterten förmlich vor Verlangen. Wie ein schwacher elektrischer Strom sprang die
Erregung bei jeder Berührung auf ihn über. Schließlich schlief er völlig erschöpft ein.
Am Morgen war er allein im Bett. Den betäubenden Duft des Naturparfüms roch er
noch eine Woche lang. Sie frühstückten in voller Harmonie. Alex hatte eine neue,
schöne Erfahrung gemacht. Die Frau hatte ihren Hunger gestillt, und der Alte besaß
ein freundliches, zufriedenes Weib. Als Alex weiterfuhr, waren alle happy.
Zwei Stunden später kam er in Jos an. Er hatte eine flache Landschaft mit gepflegten
Gemüsefeldern durchfahren, in der vereinzelt kleine Dörfer lagen. Die Felder wurden
mit Zäunen aus meterhohen Kakteen geschützt.
Die Stadt besaß ein modernes Zentrum, einen großen Zoo, ein Museum mit alten
Holz-, Töpfer- und Metallarbeiten sowie ein großes Gelände, auf dem historische
Burgen, Häuser und Wehranlagen nachgebaut waren. Dies war das einzig
Beeindruckende, was er bislang in Nigeria gesehen hatte. Später kam er noch einmal
nach Jos, als er den Elektriker besuchte. Der führte in einem Stahlwerk
Reparaturarbeiten aus. Das Stahlwerk verkörperte eine typische nigerianische
Planung: Der Provinzhäuptling brauchte ein Geschenk, um bei den Wahlen den
Präsidenten zu unterstützen. Also erhielt er ein Stahlwerk – unerheblich, daß die
Erze vom Seehafen her rund 1.000 Km rangeschafft werden mußten, wovon bei
vollem Betrieb täglich 60 Lastwagenladungen benötigt wurden. Die Logistik versagte
total – zumal die Manager aus der Familie des Provinzhäuptlings kamen und in ihrem
Job nicht eine Arbeit, sondern ihre Rentenberechtigung sahen. Um den Betrieb
wenigstens drei Monate im Jahr aufrecht zu erhalten, wurde drei deutsche
Spezialisten angeheuert, die zusammen im Monat fast 100.000 Mark kosteten.
Das beste Hotel am Platze war ziemlich ramponiert, der Teppichboden mit
Brandflecken verziert und Bett wie Schrank mit langen Nägeln repariert. Zum
Ausgleich aber war ein chinesisches Restaurant vorhanden, und das Essen dort war
wohlschmeckend. Am nächsten Tag machte sich Alex wieder auf den Heimweg. Als
er an der Unfallstelle vorüber kam, lag dort nur noch das Autowrack. Alle losen Teile
waren bereits abmontiert, sicherlich geklaut. Zehn Kilometer weiter fuhr er sich einen
Nagel in den Hinterreifen – natürlich war inzwischen sein Wagenheber irgendwo
unterwegs aus dem offenen Jeep geklaut worden. Also fuhr er das Auto schräg in
den Straßengraben, und so konnte er das in der Luft hängende Rad auswechseln.
Der Vierradantrieb zog den leichten Wagen problemlos wieder auf die Straße.
Kurz vor Mittag erreichte er einen See. Ein halbes Hundert Frauen und Kinder
planschten darin herum und kreischten um die Wette. Alex wollte eine Pause
einlegen, seine Füße ins Wasser hängen und sich die vielen nackten Negerinnen
ansehen. Eine Stunde zuvor hatte er sich am Straßenrand Mangos, Ananas und
Bananen gekauft. Anfangs wurde er nicht sonderlich beachtet. Erst als er von zwei
schwarzen Schönheiten ein Polaroidfoto schoß und es ihnen schenkte, wurde er von
den anderen beinahe erdrückt, die ebenfalls alle ein Foto haben wollten. Gerade
hatte er ein Dutzend aufregend praller Brüste zu einem Gruppenbild arrangiert, als
ein wütendes Gebrüll ertönte, und ihm ein Al Hadschi, ein schwarzer Mekkapilger,
die Kamera aus der Hand schlug.
Dieser Moslem sah das Fotografieren nackter Frauen nicht gerne – Alex hingegen
sagte das Demolieren seiner Kamera nicht besonders zu. Also verpaßte er der
brüllenden Figur einen rechten Haken. Der stolperte mit wild rudernden Armen ein
paar Schritte rückwärts und fiel ins Wasser. Für einen Moment herrschte Ruhe –
dann wurde das Geschrei geradezu hysterisch kreischend, und der Al Hadschi kam
auf allen Vieren aus dem Wasser gekrochen. Als er sich aufrichtete, schlug Alex
nochmals zu. Diesmal kam er nicht mehr aus dem Wasser, sondern watete durch
den See zum anderen Ufer. Auch schien mit seiner Kinnlade etwas nicht in Ordnung
zu sein; denn das wütende Fluchen war merklich leiser geworden.
Die Frauen und Kinder waren plötzlich in alle Winde zerstreut. Kaum werden die
Leute religiös, dachte Alex, schon ist der ganze Spaß vorbei. Er machte, daß er
weiter kam. Später fertigte er noch von den Palmen im Abendrot ein paar Fotos und
schließlich passierte er gerade noch im Hellen den Armeekontrollpunkt vor Suleja.
Nachts waren die Soldaten furchtsam, unberechenbar und zudem oftmals noch
besoffen. Sollte ich mal einen Krieg in Afrika führen, dann nur in der Nacht, dachte er
sich.
Die Neger mit ihrem Geisterglauben unter der dünnen christlichen Tünche sind
nachts zu nichts zu gebrauchen. In Suleja befand sich direkt an der Straße ein
Kegelfelsen. Eine Seite dieser Felswand sah von weitem aus wie ein Gesicht. Der
Felsen hieß Summer-Rock, war normalerweise nicht zu erklettern, und keinen Neger
konnte man dazu bewegen, zu Fuß um diesen Felsen herum zu gehen. Es ging die
Sage um, man würde nicht ankommen. Ein Italiener hatte sich von oben mit einer
Strickleiter aus einem Hubschrauber herab gelassen. Er rutschte aus, fiel vom Felsen
und brach sich alle Knochen. Die Neger rollten mit den Augen und huldigten dem
mächtigen Geist von Summer-Rock.
Suleja war die nächste Stadt vom Camp – mit dem Auto eine halbe Stunde Fahrt. Ein
ständiger, riesiger Markt machte die Stadt zum Einkaufszentrum der gesamten
näheren und weiteren Umgebung. Es war dort überall sehr schmutzig – es stank
erbärmlich und wimmelte Tag und Nacht nur so von Menschen. Alex war selten dort
– nur wenn er dringende Einkäufe zu erledigen hatte.
Ein Telex traf für Alex ein, worin seine Frau ihren Besuch für die kom-menden
Wochen ankündigte. Eigentlich hatte er ja im Urlaub in Spanien ausspannen wollen,
aber die Verständigung hatte nicht geklappt. Post ging verloren. Ein Telegramm
konnte leicht vier Wochen unterwegs sein, und mit dem Telefon verhielt es sich auch
nicht besser. Seiner Frau hatte in Spanien jemand erzählt, daß man in Nigeria
Frauen für ein paar Mark kaufen könne. Ihr Sohn war in den Ferien gekommen – er
hatte nicht länger allein bei der Großmutter bleiben wollen. Ein reicher Araber
trachtete nach dem Abschluß eines Ehevertrages mit seiner Tochter, und letztlich
ging ihr das Urlaubs-paradies auf die Nerven.
Also beschloß sie kurzerhand, die Tochter mit dem Wagen nach Hause zu schicken
und selbst nach Nigeria zu fliegen. Die Maschine sollte morgens um 3.00 Uhr landen.
Nachtfahrten waren verboten, und deshalb mußte Alex schon am Vorabend beim
Flughafen sein. Die Firma hatte in Kano eine Fabrik gebaut und stellte zum Einfahren
einen Manager zur Verfügung. Mit ihm verplauderte Alex ein paar Stunden in seinem
Haus. Später bedauerte er, daß er sich nicht für dessen Gastfreundschaft
revanchieren konnte. Gegen 22.00 Uhr beschloß er, der netten Familie nicht länger
zur Last zu fallen und fuhr zum Flughafen – wo seine Frau schon seit 18.00 Uhr
wartete – wegen einer falschen Uhrzeit im Telegramm.
Die meisten Frauen erlebten bei der Ein- und Ausreise dort ein wahres Drama. Die
Koffer wurden durchwühlt, und die Beamten verlangten offen Bestechungsgeld, weil
angeblich irgendwelche Bestimmungen verletzt worden seien. Sie hatte die
gegenteilige Erfahrung gemacht. Ein Offizier hatte sie durch die gesamte Abfertigung
gelotst, ihr Koffer wurde aus dem Berg anderer gefischt und nicht geöffnet. Im
Warteraum stellte der Offizier einen Soldaten als Aufpasser neben ihren Stuhl und
gab ihr noch zehn Naira für Cola während der Wartezeit, da Devisen nur auf der
Bank gewechselt werden durften.
Als sie dies später im Camp erzählte, kamen die anderen Frauen aus dem Staunen
nicht heraus. Alex bedankte sich bei dem Soldaten und dem Offizier und fuhr mit
seiner Frau zum besten Hotel am Platze und nahm dort ein Zimmer. Weder Wasser
noch Air-Condition liefen, und vor dem Hotel warteten gut ein Dutzend leichter
Mädchen auf Kunden. So erhielt sie gleich den richtigen Eindruck von Nigeria.
Alexanders Frau Karin wähnte sich als verhindertes Medium. Sie verfügte über eine
erstaunlich gute Menschenkenntnis. Ihre Meinung über Dresse bildete sich rasch –
für einen moralisch total verkommenen Hund hielt sie ihn. Aber diese Ansicht war
stark eingefärbt aus grundsätzlicher weiblicher Einstellung heraus – denn Dresse
hatte sich bereits einen Tag nach der Abreise seiner Frau wieder eine Negerin ins
Bett geholt.
Sie träumte lebhaft, und relativ oft bestätigten sich ihre Ahnungen. Ihr Vater hatte das
Handlesen beherrscht, und die sich oftmals nach Jahren bestätigen-den
Vorhersagen mußten letztlich auch den skeptischen Alex überzeugen. In Spanien
hatte seine Frau ihren Pudel in einer Hundepension abgegeben. Nun träumte sie, der
habe sich unter den Zaun durchgegraben und würde überall nach ihr suchen. Sie
gab keine Ruhe, bis Alex ihr ein Ticket kaufte, und sie ihren Hund in Spanien
abholen konnte. Nach einigen Wochen kam sie wieder und brachte den Köter mit.
Der war tatsächlich aus dem Zwinger ausgebrochen gewesen und dann bei
Bekannten untergetaucht. Die Geschichte wurde zu einer der vielen Anekdoten an
der Costa del Sol.
Alex begab sich zum Empfang des Hotels, um eine Beschwerde loszu-werden. Was
natürlich nutzlos war, es floß nunmal kein Wasser und damit basta. Immerhin aber
konnte er erreichen, daß ein Hausboy am Spring-brunnen im Innenhof einen
Plastikeimer füllte und nach oben trug. So war wenigstens eine kleine
Waschgelegenheit vorhanden.
Seine Frau hatte eine Flasche spanischen Sekt mitgebracht, und damit wurde es
noch eine gelungene Wiedersehensfeier. Während der Fahrt zum Camp konnte sie
sich so herrlich über Dinge aufregen, die Alex schon längst als selbstverständlich
ansah. Beispielsweise, wie die Frauen ihre Kinder in Tüchern auf dem Rücken
trugen, wie sie riesige Lasten auf dem Kopf balancierten, während ihre Männer nichts
trugen; wie eine breitbeinig an der Straße stand und wie eine Kuh im Stehen pißte;
über die Schlaglöcher in der Straße und eine Leiche am Straßenrand, die dort schon
ein paar Tage lag, und für die sich niemand verantwortlich fühlte. Im Camp regte sie
sich über die unmoralischen Zustände auf. Dennoch war sie innerhalb weniger
Wochen der Liebling der Nutten, weil sie mit ihnen redete und sie nicht wie die
anderen Frauen von oben herab behandelte. Da Alex freiberuflich arbeitete, brauchte
sie auf niemanden Rücksicht nehmen und sich auch in keine Hierarchie eingliedern.
Sie wurde der Kummerkasten aller Junggesellen, trank mit ihnen an der Bar und ließ
sich ihren Seelenmüll erzählen. Eines Tages nahm sie Konrad aufs Korn: „Schämt ihr
euch nicht, die Negerinnen als Kokosköpfe zu bezeichnen? Zur Befriedigung eurer
Lust sind sie doch auch gut.“
„Hast ja Recht“, gab er zerknirscht zu, „unser Führer würde sich im Grab umdrehen,
wenn er das wüßte.“ „Du besitzt doch ausgedehnte Erfahrungen auf diesem Gebiet“,
horchte sie ihn weiter aus, „stimmt es eigentlich, daß alle Negerinnen beschnitten
sind?“ Konrad kratzte sich nachdenklich am Hinterkopf und sagte: „Meist bin ich ja im
Tran, aber wenn ich so darüber nachdenke: Irgendwie anders sind sie schon.“ Und
dann versprach er, bei der Nächsten genau nachzusehen und dann Bericht zu
erstatten.
Der zuständige Projektprokurist, Herr Nolz, kam zur Inspektion. Seine größte Sorge
war immer, wie er die Fakten seinem Chef verkaufen konnte. Im Verhandeln war er
erstklassig – wie ein Politiker drückte er sich mehr oder weniger schwammig aus,
versprach definitiv nichts und hielt hinterher auch nichts. Als Alex später als
Bedingung für eine Vertragsverlängerung eine Woche Urlaub in Togo forderte, wurde
ihm der Urlaub zugestanden, jedoch seine Vergütung um 3.500 Mark gekürzt.
Alex war Realist. Der berühmte hanseatische Kaufmann gehörte ebenso der
Vergangenheit an wie der preußische Beamte. Wöchentlich stieg in irgendeinem
Camp eine Party. Die Ehepaare sonderten sich meist etwas ab; denn allzugerne
versuchten die Junggesellen, frustrierte Ehefrauen herumzu-bekommen. Mit seiner
Frau aber hatte Alex einen wesentlich intensiveren Kontakt mit anderen Ehepaaren
als früher.
Im Berger-Camp lernte er einen alten Bauleiter kennen, mit dem er sich den ganzen
Tag über unterhalten konnte, ohne sich zu langweilen. „Eigentlich dürfte Nigeria doch
keine wirtschaftlichen Probleme kennen“, meinte Alex, „hier gibt es Öl, fruchtbares
Land und viele Menschen für die Arbeit.“ Schütz hieß der Alte, und seit er in Libyen
für einen Ölmulti gearbeitet hatte, konnte man ihm nichts mehr vormachen. So kam
seine Antwort: „Weißt du, viele Dinge sind völlig anders, als sie auf den ersten Blick
aussehen. Gaddafi stellte sich die Sache auch einfacher vor: Einfach nur die
Ölförderung verstaatlichen, und schon müsse alles in Ordnung sein. Die Techniker
mußte er behalten, weil die alles in Gang hielten. Na – die pumpten also die Behälter
voll – dann kauften ihnen die Multis kein Öl mehr ab. Schon stand er da mit seinem
letzten Hemd.“
„Das wäre doch eine Gelegenheit für einen zweitrangigen Staat wie die
Bundesrepublik, sich eine unabhängige Ölversorgung aufzubauen. Wir könnten doch
ohne Mühe auch eine Tankerflotte auf Kiel legen.“ Auf diesen Einwand von Alex
mußte Schütz grinsen: „Solche Sandkastenspiele wurden sicherlich veranstaltet, und
in diesem Stadium stört das auch niemanden. Wenn es dann aber ernst zu werden
droht, kommt schon jemand und sagt den maßgeblichen Leuten, was solche Projekte
wirklich kosten. Die vereinigten Multis unterhalten eine Kriegskasse von zusammen
schätzungs-weise 500 Milliarden. Die können jede Währung kaputtmachen, wenn
ihre Interessen ernsthaft bedroht werden. Derart massive Mittel wenden sie natürlich
nur im äußersten Notfall an – aber sie sind in der Lage dazu, und das weiß man.
Von Nigeria wollen die Multis günstige Konditionen, und jetzt wird dazu ein sanfter
Druck ausgeübt. Hinter den Kulissen müssen die Entscheidungen schon gefallen
sein; denn letzte Woche war in der Zeitung zu lesen, die Chase-Manhatten-Bank
würde in Lagos ein Bankgebäude errichten. Falls sich nun doch einer querlegt, gibt
es halt wieder mal einen netten, kleinen Putsch.“
Alex war zwar schon aufgeklärt, aber das schien ihm doch zu weit hergeholt. Zwei
Monate später wurde Präsident Shagari in seinem Palast in Abuja, rund sechs
Kilometer von der Baustelle entfernt, gefangen genommen und ein Teil seiner
Leibwache erschossen. Die Bauern auf dem großen Schachspiel sind halt
entbehrlich.
„Wie schätzt du die Lage in Südafrika ein?“ – fragte Alex, „die Medien berichten in
letzter Zeit über jede kleine Demo.“ Die Antwort kam prompt: „Die Moral als
Motivation kannst du schon mal total vergessen. Das begann schon mit dem
amerikanischen Bürgerkrieg. Der wurde nicht um die Befreiung der Negersklaven
geführt, sondern um den Erhalt der Union. Und dies war dann ein klarer
Rechtsbruch; denn die Südstaaten besaßen das vertraglich zugesicherte Recht, aus
der Union auszutreten, wenn sie dies wünschten. Schon damals lag das Sagen bei
ein paar superreichen Magnaten in den nördlichen Staaten. Die ließen sich nicht von
einigen Plantagenbe-sitzern im Süden ihre Märkte sperren und damit ihre Machtbasis
begrenzen.
Es war eine ähnliche Situation wie später mit Deutschland und Japan. Der erste
Weltkrieg brach aus, weil England seine Position in der Welt durch Deutschland
gefährdet sah. Und im zweiten Weltkrieg sah Amerika seine Marktinteressen in Asien
durch Japan und in Europa durch unsere nationale Politik bedroht. Das Schlimmste
für die Amerikaner wäre ein durch Hitler gewaltsam vereinigtes Europa gewesen. In
diesem Krieg spielte England nur noch eine Vasallenrolle. Und was England wirklich
ist, wenn es nicht mehr andere Völker ausbeuten kann, sieht man ja heute. Wenn die
ihr Nordseeöl nicht besäßen, wären sie schon lange am Ende.
Aber mit Südafrika blicke ich auch noch nicht durch. Es dürfte sich wohl ähnlich wie
damals mit den Falklands verhalten.“ „Was meinst du damit?“ – fragte Alex, worauf er
zur Antwort erhielt: „Daß der Krieg sich nicht um den Besitz dieser paar
verschissenen Schafsinseln am Ende der Welt drehte, ist mir klar. Mit diesem Krieg
erzeugte die Thatcher eine patriotische Stimmung, aufgrund dessen sie letztlich die
Wahlen gewann. Oder bist du anderer Meinung?“ Schütz grinste und fuhr fort:
„Deutlicher als in solchen Angelegenheiten kann nicht zutage treten, daß Wissen
Macht bedeutet. Bei den Falklandinseln vermutet man Öl und andere Sächelchen.
Der Präsident der Gesellschaft, der dort seine Finger drin hat, ist der Gatte dieser
lieben Dame.“
Alex sagte nachdenklich: „Wie ich die Sache sehe, ist der Dreh- und Angelpunkt die
Beherrschung der großen Geldströme: Wer verleiht wessen Geld und wer besitzt die
größte Macht über Produktionsvermögen?“ „Vergiß die Medien nicht!“ – erinnerte
Schütz, „wer im Fernsehen, Funk und Zeitungen die Daumen drauf hat, steuert die
öffentliche Meinung und kann so intensiv in der Politik mitmischen.“ Alex grinste und
meinte: „Das brauchst du mir nicht zu sagen. Ich frage mich schon seit Jahren bei
allem: Wem nützt das, und wer will was damit erreichen? Manchmal kommt man aus
dem Staunen nicht heraus.“
Seine Frau kam mit dem Baukaufmann im Schlepp. Für die Weihnachtstage konnten
sie einen Aufenthalt in einem Berger-Camp in Worry vereinbaren. Das war besser als
Hotels, weil man Deutsche mit ähnlichen Interessen traf, und die Camps in der Regel
ordentlich und gut geführt waren.
Ein solcher Gastaufenthalt in einem Camp kostete normalerweise nichts – aber zur
Beteiligung an den Auslagen ließ man immer ein paar Naira da. In ihrem eigenen
Camp mußten Besucher pro Nacht 40 Naira zahlen, was nach dem offiziellen Kurs
187,50 Mark bedeutete – selbst beim Schwarzmarkt-kurs immerhin noch 125 Mark.
Deshalb war es ihnen kaum möglich, eine solche Gastfreundschaft mit einer
Gegeneinladung zu erwidern. Sowas sprach sich natürlich schnell herum, und Alex
betonte dann immer wieder, als freier Bauleiter zu arbeiten und kein Angestellter der
Firma zu sein. Er war nicht bereit, derart kleinliches und raffgieriges Verhalten auch
noch zu verteidigen. Das sparsame Wirtschaften war eine Sache und das Vor-denKopf-Stoßen der eigenen Landsleute eine andere.
Die Fahrt nach Worry nahm einen vollen Tag in Anspruch. Immerhin waren volle 800
Km zurückzulegen. Das Nigerdelta ist das größte Flußdelta der Welt, und vom Hafen
aus bis hin zum offenen Meer sind es gute 80 Km. Die konnte man nur mit einem
Führer zurücklegen, sonst würde man sich hoffnungslos verirren. Im Delta hausten
Räuberbanden, und die überfielen Frachtschiffe und plünderten sie aus. In Lagos
gab es einen großen Hehlermarkt, auf dem man alles finden konnte. Nur etwas Zeit
und Geld mußte man dazu mitbringen.
Die Flußläufe im Delta waren bis zu zehn Meter tief und glasklar – eine Landschaft
wie in Tarzan-Filmen. Ein Deutscher hatte vor einiger Zeit hier ein volles Jahr lang in
einer Baumhütte gelebt – dann war er plötzlich verschwunden. War er etwa zurück in
die Heimat gegangen? Oder in ein anderes Land? Lebte er nun mit einer Schwarzen
in einem der vielen kleinen Dörfer? Oder vermoderten seine Gebeine irgendwo in
einem vergessenen Winkel?
Sie ließen sich mit einem Einbaum durch schmale Kanäle rudern. Manchmal mußten
sie sich flach ins Boot legen, weil die Urwaldbäume über dem Wasser richtige Tunnel
bildeten. Auf der Autofahrt hatten sie fünf Armee-Kontrollposten passiert, und jeder
Soldat hatte ‚Frohe Weihnachten‘ gewünscht und die Hand aufgehalten. Als Alex
jedesmal antwortete, Weihnachten sei erst morgen, und weiter fuhr, mußten sie noch
kilometerweit über die verdutzten Gesichter lachen.
Im Grunde genommen waren es arme Kerle, ebenso wie die bei der Polizei.
Monatelang erhielten sie keinen Sold, weshalb sie bei Buskontrollen von jedem
Fahrgast ein paar Münzen nahmen, um nicht zu verhungern.
Das Camp bestand aus 22 massiven Einfamilienhäusern, von einer großen Mauer
mit Stacheldraht umgeben – eine richtige kleine, nette und gepflegte Siedlung mit
Rasenflächen, Blumen, Büschen, Ananas- und Bananen-stauden. Ihnen wies man
ein gut möbliertes Haus zu – mit einem Hausboy, der Kaffee kochte, abwusch und
saubermachte. Die Fenster und Türen waren mit Eisengittern gesichert, dennoch
fand einige Monate zuvor ein Überfall statt. Einige Neger waren dabei über die Mauer
geklettert und hatten ein Ehepaar durch das Fenster mit einem Revolver bedroht und
so gezwungen, die Haustür zu öffnen. Dann hatten sie die Frau vergewaltigt und die
Wertsachen weggeschleppt. Und weil dies alles so einfach abgelaufen war, kamen
sie dann einige Wochen später wieder. Inzwischen jedoch hatte sich der Mann ein
Jagtgewehr zugelegt und damit ballerte er auf den ersten Neger, der zur Tür
hereinkam, eine Schrotladung in den Bauch. Die anderen entkamen. Die Polizei traf
nach einer Stunde ein, und nach Schilderung der Sachlage erledigte einer den
schwer verwundeten Neger gleich an Ort und Stelle mit einem Genickschuß. Kein
Gerichts-verfahren – keine Kosten. Seitdem war nichts mehr geschehen.
Mauern, Stacheldraht und Gitter schützen weniger wirkungsvoll als die richtige
Einstellung eines Angegriffenen. Etwas außerhalb der Stadt, an der Hauptstraße,
hatte ein Juju sein Haus. Er war ein Zauberer oder auch Medizinmann und nannte
sich ‚Doktor der Naturheilkunde‘. Bei der Einweihung von Straßen und Bauprojekten
kam ihm eine wesentliche Bedeutung zu. Bei der Eröffnung von Geschäften und
Lokalen erteilte er gegen ein angemessenes Honorar seinen Segen.
Die Gruppe bestand aus sechs Personen, und sie waren mit einem Ford Transit
unterwegs. Alex mit seiner Frau Karin, zwei deutsche Elektro-monteure, von denen
einer seine langjährige nigerianische Freundin dabei hatte und schließlich ihr
einheimischer Fahrer. Karin wollte unbedingt diesen Juju kennenlernen. Der Fahrer
zitterte vor Angst, und der schwarzen Freundin des Monteurs war augenscheinlich
auch nicht wohl in ihrer Haut.
Diese beiden blieben im Auto sitzen und waren durch nichts zum Aussteigen zu
bewegen. Die Männer betrachteten noch den hölzernen, geschnitzten Figurenstamm
vor dem Haus, als Karin den Juju schon eingewickelt hatte, sie an der nächsten
Sitzung teilnehmen zu lassen.
Der Juju war schon grauhaarig, wohlgenährt, mit klugen Augen versehen und
manchmal auch mit verschmitzt lächelndem Gesichtsausdruck. Er sei ein Mittler
zwischen Gott und den Menschen, erklärte er, und die Feinde seiner Freunde könne
er sogar in Amerika und Europa erreichen und vernichten. Seine gesamte Kraft käme
von Gott, und er sei nur das Werkzeug. Im Dschungel hinter seinem Haus waren
Kreise angelegt, mit Bastvorhängen abgetrennt. Im inneren Kreis lagen bemalte
Knochen und noch allerlei merkwürdige Dinge herum. Zu ihrem Ärger durfte Karin
noch nicht einmal den äußeren Kreis betreten. Sie gelangten in die große Halle,
setzten sich auf die umlaufenden, gemauerten Bänke, und jeder erhielt eine
Kokosnuß und ein Glas mit selbstgebranntem, erstklassigen Kräuterschnaps.
Der Juju nahm in einem mit Schnitzereien reichhaltig versehenen Sessel Platz,
während sich allmählich eine Menge Leute versammelten. Die legten gefesselte
Haustiere vor ihm nieder und warfen sich vor ihn auf den Boden. Als die Halle gut
gefüllt war, hielt er eine Rede, versprach seinen Besuchern seinen Schutz auf allen
ihren Wegen, segnete die Tiere, seine Anhänger und alle Menschen, die reinen
Herzens sind. Alex hatte die ganze Zeit über fleißig Fotos geschossen. Später auf
der Baustelle erzählte er seinen Leuten die Geschichte und heftete ein paar Fotos an
die Tür seines Büros und auch einige an die Tür seines Werkzeuglagers. Seit diesem
Tag wurde aus seinem Bereich kein einziger Nagel mehr geklaut.
Kaum waren sie von ihrem Weihnachtstrip zurück, ging nach einigen Tagen die
Nachricht vom Sturz des Präsidenten Shagari um. Der war zweimal auf der Baustelle
gewesen. Alex hatte ihm das Musterzimmer gezeigt und ihn recht sympathisch
gefunden. Ein paar Tage verließen sie ihr Camp nicht, bis sich die Lage etwas
beruhigt hatte. Nach etwa einer Woche begann sich die Lage zu normalisieren, und
außer verstärkten Straßenkontrollen hatten sie nichts weiter bemerkt.
Die ersten Straßen in diesem Gebiet waren schmal, gewölbt und schon total hinüber.
Auf manchen Strecken war nur Schrittempo möglich. Selbst der beste Slalomfahrer
hatte enorme Schwierigkeiten, allen Schlaglöchern auszuweichen, oder zumindest
doch den meisten. Die Gegend um Abuja wurde von vielen kleinen Flüssen
durchzogen, und die Brücken bildeten ein Paradebeispiel dafür, wie man aus
öffentlichen Aufträgen Geld beiseite schaffen kann: Die Brücken waren nur halb so
breit wie die Straßen.
Da in Nigeria die Regel gilt, daß derjenige, der zuerst da ist, Vorfahrt hat, landete der
Schwächere dann oft im Fluß. Die späteren Straßen von Strabag waren für Afrika viel
zu schade.
Sein zweites Ostern in Nigeria rückte näher. Erst wollte er einen Ausflug zu einem
riesengroßen Stausee an der Grenze zu Mali unternehmen. Dort sollte es angeblich
Schweinefische von mehreren Zentnern Gewicht geben. Aber dann machte er doch
lieber eine Woche Urlaub in Togo. Er war wirklich urlaubsreif. Zwar machte ihm die
Arbeit selbst nichts aus, da war er belastbar. Aber die kleinlichen Intrigen und
unnützen Hakeleien verleideten ihm immer mehr den Spaß an der Arbeit.
Die Vorarbeiten wurden immer schlechter, und seine Mängelrügen immer weniger
beachtet. Fritz erlaubte sich Fehler, für die ihn ein anderer nach Hause geschickt
hätte. Aber Alex hatte ein gutes Gedächnis und in seinen Bauplänen wußte er
Bescheid. Je weiter der Baufortschritt, um so unentbehrlicher wurde er für Dresse.
Seine Frau Karin blieb. Sie wollte ihn in diesem moralischen Sumpf nicht alleine
lassen.
Alex bewohnte immer noch sein Einzelappartement. Vor seiner Tür hatte er eine
Veranda angebaut, die rasch zu einem beliebten Treffpunkt geworden war. Dauernd
kamen Telexe aus Hamburg an, worin angefragt wurde, warum die einzelnen
Gewerke ihr Budget überschritten. Nur Alex machte Plus in seinen Gewerken.
Einer seiner deutschen Vorarbeiter erhielt von Dresse ein Doppelappartement
angeboten. Wieder so ein Schienbeintritt-Versuch von Dresse. Alex lachte nur.
Alexanders Auto wurde wochenlang nicht repariert, obwohl die Hälfte der Mechaniker
nichtstuend herumlungerte. Er ging zu Strabag. Max, der Werk-stattleiter, half ihm
sofort. Alex revanchierte sich mit einer Flasche Brandy. Als Ausgleich für den
kleinkarierten Ärger setzte Alex für seine Vertragsverlängerung eine
Spesenerhöhung von 500 auf 750 Naira durch.
Nolz, der Projektprokurist, kam zur Inspektion, lobte die falschen Leute und fragte
Alex, weshalb so viele seiner Kollegen unterschwellig was gegen ihn hätten. Warum
fragt er so dumm? – dachte Alex, oder ist der am Ende so blöd? Laut erwiderte er:
„Wer Erfolg hat, hat auch viele Neider. Und leider liegt es in der Natur der Sache,
daß sich alle anderen Gewerke vor mir befinden, und ich daher meinen Vorgängern
laufend wegen Mängel und Terminüberschreitungen in den Hintern treten muß. Es
gibt zwei Arten von Kollegen: die eine Sorte ist selbstbewußt und kann auch mal
einen Fehler zugeben, und die andere Sorte unternimmt jeden möglichen und
unmöglichen Klimmzug, um Fehler von sich wegzuschieben. Leider befinden sich
hier auf der Baustelle nur wenige der erstgenannten Garnitur.“
Für die Fliesenarbeiten hatte Alex einen interessanten Subunternehmer: Franzose,
seit dreißig Jahren in Afrika; als Priester gekommen, um die Heiden zu missionieren,
war er den animalischen Reizen der eingeborenen Frauen unterlegen. Jetzt hatte er
mit der dritten Frau insgesamt bereits zwölf Kinder. Dazu ein schönes Haus in Togo.
Und nun zog er mit einem runden Hundert Togolesen von einer Baustelle zur
anderen und machte so ziemlich alles, was Geld einbrachte.
Mit ihm zusammen fuhr Alex und seine Frau per Auto in den Osterurlaub. Drei
andere Kollegen wollten auch nach Togo, nahmen aber das Flugzeug von Kaduna
über Lagos nach Lome.
Die Fahrt dauerte volle zwei Tage. Sie übernachteten bei Benin City in einem Kloster
irischer Mönche. Dies waren sechs Männer, alle über sechzig. Die standen morgens
um fünf Uhr auf, beteten bis sieben, frühstückten eine halbe Stunde und arbeiteten
dann auf dem Feld bis abends. Nach dem Abendessen beteten sie wieder und
gingen dann schlafen.
Sie lebten ausschließlich von den Erzeugnissen ihrer Feldarbeit, backten Brot,
kochten Marmelade, hielten Hühner und nebenbei unterrichteten sie auch noch
jeweils hundert Neger. Es waren liebe und nette alte Herren. Alle hatten
wissenschaftlich gearbeitet oder Bücher geschrieben. Nun hatten sie ihren Platz im
irischen Kloster für Jüngere frei gemacht und waren zum Sterben nach Afrika
gekommen.
Beim Essen wurde nicht gesprochen. Einer der Mönche saß abseits und las aus der
Bibel vor.
Karfreitag am Abend waren sie eingetroffen. Der Franzose übernachtete bei den
Mönchen und betete auch mit ihnen zusammen. Alex und seine Frau erhielten ein
Gästehaus, klein, einfach möbliert und sehr sauber. Mitten in der Nacht ertönten
Trommeln, Schreie, Heulen und auch Gewehrsalven. Alex dachte schon an einen
neuen Putsch oder an einen Stammeskrieg. Aber einer der Mönche erklärte, im
Nachbarort sei der Häuptling gestorben und wurde gerade beerdigt.
Das Kloster lag auf einer Anhöhe mitten im Dschungel, umgeben von Feldern mit
Gemüse, Yam, Ananas- und Bananenstauden. Am nächsten Morgen hatten sich fast
tausend Neger zu einer Prozession versammelt. Sie schleppten ein riesiges
Holzkreuz, knieten alle zehn Meter nieder, beteten und sangen Choräle. Fast zwei
Stunden lang blockierten sie so die Zufahrt zum Kloster. Es war ungemein
eindrucksvoll, welche Achtung und Verehrung den Mönchen zuteil wurde.
Der Franzose kannte alle Grenzbeamten und hatte für jeden einen Händedruck. Bei
einem einfachen Beamten faßte er vorher in die Tasche mit den Ein-Naira-Scheinen
und bei einem Offizier in die mit den Fünfern. „Nur ein bischen geben“, meinte er,
„gerade soviel, um die Freundschaft zu erhalten.“
In Togo sah die Welt gleich anders aus. Die Straßen waren sauber gekehrt, und es
gab nette Geschäfte. In einem Café erhielten sie guten Kaffee und knusprige
Schinkenbrötchen. Togo kämpfte mit einem besonderen Problem: Die Küstenstraße
wurde vom Meer aufgefressen, und die dahinter liegenden
Häuser würden auch bald dran sein.
In der Hauptstadt Lome gab es ein paar große Touristenhotels mit erstklassigem
Service, Essen und Folkloredarbietungen. Alex fand ein Zimmer im deutschen
Seemannsheim - einem Hotel mit großem Garten, Pool, Bar und gut bestückter
Bibliothek. Dieses Seemannsheim war der Trampertreffpunkt von Westafrika. Hier
landeten alle Saharadurchquerer, traf sich die deutsche Kolonie bei Kaffee mit
Pflaumenkuchen, und die Nutten an der Bar waren lieb und nett, wenn sie um einen
Drink oder eine Zigarette baten.
Der deutsche Pfarrer als Leiter hatte es aufgegeben, die leichten Mädchen
aussperren zu wollen. Rein äußerlich konnte man sie nicht von respektablen
Ehefrauen oder Töchtern aus gutem Hause unterscheiden. Ein Mitnehmen in die
Zimmer des Hotels war allerdings nicht gestattet.
Am nächsten Tag schliefen sie lange, frühstückten im Gartenpavillon und
schwammen danach ein paar Runden. Dann wanderten sie am Strand entlang,
sahen den Fischern beim Einholen der Netze zu und besuchten den Markt. Der
wurde von Frauen beherrscht. Es war bunt, lebhaft und laut. Alex suchte ein
Reisebüro und erkundigte sich nach einer Flugverbindung nach Timbuktu. Doch die
war leider zu ungünstig. Der Name dieser sagenumwobenen Wüstenstadt besaß für
ihn einen magischen Klang. Auch nicht so schlimm, dachte er, aufgeschoben ist nicht
aufgehoben.
Abends saßen sie mit einem älteren Deutschen zusammen, der wie das Urbild eines
Seebären aussah. Er fuhr seit zwanzig Jahren die Küste rauf und runter, reparierte
die Leuchttürme von Marokko bis Kapstadt. Er kannte alle Stämme, Häuptlinge und
Zauberer sowie deren Geschichten. Das war es, was Alex gefiel. Sich mit
interessanten Leuten zu unterhalten, eine fundierte Meinung zu hören und sich durch
wahre Fakten bilden zu können.
An das Seemannsheim angegliedert war ein separates Restaurant. Diesmal leider
geschlossen, denn es wurde gerade ein neuer Pächter gesucht. In der Stadt gab es
einen deutschen Supermarkt – sagenhaft preiswert und gut sortiert. Hier würde Alex
auf jeden Fall mal wieder herkommen, und sei es
nur, um nach Timbuktu zu fliegen.
Seine Kollegen kamen zu Besuch und erzählten begeistert von ihrem schönen Hotel.
Doch aus jedem Wort klang die Abneigung über die anderen langweiligen Gäste –
meist Neckermann-Touristen. Sie staunten, welche Typen sich an einem Ort treffen
können, und lauschten hingerissen den Erzählungen des Leuchtturmspezialisten
über die gefürchteten Amazonen-heere des untergegangenen Beninreiches und über
die Opferungen von Kriegsgefangenen.
Ein Stück weiter südlich gab es ein ehemaliges Königshaus mit in Holz geschnitzten
Darstellungen aller damals üblichen Foltermethoden zu bewundern. Einige Deutsche
aus Worry und Lagos waren ebenfalls zu einem Kurzurlaub anwesend und steuerten
einige Erfahrungen bei. Insgesamt wurde es ein lustiger Abend.
Die anderen mußten am nächsten Tag zurückfliegen, um Dienstags wieder
rechtzeitig auf der Baustelle zu sein. Alex gedachte seinen Urlaub intensiv zu nutzen.
Plötzlich schwirrten Gerüchte umher. Nigeria hätte über Ostern eine Währungsreform
durchgeführt – die alten Naira würden nur noch bedingt in Neue Umgetauscht. Alle
Grenzen seien dicht und sogar der Flugverkehr sei unterbrochen. In den folgenden
Tagen bekamen eine Menge Leute ernste Probleme. Viele mußten länger bleiben als
geplant, und keiner wollte ihnen noch die alten Naira abnehmen. In der ersten
Woche durfte kein Auto die Grenze passieren, und sogar manches Flugzeug mußte
umkehren.
Auf dem Flughafen von Lome war die Hölle los. Die Flugzeuge mußten den ins
Stocken geratenen Autoverkehr zusätzlich bewältigen. Viele Leute besaßen NairaKonten in Nigeria, die nun zu verfallen drohten. Die Organisation in vielen Bereichen
brach total zusammen. Alexanders Kollegen fuhren täglich zum Flughafen und
kamen mit hängenden Köpfen wieder. Alex besaß genügend Geld, aber die anderen
gerieten in die Klemme. Ihre Rettung war der Franzose. Er löste ihre Schecks ein.
Über die Bank hätte das ein paar Wochen gedauert. Am Samstag kamen die
anderen endlich weg. Alex wollte am Sonntag fliegen.
Dann würden ihm seine Kollegen ihm rechtzeitig den Fahrer nach Kaduna schicken
können. Denn wer wußte, ob die Taxifahrer noch die alten Naira nehmen würden.
Fast wären sie nicht weggekommen, denn trotz Tickets waren keine Bordkarten mehr
vorhanden. Alex suchte den Manager und erzählte ihm von der großen Baustelle in
Abuja. Und daß er 200 Togolesen entlassen müßte, falls er nicht rechtzeitig zurück
käme, und denen würde er erzählen, daß der Flughafenmanager von Lome schuld
sei. Der sah ihn entsetzt an und hatte plötzlich noch zwei freie Plätze für Alex und
seine Frau.
In Lagos wurde übergenau kontrolliert. Wer mehr als 50 Naira besaß, wurde sofort
verhaftet und, wie Alex später hörte, zu fünf Jahren Straflager verurteilt. Karin
schimpfte wie ein Rohrspatz: „Schau dir das Durcheinander an – keine Organisation.
Warum mußt du in so einem fürchterlichen Land arbeiten? Die sind doch niemals in
der Lage, ein funktionierendes Staatswesen aufzubauen.“
Alex versuchte sie zu bremsen: „Hör bloß auf. Wenn hier einer Deutsch versteht, bist
du ruckzuck verhaftet.“ Sie waren bei der Kontrolle an der Reihe. Der Beamte öffnete
sogar die Cremedosen. Im Brillenetui fand er 80 Naira. Alex grinste und meinte auf
Englisch: „Das ist ihre geheime Reserve. So sind nunmal die Frauen.“ Der Beamte
hob den Zeigefinger und sagte in gutem Deutsch: „Ich hoffe, das machen Sie nicht
noch mal.“ Karin wurde blaß, packte ihre Sachen zusammen, und sie machten sich
aus dem Staub. Glücklicherweise waren die weiblichen Beamten gerade beschäftigt,
denn am Körper hatte sie noch einmal 100 Naira versteckt.
Ihre 80 Naira hatte Karin sogar behalten dürfen. Sie besaß zudem noch 50 erlaubte,
ebenso wie Alex, und so hatten sie zusammen 280 Naira. Damit müßte eigentlich bis
nach Abuja zu kommen sein. Mit dem Taxi fuhren sie vom internationalen zum
nationalen Airport. Es zeigte sich jedoch, daß das O.k. im Ticket nichts wert war.
Eine Schlange von gut hundert Metern wartete vor dem Bordkartenschalter. Nach
einer Stunde in der Schlange waren sie ganze drei Meter vorgerückt. Und die letzte
Maschine würde in zwei Stunden starten.
Ein paar Geschäftemacher wieselten herum. Sie schienen zusammen zu gehören.
Alex sprach sie an: „Könnt ihr mir zwei Bordkarten besorgen?“ Sie konnten, und nach
einem kurzen Feilschen einigten sie sich auf hundert Naira. Ein wahrhaft fürstlicher
Preis – ein Arbeiter verdiente am Tag auf der Baustelle sechs Naira. Aber Angebot
und Nachfrage regeln nunmal überall auf der Welt den Preis. Alex gab dem
Größeren die Tickets und drohte: „Dein Bruder bleibt hier bei mir. Wenn du mit den
Tickets verschwindest, breche ich ihm beide Arme.“ Der Kleinere besah sich
Alexanders breite Schultern und seine Oberarmmuskeln und rollte mit den Augen.
Zehn Minuten später hatte Alex seine Bordkarten.
Das Flugzeug startete fast pünktlich zu seinem 1000 Km Flug. Als sie in Kaduna
landeten, war es schon dunkel. Der Flughafen lag außerhalb, und die Taxifahrer
wollten nicht mehr fahren. Einen konnte er überreden mit den Worten: „Ich war heute
morgen noch in Togo, hatte in Lagos eine Menge Ärger, und wenn uns jetzt noch
unterwegs ein Räuber überfallen will, wird das sehr gefährlich für ihn, denn dann wird
er meine ganze aufgestaute Wut zu spüren bekommen.“ Der Neger lachte und
brachte sie zu einem der beiden guten Hotels.
Sie erhielten noch ein prima Abendessen und waren froh, die Reise so gut wie
geschafft zu haben. Am folgenden Morgen war wie schon am Vorabend kein
Firmenfahrer da. Sie nahmen ein Taxi und trafen zwei Stunden später im Camp ein.
Für seine Urlaubswoche hatte Alex seinen Vormännern einen genauen Arbeitsplan
aufgestellt. Dresse jedoch hatte seine Vormänner ersatzweise für die in Togo
festgehaltenen Bauleiter verwendet. Die hatten natürlich von deren Arbeit keine
Ahnung, und zudem wurde ihre eigene Arbeit auch nur halb oder total falsch erledigt.
Alex benötigte eine volle Woche, um wieder einigermaßen Ordnung in den Laden zu
kriegen.
Christian, der Projektleiter aus Hamburg, ein sehr fähiger Mann, schickte seinen
Assistenten Lusche, der die Fliesen und die abgehängten Decken eingekauft hatte.
Der Fliesenkatalog, von ihm erstellt, stimmte weder vorne noch hinten. Alex mußte
ständig die Flächen neu berechnen, den Lagerbestand feststellen und die
Fehlmenge nachbestellen. Diese überflüssigen Arbeiten kosteten viel Zeit.
Bei den Flurdecken in den Gästezimmern hatte er Glück. Er vereinfachte die
Unterkonstruktion und sparte dadurch 25 Prozent Material ein. Bei 800 Zimmern
blieb so eine ganze Menge übrig, die man anderswo dringend brauchen konnte.
Lusche war eigentlich nicht übel, aber schon sehr deformiert nach
dem Motto: Bloß keine Fehler zugeben und den eigenen Job sichern.
Telexe wurden abgeschickt mit verdrehten Fakten, ohne daß Alex
eine Gelegenheit zur Stellungnahme erhielt. Nur hin und wieder hörte
er hinten herum davon. Langsam war er alles leid. Gern war er
bereit, für gutes Geld exzellente Arbeit zu leisten. Aber mit Lügen,
Intrigen und Verdächtigungen wollte er nichts zu tun haben. Wenn
eine Firma solche Machenschaften nicht stoppen kann, verfügt sie
halt über Mitarbeiter, die sie verdient.
Einer der Juntageneräle besuchte die Baustelle. Sie wollten die
Projekte auswählen, die man mit den knappen Mitteln weiterbauen
könnte, der Rest sollte stillgelegt werden. So würde Abuja der größte
Flop in ganz Afrika werden. Drei große Hotels hatten sich im Bau
befunden. Ihres war am weitesten fortgeschritten, bis auf einige
Arbeiten war es im Grunde fertig und einsatzbereit. Die Zimmer
waren bewohnbar, Wasser und Licht funktionierten, die Küche war
fertig und sogar Telefon und Fernseher waren rundum installiert.
Nur weit und breit waren keine Gäste in Sicht, die einen Grund
herzu-kommen gehabt hätten. Einige spekulierten, der Bau sei als
Armeehaupt-quartier doch bestens geeignet. Vielen tat es leid um die
vertane Zeit und Mühe für den Fall, daß der Bau tatsächlich als
Ruine enden würde. Aber die Entscheidung war bereits gefallen.
Nigeria befand sich mit erheblichen Zahlungen im Rückstand, und
deshalb wurde das Projekt einfach in die Gewährleistungsphase
überführt.
Alex suchte einen Käufer für sein Auto. Es gefiel vielen, aber kaum
einer verfügte über das notwendige Geld. Ein Nigerianer aus ihrem
Personalbüro wollte die notwendigen Naira locker machen. Als
Dresse davon Wind bekam, wurde ihm als Prämie ein gebrauchter
Baustellen-VW geschenkt. Alex mußte einen neuen Käufer suchen.
Schließlich aber stellte er sein Auto
bei Strabag unter und überließ den Verkauf seinen Freunden bei den
anderen Firmen.
Wie immer hatte sich im Laufe der Monate auch hier eine Menge an
Krempel angesammelt. Einen Teil seiner alten Kleider verschenkte er
an seine darüber hocherfreuten Neger. Der Rest kam in die große
Metallkiste zum Heimtransport durch die Firma. Was dann auch sein
letzter Fehler war, denn als die Kiste in Deutschland ankam, fehlte
die Hälfte. Eine Prämie, die für gute Leistung zugesagt war, wurde
natürlich auch nicht ausgezahlt.
Aus Spanien mußte er später dann noch ein paarmal telefonisch die
Überweisung der letzten beiden Gehälter anmahnen. Am Ende
fehlten dann 3.500 Mark, also war die Woche in Togo doch nicht
bezahlt worden. Seine Frau schimpfte. Alex zuckte mit den Schultern
und meinte: „So ändern sich halt die Zeiten. Beim nächsten Mal kann
ich auch bei einer Negerfirma anheuern, denn bei der rechnet man
von vornherein mit sowas.“
Aber ein nächstes Mal würde es nicht geben. Er würde sich was
anderes ausdenken. Denn selbst als freiberuflicher Bauleiter war er
letztlich doch zu abhängig.
Wenn Alex später in Spanien verständnislos dem Gehabe englischer
Urlauber zusah, mußte er immer wieder an eine Episode in Nigeria
denken, die sich abspielte, als er eine seiner Ausflugsfahrten ohne
Frau unternahm. Sie hatte es damals vorgezogen im Camp zu
bleiben und sich die Zeit damit zu vertreiben, ausführliche Briefe an
die Kinder zu schreiben.
Durch den Militärputsch an Neujahr 1984, durch den Präsident
Shagari gestürzt wurde, ruhte die Bautätigkeit eine Woche lang. Alle
Ausländer sollten ihre Camps oder Häuser nach Möglichkeit nicht
verlassen. Alex jedoch machte sich mit seinem Jeep auf den Weg
nach Kamerun. Alle paar Kilometer waren Armee-Kontollposten
eingerichtet. Die Polizei war entwaffnet und hatte praktisch aufgehört
zu existieren. Alex traf auf seinem Weg nicht auf Schwierigkeiten. In
hartnäckigen Fällen half ihm sein Foto aus Bundeswehrtagen, worauf
er in Uniform und mit Waffen zu sehen war.
Die Neger glaubten mehr den Erzählungen ihrer Vorfahren als den
aus Neid geborenen Propagandafilmen, in denen Deutsche als
dumm brutal dargestellt wurden. Nach ihren Legenden sind
Deutsche die besten Soldaten der Welt.
Gegen Mittag des zweiten Tages sah er eine größere Kreuzung kurz
voraus, rechts daneben eine Buschbar und mitten auf der Kreuzung
einen Polizisten, der den so gut wie nicht vorhandenen Verkehr
regelte. Alex stoppte vor der Kreuzung, stieg aus, ging auf den
Polizisten zu, fragte ihn nach dem Weg und lud ihn zu einem Bier
ein. Er bezahlte, prostete dem Polizisten zu, trank einen Schluck,
holte seinen Jeep und parkte direkt vor dem offenen Rast-haus. In
der Ecke saßen drei Engländer, die den Vorgang mit großen Augen
beobachtet hatten. Einer stand auf, kam zu Alex, grüßte und fragte:
„Kennst du den Polizisten? Kannst du uns helfen, denn wir sitzen in
der Klemme?“ Alex grinste und antwortete: „Ihn kenne ich zwar nicht,
aber ihre Tricks.“ Die Engländer waren auf die Kreuzung zugefahren.
Der Polizist hatte freie Fahrt angezeigt und sich im letzten Moment
gedreht und somit die Fahrtrichtung gesperrt. Niemand kann so
blitzschnell bremsen und anhalten. Die Engländer waren erst hinter
der Kreuzung zum Stehen gekommen. Sofort waren sie von weiteren
Polizisten umringt, und als sie die hundert Naira Strafe mangels
ausreichendem Bargeld nicht zahlen konnten, wurde kurzerhand ihr
Range-Rover beschlagnahmt.
Engländer konnte Alex, von einigen wenigen Ausnahmen
abgesehen, nicht leiden. Dennoch konnte er diese Trottel nicht
einfach im Stich lassen. Also tauschte er Pfund gegen Naira im
Verhältnis eins zu eins – ein gutes Geschäft. Die Engländer waren
heilfroh wegzukommen, denn Busse zur nächsten Stadt verkehrten
nicht, und die Banken hatten für unbestimmte Zeit geschlossen. Die
Zeiten waren schlecht für Reisende mit wenig Bargeld und
ungenügender Erfahrung.
Nach zweihundert Kilometern erreichte Alex die Grenzstadt Enugo.
Die Engländer hatten sich immer dicht an ihn gehalten. Nun ging die
Sonne unter, wie in den Tropen üblich innerhalb von zehn Minuten.
Der Kameruner Grenzposten blätterte in seinem Paß und fragte ihn
in tadellosem Deutsch mit Berliner Dialekt: „Wo lebst du in
Deutschland?“
Alex war müde von der Fahrt, schaltete aber dennoch schnell und
gab zur Antwort: „Ich bin natürlich aus Berlin.“ Der Neger stieß einen
röhrenden Schrei aus und deutete auf ein hellerleuchtetes Haus:
„Fahr dorthin. Das Hotel gehört meinem Bruder. Heute abend gibt es
ein Fest. Du bist der erste Berliner seit einem halben Jahr.“
Fünf Minuten später saß Alex auf der breiten Veranda und genoß ein
kühles Bier, aus einer Brauerei in der Stadt, wie ihm versichert
wurde. Er erhielt das beste Zimmer. Der Hausboy schleppte sein
Gepäck nach oben, und zwei Stunden später war die ganze Sippe
versammelt. Das Festgelage dauerte bis weit nach Mitternacht. Alex
hatte deutsche Lieder zu singen und wurde mit Leckerbissen derart
vollgestopft, daß er fürchtete, danach eine ganze Woche lang keinen
Bissen mehr hinunter zu kriegen. Von den Engländern hörte er den
ganzen Abend nichts. Gott sei Dank, dachte er, schließlich bin ich
kein Kindermädchen. Als er am späten Vormittag aufstand und
duschte, warteten der Wirt und der Grenzposten schon auf der
Veranda mit dem Frühstück auf ihn. Seit langer Zeit mal wieder
bekam er in einem afrikanischen Hotel vernünftigen Kaffee
vorgesetzt.
Bei den Brüdern erkundigte er sich gerade nach interessanten
Reisezielen in Kamerun, als er Tom, einen der Engländer, mit
suchendem Blick die Straße heraufkommen sah. Als er Alex
erblickte, winkte er und begann zu laufen. „Ich bin froh, daß ich dich
gefunden habe“, rief er, „die wollen uns doch nicht über die Grenze
lassen.“ „Wie denn das?“ fragte Alex erstaunt und sah den
Grenzposten fragend an. Der lehnte sich gemütlich zurück und
sagte: „Seit dem ersten Januar benötigen Europäer bei der Einreise
nach Kamerun ein Visum.“ „Aber, aber“, stotterte Tom verblüfft, „wie
sollten wir das wissen? Und den Deutschen habt ihr doch auch
hereingelassen.“
Der Grenzposten stand langsam auf, setzte seine Mütze auf den
Kopf und deutete landeinwärts. „Siehst du diese Eisenbrücke über
den Fluß?“ fragte er, und Tom nickte. „Diese Brücke baute das
bayrische Pionierbatallion 1909, und sie steht heute noch. Ihr
Engländer dagegen habt das Land nur beraubt und ausgeplündert.
Deshalb bekommt mein Freund Alexander von mir ein Einreisevisum.
Und ihr fahrt zurück nach Lagos und besorgt euch dort eins.“
Tom schaute Alex ratlos an, welcher sich das Lachen verkniff und
meinte: „Da kann ich auch nichts machen, das ist eben der berühmte
kleine Unterschied. Ihr Engländer habt uns den Krieg erklärt und mit
Hilfe der halben Welt gewonnen und dabei nur euer Empire
verspielt.“ Ohne eine Miene zu verziehen, drehte sich Tom um und
ging zurück. Manche Engländer können eben in jeder Situation
Haltung bewahren.
Frankfurt
Das Wochenende war neblig und trüb. Zeitweise nieselte es – die
typische Zeit für Kaminabende zu zweit oder allein das Spiel der
Flammen zu beobachten. Zeit für gute Gespräche, ein Buch, einen
guten Schluck!
Alex schüttelte lächelnd die Träumereien aus seinem Kopf.
Haferkamp und der Rechtsanwalt sichteten immer noch die
erbeuteten schriftlichen Unterlagen. Über weitere Aktionen sollte erst
beraten werden, wenn das ganze System in seinen Verästelungen
offen daläge.
Da stand noch eine gewaltige Aufgabe an. Die Hauptagenten waren
auszuschalten und ihre Unterlagen ebenfalls zu erbeuten. Für die
Agenten wie Neumann war ein Weg der Bestrafung zu finden, denn
juristisch würde ihnen kaum beizukommen sein. Die ganze
Angelegenheit der Justiz übergeben, würde einen Schlag ins Wasser
bedeuten. Die großen Fische würden davonkommen, und bei den
kleinen würden oft die Beweise nicht ausreichen, und die
Geschädigten dürften wohl leer ausgehen. Besser der Zorn der
Gerechten würde über die Gottlosen kommen; schnell, unbarmherzig
und ohne eine Möglichkeit der Revision.
Sie konnten sich Zeit nehmen. Harris war eines natürlichen Todes
gestorben, seine Helfer dürften nur zeitweilig gemietet gewesen sein,
und die würde man kaum mit ihm in Verbindung bringen.
Der Tod seines Butlers zur gleichen Zeit gab Rätsel auf, und die
Sippschaft würde nun erst mal eine zeitlang in Deckung gehen.
Wenn nichts passierte, würden sich die Ratten nach einiger Zeit
wieder aus ihren Löchern wagen. Und dies würde dann für Alex und
seine Verbündeten der Zeitpunkt sein, konzentriert zuzuschlagen.
Zwar hatte Alex bereits seine persönliche Genugtuung. Aber er ließ
nie eine Aufgabe halb vollendet hinter sich. Das Haupt der Medusa
mußte abgeschlagen werden und dies spurlos. Dieser Schlag mußte
kommen wie ein Flammenschwert aus dunkler Nacht. Ohne jegliches
Hinterlassen von Spuren, denn sonst würden die Beteiligten an die
Abfassungen ihrer Testamente denken müssen.
Auf sein Inserat waren 26 Zuschriften eingegangen. Am Samstag
begann er, die Spreu vom Weizen zu trennen. Mit seinem geplanten
Unternehmen wollte er im Rahmen seines Berufes bleiben nach dem
Motto: Schuster, bleib bei deinen Leisten! Solange es geht jedenfalls.
Er wollte an der spanischen Costa del Sol leben und in Arabien
Hotels renovieren. Viele reiche Araber kommen im Urlaub nach
Andalusien, um ein Stück Europa zu sehen, das sie einmal über
einige Jahrhunderte beherrscht hatten. Eine gute Gelegenheit,
persönliche Kontakte zu knüpfen und sich kennen zu lernen. Die
bestehenden Hotels in Arabien mußten zwischenzeitlich langsam
renovierungsreif sein. Deutsche Handwerker sind nun mal weltweit
die besten. Und als Organisator war Alex schlechthin unschlagbar.
Ein Mann mit einem guten Team, ohne den Wasserkopf einer großen
Firma, würde praktisch konkurrenzlos sein.
Er brauchte Handwerker, die bereit sein würden, ein halbes Jahr in
Arabien zu arbeiten, und zum Ausgleich anschließend ein halbes
Jahr lang Urlaub zu machen. „Weshalb wollen Sie das nicht von
Deutschland aus betreiben?“ fragte ihn einer. „Aus zwei Gründen.
Erstens will ich im Süden leben. Die Menschen dort sind angenehm.
Die nehmen nicht alles so verbissen. Und dann sehe ich nicht ein,
mit meinen Steuern Beamte und Asylanten zu füttern. Dreiviertel
kommen doch nur her, weil sie in ihrer Heimat keine Arbeit und somit
auch nichts zu kauen haben.
Bei denen gibt es kein Arbeitslosengeld. Der Rest kommt, weil in
seinem Land gerade Bürgerkrieg tobt oder eine Diktatur herrscht.
Aber durch Weglaufen löst man keine Probleme wirtschaftlicher
Natur.
Hätten die Vietnamesen sich nicht zu Marionetten der Amis machen
lassen, bräuchten sie jetzt nicht in Nußschalen übers Meer zu
fliehen. Ich bin der Meinung, solche Länder sollte man wie einen
kochenden Kessel behandeln. Die Verhältnisse regeln sich dann
schon von selbst. Die Minderheit paßt sich an, und die Mehrheit
macht Konzessionen, weil andernfalls der Kessel explodieren würde.
Weshalb sollen wir für die Unfähigkeiten anderer Länder bezahlen
und dazu auch noch im eigenen Land erhebliche Nachteile
hinnehmen? Das Asylrecht wurde geschaffen für verfolgte
Schriftsteller, Bürgerrechtler und verwundete Widerstandskämpfer,
falls sie für die richtige Sache kämpfen, und nicht für Menschen, die
auf Kosten anderer leben wollen.“
Die interessierten Handwerker waren leicht zu sortieren. Zunächst
war
jeder
begeistert.
Aber
Alex
beanspruchte
eine
Sicherheitsleistung von 10.000 Mark, weil damit sichergestellt wurde,
daß sie nachher auch tatsächlich mitmachen und ihn nicht hängen
lassen würden. Dazu sollte jeder, der mitmachen wollte, noch einmal
eine Reserve von 10.000 Mark zur Verfügung haben, sowie ein Auto
und das notwendige Werkzeug mitbringen. Kein Angestelltenvertrag
winkte, alle sollten auf selbständiger Basis arbeiten und abrechnen.
Wer als Handwerksmeister im Alter zwischen dreißig und fünfzig
Jahren keine 20.000 Mark aufbringen kann oder nicht bereit ist,
10.000 Mark als reine Sicherheit zu hinterlegen, ist für das Vorhaben
ohnehin nicht geeignet.
Einige besaßen keine müde Mark. Andere wollten ihre
Garantieleistung übergründlich abgesichert haben und wieder andere
hatten sich lediglich etwas schlau machen wollen, also schnüffeln
ohne ernsthaftes Interesse. Kaum zu glauben, wie viele Narren sich
ihm da offenbarten, die tatsächlich glaubten, hervorragende Chancen
zu einer interessanten und lukrativen Existenz ohne Gegenleistung
einfach geschenkt zu bekommen. Von allen Zuschriften blieben am
Ende gerade drei Mann übrig. Also würde er in anderen Zeitungen
überregional weiter inserieren müssen.
Das gleiche wiederholte sich bei seinen Gesprächen mit potentiellen
Lieferanten. Alex wollte ausschließlich deutsche Produkte
verwenden, denn da kannte er sich aus. Im Zweifelsfall würden
deutsche Gerichte zuständig sein und es würde die VOB
(Verdingungsordnung für Bauleistungen) angewendet. Da er sich die
meiste Zeit in Spanien oder Arabien befinden würde, müßte ein
zuverlässiger Agent das Material einkaufen und transport-mäßig
abwickeln. Zwei Lieferanten würden vollkommen ausreichen. Sie
würden sich ergänzen und ersetzen müssen, wenn mal einer ausfiele
oder passen müßte.
Die Gewinnaussichten waren sehr zufriedenstellend. Bei einem
mittelgroßen Hotel würden allein neue Teppichböden eine runde
halbe Million Mark verschlingen. Um sich vor Sprücheklopfern zu
schützen, verlangte Alex auch hier, eine Sicherheitsleistung bei einer
Bank zu hinterlegen oder von einer Bank zu verbürgen. Einer wollte
ihm zur Absicherung einen Wechsel ohne Datum hinterlegen und zur
Deckung bei der bezogenen Bank ein Sparbuch mit entsprechendem
Guthabenstand hinterlegen. Das Sparbuch allerdings lautete auf die
Oma, und ohne Vollmacht war es völlig wertlos.
Ein anderer faßte die besprochenen Punkte in einem schönen
Vertrag zusammen, vergaß aber der Einfachheit halber kurzerhand
die Sicherheits-leistung. Bei einem dritten Ansprechpartner stimmte
zunächst alles, nur die Bank wartete dann vergeblich auf die
Absicherung der von ihr gewünschten Garantieerklärung.
Alex verstand die Welt nicht mehr. Er besaß einen ausgezeichneten
persönlichen Hintergrund und bot eine tolle geschäftliche Chance,
dennoch griff er laufend nur in die Scheiße. Ein NPD-Mitglied wollte
auswandern, egal wohin. „Das ist doch keine Demokratie mehr!“
schimpfte er, „wir können noch nicht einmal einen Saal mieten oder
ungestört eine Veranstaltung abhalten. Wenn aber die Grünen oder
die Gewerkschaften demonstrieren, ist sogar das Fernsehen dabei.“
Alex grinste: „Dazu werdet ihr wohl nicht interessant genug sein.“
Aber im Grunde war der NPD-Mann schon im Recht. Denn jeder
sollte öffentlich seine Meinung sagen können, solange dadurch
niemand beleidigt wird. Niemand sollte dann das Recht besitzen, ihm
den Mund zu verbieten.
In Deutschland existierte nunmal ein Defizit an nationaler
Überzeugung. Im Dritten Reich war dies alles als Folge der
Versailler-Vertrags-Demütigung unendlich übertrieben und nach dem
Zusammenbruch von der Propaganda der Siegermächte mit ihren
deutschen Schreiberlingen ins Lächerliche gezogen worden. Das
wirkte noch heute und fiel besonders bei Sport-veranstaltungen
deutlich ins Auge. Die Reporter redeten nicht von der ‚eigenen
Mannschaft‘, sondern von den ‚deutschen Sportlern‘, als schämten
sie sich, dem gleichen Volk anzugehören.
Dazu kam eine dauernde, beinahe unmerkliche Beeinflussung: Film,
Funk und Fernsehen in USA und teilweise auch in England befanden
sich zu großen Teilen fest in zionistischer Hand. Alex fragte sich oft,
welche Absicht wohl dahinter stecken mochte, die Deutschen in den
Filmen allgemein wie Trottel wirken zu lassen, und in amerikanischen
Filmen fuhren die Gangster grundsätzlich Mercedes.
Der NPD-Mann klagte weiter: „Ich habe auch ganz allgemein keine
Lust mehr. Meinen Betrieb will ich verkaufen und dann woanders in
Ruhe nur noch soviel arbeiten, wie ich gerade muß oder mag. Mein
Sohn hat studiert, verfügt über glänzende Zeugnisse und arbeitet
jetzt für eine große Firma in Amerika. Wem sollte ich meinen Betrieb
wohl überlassen? Eines Tages ärgere ich mich über diese
Bürokraten einmal zuviel, falle um, und dann ab in die Kiste.“
Alex konnte sich denken, was geschehen war. Die Amis waren
verdammt gerissen. An den Unis hatten sie ihre Kopfjäger verteilt,
und die hielte Ausschau nach außergewöhnlichen Talenten. Die
köderte man mit Verträgen und traumhaften Bezügen. Die würden
später ja hundertfach in die Firmenkasse zurück fließen.
Alex konnte es nicht riskieren, sich blind auf einen Lieferagenten zu
verlassen, während er auf einer Baustelle von korrekten
Materiallieferungen abhängig sein würde. Keiner war bereit oder in
der Lage, bei einer Bank eine Auftragsbürgschaft über 20.000 Mark
zu erwirken und abzusichern. Also blieb ihm nur, das benötigte
Material selbst bei den jeweiligen Herstellern zu ordern und mit dem
Transport eine international tätige Spedition zu beauftragen.
Mit seinem ersten Auftraggeber hatte er die Absicherung der
Bestellung über ein unwiderrufliches Akkreditiv vereinbart, von daher
gab es also keine Probleme. Er würde sich auch auf die Renovierung
von Villen an der Costa del Sol beschränken können. In Spanien gab
es zwar rund zwanzig Prozent Arbeitslose, aber kaum einer der
spanischen Handwerker beherrschte eine Fremdsprache. Gute
Aufträge aber waren nur von deutschen, englischen, arabischen oder
anderen ausländischen Auftraggebern zu erwarten.
Aber Alex kannte sich. Immer nur der gleiche Trott, das war nichts für
ihn. Er brauchte Abwechslung, stets neue Herausforderungen, neue
Eindrücke und Erfahrungen. Die Wüste kannte und liebte er, Arabien
lag ihm im Blut. Manchmal sehnte er sich direkt nach der
unendlichen Wüste, dem Laut des singenden Windes über den
Kämmen der Sanddünen oder auch nach dem bunten, quirligen
Treiben auf den Basaren der großen Städte.
Sein größter Kummer war seine fehlende Sprachbegabung. Er hatte
Englisch, Spanisch und ein klein wenig Arabisch unter großer
Anstrengung gelernt und beneidete andere, die eine fremde Sprache
im Vorübergehen aufnehmen konnten. Richtig verstehen aber kann
man ein fremdes Volk aber erst, wenn man die Besonderheiten der
Sprache beherrscht und begreift.
Sonntag abend hatte er seine Interessententermine erledigt. Er ging
mit Brigitte essen. Anschließend wollten sie noch einen Liederabend
besuchen. Brigitte sah entzückend aus. Ihre Wangen waren gerötet,
und in ihren Haaren glitzerten feine Nebeltröpfchen. „Also entweder
du bist noch schöner geworden, oder ich bin maßlos in dich verliebt“,
scherzte Alex, während er an seinem heißen Äppelwoi nippte. „Ich
bin glücklich“, sagte sie leise zur Erklärung. Alex beugte sich über
den Tisch und küßte sie. Eine gemütliche, beinahe intime Stimme
herrschte.
Alex hatte eine Weile nicht auf seine Umgebung geachtet. Als vom
Nebentisch her auf Englisch angesprochen wurde, antwortete er
automatisch und blickte dann hinüber. Dort saß ein Neger, der sich
nach dem Äppelwoi erkundigte. Die Karte war in Deutsch abgefaßt,
und die Fragen nahmen kein Ende. In Alex stieg Ärger auf.
Typisch, dachte er, man ist freundlich und gibt ihnen den kleinen
Finger, und schon werden sie lästig und wollen einem am liebsten
beide Arme ausreißen. Als der Neger dann auch noch zu erzählen
begann, er käme aus Nigeria, da reichte es ihm. „Ich war fast zwei
Jahre in Nigeria“, unterbrach er den Schwarzen, „und das hat mir
gereicht.“ „Weshalb?“ fragte der verblüfft, „hat Ihnen Nigeria nicht
gefallen?“ „Das Land ist teilweise sehr schön, es hat nur einen
Fehler“, sagte Alex, und auf den fragenden Blick des anderen fuhr er
fort: „Es gibt dort zu viele Neger.“ Von da an hatte er seine Ruhe.
Brigitte verstand Englisch und fragte ihn: „Mußtest du ihn derart vor
den Kopf stoßen?“ Alex begann es ihr zu erklären: „In Nigeria mußte
ich mich mit ihren Eigenheiten abfinden. Hier in Deutschland sollten
sie sich also gefälligst nach uns richten. Man sollte nicht zu lange in
einem fremden Kulturkreis leben. Die Engländer haben da einen
guten Spruch drauf: Wenn ein Weißer unter Farbigen lebt, ist er
entweder einer von ihnen geworden oder er lehnt sie ab.
Auf der Baustelle hatten wir Bauleiter, die waren so genervt, daß sie
sich schworen, dem ersten Neger, dem sie zu Hause auf der Straße
begegnen, eins in die Fresse zu geben. Was mich persönlich am
meisten aufbrachte, war ihr Mangel an Stolz. Hatten sie was zu
sagen, waren sie arrogant und frech. Die einfachen Arbeiter bettelten
zuerst um einen Job. Hatten sie den Job, schliefen sie in dunklen
Ecken, liefen stundenlang herum und schwatzten. Feuerte man sie
daraufhin, fielen sie auf die Knie und bettelten erneut. Läßt man sich
aus Mitleid erweichen, lachen sie sich heimlich eins und halten den
weißen Massa für einen Trottel. Während der ganzen Zeit dort lernte
ich nur zwei Neger kennen, die mir gefielen. Einer wohnte in Kaduna
und unterschrieb die Bauabrechnungen, und der andere war ein IboVormann.“
Sie versuchte ihn weiter zu ergründen. „Wie hast du denn diese
Leute behandelt?“ „Hart aber gerecht. Sie sollten mich nicht lieben,
sondern respektieren. Bringst du einem dortigen Neger zuviel
Freundschaft entgegen, nutzt er das in aller Regel sofort aus. Bildlich
gesprochen muß man eine Grenze ziehen. Bleibt er jenseits, kannst
du ihn freundlich behandeln. Macht er aber einen Schritt darüber,
mußt
du
ihm
sofort
eins
auf
seine Kokosnuß hauen, daß er denkt, die Trommeln des jüngsten
Gerichts würden ihm in den Ohren dröhnen.
Meine Grenze war die Leistungsbewertung, was bei Untergebenen
gerade in den Dritte-Welt-Ländern nicht ganz einfach ist. Für alle
Arbeiten hatte ich eine Tagesnorm festgelegt, und die Vormänner
mußten täglich einen Arbeitsbericht abliefern. So konnte sich keiner
herumdrücken, und wer sich Werkzeug klauen ließ, mußte es
bezahlen und wurde mitunter auch gefeuert.
Ein gutes Beispiel zu meinem Standpunkt liefert die Hungerhilfe für
Afrika. Eine einmalige Hilfe im Katastrophenfall ist in Ordnung,
unsere EG-Speicher quellen ja schließlich über. Aber was soll denn
die permanente Hilfe? Sie demütigt die Beschenkten, und die
Schlauen unter ihnen sagen sich, warum sollen wir denn arbeiten,
schließlich werden wir auch so satt. Die Verteiler stehen als
Wohltäter da, und manches private Süppchen wird gekocht. Ich sah,
wie Kleiderspenden vom Roten Kreuz auf dem Markt verkauft
wurden. Bei der Krise in Polen beispielsweise rückten die Priester
nur dann ein Päckchen aus dem Westen heraus, wenn einer dreimal
in der Kirche war. Es gibt halt Dinge, die glaubt niemand, der nicht
direkt dabei war. Ich glaube nicht, daß ein Weißer imstande ist, einen
Neger so schlecht zu behandeln, wie ein Neger einen Neger.“ Er
wechselte das Thema.
„Wie geht es deinem Sohn? Fragt er dich nicht, was du in letzter Zeit
so treibst?“ Brigitte antwortete: „Etwas habe ich ihm
andeutungsweise erzählt, und nun möchte er dich gerne kennen
lernen.“ Jetzt wird die Sache brenzlig, dachte Alex, sie meint es
tatsächlich ernst, und ich werde mich bald entscheiden müssen. Er
ging auf Brigittes Andeutung ein: „Noch etwas früh, würde ich
meinen. Ich erzählte dir ja von meinen Plänen. Du mußt auch nicht
gleich zu allem ja und amen sagen. Zudem sind meine persönlichen
Probleme auch noch nicht alle gelöst. Oder du solltest wenigstens
ein halbes Jahr zur Probe mit mir im Süden einplanen. Wir können
uns gut unterhalten, verfügen in etwa über die gleiche Bildung, und
im Bett klappt es ausgezeichnet. Das ist schon eine gute Grundlage.
Aber der graue Alltag tötete schon manche große Liebe. Wenn es
einem gut geht, gibt es auch keine Probleme. Die Bewährung aber
kommt erst in den Krisen, und wenn ich noch einmal langfristig
Gefühl investiere, dann sollte es für den Rest meines Lebens sein.“
Sie war stark bewegt, setzte zweimal zum Sprechen an und legte
dann einfach nur ihre Hand über seine und drückte leicht zu. Nach
einer Weile flüsterte sie: „Das halbe Probejahr verspreche ich dir.
Selbst wenn unsere Beziehung den Alltagsstürmen nicht standhalten
sollte, wird es ein unvergeßliches Erlebnis werden. Und darauf
möchte ich nicht verzichten.“ Diesmal wechselte sie das Thema.
„Über Afrika hast du dich ja ausgelassen. Wie verhält es sich denn
mit den Arabern? Bei denen warst du doch auch eine ganze Weile.“
Alex wurde nachdenklich. „Die arabischen Völker haben einen
schweren Balanceakt zu vollbringen. Sie müssen die neue Zeit in
ihren Koran integrieren, oder auch umgekehrt, wie man es nimmt. In
Saudi beispielsweise dürfen Frauen studieren, aber nicht arbeiten.
Die lassen sich dort die modernsten Kliniken bauen. Zu ernsten
Operationen müssen die Patienten aber ins Ausland. Denn wenn ein
Patient während einer Operation stirbt, wird der Arzt wie ein Mörder
behandelt. Die meist verschriebenen Arzneien sind Kopfschmerzmittel und Abführtabletten, denn die schaden am wenigsten. Der
Krieg brachte schon immer die größten Umwälzungen. Deshalb ist
meiner Meinung nach der Irak der modernste arabische Staat. Die
Männer sind an der Front, und die Frauen müssen die Wirtschaft in
Gang halten. Und diese Frauen werden sich niemals wieder in einem
Harem einsperren lassen.“
Sie verbrachten noch einen angenehmen Abend.
Am Montag bezahlte Alex sein Hotelzimmer, brachte seine Sachen in
das Reisemobil und gab noch einige Anzeigen auf. Am Nachmittag
traf er sich mit Haferkamp. Die folgenden Tage wollte er die Listen
der Geschädigten durchgehen und herausfinden, ob sich in diesen
Reihen ein paar geeignete Mitstreiter auftun ließen. „Wir müssen erst
alle Einzelheiten gründlich analysieren“, führte Haferkamp aus, „ich
muß noch einige alte Freunde aktivieren. Die waren nach dem Krieg
zum Teil bei der Polizei oder beim Geheimdienst. Von diesen
Unterlagen hier existieren sicherlich irgendwo in einer Zentrale
Kopien. Wenn wir die anderen Agenten angreifen, muß dies nicht nur
spurlos, sondern auch überall zur gleichen Zeit geschehen. Sonst
würde sich ein endloser Krieg entwickeln. Das Ganze macht mir
Spaß, ich fühle mich noch mal richtig jung. Es ist eine erstklassige
Chance, bei einer hochbrisanten Sache einen wichtigen Beitrag zu
leisten.
Wie
bist
du
eigent-
lich zu deiner Einstellung gelangt? Es ist ja nicht gerade die Regel,
heutzu-tage eine nationale Einstellung zu vertreten.“
„Ein Schlüsselerlebnis gibt es eigentlich nicht. Ich lese sehr viel, und
dabei stieß ich allzu oft auf Fakten, die mit dem offiziell vermittelten
Geschichtsbild nicht überein stimmten. Und dabei fragte ich mich
dann, wer wohl lügt und weshalb. Den übertriebenen Nationalstolz
mancher Rechter mag ich überhaupt nicht. Dabei handelt es sich oft
nur um Ersatz für persönlichen Stolz. In unserer Geschichte haben
wir genügend dunkle Zeiten. Zum Beispiel, wenn der hessische Fürst
seine Untertanen als Kanonenfutter an die Engländer verkaufte, oder
was noch schlimmer ist, wenn sie sich das gefallen ließen.“ „Das ist
auch so ein unvollständiges Geschichtsbild“, unterbrach ihn
Haferkamp, „dieser Fürst hat seine Gefängnisinsassen an die
Engländer verkauft. Und wieso deine Abneigung gegen die
internationale Politmafia? In die Geschichte bist du doch nur
verwickelt, weil du damals im Zug mit Harris Streit bekamst“, forschte
Haferkamp weiter.
„Ganz einfach. Ich habe was dagegen, herum geschubst zu werden,
sowohl praktisch als auch theoretisch. Und die Politmafia versucht
uns nunmal vorzuschreiben, was wir zu denken haben und wie wir
uns benehmen müssen, damit sie sich nur ja nicht beleidigt fühlen
müssen. Das einzelne Mitglied der internationalen Politmafia mag
sicher sehr nett und sympathisch sein, wie einzelne Vertreter jedes
Volkes oder jeder Rasse. Wenn ich aber die Auswirkungen der Taten
dieser Organisation sehe, befällt mich eine Abneigung wie gegen
Schlangen oder Spinnen – rein intuitiv.“
Alex zündete sich eine Zigarre an, produzierte Rauchringe und fuhr
fort: „Wie lange schätzt du die Pause ein für eure Analyse und unser
notwendiges Stillhalten? Und woher erhalten wir genügend Hilfe der
benötigten Art, um uns alle Agenten gleichzeitig greifen zu können?“
Der Alte nahm einen Notizblock zur Hand und entgegnete: „Über
geeignete Hilfen mach dir mal keine Sorgen. Ich verfüge über einige
gute Kontakte, und in ungefähr drei Monaten werden wir wohl fertig
sein.“ Alex zog erst einmal die Augenbrauen hoch. „So lange?“ „Ja
sicherlich. Es muß alles überprüft werden, und dabei müssen wir
sehr vorsichtig vorgehen.
Wir haben einen Hinweis auf die Zentrale, ein Reisebüro auf einer
Insel im Mittelmeer. Sehr schlau – zentral gelegen und ohne jeden
Hinweis auf Israel. Natürlich kann es auch sein, daß der Staat Israel
gar nichts mit der Sache zu tun hat, und das Ganze die
Privatinitiative eines Mannes mit zuviel Geld ist, oder daß gar der
Ostblock dahinter steckt. Aber wie gesagt, es muß alles sehr
sorgfältig geprüft werden.“
„Dann verfüge ich ja über recht viel Zeit, und zuerst werde ich dann
also anhand der Liste die Geschädigten im Raum Frankfurt
besuchen. Dafür muß ich mir dann noch einige gute Geschichten
ausdenken.“ Dann erzählte er Haferkamp von seinen spanischarabischen Plänen. „Gar nicht übel“, grinste der Alte, „dann kannst
du ja herkommen, eine Aktion mitmachen und anschließend wieder
verschwinden. Du mußt halt deine Arbeit so organisieren, daß du dir
jederzeit ein paar Tage frei nehmen kannst.“ „Und was macht der
Nachwuchs?“ wollte Alex wissen. „Die sausen rum wie angesengt
und suchen nach geeigneten Projekten. Da hast du denen aber
einen tollen Floh ins Ohr gesetzt. Ich habe ihnen eine Checkliste
angefertigt. Die sollen ja nicht nur alternativ herumwurschteln,
sondern ihre vorhandenen Fähigkeiten weiterentwickeln. Spaß muß
es ihnen machen und lukrativ soll es sein.“ Alex stimmte zu:
„Natürlich, ohne Moos nix los. Jeder muß seinen Teil beitragen.
Trittbrettfahrer haben bei uns nichts zu suchen, denn daran krankt ja
die gesamte alternative Szene, an Idealisten ohne Sinn für
Realitäten. Dabei müssen doch Spaß an der Arbeit und gutes
Einkommen keineswegs Gegensätze sein. Insbesondere muß man
mit allen gegebenen Möglichkeiten den übermächtigen Anteil des
Staates auf allen Ebenen zurückdrängen.“
Zur Entspannung spielten sie eine Partie Schach. Später kreuzte
Alex auf einer Karte die Adressen der Harris-Geschädigten an, die
Haferkamp vorgemerkt hatte. Am nächsten Tag begann er seine
Tour, wobei er sich als Meinungsforscher tarnte, der eine Umfrage
über die Wirtschaftslage durchführte. Nach drei Tagen brach er die
Aktion ab. Außer Informationen hatte die Sache nichts gebracht. Fünf
ehemalige Wirte und Geschäftsinhaber aus dem Bahnhofsviertel,
zwei Journalisten, die schrieben, was sie dachten und nun arbeitslos
waren, acht ehemals hoffnungsvolle Angestellte großer Firmen und
heute auf kümmerlichen Positionen und zwölf Inhaber mittlerer
Unternehmen, die in letzter Zeit schwere Rückschläge erlitten hatten.
Alle waren froh gewesen, einen geduldigen Zuhörer gefunden zu
haben. Keiner hatte eine Vermutung über den wahren Grund für ihr
unerwartetes Pech in letzter Zeit. Einige hatten zu trinken begonnen
und ein halbes Dutzend war zwischenzeitlich geschieden. Auf dem
Computerbogen waren Name und Anschrift, Beruf, Alter und Hobbys
angegeben. Haferkamp hatte die Personen im mittleren Alter und mit
sportlichen Hobbys angekreuzt, aber Alex konnte sich nicht
entschließen, einen von ihnen einzuweihen. Auch schienen die
Motive nicht ganz eindeutig. Fast die Hälfte war aus wirtschaftlichen
Gründen geschädigt worden.
Die Nutznießer waren aber jeweils die Mitglieder der internationalen
Politmafia. Bei den fünf aus dem Bahnhofsviertel hatte diese die
Lokale übernommen, teilweise mit erheblichem Kapitalaufwand
renoviert und erweitert, obwohl sie mittellos angekommen sind. „Die
halten eben zusammen“ war die Erklärung. Etwas dürftig, fand Alex.
Nach den Ursachen brauchte er nicht zu forschen. Sie besaßen die
Kartei, in der auch Neumann verzeichnet war. Die Typen würden
später drankommen, die liefen ihnen nicht weg.
Langsam aber sicher kam der Winter, und Alex zog es in den Süden.
Hier gab es im Moment nichts mehr zu tun. Also kommende Woche
noch einmal die Interessenten der Anzeigen checken und dann
nichts wie ab! Brigitte schwankte noch, ob sie gleich mitfahren oder
ihn später per Flugzeug aufsuchen sollte. Sie wollte schon direkt,
traute sich aber nicht so recht, ihren Sohn alleine zu lassen. Also
nahm Alex die Sache in die Hand. Er telefonierte und verabredete
sich mit Ralf im Café an der Uni.
Nach dem Foto erkannte er ihn sofort. Ein hübsches, langhaariges
Mädchen saß bei ihm. „Hallo“, grüßte er und setzte sich zu ihnen.
„Ihr beiden seht aus wie ein festes Paar.“ Die beiden lächelten
verlegen. „Wir wollen zusammen in Berlin studieren“, sagte Ralf. „Ich
bin dort zur Schule gegangen“, erzählte Alex, „Berlin ist die
Großstadt mit den meisten Parks und Seen der Welt. Die Kneipen
sind rund um die Uhr geöffnet, und man trifft die verrücktesten
Typen.“ Er sah Ralf an mit den Worten: „Deine Mutter beabsichtigte
zuerst, während deiner Studienzeit ebenfalls in Berlin zu wohnen. Ich
konnte
es
ihr
jedoch ausreden.“ „Gott sei Dank“ – dieser Stoßseufzer von Ralf kam
aus tiefstem Herzen. Alex erzählte ein wenig aus seinem Leben und
von seiner geplanten Fahrt nach Spanien. Die beiden hörten
gespannt zu und sahen sich dabei zuweilen an. Egoistisch, wie die
Jugend nun einmal ist, versprachen sie jede Unterstützung. Falls
Brigitte mitfahren würde, hätten sie das Haus für sich.
Für den Abend hatte Alex sich mit Brigitte verabredet. Sie schien
schwer erschüttert, küßte ihn und stieß kläglich hervor: „Mein eigener
Sohn hat mir also gekündigt.“ „Was hat er?“ fragte Alex verblüfft. „Er
hat gesagt, ich soll doch ruhig mal für einen Monat Urlaub machen.
Dann könne er seine Freundin auch mal übers Wochenende
einladen.“ Alex lachte. „Der wird ja langsam erwachsen. Das hast du
nur noch nicht bemerkt.“
Sie vereinbarten ihre Abfahrt für Mitte der kommenden Woche. Nach
dem Essen stiegen sie in sein Reisemobil. Die leise summende
Standheizung verbreitete eine wohlige Wärme. Er begann, sie
zärtlich küssend auszu-ziehen, und sie fiel wie eine halb Verhungerte
über ihn her. „He“, protestierte er, „was ist denn los mit dir?“ „Jetzt
habe ich nur noch dich“, jammerte sie und erstickte ihn fast mit ihren
Küssen. „Aber das ist nun mal der Lauf der Welt. Kinder werden
groß, und eines Tages sind sie dann erwachsen und gehen eigene
Wege.“ „Ich weiß, aber es tut weh“, keuchte sie, und der Rest war
dann nur noch Leidenschaft.
Am Morgen zog sich Alex lediglich einen Jogginganzug an, holte
Brötchen, stellte die Kaffeemaschine an und schlüpfte noch einmal
ins Bett. Brigitte quietschte überrascht, als er sich über sie rollte.
„Das solltest du doch schon kennen, wenn draußen eine Menge
Leute zur Arbeit hasten, macht das erst richtig Spaß.“ „Wie viele von
denen haben sich wohl heute morgen geliebt?“ seufzte sie, erwiderte
heftig seinen Rhythmus und umschlang ihn mit armen und Beinen.
Der Straßenlärm außerhalb der dünnen Wände ließ sie unter der
kuscheligen Felldecke wohlig erschauern. Es war beinahe wie vor
einem flackernden Kamin, wenn draußen die Stürme heulten. Als sie
wieder ruhiger atmeten, schubste er sie aus dem Bett. „Auf, auf –
keine Müdigkeit vortäuschen. Jetzt
habe ich Hunger. Du kannst schon mal beginnen, dich an unsere
Arbeitsteilung zu gewöhnen: Ich besorge die Kalorien und du
servierst sie.“
Sie stieg aus dem Bett und lachte. „Wenn ich immer so angespornt
werde wie eben, dann geht das schon in Ordnung.“ Während sie die
zweite Tasse Kaffee tranken, fragte sie ihn: „Kannst du mich heute
ins Büro begleiten? Eine Sekretärin hat uns zusammen gesehen,
und jetzt schwirren die tollsten Gerüchte in der Kanzlei umher.“ „Gut“,
sagte er, „aber dann müssen wir unser mobiles Heim hier stehen
lassen. Bei deinem Büro finde ich weit und breit keinen Parkplatz.“
Es war nur eine Viertelstunde zu Fuß. Das Personal der Kanzlei
bestand aus zwei männlichen und zwei weiblichen Beratern mit je
einer Sekretärin. Brigitte war für gelegentliche juristische Probleme
zuständig. Für diesen Vormittag hatte sie eine Besprechung
terminiert, um ihren geplanten Urlaub zu erörtern. Alex begrüßte die
Anwesenden und wurde neugierig gemustert. Brigitte zog sich mit
den Beratern in ihr Büro zurück, und Alex verbrachte eine lustige
Stunde bei Kaffe und Kuchen mit den Sekretärinnen. Dann gingen
sie beide zusammen essen. Sie strahlte. Alles war geregelt – sie
konnte ohne Sorgen starten.
„Warst du schon einmal bei einem Stierkampf?“ fragte Alex. „Nein,
und ich habe auch keine Lust, es mir anzusehen“, antwortete sie.
„Ansehen muß auch nicht sein, aber zum besseren Verständnis von
Land und Leute solltest du doch Bescheid wissen. Bei den
Kampfstieren gibt es vier große Blut-linien: Die Cabrera, die
Gallardo, die Vistathermosa und die Varquez. Die Cabreras werden
in Andalusien, in der Gegend von Sevilla gezüchtet. Sie sind bekannt
für ihre Größe und Tapferkeit und für Sentide, das ist die Fähigkeit,
den Torero vom roten Tuch zu unterscheiden.
Manchmal schlummern in einem solchen Stier großartige und
mörderische Anlagen. Dann wird er Miura genannt. Das kann man
aber erst feststellen, wenn er den Torero getötet hat. Der Stierkampf
ist ja kein fairer Zweikampf, sondern ein graziöses, rituelles und
durchaus auch mutiges Schlachten. Nach Möglichkeit wird es
vermieden, dem Kampfstier vor der Arena Menschen zu Fuß zu
zeigen. Und falls er den Kampf in der Arena überlebt,
darf er nie wieder dorthin. In der kurzen Zeit hat der Stier soviel
gelernt, daß er jeden Torero töten würde.“
„Und jetzt werde ich mir sowas erst recht nicht ansehen“, sagte
Brigitte und schüttelte sich, „was reizt die Spanier bloß an einem
derart blutigen Spek-takel?“ Alex antwortete: „Ich glaube, es ist die
Eleganz der Darbietung und der Kitzel der Gefahr. Oft genug gewinnt
ja auch der Stier. Denk doch nur an die Autorennen. Die werden ja
auch nicht im Fernsehen gezeigt, weil die Wagen so schnell um die
Kurve rasen, sondern weil manchmal eines aus der Kurve fliegt.
Oder wie sieht es denn mit Boxkämpfen aus? Ist es etwa kultivierter
Menschen würdig, sich in einem Schaukampf die Köpfe blutig zu
schlagen? Niemand sollte über solche Unsitten anderer Völker die
Nase rümpfen ohne sich zuvor an die eigene Nase zu fassen.“
Er bezahlte und half ihr in den Mantel. Draußen trennten sie sich,
Brigitte wollte einkaufen und dann nach Hause. Alex holte sich die
Zuschriften der Interessenten ab und kaufte einige Bücher. Danach
fuhr er zu Haferkamp und fragte, ob er momentan sein Telefon und
am Wochenende seinen Schreibtisch benutzen könne. „Fühl dich wie
zu Hause, mein Junge“, sagte der zerstreut und besah sich die
Bücher, die Alex eingekauft hatte. „Du bist ja eine richtige Leseratte“,
staunte der Alte und Alex grinste. „Ja, ich bin beinahe ein krankhafter
Bücherwurm. Hätte mich jemand in einer fremden Stadt zu suchen,
bräuchte er sich nur vor der Bücherei zu postieren. Am Wochenende
las ich was Interessantes, und mittels dieser Bücher will ich der
Sache auf den Grund gehen. Wußtest du, daß man in Amerika
Trunksüchtige, Prostituierte, Landstreicher, Kriminelle und dauerhaft
Arme ganz legal kastrierte? Erst 1912 wurden entsprechende
einzelstaatliche Gesetze vom Harvard Law Rewiew als
verfassungswidrig erklärt.“
Haferkamp lächelte und sagte: „Es ist mir schon lange klar, daß
Amerikas moralischer Anspruch der Wirklichkeit nicht standhält.
Aber was soll das Medizinbuch? Interessierst du dich auch dafür?“
Alex erklärte es ihm: „In einem Buch über Psychologie las ich eine
Bemerkung über das ‚Tory-Saels-Syndrom‘ und das will ich
überprüfen. Das ist eine gefürchtete Form schwerer geistiger
Minderentwicklung, also Verblödung. Und es soll nur Mitglieder der
internationalen Politmafia befallen. Klingt doch sonderbar,
nicht wahr?“ „Es gibt viele rätselhafte Dinge“, murmelte der Alte,
„mach ruhig weiter, du bist schon auf dem richtigen Weg.“
Wieder mal zündete sich Alex eine seiner schlanken Zigarren an und
begann, Verabredungen für den Sonntag zu vereinbaren. Mal sehen,
dachte er belustigt, ob diesmal wieder so viele taube Nüsse dabei
sind.
Spät am Abend kamen Jochen, Heinz und Peter – seine
Rückendeckung aus der Harris-Aktion. Er zog sie in eine ruhige Ecke
und fragte: „Wie sehen denn eure Pläne aus? Schon irgendwelche
Resultate?“ Jochen übernahm die Antwort. „Pläne haben wir schon,
nur sind wir uns noch nicht einig. Haferkamp deutete schon an, in
Zukunft könnten noch mehr solcher Aktionen stattfinden. Das wollen
wir natürlich nicht verpassen.“ „Arbeit wie neulich abend gibt’s wohl
auf Jahre hinaus“, informierte sie Alex. „Harris war der Hauptagent.
Er steuerte rund ein Dutzend Einflußagenten. Bislang ist erst einer
ausgeschaltet. An einigen Orten existieren noch andere
Hauptagenten. Wir sind gerade dabei, sie zu lokalisieren. Wenn wir
das schaffen und deren Unterlagen ebenfalls erbeuten, sind wir in
der Lage, gut hundert Einflußagenten unschädlich zu machen. Wir
werden ihren Besitz einsacken, sie umdrehen und dann in unserem
Sinn arbeiten lassen. Bei Weigerung verschwinden sie.“
Die Augen der drei glänzten, und Jochen sagte erregt: „Das ist ja
entschieden gewaltiger, als wir vermuteten. Aber wird das nicht
auffallen und Gegenreaktionen provozieren?“ Alex klärte ihn und die
anderen weiter auf. „Deshalb muß ja alles bestens geplant werden
und absolut spurlos ablaufen. Ich war der Sache nur durch Zufall auf
die Spur gekommen, und davon kam ich nur mit reinem Glück, weil
ich bei Neumann begann und nicht bei Harris. Zuerst müssen wir die
Hauptagenten und die Zentrale vollständig eliminieren. Dann sind
uns die Einflußagenten hilflos ausge-liefert. Haferkamp verfügt über
die meiste Erfahrung in solchen Dingen. Er meint, es sei gegen jede
Geheimdienstregel, daß sich die Hauptagenten gegenseitig kennen.
Bevor er das Rätsel nicht gelöst hat, verhalten wir uns ruhig. In
Deutschland verschwinden jedes Jahr etwa 50.000 Menschen
spurlos. Es passiert entschieden mehr, als in den Zeitungen zu lesen
ist. Trotzdem braucht ihr eine solide Grundlage und eine
einleuchtende
Erklär-
ung zu eurem Lebensstandard. Auch müßt ihr jederzeit verfügbar
sein. Dies alles wird nur über eine selbständige Tätigkeit möglich.
Wenn ihr euch nicht einig seid, welches Projekt ihr in Angriff nehmen
sollt, warum bildet ihr dann nicht mit dem Haufen von Gerd und Fox
drei Gruppen? Die sind ohnehin reichlich jung und brauchen
jemanden, der ihnen in der ersten Zeit sagt, wo es lang geht. Ich bin
bereit, zur Finanzierung beizutragen. Das könnte die Keimzelle
meiner geplanten Stiftung werden. Die eine Hälfte Stiftung, die
andere Privatbesitz.“
„Und wie soll das funktionieren?“ fragte Jochen interessiert. „Doktor
Scheller arbeitet ein genaues Konzept aus. Es soll nur einige
verbindliche Grundsätze geben, damit jedes einzelne Projekt in
seinen Entscheidungen frei ist. Die Sache ist gar nicht so einfach.
Zuerst muß Einigkeit über das Ziel herrschen, und dann muß man
sich die optimalen Wege dahin erarbeiten. Diese Wege dürfen aber
auch kein Dogma sein. Die Menschen ändern sich, die Welt ebenso.
Und nur der Mensch selbst kann entscheiden, wie er seine Probleme
am besten löst. Nicht irgendein Welterlöser oder Weltbeglücker wird
das für ihn tun. Und was für den einen gut ist, braucht für den
nächsten noch lange nicht zu stimmen.“
Alex schenkte sich einen neuen Brandy nach und steckte sich eine
neue Zigarre an. „Wie jede gute Idee ist die Sache an sich einfach.
Eine Hälfte eines Projektes ist Stiftungsbesitz, die andere gehört den
Mitarbeitern. Die Mitarbeiter wählen jedes Jahr einen Leiter, der das
Sagen hat und die Verantwortung trägt. Der Stiftungsteil darf weder
veräußert noch beliehen werden. Faule Mitglieder oder Stänkerer
können durch Mehrheitsbeschluß ausgeschlossen werden. Also eine
reine Basisdemokratie. Jeder ist sowohl für sich selbst als auch für
die Gemeinschaft verantwortlich.
Die Projekte legen vom Ertrag einen Teil, sagen wir mal zehn
Prozent, in einen gemeinsamen Fond, über welchen neue Projekte
finanziert werden. Alle zusammen wählen einen Stiftungsrat von
beispielsweise drei Personen. Dieser verwaltet die Stiftung und
wacht darüber, daß alle Projekte zusammen arbeiten und sich
gegenseitig unterstützen. Die angestrebten Ziele sind fähige, gut
ausgebildete Menschen mit nationaler Überzeugung. Womit ich
meine, daß sie erst einmal Ordnung im eigenen Hause schaffen.
Und wenn es hier keinen Arbeitslosen und keinen Rentner mit
Fürsorgesatz mehr gibt, dann können sie auch den Negerlein im
Busch helfen, aber nicht vorher. Und weiter gegen die
Umweltverschmutzung oder gar Umweltver-nichtung und für
alternative Energien. Gegen Ungerechtigkeit und Ver-dummung in
jeder Form und gegen Verschwendung und für eine starke
Verteidigung ohne Angriffswaffen. Die Liste läßt sich noch fortsetzen.
Aber solche Arbeitsprogramme sollten aus einer ständigen
Diskussion aller Mitglieder für ein besseres Leben hervorgehen und
nicht diktiert werden.“
„Du hast die Atomenergie vergessen“, warf Jochen ein. „Gegen die
Atomenergie habe ich persönlich im Grunde nichts. Allerdings geht
es nicht, unsere Nachkommen mit der ungesicherten Entsorgung
eine strahlende Zeitbombe zu hinterlassen, die noch 50.000 Jahre
tickt.
Manche Menschen gehen mit der Erde mit einer Profitgier um, als
hätten sie noch eine zweite in der Schublade. Was mir am
wichtigsten erscheint, ist aber die Kontrolle der Leiter durch die
Mitglieder. Überall gibt es faule Äpfel, man muß sie nur schnell
genug erkennen und aussortieren. Wichtig ist natürlich auch die
gegenseitige Hilfe der Mitglieder untereinander. Dadurch soll ein
ganz besonderes Gemeinschaftsgefühl entstehen. Wenn viele je ein
wenig beitragen, kann etwas Großes entstehen. Wir sind hier das
Zentrum Europas, und wenn wir hier etwas Neues entwickeln, etwas
mit großer Ausstrahlung, dann wird es eine große Wirkung auf den
ausbeuter-ischen Kapitalismus wie auch auf den diktatorischen
Kommunismus haben und vielleicht sogar diese beiden Auswüchse
etwas abmildern.“
Die drei waren von der Idee eines separaten Projektes für jede
Gruppe angetan und versprachen, sich mit Gerd, Fox und den
anderen zu beraten. Nach zwei weiteren Brandy hatte Alex die nötige
Bettschwere. Sein Reisemobil stand im Hof, und nach ein paar
Schritten konnte er sich ausstrecken. Er schlief tief und traumlos,
erwachte beim ersten Morgen-grauen, reckte sich genüßlich und
döste noch ein Weilchen vor sich hin. Dann kamen die ersten
jugendlichen Bastler, und seine Ruhe war dahin.
Er zog sich einen Trainingsanzug an, besorgte im Dauerlauf die
üblichen Frühstücksbrötchen und dachte sich dabei, daß Vollkornbrot
entschieden ge-
sünder sei. Aber Brötchen schmeckten nun mal besser. Zurück,
stellte er Radio und Kaffeemaschine an und verbrachte allein eine
gemütliche Frühstücksstunde.
Danach unterhielt er sich mit den Bastlern und Haferkamp. Dann
telefonierte er mit Doktor Scheller und machte sich danach auf den
Weg zu Brigitte. Sie durchstöberte gerade ihren Kleiderschrank und
sortierte schon zum dritten Mal die Sachen um, die sie mitzunehmen
beabsichtigte. Er war ruhelos, sagte nebenan bei der alten Oma
‚Guten Tag’, schlang mit Brigitte ein rasch improvisiertes Essen
herunter und verführte sie zu einem aktiven Mittagsschlaf.
Sie duschten zusammen und waren gerade angezogen, als Ralf und
seine Freundin auftauchten. Die beiden waren von dem Reisemobil
begeistert. Alex bot an: „Wenn ihr beide im Sommer an die Costa del
Sol kommt, stelle ich euch den Wagen an einen schönen Strand, und
ihr könnt darin wohnen.“ Das gefiel ihnen natürlich. Alex und Ralf
verstanden sich auf Anhieb. Ralf war alt genug um zu wissen, daß
seine junge Mutter nicht den Rest des Lebens allein verbringen
würde.
Am Abend zündeten sie den Kamin an, spielten Rommé und
unterhielten sich. Bevor er das Land verließ und seine Fahrt in den
Süden antrat, würde er noch seine Kinder besuchen müssen, Adios
sagen und ihnen eine Reserve aufs Konto packen. Nicht zuviel –
sonst würden sie möglicherweise noch übermütig werden. Aber
genug, um sie gegen Notfälle abzusichern.
Alex blickte fragend zu Brigitte. Sie nickte ihm zu. Er war eingeladen,
über Nacht zu bleiben. Ralf brachte seine Freundin zur letzten SBahn, kam zurück und ging gleich ins Bett. Brigitte war vom
Reisefieber gepackt und plante die Fahrt im Geiste auf allen
möglichen Routen durch. Als das Holz im Kamin verbrannt war und
die Glut sich langsam in Asche verwandelte, gingen sie nach oben
ins Schlafzimmer.
Am Wochenende brachte Doktor Scheller einen ausgeklügelten
Stiftungs-plan, der ausgiebig diskutiert und für gut befunden wurde.
Die Anzeigeninteressenten kamen diesmal seinen Vorstellungen
näher. Er hatte seine ersten Erfahrungen ausgewertet und zwei
Hürden eingebaut. Damit würden Spinner und Trittbrettaussteiger
abgeschreckt. Jetzt kamen weniger, dafür aber ernsthafte
Handwerker, die ein besseres Leben suchten. Die meisten hatten
schon öfter an Auswanderung gedacht und begrüßten die gebotene
Möglichkeit zu einem angenehmen Leben, dabei aber dennoch
innerhalb Europas zu bleiben und die Früchte der eigenen Arbeit
weitest-gehend selbst zu ernten.
Allen gemeinsam war das Unbehagen über die Einengung ihrer
Persönlich-keit und die Empörung über wirklichkeitsfremde
Behördenwillkür. Alex erläuterte ihnen sein Vorhaben und gab seine
Adresse bei Marbella weiter, verbunden mit der Empfehlung, bald
vorbei zu kommen und sich selbst ein Bild zu machen. Er wollte
niemanden, der infolge mangelnder Information oder Vorbereitung
hinterher enttäuscht sein würde und keine Lust mehr hätte.
Für Doktor Scheller unterzeichnete er einige Vollmachten. Der
konnte demnach die Hälfte seiner Wiedergutmachungsbeute nach
eigenem Ermessen als Stiftungsgrundstock bei den ersten drei
Projekten verwenden. „Das ist ein Anfang“, meinte der alte
Rechtsanwalt trocken, „für ein Beispiel wird es wohl reichen. Aber
eine breite Basis wird wohl erst in Jahrzehnten daraus erwachsen.“
„Du irrst dich“, grinste Alex vergnügt, „wir müssen nur ein paar
überzeugende Projekte mit zufriedenen, erfolgreichen und
glücklichen Mitgliedern vorzeigen können. Die Menschen brauchen
Ideen und Ideale. Viele würden gern etwas für eine nationale
Erneuerung tun. Wenn es gleichzeitig ein Beitrag zu einer besseren
Welt und einem besseren Leben wäre. Die wissen nur nicht wie und
wurden oft belogen und betrogen. Mit diesem Modell aber haben die
Mitglieder alles selbst in der Hand. Die Stiftung wird Spenden
erhalten. Besitz wird vererbt werden. Ich habe die Vision eines dritten
Weges zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Als Anreiz
werden wir ein Archiv anlegen, in dem jeder, der in irgendeiner Form
zum Gelingen der Stiftung beiträgt, mit Bild, Lebenslauf und Leistung
verewigt wird. Damit wird die betreffende Person praktisch
unsterblich.“
Der Anwalt schmunzelte nachdenklich: „Du entwickelst äußerst
bemerkenswerte Ideen. Ich hätte euch sowieso alles vererbt, denn
ich habe keine Kinder, nur einige ganz entfernte Verwandte. Die
wären allenfalls zu meiner Beerdigung gekommen, und nach ein
paar Monaten wäre ich vergessen. Man lebt ja wirklich nur in seinen
Kindern und in dem Bewußtsein seiner Freunde weiter.
Wenn ich mir aber vorstelle, daß noch nach hundert Jahren junge
Menschen in dem Archiv stöbern und von mir lesen, ist die Sache
sehr verlockend.“ Alex zuckte mit den Schultern. „Man muß die
Menschen nehmen, wie sie sind. Leistung und Gegenleistung
betrachten. Wenn ich für jemanden was tue, erwarte ich einen Lohn
in irgendeiner Form, sei es Geld, Dankbarkeit oder eine andere Art
der Anerkennung. Wenn irgend jemand irgend etwas ohne
Gegenleistung entgegen nimmt, ist er ein Parasit. Und in unseren
Lande gibt es eine Menge Parasiten. Das soll später auch eine
Aufgabe der Mitglieder werden, solche Typen zu erkennen, zu
isolieren und zu bekämpfen.“
„Aber wo ist dein Lohn, deine Anerkennung?“ fragte Doktor Scheller,
worauf er zur Antwort erhielt: „Ich bin zum Teil ein kämpferischer
Idealist, der Dummheit und Verschwendung haßt. Des weiteren bin
ich der Meinung, daß wir es unseren Eltern und ihren großartigen
Leistungen schuldig sind, es sowohl den Russen als auch den
Amerikanern zu zeigen, was eine Harke ist, und uns nicht weiter wie
zweitklassige Vasallen behandeln zu lassen. Militärisch geht das
nicht, damit sind wir ja zweimal auf die Schnauze gefallen. Viel
wirksamer sind Ideen.
Wenn sich meine Stiftungsidee bewährt, und daran zweifle ich nicht,
dann werde ich mit allen Mitstreitern aus den ersten Jahren in die
Geschichte eingehen. Das ist dann Lohn genug.“
Haferkamp hatte seit einer Weile zugehört und warf jetzt ein: „Ich bin
der festen Überzeugung, daß es klappt. Im Kapitalismus sind die
Ausgebeuteten nur kleine Rädchen. Kaum einer kann sich selbst
verwirklichen. Weshalb gibt es denn so viele Neurosen, Selbstmorde,
Ehescheidungen, Aussteiger, Sekten und die vielen alternativen
Versuche mit selbst verwalteten Betrie-ben? Und weshalb hatte die
grüne Partei auf Anhieb solche Erfolge? Weil die anderen Parteien
die Bedürfnisse der Bevölkerung nun mal nicht ernst
nehmen. Die Demokratie funktioniert bei uns nämlich nicht richtig.
Und der Kommunismus ist von den Idealen einer Rosa Luxemburg
meilenweit entfernt. Kann ja auch unmöglich funktionieren, weil die
Menschen nun mal nicht gleich sind und mit keinem Mittel gleich
gemacht werden können. Es gibt nunmal Kluge und Dumme, Starke
und Schwache, Fleißige und Faule. Das ist ein Naturgesetz, und
Naturgesetze lassen sich nicht umdrehen – nicht einmal leicht
verändern. Einer spart sein Geld, während es der Andere versäuft.
Wenn am Ende eines Lebens alle gleich viel, nämlich nichts haben
sollen, ist das ganz einfach ungerecht, und sowas kann nur eine
Sklaven-natur akzeptieren. Und natürlich die Faulen, Dummen,
Schwachen und Säufer.
Wir befinden uns auch schon an einer bedenklichen Grenze. Unser
Staat kassiert von denen, die etwas leisten, schon weit mehr als die
Hälfte ihres Lohnes. Und da Beamte kein Gefühl für Leistung
besitzen, und sich die Volksvertreter im Bundestag zu mehr als der
Hälfte aus Beamten zusammensetzen, wird ein Großteil der Steuern
einfach verschleudert. Dies ist nunmal die Beamtenmentalität.
Solche Leute können es nicht ändern. Sie haben ja keine richtigen
Berufe gelernt und nichts als Vorschriften und Paragraphen in ihren
Köpfen. Wie sollen die denn überhaupt wirtschaften können? Es hat
ihnen ja niemand beigebracht.“
Alex sah die beiden alten Freunde verschmitzt lächelnd an und
sagte: „Was haltet ihr davon, wenn wir drei den ersten Stiftungsrat
bilden? Unsere Argumente könnten mit einer Zunge gesprochen
werden. Damit wäre dann für die ersten Jahre alles aus einem Guß.“
An ihrem Lächeln sah er, daß er den beiden kein schöneres
Geschenk hätte machen können als dieses Angebot.
„Es gibt für die Zukunft noch einen wichtigen Punkt“, fügte Alex
hinzu, „wir wollen mit unseren Projektideen ja nicht im Verborgenen
blühen. Was haltet ihr davon, wenn wir uns finanziell an einer
kleinen, überregionalen Zeitung beteiligen, worin dann regelmäßig
über unsere Ideen und Fort-schritte berichtet wird. In unserem Land
müßten meines Erachtens einige Werte dringend an die richtige
Stelle gerückt werden. Ich möchte euch das anhand eines Beispiels
erklären:
Einer, der viel säuft, ist kein harter Typ, für den er sich gern ausgäbe,
sondern ganz einfach ein Schwächling. Jemand, der Rauschgift
ausprobiert oder gar schon abhängig ist, ist nicht etwa exotisch oder
alternativ, sondern ein dummer Träumer, der mit der Realität nicht
fertig wird. Wer laut und stur seinen Standpunkt verteidigt und mit
dem Kopf durch die Wand will, befindet sich nicht im Recht, sondern
in einer schwachen Position, genau wie derjenige, der mit faulen
Tricks arbeitet. Und die Stars aus der Film- und Musikszene sind
keine Halbgötter, sondern lediglich zu unserer Unter-haltung da –
also nicht mehr als Spaßmacher. Früher zogen sie als Gaukler von
Stadt zu Stadt, und wenn ihre Darbietungen nicht gefielen, wurden
sie ausgepeitscht. Etwas ähnliches sollte man den Fernseh- und
anderen Verantwortlichen angedeihen lassen. Die miesen
Programme spotten ja jeder Beschreibung. Das Fernsehen ist nicht
mehr für die zahlreichen Zuschauer da, sondern im Wesentlichen für
Politiker, Werbeleute und andere Machtmißbraucher.“
Jochen kam mit seinen beiden Freunden herein. „Trinkt ihr einen
mit?“ fragte er, „wir haben gerade etwas für unseren Seelenfrieden
getan.“ „Wenn es etwas Ungesetzliches ist, gehe ich besser raus“,
warf schmunzelnd der Anwalt ein. Die anderen lachten und Jochen
erzählte: „Die Nuttenszene ist durch die Aidsgeschichte ganz schön
ausgetrocknet. Gute Geschäfte werden da nur noch mit jungem
Nachwuchs gemacht. Es gibt da einen Typ, der in ländlichen Discos
junge Mädchen mit Drogen abhängig macht und sie dann an
Bordelle verkauft. Den luden wir zu einem Spielchen ein. Selbstverständlich versuchte er uns zu betrügen. Nun – wir brachen ihm beide
Daumen.“
„Ich kann euch da ein nettes Beispiel erzählen, wie pragmatisch
andere Völker auf diesem Gebiet sind. In Algerien sind die
Frauengefängnisse zugleich Bordelle. Ein Mann, der Lust hat, geht
dort ins Gefängnis und sucht sich eine aus. Die Frau wird nicht
gezwungen. Sie kann ablehnen – grundsätzlich, oder weil ihr der
Mann nicht gefällt. Aber es sind dort immer eine Menge heißer
Stuten eingesperrt, und Knete erhalten die auch noch dafür. Es geht
da richtig nett und gemütlich zu. Die Frauen halten Essen für die
Freier bereit, es wird Bauchtanz vorgeführt. Ein Bauleiterkollege
schwärmte, in Algerien war seine schönste Zeit gewesen.“
Er nahm das Telefon und setzte sich einige Schritte abseits mit den
Worten: „Ich muß mal mein Goldstück anrufen. Bin gleich wieder da.“
Er wählte, hörte das Klingeln, und Brigitte meldete sich. Leise
flüsterte er in die Muschel: „Du gehst ein Leben lang auf tausend
Straßen. Auf deinem Gang siehst du die Vielen, die dich vergaßen.
Ein Auge winkt, die Seele klingt. Hast du es gefunden – warum nur
für Sekunden? Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick – der Mund, die
Beine, das gut geformte Mieder – war es das? Vielleicht dein
Lebensglück. Halt es fest, sonst ist’s vorbei – verweht, nie wieder.“
Ihre Stimme klang atemlos: „Du verdammter Kerl – sofort kommst du
her. Sonst kann ich heute nacht nämlich nicht einschlafen.“ Er lachte
leise und sagte: „Das war der Zweck der Übung. Ich habe Sehnsucht
nach dir.“ „Dann beeile dich“, kam es leise aus dem Hörer zurück. Er
legte auf und wünschte der Runde eine gute Jagt und dann eine gute
Nacht. Seine Adresse in Marbella hatten sie, und in einigen Monaten
würde er mal wieder herein schauen. Alex winkte von der Tür noch
einmal lässig, und fort war er.
Er fuhr langsam, sich auf die Begegnung mit Brigitte vorbereitend.
Heute mußte er ihr mehr erzählen. Nicht alles, aber genug, damit sie
wußte, worauf sie sich mit ihm einließ. Er stellte sein Reisemobil vor
ihre Garage. Das Haus leuchtete unter den Bäumen vertraut
herüber. Sie hatte seinen Wagen gehört und öffnete die Haustür, als
er über den Weg zum Haus schlenderte. „Willkommen daheim“,
sagte sie einfach, umarmte und küßte ihn. Sie gingen hinein. Der
Kamin brannte, und leise Musik erfüllte den Raum.
„Wo ist Ralf?“ fragte er. „In seinem Zimmer. Er macht Hausaufgaben,
hoffe ich“, antwortete sie. Alex fragte: „Kannst du ihn holen? Ich muß
euch eine Geschichte erzählen.“ Sie sah ihn forschend an und ging
dann wortlos die Treppe hinauf. Alex goß sich ein Glas Brandy ein,
und dann war seine übliche Zigarre an der Reihe. Als er den dritten
Rauchring produzierte, kamen die beiden die Treppe herunter. Er
begrüßte Ralf, und sie setzten sich in die Kaminsessel. Er sah
Brigitte in die Augen.
„Einen Teil der Geschichte habe ich dir bereits erzählt. Ralf halte ich
für reif genug, es auch zu erfahren.“ Nun blickte er Ralf an. „Vor
Jahren
verlor
ich
durch einen Gaunertrick eine Menge Geld. Nun kam ich her, um
Nachforschungen anzustellen. Wobei ich Erfolg hatte, und zwar
mehr, als ich zuvor erahnte. Ich deckte einen Agentenring auf, der
anfänglich neonazistische Tendenzen bekämpfen sollte, indem
Deutsche mit solchen Ansichten von einflußreichen Posten
ferngehalten und Selbständige wirt-schaftlich geschädigt oder
vernichtet werden sollten. Später wurden die Aktionen dann
ausgeweitet auf wirtschaftliche Hilfen für Leute, die aus Osteuropa
nach hier auswandern durften und gern hier bleiben. Weil das Leben
hier bei uns nunmal einfacher, besser und bequemer ist. Ich bin
sicher, daß in Amerika das gleiche Strickmuster abläuft.“
Die beiden sahen ihn ungläubig an. „Das glaube ich nicht“, war die
überein-stimmende Reaktion, die fast gleichzeitig einsetzte. Alex sah
sie gelassen an, trank einen Schluck und zog an seiner Zigarre. Im
Kamin platzte unter scharfen Krachen ein harziger Ast. Alex fuhr fort:
„In den letzten Wochen gab es ein paar Auseinandersetzungen. Fünf
Menschen starben. Ich konnte wichtige Unterlagen erbeuten, die
keinen Zweifel lassen. Auch konnte ich zuverlässige Verbündete
finden. Meine persönliche Revanche ist vollständig abgeschlossen.
Aber in einigen Monaten geht der Kampf wahrscheinlich weiter. Wir
haben bislang erst ein einziges Nest ausgehoben. Es gibt aber noch
ein paar davon.“
Brigitte hatte die Hand vor den Mund gepreßt, und Ralf lehnte sich in
seinem Sessel interessiert nach vorn. „Alle Spuren sind verwischt,
soweit ich das beurteilen kann. Ihr solltet nur wissen, daß ich eines
Tages möglicherweise wieder in harte Auseinandersetzungen
verwickelt werde. Aber durch mich kam diese Sache ins Rollen und
ich kann jetzt nicht einfach kneifen. Dann habe ich da auch noch eine
andere Sache in Gang gebracht,...“ – und dann erzählte er ihnen von
der Stiftung.
„Eigentlich ist ‚Stiftung‘ nicht der richtige Ausdruck“, erläuterte er
seine Idee, „ich will damit eine Art Orden gründen, dessen Mitglieder
eine neue Avantgarde darstellen.“ Er wußte, daß diese Sache
gerade Ralf mit seiner linken Einstellung besonders interessieren
würde.
„Dann bist du also mit diesem Staat auch nicht einverstanden?“
fragte
Ralf
eifrig. Brigitte mußte über ihren Sohn lächeln. Alex wunderte sich.
Die Agentenstory und die Toten machten den beiden gar nichts aus.
Er antwor-tete Ralf auf die Frage: „Ich will keine Revolution, aber
eine Umgestaltung. Die herrschenden Kreise haben Angst vor dem
Volkswillen und vor einer direkten Basisdemokratie, die man nicht
zurechtbiegen kann.
In der Weimarer Republik stimmten bei einem Volksentscheid 36
Prozent für die Fürstenenteignung. Das Volk wußte sehr genau, wer
es verraten hatte und nur an seine eigene Tasche dachte. Bei jeder
Organisation stellt sich die Frage nach der Bestechlichkeit der
Anführer. Das ist für einen Gegner der leichteste Weg. Ein paar
Millionen auf ein Schweizer Konto und niemand weiß etwas. Deshalb
lautet die wichtigste Forderung – direkte Wahl der Führer und
dauernde Wachsamkeit der Wähler, sowie exemplarische Strafen für
Fehlverhalten. Wir brauchen eine Demokratisierung der Wirt-schaft.
Eine echte Mitbestimmung. Nicht etwa durch irgendwelche fremden
Gewerkschaftsfunktionäre, was ja letztlich nichts anderes bedeuten
würde als Fremdbestimmung ähnlich der kommunistischen Diktatur.
Dort
die
kommunistischen
Funktionäre,
hier
die
Gewerkschaftsfunktionäre. Die Mitarbeiter in den Betrieben wissen
am besten, was gut für den Erfolg ist, und wer was taugt. Die wollen
ja alle ihren Arbeitsplatz erhalten und werden schon die richtige Wahl
treffen.
Auch die germanischen Stämme wählten bereits ihre Anführer. Und
sie konnten schließlich die römischen Legionen aufhalten und später
sogar das römische Imperium zertrümmern.
Das deutsche Kernland wurde erst durch Kriege verwüstet und
erobert, als Fürsten die Anführer wurden und ihre Titel an unfähige
Nachkommen vererbten. Wenn sich das Volk die Macht aus den
Händen winden läßt, dann geht’s ihm eben schlecht. Dazu paßt du
Meldung aus den letzten Tagen: Das russische Angebot auf
gesamtdeutsche freie Wahlen im Jahr 1955 wurde von Adenauer
hintertrieben. Dies mit dem Hinweis, er besitze zum deutschen Volk
kein Vertrauen. Es fragt sich nur, warum die Engländer das
Dokument erst jetzt nach dreißig Jahren veröffentlichten.
Eine Machtbegrenzung des Staates und der großen Monopolfirmen
bei gleichzeitiger Selbstentwicklung des einzelnen Bürgers ist nur mit
einer
Ba-
sisdemokratie möglich. Und nur mit Betrieben, die sich im Besitz der
Mitarbeiter befinden, also nicht in Alleinbesitz, sondern im Besitz der
dort Aktiven, der vom Betrieb Abhängigen. Wirkliche Freiheit
schließlich wird nur möglich, wenn der Mensch auch sozial frei ist,
also nicht abhängig arbeitet.
Heute existiert ein autoritärer Besitzverteilungsstaat. Die Bürger sind
staatsverdrossen, weil sie keine Möglichkeiten sehen, etwas zu
verändern. Auch Wahlen bringen keine Veränderungen, unabhängig
vom Ausgang. Wer bereits als Kind auf Befehl und absoluten
Gehorsam eingeschworen wurde und später bei der Arbeit das
gleiche Verhaltensmuster erlebt, empfindet das Spiel von Macht und
Ohnmacht letztlich als normal – prak-tisch schicksalhaft.“
Ralf hatte mit wachsender Begeisterung zugehört. Jetzt warf er ein:
„Bei den praktizierten Methoden, den Menschen von klein auf zu
reglementieren und gefügsam zu machen, ist es für den Einzelnen
schwer, seine Verkümmerung überhaupt zu erkennen.“ Alex grinste:
„Das hast du aber bestimmt nicht aus eigener Erfahrung?“ Ralf sah
verlegen zu seiner Mutter, die prustend auf-lachte: „Ich habe mit
seiner Erziehung mehr in die andere Richtung übertrieben – also von
mir ist das auch nicht.“
Sinnierend fuhr Alex fort: „Den Macht- und Herrschaftsmechanismen
bin ich stets nach Möglichkeit ausgewichen. Führende Angestellte
befinden sich in einer besonders schlimmen Lage. Sie fühlen sich
fast als Unternehmer, da sie einen Zipfel der Macht in den Händen
halten. Trotzdem müssen gerade sie bedingungslos gehorchen und
sogar oft auf Leute hören, die lange nicht an ihre eigenen
Fähigkeiten heranreichen.
Auch die Gewerkschaftsbonzen sind der süßen Verlockung der
Macht erlegen. Bevor nicht in allen gewerkschaftseigenen Betrieben
eine Mitbestimmung verwirklicht ist, besitzen die nicht das geringste
Recht, das für die Wirtschaft allgemein zu fordern. Flagge müßten
sie zeigen, aber sie sind nur bemüht, die eigene Position egoistisch
zu sichern. Der Staat nennt sich demokratisch. Aber Wirtschaft und
Verwaltung sind autoritär, absolutistisch und repressiv wie eine
Armee aufgebaut.
Am Werkstor enden die bürgerlichen Rechte. Und ebenso am
Behördeneingang. Wie soll ein Mensch sich selbst verwirklichen,
wenn immer und überall andere über ihn bestimmen – in der Schule,
bei der Arbeit und bei hundert weiteren Gelegenheiten?“
Brigitte hob die Hand. „Bevor ihr beiden euch restlos einig werdet,
muß ich euch noch etwas fragen: Hat nicht jeder
Aufstiegsmöglichkeiten nach seinem Können?“ Alex lächelte.
„Theoretisch ja. Aber unser Schul- und Ausbildungssystem entfacht
eine exzellente Filterwirkung, um die sogenannten Unterschichten
von den Elitepositionen auszuschließen. Bei uns kommen nicht die
Besten oben an, sondern die mit den besten Beziehungen. Je stärker
eine herrschende Klasse befähigt ist, die bedeuten-den Männer der
beherrschten Klasse in sich aufzunehmen, desto solider und
wirkungsvoller, gefährlicher den Feinden gegenüber, wird diese
Herrschaft.
Nehmen wir als Beispiel die Erhebung in den Ritterstand. Deshalb
war England über einige Jahrhunderte hinweg so erfolgreich. Man
hat der unteren Klasse den Ritterstand wie dem Esel die Mohrrübe
vorgehalten, und die Besten, die es dann nach unsäglichen Mühen
geschafft hatten und gnädigerweise den Ritterschlag erhielten,
haben damit die Oberklasse gestützt und stabilisiert. Und dann der
Staat. Die ausführende Staatsgewalt, die Exekutive, ist trotz vieler
Mängel ohne Zweifel nicht untüchtig. Aber der Bundestag als
Legislative ist schon lange nicht mehr das, was er eigentlich sein
sollte. Gesetze werden nicht mehr richtig beraten, sondern es wird
lediglich abgestimmt. Wobei fachkompetente Stellungnahmen und
Äußerungen zwar formell eingeholt werden, praktisch jedoch
unbeachtet bleiben, weil letztlich das Parteibuch entscheidet.
Gesetzesformulierungen und manchmal auch Folgeabwägungen
nehmen Referenten und Vertreter von Interessenverbänden vor –
nicht selten einvernehmlich in direkter Zusammenarbeit. Einzelne
Abgeordnete haben praktisch keine Chance, ihre Meinung
auszudrücken und dementsprechend zu verfahren. Sie werden der
Fraktionsdisziplin unterworfen, und die Fraktionsführer lassen nur
sogenannte Experten zu Wort kommen. Für die Bauern
beispielsweise die Bauernvertreter. Und das sind dann die
Großbauern. Dieser hat jedoch mit 200 Hektar andere Probleme als
ein Kleinbauer mit zehn oder zwanzig Hektar.
Die wichtigsten Referentenentwürfe zu geplanten Gesetzesvorlagen
disku-tiert man mit den Verbandsbürokraten. In Fachausschüssen
und Studien-kommissionen wird beraten und auseinander
genommen, die Wirkung errechnet. Geändert und umformuliert. Und
dies alles, bevor die Abge-ordneten überhaupt ahnen, was auf den
Weg gebracht wurde. Und damit ist der überwältigende Teil der
Bevölkerung von der politischen Willens-bildung ausgeschlossen.
Demokratische Entscheidungsprozesse findet man in den Parteien
selten. Ein kleiner Kreis von Funktionären teilt die Position unter sich
auf, und der Zutritt in die geschlossene Kaste der Führungsschicht ist
ungemein schwierig. Da geht eine gewaltige Demontage der
Demokratie vor sich. Der Staat müßte den Mittelstand und die
mittelgroßen Bauernhöfe stützen und fördern. Gegeben wird aber
denen, die schon reichlich haben, womit die wirtschaftliche
Machtkonzentration nur weiter verstärkt wird. Das ergibt dann
unsinnige Subventionen und verschleuderte Steuern. Große Vermögenskonzentration bedeutet gleichzeitig politische Macht. Deshalb
müßte in einer echten Demokratie zu große wirtschaftliche Macht in
wenigen Händen unterbunden werden.
Einige Millionen soll sich ein cleverer Typ getrost verdienen können.
Aber was darüber hinaus geht, ist Diebstahl und sollte vereitelt
werden. Was mich am meisten fuchst, sind die laufenden Versuche
der Politiker, uns Bürger regelrecht zu verscheißern. Beispielsweise
in der Rentenangelegenheit. Jeder weiß doch, daß die Renten durch
die geringe Zahl der nachwachsenden Beitragszahler nicht mehr
gesichert sind und es gar nicht mehr sein können. Aber alle
versuchen, sich bis zur nächsten Wahl durchzu-mogeln.“
Plötzlich kam Brigitte auf den Anfang zurück: „Wenn du weiterhin in
solche gefährlichen Sachen verwickelt bist, kannst du eines Tages
auch getötet werden. Womit ich dann Witwe wäre, oder?“ Alex
lachte. „Wer will denn ewig leben? Das würde doch langweilig. Lieber
kurz und gut, als lang und schlecht. Auf keinen Fall hilflos vor sich
hindämmern. Wenn ich mal nicht mehr für mich selbst sorgen kann,
lege ich einen sauberen Abgang hin.
Der Glaube der alten Germanen war eigentlich ganz gut. Wer als
Krieger im Kampf fiel, zog in die Walhalla ein. Darin können heute
nur noch Araber mithalten. Wer bei denen im Heiligen Krieg fällt,
kommt ins Paradies. Das ist doch sehr nützlich. Zumindest für die,
die den Krieg veranstalten.“
Das Feuer im Kamin war herunter gebrannt. Die Glut krachte
manchmal. Ein angenehmes, gemeinsames, nachdenkliches
Schweigen herrschte nach seinen letzten Worten. Alex nippte an
seinem Glas und überlegte, ob er sich noch eine Zigarre anstecken
wollte. Er sah auf die Uhr und entschied sich dagegen.
„Geisterstunde. Wollen wir noch ein wenig quatschen oder gehen wir
schlafen?“ Ralf gähnte. „Ich habe genug zum Nachdenken. Morgen
ist auch noch ein Tag.“
Als seine Tür oben zuklappte, winkte Alex Brigitte zu sich und fragte:
„Was hältst du von einer seelischen Aufwärmung?“ Er zog sie auf
seinen Schoß und vergrub sich in ihrem bereitwilligen Mund. Seine
linke Hand streichelte die Innenseite ihrer Schenkel. Langsam
wurden ihre Atemzüge kürzer, und ein kehliges Stöhnen entrang sich
ihrer Brust. „Komm ins Bett“, flüsterte sie erregt, und er gehorchte
nur zu gern. Diesmal war ihre Vereinigung die reinste Raserei. Sie
stöhnte, biß ihn in die Schulter und riß ihm Furchen in die Haut.
Schließlich schliefen sie ermattet in dem Zerwühlten Bett ein.
Am nächsten Morgen trödelten sie herum, verstauten Brigittes
Reisegepäck im Auto, kauften Proviant ein und sagten der Nachbarin
‚Guten Tag‘. Die alte Dame lud sie zum Kaffee ein und ließ sich die
jüngsten Neuigkeiten berichten. Das Reisemobil vor der Garage war
ihr schon aufgefallen, und sie erwärmte sich zusehends für die Idee
einer Reise zu zweit – frei und ungebunden, ohne Hotelreservierung
und Termine.
„Wir werden einfach anhalten, wo es schön ist“, sagte Alex und
erzählte von seiner Griechenlandreise vor einigen Jahren mit seinen
Kindern. Sie hatten spät gefrühstückt und wollten erst gegen Abend
ordentlich essen. Brigitte hatte noch eine Menge Papierkram zu
erledigen: Zeitungen abbestellen, Abbuchungsaufträge erteilen und
vielen Bekannten Bescheid geben. Alex hatte sich erboten, für das
Essen zu sorgen. „Da bin ich ja gespannt, was du diesmal auf den
Tisch bringst“, freute sie sich, „als Hausmann bist du ganz
gut zu gebrauchen.“
Es gab ihr einen Klaps auf den Hintern und schob sie ins Büro. In der
Küche packte er eingekauften Zutaten aus und suchte die feuerfeste
Glasform. Er schälte Kartoffeln und schnitt sie in Scheiben. Ebenso
Tomaten, Zwiebeln und Paprika. Dann füllte er die Glasform mit je
einer Schicht Kartoffelschei-ben, gehackten Zwiebeln und Paprika,
würzte jede Schicht noch mal extra mit Salz, Pfeffer und Paprika und
stellte die verschlossene Glasform in den Backofen. Dann entfachte
er im Kamin ein Feuer, setzte sich mit einem Buch davor und genoß
das Leben.
Brigitte kam aus dem Büro, sah ihn sich im Sessel räkeln und fragte
sarkastisch: „Wer hat denn versprochen, sich um unser leibliches
Wohl zu kümmern? Oder probierst du gerade wieder einen
arabischen Menütrick aus?“ Alex sah auf die Uhr. „In einer Stunde
gibt es was zu futtern. Ich lasse dich schon nicht verhungern. Wenn
du mir nicht glaubst, schau in den Backofen.“ Sie glaubte ihm zwar,
aber neugierig wie alle Frauen ging sie doch in die Küche. Als sie
zurück kam, beugte sie sich über ihn, küßte ihn und biß ihn zärtlich
ins Ohrläppchen. Dann meinte sie: „Wenn das so schmeckt wie es
riecht, überlasse ich dir in Zukunft die Küche.“
„Das könnte dir so passen“, neckte er sie, „mich total verknechten.“
„Ich muß noch soviel erledigen“, seufzte sie, „und ich habe gar keine
Lust dazu.“ „Du besitzt mein vollstes Verständnis“, grinste er, „als ich
selbständig war, erhielt ich auch beinahe täglich Drohbriefe von allen
möglichen Ämtern und Institutionen. Steuererklärungen sollte ich
ausfüllen. Angaben zur statis-tischen Auswertung machen,
Versicherungsformulare ausfüllen und tausend ähnlicher Mistdinge
erledigen. Da aber niemand mit Colt und Handschellen hinter den
Büschen auf mich lauert, warf ich den Kram regelmäßig in den
Kamin, und an dem Feuerchen erwärmte ich mir die Zehen.“
„Gab das nie Ärger?“ fragte sie erstaunt. „Ach“, sagte er wegwerfend,
„wenn die Typen mir zu lästig wurden, ging ich eine Zeit lang ins
Ausland arbeiten, meldete mich hier ordnungsgemäß ab und ließ mir
von der deutschen Botschaft im Ausland den neuen Wohnsitz
bestätigen. Solche Vorgänge fanden sie in den Vorschriften nicht,
und deshalb waren sie dann gewöhnlich völlig ratlos.“
Sie lachte und glitt auf seinen Schoß. Sie küßten sich und
versicherten sich gegenseitig, wie sehr sie sich liebten. Seine Hand
glitt unter ihren Slip und kraulte in ihrem Haar. Ihr Bauch knurrte
vernehmlich, und beide mußten lachen. „Jetzt habe ich doch zwei
Sorten Hunger auf einmal“, stellte sie fest, „gegen welche Sorte
unternehmen wir zuerst was?“
Diese Frage war jedoch nicht ernst zu nehmen, denn sie befand sich
schon dabei, seinen Gürtel zu öffnen. „Du bist wieder feurig heute“,
stöhnte er, mitgerissen von ihrem Temperament, drückte sie über die
Sessellehne und drang ohne viel Umstände in sie ein. Sie
verschränkte ihre Hände hinter seinem Nacken, umklammerte ihn mit
den Beinen und überließ sich seinem Rhythmus. Er spürte ihre
steigende Hitze, und dann wurden sie von Wellen ihres
gleichzeitigen Höhepunktes überschwemmt. Er bewegte sich sachte
weiter, und sie stöhnte lustvoll. Sie schlug ihre Augen auf, zog sich
hoch, küßte ihn und sagte: „Halt an, sonst bekomme ich gleich noch
einmal Lust.“ In einem zärtlichen Nachspiel küßten sie sich noch
einige Minuten, und dann lösten sie sich langsam voneinander.
Er prüfte in der Küche den Auflauf. Die Kartoffelscheiben waren gar,
und somit würde der Rest es auch sein. Rasch deckte er den Tisch,
schnitt das Stangenbrot zurecht und öffnete eine Flasche Wein. Als
Alex die Glasform auf den Tisch stellte, den Deckel abnahm und ein
würziger Geruch sich in der Küche verbreitete, kam Brigitte aus dem
Bad und schnupperte erfreut. „So gefällt es mir“, lachte sie. „Von
allen Seiten verwöhnt zu werden – was will ich mehr?“ Sie kosteten
und blinzelten sich gegenseitig zu. Das Essen war besser gelungen,
als Alex erwartet hatte. Später mußten sie sich zurück-halten, um
eine Portion für Ralf übrig zu lassen.
Als Ralf zwei Stunden später eintraf, saßen sie vor dem Kamin und
unterhielten sich über die Reise. Ralf hatte seine Freundin
mitgebracht, und es wurde noch ein lustiger Abschiedsabend mit
vielen Geschichten, Witzen und Gelächter. Am Morgen ging es in
aller Frühe nach kurzem Abschied los.
Der Besuch bei Alexanders Kindern verlief herzlich und dauerte
länger als geplant. Er erzählte ihnen seine Abenteuer aus letzter Zeit
und sah mit stiller
Freude, wie gut sie sich mit Brigitte verstanden. Die Kinder hatte er
selbständig erzogen, und daher brauchte er sich auch nicht um sie
sorgen. In einer Notlage würde er ihnen natürlich immer voll
beistehen, aber ansonsten waren sie alt genug, ihr Leben selbst zu
gestalten und zu meistern.
Am späten Nachmittag fuhren sie weiter und schafften es am Abend
noch bis zur Grenze. Zwei Tage später kamen sie Südfrankreich an
– nach etlichen Zwischenstopps. Alex hielt an einem Parkplatz mit
schöner Aussicht, um sich mit ein paar Tassen Kaffee für die
Weiterfahrt aufzu-muntern. Brigitte lag hinten im Bett und rief
schlaftrunken: „Was ist los?“ Alex antwortete: „Kaffeepause!
Unterbrich mal deinen Schönheitsschlaf und starte die
Espressomaschine. Nur nicht drängeln, der Herr!“ tönte es zurück.
Alex stieg aus, machte einige Kniebeugen und lief im lockeren Trab
zwei Runden um den Parkplatz. Ein alter Peugeot hielt einige Meter
neben ihm. Ein Mann stieg aus, und ein Mann und eine Frau saßen
noch im Auto. Gleich werden sie mir was verkaufen wollen, dachte
Alex.
Und tatsächlich. Der eine Mann kam auf ihn zu, ging einen Schritt
vorbei und drehte sich um – eine Zigarre in der linken Hand. „Feuer
bitte!“ bat er auf Deutsch mit irgendeinem Akzent. Als der Mann dann
mit der rechten Hand in seine Hosentasche faßte, schrillten bei Alex
die Alarmglocken. Durch das Vorbeigeh-Manöver stand er nun mit
dem Rücken zum Peugeot. Die rechte Hand seines Gegenübers kam
aus der Tasche, die lange Klinge eines Stiletts klappte aus dem Griff
und funkelte gefährlich in der Sonne.
Im gleichen Moment fuhr Alexanders rechte Hand mit gespreizten
Fingern in die Augen des Angreifers. Der ließ im ersten Schock sein
Messer fallen und fuhr sich aufschreiend mit beiden Händen an die
schmerzgepeinigten Augen. Alex packte ihn mit beiden Händen,
drehte sich mit ihm um und duckte sich. Ein grauenvoll krachendes
Knirschen ertönte, und die Gestalt in seinen Händen wurde schlaff.
Der zweite Mann aus dem Auto ließ entsetzt seinen Knüppel fallen
und starrte mit aufgerissenen Augen auf den zertrüm-merten Kopf
seines Kumpans. Alex ließ angeekelt die Leiche los, und die sank
wie ein haltloses Kleiderbündel zwischen ihnen zu Boden.
Ehe der zweite Mann seinen Schock überwunden und seinen
fassungslosen Blick von seinem unfreiwilligen Opfer lösen konnte,
trat Alex einen Schritt vor und trat ihm mit voller Wucht in die Hoden.
Die Wirkung war durchschlagend. Der Totschläger kippte um wie ein
gefällter Baum und wand sich am Boden in konvulsivischen
Zuckungen. Aus seinem Mund drang kein einziger Ton. Dafür gellte
vom Auto her ein durchdringendes Kreischen. Die Frau sprang wie
ein Teufel aus dem Auto, schlug ihren langen Rock hoch und zog
aus einer Oberschenkelscheide einen zierlichen Dolch. Mit zurück
gezogenen Lippen, das wie ein Zähnefletschen wirkte, griff sie Alex
mit einem wütenden Knurren an.
Alex besaß vor einem Messer an sich schon einen heillosen
Respekt, und wütenden Frauen ging er lieber aus dem Weg. Die
Kombination von beiden ließ ihn äußerst vorsichtig werden.
Er sprang nach links zurück, und die Frau machte einen Schwenker
in seine Richtung. Er sprang erneut, diesmal nach rechts. Aus dem
Stand konnte er gut zwei Meter weit springen. Als sie diesmal wieder
auf ihn einschwenkte und ihn fast erreicht hatte, trat er gegen ihr
linkes Knie. Sie schrie auf, wurde um ihre eigene Achse gewirbelt
und krachte zu Boden. Ihr Dolch flog in hohem Bogen davon.
Alex besah sich das Desaster und überlegte, was er nun tun solle,
als Brigitte an ihm vorbei rannte, die langen Haare der Zigeunerin
packte und sie daran hin und her zerrte. „Du verdammte Schlampe!“
schrie sie dabei, vor Wut bebend, „dir werde ich helfen, meinen
Mann ermorden zu wollen!“
Trotz des Schlachtfeldes mußte Alex lachen. Es war einfach zu
komisch. Die Frau wimmerte nur noch und hatte mit beiden Händen
ihre Haare umfaßt, um der Schmerz abzumildern. Brigitte ließ los,
trat zurück und sagte zu Alex: „Komm, wir verschwinden. Sonst
müssen wir der Polizei endlose Fragen beantworten.“ Einige
Kilometer weiter stießen sie auf ein Rasthaus. Alex bog ein und
sagte: „Dann trinken wir unseren Kaffee eben hier.“
Sie setzten sich an einen Fenstertisch. Brigitte bestellte in
fließendem Französisch, denn sie hatte einige Zeit an der Sorbonne
studiert.
Der
Wirt
gab die Bestellung an die Küche weiter und telefonierte. „Ich erzählte
ihm, wir hätten im Vorbeifahren gesehen, wie zwei Männer sich um
eine Frau prügelten“, kicherte Brigitte, „jetzt ruft er die Gendarmen
an, und wenn sie sich etwas beeilen, werden sie eine Menge zu tun
bekommen.“ Einige
Monate
später
wunderte
sich
ein
Kriminalsekretär bei der statistischen Auswertung, warum
Reisemobile mit deutschen Nummernschildern in letzter Zeit so
selten überfallen wurden. Die Flüsterpropaganda unter den Ganoven
hatte ihre Wirkung gezeigt.
In Biarritz hielten sie kurz an. Der berühmte Badeort sah im Winter
so traurig aus wie eine abgeschminkte Nutte. In Sintra, kurz vor
Lissabon, blieben sie ein paar Tage. An einer selbstgezimmerten
Strandbar traf sich jeden Tag ein bunter, internationaler Haufen von
Langzeiturlaubern, Playboys, Steuerflüchtlingen, schweren Jungs,
leichten Mädchen und einigen Einheimischen. Der Wirt war
Deutscher, verbrauchte gerade die zweite Portugiesin und war früher
Fernfahrer gewesen. Dann hatte er Autos an- und verkauft, bis die
Steuerprüfer kamen. Was in ihm den raschen Entschluß auslöste,
spontan in den Süden zu ziehen. Portugal und Spanien kannte er ja
bereits von seinen LKW-Touren her und die Sprachen lernte er
spielend.
„Die können mich mal“, pflegte er zu sagen. „Wenn das Finanzamt
mich mal intensiver belästigt, heirate ich eben meine Tussi und
werde Portugiese. Schließlich bin ich doch nicht auf dieser Welt, um
diesen Faulenzern ihren Büroschlaf mit Beförderungsgarantie zu
finanzieren.“
Ein dicker Bayer schaukelte auf seinem Barhocker. „Das Leben ist so
traurig“, jammerte er. Alex prostete ihm zu. „Ich weiß schon. Nichts
kann der Mensch schlechter verkraften als eine Reihe guter Tage.
Was willst du eigentlich? Jeden Tag Sonne, genügend Bier, gute
Kumpels um dich herum. Was soll also das Gejaule?“ Der Bayer
nahm einen tiefen Schluck und sagte: „Es ist schauderhaft, mit einer
Frau im Bett zu liegen, die man nicht mehr vögeln will.“ Die Runde
brach in schallendes Gelächter aus. „Stell dir mal vor, ihr geht es
ebenso“, sagte Alex lachend zu ihm. Der fassungslose
Gesichtsausdruck des Bayern bewirkte ein erneutes, verzücktes
Aufjohlen der Runde.
Der Wirt hieß Eckard, aber alle nannten ihn Hardy. Dieser Hardy
hatte so seine Prinzipien. Wer ihm nicht gefiel, bekam von ihm
nichts. Er erzählte, wie er einen reichen, hochnäsigen Portugiesen
fortgeschickt hatte, und das tat er so plastisch, daß sich die Gäste
fast unterm Tisch wälzten. Hotte, ein Berliner, warf ein: „Wenn du
das öfter machst, wirst du eines Tages Konkurrenz bekommen.“
„Hatte ich schon“, entgegnete Hardy verächtlich, „die Hütte stand da
drüben. Hat der Wind vor ein paar Monaten fortgeweht. Eine Frau
hatte darin bedient. Die wackelte mit allem, was sie besaß. Leider
war es nicht viel. Und in das Bier mußte man Zigarettenasche
reinkippen, damit es überhaupt nach was schmeckte.“
Dem Bayern fiel vor Schreck bei der Vorstellung eines derartigen
Frevels fast der Maßkrug aus der Hand. Alex unterhielt sich mit
Hotte, denn er war ja auch in Berlin zur Schule gegangen. „Biste von
Haus aus reich, oder wie machste deine Kohle?“ fragte er ihn. „Zum
Geld habe ich kein Verhältnis“, klagte Hotte in einem wohl seltenen
Augenblick von Selbsterkenntnis. Und dann gab er seine Geschichte
zum Besten:
„Ich komme aus der DDR. Hopste damals beinahe mit einem Satz
auf die Mauer – leider fiel ich auf der verkehrten Seite wieder runter.
Daraufhin wurde ich erst einmal für drei Jahre eingebuchtet. Dann
freigekauft und gleich richtig rein in die Glitzerwelt. Egal weshalb,
aber wenn du schon einmal im Knast gesessen hast, lachst du über
die Probleme der Normal-sterblichen und es bleibt dir irgendwie ein
Hang zu schrägen Vögeln.
Eines Abends lernte ich in `ner Disco ein putziges Mädchen kennen.
Die erzählte mir, sie arbeite bei einer Kreditkartenfirma. Also stellte
ich meine Lauscher auf und beschloß, ins Kreditkartengeschäft
einzusteigen, und so robbte ich mich an sie ran. Erst mal wurde `ne
flotte Sohle aufs Parkett gelegt und dann in einer dunklen Ecke ihre
Titten durchgewalkt – da ging ihr schon der erste ab. Am selben
Abend bin ich noch bei ihr eingezogen, und damit begann die
Knochenarbeit.“
„Wieso?“ fragte Alex, „sowas kann doch nicht in Arbeit ausarten.“
„Denkst du in deiner jugendlichen Einfalt“, entrüstete sich der um
zehn Jahre jüngere Hotte. „Die hatte doch einen Geburtsfehler. Ihre
Einfahrt
war
so
riesig,
da
konntest du mit einem Lastwagen rein und dir dann in aller Ruhe
einen Parkplatz suchen. Aber mit Arbeit meine ich ja hauptsächlich
das Kohle-machen. Daher kommt ja meine gestörte Einstellung zum
Geld – es war eben zu leicht.“
„Erzähle“, forderte Alex ihn auf, „wie man leicht zu Geld kommt,
interessiert mich schon immer.“ Der Unterricht ging weiter: „Also, der
Draht spielt sich folgendermaßen ab: Die Kreditkartenorganisation
verschickt jeden Tag mit normaler Post Blankokarten an neue
Mitglieder. Auch welche, mit denen alte oder verloren gegangene
ersetzt werden. Meine Tussi besorgt mir also die Adressen, und
dann gleich hinter den Briefträgern her und die Sendung aus dem
Briefkasten gefischt. Du glaubst gar nicht, wie viele verschiedene
Schlüssel dafür notwendig sind.
Auf der Karte stehen ein Name und die Mitgliedsnummer. Jetzt
braucht man die Karte nur noch mit diesem Namen unterschreiben
mit deiner normalen Schrift, und somit stimmt dann die Unterschrift
für die Zukunft zu allen anderen Unterschriften. Nun braucht man
sich nur noch den dazu passenden Paß besorgen. Den kriegt man
für ungefähr 2.000 Mark. Was dann folgt ist ja die Knochenarbeit. Es
dauert etwa vier Wochen, bis die merken, daß irgendwas faul ist. Die
Einkaufstouren müssen also genau geplant sein und reibungslos
ablaufen. Natürlich darf man nur solches Zeug kaufen, das sich auch
leicht wieder verscheuern läßt, sonst wär’s ja die reine
Geldverschwen-dung. In Holland veranstaltet ein Club einen
Wettbewerb. Der Beste kaufte innerhalb von vier Wochen für rund
450.000 Mark ein.“
Alex pfiff durch die Zähne und meinte: „Dagegen sind Bankräuber ja
die reinsten Stümper.“ Hotte seufzte: „Aber leider verdirbt leichtes
Geld den Charakter. Man wird übermütig und leichtsinnig. Eines
Abends bin ich in eine Nachtbar rein. Ich gebe dem Barkeeper meine
Kreditkarte und sage zu ihm, er solle mal zwei Deckungen von
jeweils tausend Mark abziehen. Eine solle er mir auszahlen, die
andere könne er behalten. Wer sagt da schon ‚nein‘, wenn er auf die
Schnelle einen Tausender machen kann. Ich also ran an die Theke
und für die Miezen eine große Pulle bestellt. Zwei Stunden später
machen die Bullen eine Razzia, suchen nach Rauschgift und finden
meine beiden Rechnungen beim Keeper. Die kennen die Tricks
natürlich
auch, und gleich begannen alle Lichter zu blinken und es wurde
telefoniert. Mit Mühe und Not habe ich damals die Kurve gekriegt und
bin dann erst mal nach Israel.“
„Was willst du denn bei den Israelis?“ fragte Alex entgeistert. Die
Antwort war einleuchtend. „Na, die liefern doch niemanden aus. Und
nach Deutschland schon gar nicht, verstehste?“ „Und wie bist du
dann hier gelandet?“ fragte Alex weiter. Und wieder einmal hatte das
Schlitzohr eine Bombenerklärung parat: „Meine Spur führt also nach
Israel. Da klappen doch die Bullen in Berlin erst mal meine Akte zu.
Israel ist aber auf Dauer zu teuer. In Haifa kaufte ich mir ein
Penthaus am Strand und war nach einigen Monaten fast pleite.
Normale Geschäfte kannste nicht machen, denn dafür fehlen dir die
Beziehungen. Also lachte ich mir zwei Pferdchen an und schickte sie
auf die Rennbahn. Die Israelis haben das aber nicht gern, wenn bei
ihnen ein Ausländer Kohle macht. Die sind das halt andersherum
gewöhnt. Nach einer Weile erhielt ich Dutzende von Hinweisen, ob
mir nicht ein wenig Luftveränderung guttäte.“
„Und was machen die Pferdchen inzwischen?“ fragte Alex lachend.
Urig wie bisher, erklärte Hotte weiter: „Die bezahlen mir Miete. Davon
kann ich hier leben. So sind wir alle zufrieden. Die Israelis sind mich
los, die Miezen haben eine schöne Wohnung – mit dem exklusiven
Background können sie gleich ein paar Scheine mehr verlangen –
und ich kann mir hier in Ruhe was Neues ausdenken.“
Alex hob sein Glas und prostete ihm zu: „Auf daß das Leben nie
langweilig wird!“ „Darauf kannst du einen lassen“, gab Hotte zurück,
trank sein Glas aus und bestellte eine neue Runde. „Schau dir mal
den Typ an.“ Hotte deutete auf einen schmächtigen in mittleren
Jahren und mit schütterem Haar. „Dem ist seine Frau fort gelaufen.
Hier will er seinen Schock über-winden. Gestern abend hat er mir
stundenlang vorgelabert. Wie gut sie es bei ihm doch gehabt hätte.
Meiner Meinung nach hat die sich nur aus einem scheintoten
Zustand heraus gerettet. Der sieht doch aus wie eine halb verweste
Leiche und stinkt nach Terpentin on the rocks. Naja, was kann man
von einem Beamten schon erwarten.“ Sie lachten beide.
Wenig später kam Brigitte und setzte sich zu ihnen. Sie hatte sich mit
einer Gruppe Ausgeflippter unterhalten und erzählte nun: „Die Typen
leben in den Bergen in einer Künstlerkommune. Eine Menge Leute
wollen da ihren persönlichen Dachschaden der Welt als
künstlerisches Flair andrehen.“ Sie schnaubte entrüstet. Ihr scharfer
Verstand durchschaute hohles Geschwätz sofort. Hotte blickte sie
bewundernd an und fragte Alex: „Wie hast du bloß so ein Goldstück
an Land ziehen können?“
„Mit inneren Werten, denn an meinem Äußeren kann es ja kaum
gelegen haben. Ich bin natürlich sehr stolz auf sie.“ Mit munterem
Geplauder bisheriger Art verging der Abend.
Am nächsten Tag fuhren sie weiter nach Süden durch die Algarve,
setzten mit der Fähre nach Spanien über und hielten erst wieder in
Cadiz für zwei Tage an. Die Sonne schien, aber ein kalter Wind
wehte vom Atlantik her. Alex hatte sein Reisemobil neben der Polizei
abgestellt und mit dem Offizier gesprochen. Die Polizisten würden
ein Auge darauf haben.
Cadiz hatte eine lange Geschichte und besaß malerische Winkel. In
einer Bodega mit schöner Aussicht aufs Meer trafen sie einen
Deutschen, der hier sein Rentnerdasein genoß. Er wußte sehr
gescheit von der Geschichte der Stadt zu erzählen. „Wie kamen Sie
auf den Einfall, sich hier nieder zu lassen?“ fragte Brigitte und erhielt
zur Antwort: „Meine Rente ist hier weit mehr wert, und nette
Menschen finden sich überall. Bei uns zuhause können die meisten
ja nur bis zum nächsten Misthaufen sehen. Zum ersten Mal kam ich
als Kriegsgefangener auf der Fahrt nach Amerika hier vorbei. In
vielen Menschen weckte der Krieg nunmal das größte Fernweh.“
„Haben Sie hier viele Kontakte?“ fragte ihn Alex. „Genug“, erwiderte
der Alte, „hier ist die halbe Welt versammelt. Man braucht nur auf die
Menschen zuzugehen und darf nicht auf die anderen warten.“ Er
stellte ihnen einen vorzüglichen und sehr preiswerten Menüvorschlag
zusammen und empfahl dazu einen einheimischen Wein. „Immer
was aus der Umgebung trinken“, zwinkerte er verschmitzt, „die
trauen sich nicht zu panschen.“
Am nächsten Tag fuhren sie an Gibraltar vorüber. „Es lohnt kaum,
den Felsen zu besuchen“, erklärte Alex, „dort wimmelt es von
Touristen und teuer ist es auch.“ Auf dem höchsten Punkt der
Küstenstraße stoppte er an einem Parkplatz, packte sein
Marinefernglas aus und sagte: „Von hier hast du den besten Blick
über Gibraltar, das gegenüberliegende Ufer und die ganze Küste.
Schau mal, die große Raffinerie hinter dem Felsen in Richtung
Cadiz. Das nenne ich Luftverschmutzung.“ Er pfiff ehrfürchtig durch
die Zähne. Gewaltige schwarze Rauchwolken quollen aus vielen
Schornsteinen und wälzten sich auf Gibraltar zu. Alex grinste und
sagte: „Ich bin fast sicher, daß die Spanier diese Anlage mit Absicht
an dieser Stelle bauten, um den Engländern einen dauerhaften
Raucherkatarrh zu verschaffen.“ Sie schossen ein paar Fotos und
fuhren weiter.
Am Nachmittag kamen sie in Estepona an. „Gleich sind wir in
Marbella“, erzählte Alex, „aber vorher halten wir noch in Puerto
Banus, dem berühmten Yachthafen. Ist nichts Besonderes – teure
Bars, Restaurants und Boutiquen und ein paar schöne Yachten der
Superreichen. Bevor wir abbiegen ist links das Kasino und die
Stierkampfarena.“ Es war noch nicht Abend und deshalb fanden sie
einen Parkplatz. Sie setzten sich in eines der vielen Strandcafes und
tranken Kaffee und Brandy zum Aufmuntern.
„Abends ist das hier die Flaniermeile. Die Schönen der Nacht stellen
sich zur Schau, und die Reichen suchen willige Opfer für ihre
Bordparties. Ohne anzuhalten fuhren sie dann weiter nach Marbella.
„Die Stadt selbst ist mit ihren Betonburgen fast so scheußlich wie
Torremolinos. Hier links neben dem kleinen Park liegt die Altstadt,
voll mit niedlichen kleinen Läden, Bars und Restaurants. Das ist das
Beste an der ganzen Stadt, aber auch mit gepfefferten Preisen. In
der Mitte befindet sich ein kleiner Platz mit Bäumen und bis auf den
letzten Zentimeter ausgenutzt mit Tischen und Stühlen. Als der Platz
letztes Jahr neu gepflastert wurde, lieferten die spanischen Handwerker ihr Meisterstück ab. Der Boden liegt jetzt höher als die
Ladentüren, und wenn es mal regnet, läuft das Wasser in die Läden.“
Brigitte hatte neugierig zugehört und sah ihn nun ungläubig an. „Kein
Ulk?“ fragte sie, und Alexander antwortete: „Aber nein – das ist
Spanien. Hier gibt es 300 Sonnentage im Jahr. Wer wird sich denn
schon über das bischen Regen aufregen?“
Sie fuhren die vierspurige Küstenstraße weiter in Richtung Malaga.
Alex erzählte weiter: „Das Schönste hier ist die Umgebung. Der
große Felsen hinter Marbella, die Höhenstraßen über die Berge mit
weißen Dörfern und natürlich das Klima. Im Sommer mit kühler Brise
und im Winter geschützt vor den kalten Nordstürmen durch die Sierra
Nevada. Hier links die Straße führt hoch in die Hügel und zur
deutschen Schule.
Vor einigen Jahren war das Meer hier ganz schön verdreckt. Jetzt
werden überall Kläranlagen gebaut. Ist ja ganz normal, denn wo die
Reichen und Einflußreichen wohnen, gibt es auch Lebensqualität.
Der König von Saudi-Arabien schenkte Marbella eine hochmoderne
Klinik. Er könnte in seinem Urlaub hier ja auch mal krank werden.
Und noch eine Geschichte wird von ihm erzählt: Von seinem Palast
aus sah er auf eine Menge alter und baufälliger Hütten herunter, was
seinen Schönheitssinn beleidigte. Kurzer-hand baute er den Leuten
an andrer Stelle moderne Häuser und ließ die alten Hütten
abreißen.“
Alex parkte rechts abseits der Straße auf dem Randstreifen neben
einem flachen Gebäude. „Komm mit“, forderte er sie auf, „das hier ist
die alte Poststation von La Cala. Es ist jetzt ein Restaurant. Hier gibt
es das beste Brot weit und breit. Außer Brot kann man auch Wurst
und Zigaretten kaufen, Kaffee trinken, Tapas essen sowie eine
richtige Mahlzeit schnell, gut und preiswert erhalten.“
Sie traten ein, und es gab ein großes Hallo des Wiedererkennens.
Alex bekam noch eins der letzten Brote. Brigitte probierte die
spanischen Würste, und Alex gab eine Runde Kaffee oder Brandy
nach Wunsch aus. Er versprach, in nächster Zeit öfter mal herein zu
schauen und verstaute den Einkauf im Wagen. Zu Brigitte sagte er:
„Jetzt fahren wir nur noch ein paar hundert Meter. Da vorn liegt das
alte Fischerdorf La Cala mit einer schönen Sandbucht, vielen neuen
Häusern und einer deutschen Wirtschaft mit deutschem Bier vom
Faß. Die Wirtin kocht erstklassig, und der Wirt ist die beste
Lokalzeitung. Er leitet den örtlichen Fußballclub und weiß alles, was
hier so los ist.“
An der Ampel bog er rechts zum Strand ab, drehte eine Runde und
parkte neben den Fischerbooten. Dann zog er die Schuhe aus, rollte
seine Hosenbeine hoch und stieg aus. Er sagte zu Brigitte: „Ich will
mal probieren, wie kalt das Wasser ist. Kommst du mit?“ Sie aber
schüttelte sich und meinte: „Schon bei dem Gedanken daran friere
ich. Ich warte lieber hier auf dich.“
Draußen schrie eine Stimme: „Hola Amigo!“ Brigitte sah durch die
Fenster-scheibe, wie Alex einen seltsamen Mann begrüßte – schmal,
krumm, fast keine Haare, mit zerfurchtem Gesicht und ohne Zähne.
Die beiden gingen zum Strand und unterhielten sich lebhaft. Alex
planschte mit nackten Füßen im flachen Wasser und kam bald
zurück. Er deutete auf den Mann in seinem Schlepptau: „Das ist ein
Original. Ein alter Fischer. Der gibt mir immer seltene Muscheln. Hier
halten alle Einwohner jedes Jahr ein Strandfest ab. Dabei werden die
ersten Preise vergeben für den Stärksten, die Schönste, den
Klügsten und noch vieles mehr. Unser Freund hier war letztes Jahr
‚Señor Feo‘ – der Häßlichste.“
Der Zahnlose grinste abscheulich und begrüßte sie artig. Dann trollte
er sich nach einem wortreichen Abschied. Alex angelte sich ein
Handtuch, rieb seine Füße trocken, zog seine Schuhe an und
startete den Wagen. „Jetzt werden wir bei Heinrich gepflegt zu
Abend essen, ein gutes Bier trinken und den neuesten Klatsch
hören.“
Das Lokal lag direkt an der Hauptstraße und verfügte über einen
ausreich-enden Parkraum. Sie betraten einen kleinen, aber
gemütlich eingerichteten Raum mit einer langen Theke. „Na Heiner,
was macht dein Pilsgeschwür?“ begrüßte Alex den Wirt. Der rieb sich
sein Bäuchlein. „Zufriedenstellend“, meinte er und begrüßte beide mit
Handschlag. Alex bestellte: „Erst mal zwei Pils, dann die Karte, und
wenn du zwischendurch Zeit hast, die letzten Neuigkeiten.“ Der Wirt
brachte die Getränke und setzte sich. „Gute Fahrt gehabt?“
erkundigte er sich. „Zufriedenstellend“, antwortete Alex lächelnd.
„Und was macht euer Rennbahnprojekt?“ Alex wandte sich erklärend
an Brigitte.
„Hier gegenüber im Campo haben Engländer eine Menge Land
gekauft. Dort wollen sie eine Rennbahn bauen.“ Heiner seufzte: „Wie
das so geht. Das Pfund purzelte in den Keller, und jetzt stimmt die
Kalkulation nicht mehr. Mal sehen wie und wann das weiter geht.
Grundmann, diesem Gauner, habe ich Lokalverbot erteilt. Ich hatte
ihm zwei Käufer für seine Ferienhäuser vermittelt, und er hat mich
um die Provision beschissen.“ „Reichlich kurzsichtig von ihm“,
bemerkte Alex, „wenn hier einer Häuser baut und sie verkaufen will,
muß er sich doch die Leute warm halten, die ihm Kunden bringen
können. Die Bauunternehmer klotzen hier wie die Weltmeister. Die
scheinen noch gar nicht bemerkt zu haben, daß der Boom vorbei ist.
Nach der neuesten Statistik kommt auf zwanzig angebotenen
Immobilien nur jeweils ein Käufer. Nun werden die Häuschen den
Eigentümern langsam lästig. Jedes Jahr den gleichen Urlaub
verbringen, die stets steigenden Unterhaltskosten und bei
Vermietung stimmte die versprochene Rendite ja noch nie.
Verkaufen kann man ältere Hütten und Appartements doch nur,
nachdem sie ein Fachmann mit Geschick reichlich renoviert hat.“ Der
Wirt stand auf mit den Worten: „Ich habe eine Karte von Freddy
bekommen. Es geht ihm gut. Entschuldigt, aber ich muß ein paar
Gäste bedienen.“
„Wer ist Freddy?“ fragte Brigitte. Alex nahm einen großen Schluck
und grinste. „Freddy saß in Deutschland fünf Jahre im Knast. Keiner
weiß warum, und hier fragt auch keiner danach, solange sich einer
anständig benimmt. In Deutschland bekommst du als Knastologe
keine Chance auf eine anständige Arbeit. Er hat sich hier mit
Reparaturarbeiten durch-geschlagen. Er ist groß, blond, charmant
und ein guter Tänzer. Hier lernte er eine Engländerin kennen, die in
Scheidung lebt und eine ordentliche Abfindung erhalten hat. Letztes
Jahr lud sie Freddy nach England ein. Scheinbar klappt es nun mit
den beiden – denn die Karte kam wohl aus England.
Der Wirt setzte sich wieder zu ihnen. Er hatte sich ein Glas Bier
mitgebracht und prostete ihnen zu. Dann erzählte er weiter: „Radio
Marbella hat die Sendungen auf Deutsch eingestellt. Keiner weiß,
warum.“ „Wahrscheinlich hat Jenny `ne dicke Lippe riskiert“,
vermutete Alex. Er erklärte Brigitte die Zusammenhänge: „Jenny
moderiert
die
Radiosendung
als
Hobby,
sie
fährt
goldbehangen im Rolls Royce zur Radiostation. Ihr Mann ging mit
seiner Firma in Deutschland in Konkurs. Aber er brachte zuvor
genügend Millionen auf die Seite, um hier nun in einer Villa zu
wohnen, mit einer Flotte von Luxuswagen herum zu kutschieren,
natürlich mit Chauffeur, und zu seinen Parties einen Koch von Käfer
aus München einzufliegen. Leid tut es mir nur um den zweiten
Sprecher. Der braucht das Gehalt tatsächlich zum Leben.“
Heinrich schimpfte: „Es gibt genügend einflußreiche Deutsche in
Marbella. Aber denen ist das völlig egal. Von Hohenlohe hat eine
Zeitung gegründet, die ‚Marbella Tribune‘. Auf Spanisch und innen
zwei Seiten auf Englisch. Keine einzige Spalte auf Deutsch. Obwohl
hier genügend Deutsche leben. Er sagt, die Deutschen können
sowieso alle Englisch.“
Alex grinste und sagte: „Der Jet-set ist meist dreisprachig und fühlt
sich nur seinen Geldsäcken gegenüber verpflichtet. Aber tröste dich:
Wotan wird sie strafen. Schau dir den Begründer von Marbella an.
Möchtest du mit einem derartig unästhetischem Wanst herumlaufen?
Dem weiblichen Bismarck-sproß werden sicher noch die blonden
Haare ausfallen – alles andere könnte man ja mit genügend Geld
noch reparieren.“
Die Wirtin steckte ihren Kopf durch die Küchenklappe und rief ihren
Mann – das Essen war fertig. Brigitte und Alex aßen mit Genuß mal
wieder gute deutsche Küche. Sie tranken noch ein paar gut gezapfte
Pils, und Alex erzählte ihr von den Originalen an der Costa del Sol:
Rentner, Steuer-flüchtlinge, englische Safeknacker, Typen, die hier
im Süden in beschei-denen Marktnischen überlebten – und von
seinen Freunden.
„Dann werde ich dir Fuengirola zeigen. Da sind die Preise noch
normal. Anschließend füllen wir unseren Wassertank in Mijas, der
weißen Stadt. Aus der öffentlichen Wasserstelle dort kommt
Mineralwasser – schmeckt ausgezeichnet.“
Sie fuhren zum Strand zurück, verriegelten die Türen und fielen
müde und zufrieden ins Bett. Leise Stimmen erklangen außerhalb
des Wagens. Brigitte richtete sich lauschend auf, schob den Vorhang
beiseite
und
sah
nach
draußen. „Nichts zu sehen“, flüsterte sie, „es ist zu dunkel. Aber auf
dem Meer bewegen sich einige Lichter. Was ist das?“ Alex setzte
sich auf und sah ebenfalls hinaus. Er wußte die Erklärung. „Das sind
die Fischer. Sie arbeiten nachts. Das Licht soll die Fische anlocken.
Ich vermute, daß dabei auch Drogenpakete aus Nordafrika
übergeben werden. Manchmal klappt das nicht, oder sie werden vom
Küstenschutz gestört. Dann finden einige Tage später Strandläufer
bis zu einigen Zentnern Haschisch – von Wind und Wellen
angetrieben. Das eben war bestimmt ein Liebespaar aus dem Dorf.
Die Schmuggler bevorzugen einsame Stellen.“
„Morgen zeige ich dir die Stierkampfschule von Andalusien. Der
Besitzer ist ein spanischer Grande. Er hat eine nette deutsche
Ehefrau und veranstaltet auf seiner Hazienda in den Bergen hinter
Marbella eine erst-klassige Unterhaltungsshow für die Touristen. Bei
ihm ist die erste Frau, die jemals den Stierkampf erlernte, unter
Vertrag. Die zeigt einen erstklassigen Pferdedressurritt. Das Essen
und die Sangria dort sind prima. Der Grande leitet die Show
persönlich, was er finanziell bestimmt nicht nötig hätte. Aber man
merkt ihm an, daß ihm die Sache großen Spaß macht. Die Akteure
sind die Zuschauer. Die trinken um die Wette, heben aus dem Sattel
vom Boden Sektflaschen auf oder versuchen es zumindest und
spielen zur Gaudi aller Stierkampf mit Kälbern.
Letztes Mal ritt eine Schwedin auf einem Pony. Als sie die
Sektflasche vom Boden angeln wollte, rutschte ihr Rock hoch, und
alle Zuschauer konnten ihren nackten Hintern bewundern, weil sie
keinen Slip trug. Das gab natürlich tosenden Beifall.“
Epilog für „Das ehrenwerte Ziel“
Ein paar Wochen später. Haferkamp saß hinter seinem Schreibtisch
und sortierte die Post. Einen Brief nach dem anderen schlitzte er mit
einem kleinen, stilisierten Dolch auf, überflog kurz den Inhalt und
legte ihn entweder in den Kasten in der linken Schreibtischecke mit
der Aufschrift „Beantworten Bezahlen“ oder in den Kasten in der
rechten Schreibtisch-ecke, auf dem „Überdenken“ stand. Reklame
warf er sofort in den Papierkorb. Als das Telefon klingelte, las er erst
in Ruhe zu Ende und hob nach dem dritten Läuten ab. „Haferkamp“,
meldete er sich. „Vierundvier-zig“, tönte es aus dem Hörer. Das war
der vereinbarte Code mit alten Freunden. Die Zahlen bezeichneten
die Kriegsjahre, 39-42 kündigten gute Nachrichten an, 43-45
dagegen schlechte Nachrichten. Haferkamp legte einen kleinen
Hebel unter der Schreibtischplatte um. Jetzt war der Zerhacker
eingeschaltet und das Gespräch somit abhörsicher. „Schieß los“,
sagte er in gespannter Erwartung. „Hier Paul“, klang die Stimme klar
aus dem Hörer, „du hast mich doch vor ein paar Wochen gebeten,
auf einen gewissen Alexander unauffällig zu achten und zwar
wohlwollend.“ „Und“, fragte Haferkamp ruhig, während eine eisige
Hand sein Herz zusammenpreßte. „Wir haben eine Anfrage der
spanischen Geheimpolizei aus Malaga, dort unten ist ein deutsches
Reisemobil in die Luft gejagt worden. Der verwendete Sprengstoff
wird ausschließlich von Kommandoeinheiten im Nahen Osten
verwendet. Das Auto war total zusammengeschmolzen. Wir konnten
den Halter nur aufgrund der Fahrgestellnummer herausfinden – es
war dein Alexander.“ Mit eiserner Selbstbeherrschung unterdrückte
Haferkamp jede Regung in seiner Stimme, als er fragte:
„Irgendwelche Personen identifiziert?“ „Weder Opfer noch Täter“,
antwortete Paul, „es tut mir leid, aber bei dieser Art Sprengstoff wird
jede Art organischer Materie total vernichtet.“ „Danke“, sagte
Haferkamp langsam und legte den Hörer behutsam auf die Gabel,
legte den Hebel für den Zerhacker mechanisch um und starrte
blicklos in die Ferne. Nach zehn Minuten fuhr er fort die Post zu
sortieren. Plötzlich stutzte er. Er hielt einen Luftpostbrief mit
spanischer Briefmarke in der Hand. Diese kleine, ausgeprägte, nach
rechts drängende Schrift kannte er.
Ein eisiger Schauer rieselte sein Rückgrat hinunter, wie ein Hauch
aus dem Jenseits. Mit zitternden Händen öffnete er den Brief und
entfaltete den Bogen. Sein erster Blick fiel auf das grün
unterstrichene Datum. Ein selten erlebtes Glücksgefühl breitete sich
in seinem Körper aus, Tränen der Erleichterung traten in seine
Augen und er gestattete sich einen tiefen, befreienden Seufzer.
Dieser Teufelskerl, dachte er, der echte Sohn seines Vaters, die
Wolfsmeute hat nur nach dem Tiger geschnappt, mal sehen, was
passiert ist. Die Nachricht bestand aus Zahlenkolonnen, dem
verabredeten unknackbaren Code.
Als Haferkamp den entschlüsselten Text noch einmal durchlas, Pfiff
er leise durch die Zähne, trug den Briefumschlag, den Briefbogen mit
dem Code und die Reinschrift in die Toilette, verbrannte alles und
spülte die Asche in die Kanalisation.
Der Kampf geht weiter, dachte er, und jetzt macht er mir wieder
Spaß. Unsere Generation hat die Vernichtung unseres Reiches nicht
verhindern können. Aber trotz Verdummung, Umerziehung und
Unterdrückung wird unsere Lebenskraft uns wie Phönix aus der
Asche wieder emporsteigen lassen.
Nachtrag „Das ehrenwerte Ziel“
Dieser Roman ist in einsamen Abenden in Wüsten- und
Dschungelcamps entstanden, und sechs Jahre mußte ich nach
einem mutigen Verleger suchen. Die Zeit ist nicht stehen geblieben,
große Umwälzungen sind passiert, und die Benachteiligung und die
Ausbeutung des deutschen Staatsbürgers hat einen Grad erreicht,
wo Widerstand zur Pflicht wird.
Deshalb dieser Nachtrag:
Die Teilvereinugung von Deutschland wurde von allen mir bekannten
Auslandsdeutschen gefeiert und in der Folge mit brennendem
Interesse verfolgt – aber welch ein trauriges Bild heute Anfang 1994!
Betrüger plündern Mitteldeutschland aus, die Ungerechtigkeit wird
zum Gesetz erhoben. Enteignungen bis 1949 werden nicht
rückgängig gemacht – in der Asyldebatte nur Geschwätz – so wird
das dringend benötigte Geld zum Fenster hinaus geworfen und die
Zukunft unserer Kinder verspielt. Die SPD verrät damit ihre Wähler,
denn
die
Nachteile
einer
massenhaften
Einwanderung
unqualifizierter Arbeitnehmer und leerer öffentlicher Kassen haben
nur die unteren Einkommensschichten. Steigende Kriminalität,
kriminelle Asylanten werden noch nicht einmal ausgewiesen. Was
hat das gesamtdeutsche Ministerium mit seinen vielen hundert
hochbezahlten Beamten die ganzen Jahre getan? Dagegen
erscheinen die Leistungen unserer Eltern und Großeltern in einem
immer leuchtenderen Licht.
1933, als die unfähige Weimarer Republik abdanken mußte, hatten
wir sechs Millionen Arbeitslose und eine zerrüttete Wirtschaft. Nach
zwei Jahren „Naziherrschaft“ gab es kaum noch Arbeitslose, aber
überall Hoffnung und Zufriedenheit. Als uns 1939 der Krieg
aufgezwungen wurde – Polen machte mobil und versuchte
gleichzeitig Frankreich zu überreden, im Westen anzugreifen – nach
allgemeinen Völkerrechtsnormen bedeutet eine Mobilmachung eine
Kriegserklärung.
Welches Bewußtsein wirkte damals in diesen Deutschen, daß nach
sechs Jahren ein Staat organisiert war, der ab 1939 sechs Jahre
lang der halben Welt standhalten konnte! Welches Maß an
Desinformation bei uns verbreitet ist, merkt man immer wieder im
Gespräch mit jungen Leuten. Die meisten wissen nicht einmal, daß
England und Frankreich uns den Krieg erklärt haben und nicht
umgekehrt.
Das Größte in dieser Richtung hat sich unser Bundespräsident
Richard von Weizsäcker geleistet, als er den Tag unserer größten
Niederlage als Tag der Befreiung umdeutete. Befreiung wovon? Von
der Ehre deutscher Frauen bei den Massenvergewaltigungen? Von
Tausenden deutscher Patente und Erfindungen bei der allgemeinen
Plünderung beim Einmarsch der Besatz-ungsmächte? Von den
deutschen Gebieten durch die Vertreibung und den dabei erfolgten
Massenmorden?
Und dann die Besuche in den Asylheimen. War er schon mal bei
einer deutschen Familie, die durch die ständig steigende
Multikriminalität geschädigt wurde?
Glücklicherweise nimmt langsam die Amerikabegeisterung ab,
nachdem immer bekannter wird, daß die amerikanische Gesellschaft
nur aus Raub, Betrug und Ausbeutung besteht, und daß
Hunderttausende deutscher Landser bei vollen Verpflegungslagern
in amerikanischen Kriegsgefan-genenlagern verhungert sind.
Unsere Politikerkaste ist nur noch mit Postenschacher und der
Vertuschung der eigenen Unfähigkeit beschäftigt. Aber seit der
deutsche Michel den Riemen enger schnallen muß, wacht er
langsam auf.
Ein sicheres Anzeichen dafür ist die verlogene, hysterische Hetze
gegen jede nationale Äußerung, das Hochspielen jeder
Hakenkreuzschmiererei von jugendlichen Dummköpfen, die nicht
einmal das Wort Nationalsozialismus buchstabieren können.
Dagegen wird Gewalt gegen Deutsche kaum erwähnt. Warum
wurden bisher zu keiner Talkshow (was ein Wort) Männer und
Frauen von Format eines Professor Diwald eingeladen? Argumente
von Patrioten sind nunmal nicht zu widerlegen.
Die Costa del Sol
Die Costa del Sol ist ein internationales Touristen- und
Rentnerparadies mit einem milden Klima. Im Sommer nicht zu heiß
wegen der frischen Winde vom Atlantik, und im Winter schützen die
Bergketten der Sierra Nevada vor den kalten Nordwinden. Fast
zwanzig Jahre war die Costa del Sol eine der größten Baustellen der
Welt, und es wurde „in“ für Nordeuropäer, ein Haus im Süden zu
besitzen. Aus verträumten Fischerdörfern wurden Städte, die Küste
wurde zugebaut. Geschäftemacher eilten herbei, um einen Teil des
Kuchens zu ergattern, und die Costa del Sol war auf einmal nicht
mehr spanisch sondern international. Zum Glück gibt es ein
interessantes und kulturell reiches Hinterland. Heute stockt der
Verkauf von Häusern und Appartements, überall stehen Bauruinen,
und die Restaurants sind leer. Die Touristen kommen nicht mehr in
Scharen, weil das Preis-Leistungs-Verhältnis nicht mehr stimmt. Die
nordeuropäischen Eigentümer kommen natürlich immer noch, aber
auch denen sitzt das Geld nicht mehr so locker wie früher. Für uns,
die wir hier arbeiten und leben, ist dadurch die Lage besser
geworden, die Kellner sind jetzt höflich und zuvorkommend, es gibt
nach alter spanischer Sitte eine Tapa zu jedem Getränk, und die
Preise steigen nicht mehr automatisch. Die Stadtverwaltungen
werden wach, reinigen die Städte und Strände, bauen Straßen,
verschönern die Orte, bauen Kläranlagen und machen alle
möglichen Anstrengungen, um die Touristenströme wieder
anzulocken. Es gibt eine erstklassige deutsche Schule mit
angeschlossenem Internat. Die Kinder werden dreisprachig
unterrichtet, und immer mehr reiche Spanier schicken ihre Kinder
dorthin. Ein Jugendlicher mit Gymnasialabschluß, der perfekt die drei
Weltsprachen Spanisch, Deutsch und Englisch spricht, hat enorme
Startvorteile im Leben.
Die Deutschen lassen sich leicht in Gruppen einteilen.
Supermillionäre leben meist zeitweise oder immer in Marbella in
ihren großen Villen und erledigen ihre weltweiten Geschäfte per Fax
und Telefon. Mancher Großbe-trüger versteckt sich hier. Dann gibt
es die mittelständigen Rentner in kleineren Häusern oder
Appartements, die meistens nur über den Winter wegen des Klimas
kommen. Und die anderen im aktiven Alter sind zu 80 %
vor Steuern, Schulden oder Alimenten von Zuhause abgehauen und
versuchen hier durch alle möglichen Arbeiten oder Geschäfte zu
überleben. Meistens ziehen diese Typen von Bar zu Bar, spielen sich
als große Spanienkenner auf, versuchen Aufträge an Land zu ziehen
und sind am nächsten Tag nicht in der Lage, ordentliche Arbeit zu
leisten. Dann werden Schulden gemacht, die Miete nicht bezahlt, und
eines
Tages
sind
sie
verschwunden
zur
nächsten
Touristenmetropole. Die restlichen 20 % sind Abenteurer,
leistungsstark und kenntnisreich, die überall ohne Mühe überleben
können und Deutschland wegen seiner Enge, der Reglementierung
und der allgemein fehlenden persönlichen Freiheit verlassen haben.
Dann gibt es natürlich noch die echten Aussteiger, die ohne
elektrisches Licht und fließend Wasser im Campo oder in den
Bergen leben und ihre Lebenshaltungskosten auf ein absolutes
Existenzminimum herunter geschraubt haben und vom Leben nichts
weiter wollen, als jeden Tag Sonne und sonst ihre Ruhe.
Jeden Tag passieren hier seltsame, traurige oder lustige
Geschichten.
Jochen war 16 Jahre, Sohn von relativ reichen Eltern, ging zur
deutschen Schule und war ein ‚Hans Dampf in allen Gassen‘. Eines
Tages sprach ihn ein Engländer in einer Bodega an und fragte, wo er
Haschisch kaufen könne. Jochen drehte sich ab und zu selbst einen
Joint und wollte einem Fremden natürlich nicht seine Einkaufsquelle
verraten und einem Leimi schon gar nicht. Für eine Tischrunde nahm
Jochen ihn mit zum Hafen von Marbella und zeigte ihm einen der
herumlungernden Zigeuner. Der Engländer verhandelte eine Weile
und kam dann freudestrahlend mit einem Riegel schwarzbrauner
Masse zurück und begann sich sofort einen großen Joint zu drehen.
Jochen erzählte später lachend seinen Kumpels: „Der Leimi paffte
richtig genüßlich, das Zeug stank entsetzlich, und ich wette, er hat
bis heute nicht gemerkt, daß der Zigeuner ihm getrocknete
Kuhscheiße angedreht hat.“
Auf dem Millionärshügel von Marbella wohnt eine sehr reiche, ältere
Dame. Sie ist Witwe, ihre vier Söhne leben auf der ganzen Welt
verstreut gemäß ihren Neigungen.
Einer betreibt botanische Studien in den tropischen Regenwäldern,
einer durchwühlt die Erde nach archäologischen Schätzen, der dritte
fährt als Einhandsegler durch die Welt, und der vierte sucht seit
Jahren nach dem sagenhaften Inkaschatz in Lateinamerika. Doch
genau er hatte letztes Jahr wirklich Pech. Jedes Jahr müssen sich
die vier Söhne kurz vor Weihnachten bis kurz nach Neujahr bei ihrer
Mutter in Marbella versammeln. Hier erhält jeder von ihnen als
Vorschuß auf ihr Erbe einen Scheck über eine Million Schweizer
Franken. Als der Inkaschatzsucher sich aus seinem Dschungel-camp
auf die Reise nach Marbella machte, passierte ein Unglück nach
dem anderen. Zuerst brach die Antriebswelle seines Bootes, mit dem
sie sonst über den Urwaldfluß bequem die nächste Stadt erreicht
hätten. Dann stürzte der über Funk angeforderte Hubschrauber ab,
und ein anderer war nicht verfügbar. Als er schließlich nach
wochenlangem Dschungelmarsch mit einem privat gecharterten Jet
den Atlantik überquert hatte und in Marbella eintraf, war es bereits
der dritte Januar, und die anderen Brüder machten sich bereits
wieder fertig für die Abreise. Für dieses Jahr gab es keinen Scheck
für ihn. Da war die alte Dame beinhart. Wer zu spät kommt, den
bestraft die Mutter. Das wird ihm sicher nicht noch einmal passieren!
Anruf von Frau Bauer. Ich wäre ihr als handwerklicher Problemlöser
empfohlen worden. Die Fensterrolladen müßten repariert werden,
und seit zwei Jahren wäre ihr Westinghaus-Kühlschrank aus Amerika
defekt, und ein Spanier hätte nach drei Reparaturversuchen entnervt
aufgegeben.
Nachdem ich die Adresse notiert und einen Termin vereinbart hatte,
rief ich Christian an. Er ist ein kleiner, schlanker Franzose, Spezialist
für Kühlanlagen und lebt seit ein paar Jahren hier mit einer
geschiedenen Spanierin und ihren vier Kindern zusammen. Frau
Bauer war mit ihren 60 Jahren immer noch eine schöne Frau mit
einer Figur und einem Gang, bei dem Männer ins Träumen geraten.
Ihre Villa lag auf einem Hügel mit herrlicher Fernsicht über
Fuengirola und dem Meer bis nach Nordafrika. Christian machte sich
an die Untersuchung des Kühlschrankes, und ich nahm die
Rolladenreparatur in Angriff. Um 14.00 Uhr ist Mittagszeit in Spanien,
und Frau Bauer rief uns. Sie hatte im Garten, im Schatten einer
großen Palme, ein Mittagstisch für uns gedeckt. Geeiste Melone,
Schinken, Eistee und noch ein paar leckere Kleinigkeiten. Ein kleiner,
dicker Mann mit Glatze und Haarkranz setzte sich zu uns. Ich hielt
ihn
für
den
Gärtner,
weil er dauernd mit Gartengeräten herumwirbelte. Nachdem wir mit
dem Essen begonnen hatten, bemerkte Frau Bauer so nebenbei:
„Übrigens, das ist mein erster Mann.“ Als sie unsere verdutzten
Gesichter bemerkte, erzählte sie uns ihre Geschichte:
„Wir beide kommen aus gutbürgerlichen Familien in der Schweiz,
lernten uns als Studenten kennen, verliebten uns und heirateten
nach dem Studium. Mein Mann kletterte die Erfolgsleiter nach oben,
und ich war Hausfrau mit ein paar kleinen Hobbys. Das ging so
sieben Jahre gut, und dann begegnete ich auf einem Empfang der
großen Liebe meines Lebens, einem schweizer Bankier, natürlich
enorm reich. Ich ließ mich scheiden, heiratete den Bankier und hatte
fortan ein herrliches Leben. Unsere Liebe war gegensei-tig, er
überschüttete
mich
jeden
Tag
mit
seinen
liebevollen
Aufmerksamkeiten. Ich brauchte nicht einmal einen Wunsch zu
äußern, nur etwas schön oder interessant finden und schon hatte ich
es. Blumen, Bücher, Bilder, Autos, Kleider, Schmuck – die Liste läßt
sich endlos fortsetzen. Wir reisten ein paar mal um die Welt, lernten
auf internationalen Kongressen interessante Personen kennen. Wir
logierten in den besten Hotels, hielten uns als gute Schweizer von
der hohlen Welt des Jet-set fern. Aber wir bekamen leider keine
Kinder. Und dann, nach zehn Jahren starb mein Mann plötzlich an
Herzversagen. Ich brauchte fünf Jahre um meine Trauer zu
überwinden und wieder ein normales Leben führen zu können. Ich
habe wieder Einladungen angenommen und mich an dem
gesellschaftlichen Leben beteiligt. Eine Menge Anträge wurden mir
gemacht, aber nach diesem Mann waren alle anderen nur Abklatsch.
Die meisten waren sowieso nur hinter meinem Geld her, denn mein
Mann hatte mir sein gesamtes Vermögen hinterlassen, und ich kann
beim besten Willen nicht einmal die Zinsen verbrauchen. Irgendwann
erinnerte ich mich meines ersten Mannes und ließ ermitteln, wo er
steckte. Er war Niederlassungsleiter einer schweizer Firma in
Südamerika. Ich rief ihn an und fragte ihn, ob er Weib und Kinder
habe. Woraufhin er mir erklärte, seit ich ihn damals verstoßen hätte,
lebte er solo und erfreue sich seines Junggesellenlebens. Ich bat ihn
zurückzukommen und seine Arbeit hinzuschmeißen, damit versaue
er sich nur seine letzten Jahre. Geld hätte ich genug für uns beide
und ja nun – da sitzt er.“
Die Costa del Sol wird nicht umsonst Kriminalküste genannt. Früher
habe diverse Spezialisten Land gekauft, ein Musterhaus hingestellt
und Hunderte Häuser per Prospekt verkauft. Ganz Abgebrühte sind
dann mit den einge-sammelten Geldern ohne weiter zu bauen
einfach verschwunden. Andere haben fertig gebaut und daran enorm
verdient. Sie haben sich die Vermietung und Verwaltung gesichert
und auch dabei abgesahnt, denn oft wurden die Mieten nicht an die
Eigentümer weiter gegeben. Heute wird mit Drogen- und
Menschenschmuggel enorm Geld gemacht. Die Polizei tut ihr
Bestes, aber selbst eine ganze Armee könnte das Problem nicht in
den Griff bekommen. Die Tricks sind zu vielfältig.
Die Schmuggler klauen ein Boot, beladen es mit Drogen oder
illegalen Einwanderern, bringen es mit einem Begleitschiff nah an die
spanische Küste. Dann lassen sie es per Fernsteuerung an einen
vereinbarten Punkt am Strand auflaufen, und die wartenden
Komplizen entladen es in Windeseile. Danach werden die Drogen
weiter nach Norden befördert, meist mit zwei Fahrzeugen. Ein
Kundschafter mit Sprechfunk fährt voraus und warnt das folgende
Transportfahrzeug vor Polizeifallen. Die illegalen Einwanderer, die
auf eigene Faust in hölzernen Nußschalen (um nicht vom Radar
entdeckt zu werden) nachts die Meerenge von Gibraltar überqueren,
haben meist als Startkapital auch ein paar Kilo Haschisch dabei.
Aber viele bleiben auf der Strecke. Manches Boot wird bei dem
regen Schiffsverkehr von Tankern oder Frachtern unbemerkt
gerammt oder sinkt bei hohem Wellengang. Die wartenden Haie
müßten eigentlich schon süchtig sein.
Von den Verteilungskämpfen der verschiedenen Banden dringt
selten etwas an die Öffentlichkeit, man will ja nicht die Touristen
verschrecken. Aber wenn man einen Polizeioffizier kennt, erfährt
man, daß es in den ersten drei Monaten dieses Jahres in
Torremolinos allein 18 Opfer von Bandenkämpfen gab, meist
stümperhaft als Selbstmord getarnt.
Oder man trifft einen Mann an der Theke, dessen Frau ihm vor zwei
Jahren im Urlaub mit einem anderen Mann entlaufen ist. Jetzt mußte
er aus Deutschland einfliegen, um sie im Leichenschauhaus zu
identifizieren, und erbt dafür von ihr ein Appartement in Puerto Banus
im Wert von 300.000 Mark!
Manch einer aus dem Norden, der sich in den Süden abgeseilt hat,
erliegt der Versuchung des schnellen Geldes und verdingt sich als
Drogenkurier.
Oft werden diese Naivlinge bewußt geopfert, um anderen
Transporten den Weg zu öffnen. Die Polizei erweckt manchmal den
Anschein von Untätigkeit, weil hier Steuerflüchtlinge und
Kleinbetrüger unbehelligt leben können. Die aber müssen ihren
Tribut in Form von Tips abliefern, und an jeder Theke hört man eine
Menge Tratsch und Klatsch, woraus die Polizei ihr Informationsnetz
webt.
Da hört man von Erfolgen der Polizei. Wieder mal eine Gang
hochgenom-men mit zentnerweise Drogen und jeder Menge Bargeld.
Aber die Unterwelt schläft auch nicht. Letztes Jahr wurde im Hafen
von Cabopino in einem stillgelegten Brunnen das Skelett eines
Mannes entdeckt – es war mit Eisen-ketten beschwert. Und vor zwei
Jahren wurde in Marbella ein Anführer der legendären englischen
Posträuber erschossen.
Das Ganze macht das Leben hier interessant. Das Klima ist das
beste von ganz Europa, man zahlt wenig Steuern. Die Kunden
(Hausbesitzer) kommen aus ganz Nord- und Mitteleuropa. Und da
viele Kunden zu Freuden werden, hat man überall Freunde. Auf
meiner letzten Urlaubsreise von vier Wochen durch Deutschland,
Dänemark, Schweden und Norwegen habe ich kein Hotel benötigt.
Ich habe nur bei Freunden übernachtet. Allerdings nie länger als
zwei Tage bei einem, den alten Spruch beherzigend: ‚Besuch ist wie
Fisch – nach drei Tagen fängt er an zu stinken.“
Trotzdem waren hinterher noch manche sauer, weil ich sie auf
meiner Tour auslassen mußte.
Die meisten Ausländer an der Costa del Sol sind nett, harmlos,
langweilig, angeberisch und lästig, meistens unbekannt und
unbedeutend. Ein paar sind allgemeiner und dauernder
Gesprächsstoff, weil Originale: Besonders tüchtig und ideenreich
oder besonders gefährlich und bösartig.
Ein negatives Beispiel. In Marbella lebt seit Kurzem ein
Rechtsverdreher mit halbdeutschen Namen, ausgestattet mit
Überheblichkeitswahn. Er hält sich für den Nabel der Welt, hat ein
Büchlein
über
spanisches
Steuerrecht
veröffentlicht
–
zusammengestoppelt aus Veröffentlichungen deutsch-spanischer
Zeitungen. Die Fakten sind längst überholt, und die Druckerei hat bis
heute kein Geld gesehen. Er wird in Deutschland gesucht wegen
verschiedener Delikte; betrügt und belügt seine Klienten und hält das
noch für sein gutes Recht. Zuerst war er in Denia, mußte dort
flüchten,
desgleichen später von Gran Canaria.
Und nun ein positives Beispiel: In Fuengirola lebt seit Jahren in
seiner burgartigen Villa ein deutscher Rechtsberater, der seine Arbeit
effektiv, gründlich und ordentlich im Sinne seiner Klienten erledigt.
Mit besten Beziehungen zur Polizei und zur Justiz. Nachfolgend eine
der Legenden, die über ihn in Umlauf sind: Einer seiner Klienten
wurde verhaftet. Er ging in die Bodega, in der der Polizeipräsident
abends Karten spielt, und sagte: „Paco, warum hast du meinen
Amigo eingesperrt?“ Woraufhin dieser seinen Adjutanten anrief und
befahl: „Laß den Freund meines Freundes wieder frei – er bürgt für
ihn.“
Gewußt wie.
Aber man kann hier nur leben, wenn man sich der spanischen,
besser südspanischen Mentalität anpaßt. Wenn man mit dem Kopf
durch die Wand will, holt man sich nur Beulen.
Nachtrag zur 2. Auflage 1999
Marbella
Nach ein paar mageren Jahren fängt der Bauboom an der Costa del Sol wieder an,
beflügelt von der Einführung des Euro. Das Schwarzgeld muß angelegt werden. Der
Service an der Costa del Sol hat sich in vielen Bereichen verbessert. Eine neue
Umgehungsstraße verteilt den Verkehr, die Autobahn geht durchgehend von
Deutschland bis hinter Marbella. Deutsche Ärzte, Bäcker, Wurstmacher und viele
andere haben sich etabliert, darunter zwei deutsche regionale Zeitungen und ein
örtlicher Rundfunkkanal. Der Dauerbrenner ist aber der neue Bürgermeister von
Marbella, Don Jesus Gil. Als Bauunternehmer und Besitzer des Fußballclubs Atletico
Madrid saß er schon mal im Knast, weil eines seiner Hochhäuser eingestürzt war, mit
58 Toten. Der Boden im Norden Spaniens wurde ihm wahrscheinlich zu heiß.
Er kaufte sich in Marbella Grundstücke und fing an exklusive
Appartement-häuser zu bauen. Die alten Stadthonoratioren, die satt
und träge die Stadt immer mehr verkommen ließen, gefiel das gar
nicht.
Sie ließen die angefangenen Bauten stillegen und dachten
wahrscheinlich: Diesem Kerl aus dem Norden haben wir es gezeigt.
Diese Abneigung ist gegenseitig, die nördlichen Spanier halten alle
Andalusier für Zigeuner. Ein Prozeß hätte Jahre gedauert, die
Kommunalwahlen standen bevor, und Jesus Gil gründete die GilPartei, gewann die Wahl und wurde neuer Bürgermeister von
Marbella.
Als erstes wurde nachgeforscht, ob der alte Bürgermeister für seine
Villa eine Baugenehmigung hatte. Hatte er natürlich nicht – die alten
Honora-tioren fühlten sich über das Gesetz erhaben. Er bekam zwei
Wochen Zeit, seine Villa zu räumen, dann kamen die Bagger und
machten die Villa platt. Als zweites erteilte Jesus Gil seinen Firmen
jede Menge Aufträge, Marbella zu verschönern. Die Stadt ist zwar
jetzt enorm verschuldet, aber das Ergebnis kann sich sehen lassen,
und die Touristen kommen auch wieder. Dann wurde die
Polizeitruppe um hundert Mann verstärkt und die gnaden-
lose Jagt auf Junkies, Bettler, Handtaschenräuber und langhaarige,
schmutzige Nichtstuer eröffnet. Jeder, der in dieses Schema paßte,
wurde festgenommen, circa 30 Km ins Landesinnere gefahren,
verprügelt und ihm das Wiederkommen verboten. Nach ein paar
Monaten war die Stadt sauber. Marbella ist die einzige Stadt in
Spanien, wo alle paar Wochen die Müllcontainer gewaschen werden.
Natürlich schlugen ein paar Polizisten über die Strenge und
verprügelten auch mal die Falschen. Anzeigen wegen Gewalttätigkeit
waren die Folge. Typisch die Reaktion von Don Jesus Gil: Jeder
Polizist, der derart angezeigt wird, erhält von ihm eine Prämie und
eine Belobigung.
Als nächstes kam der Hafen von Marbella dran. Ein wahrer
Schandfleck gegen Puerto Banus. Die Hälfte der Bars und
Restaurants waren geschlossen und alles in einem miserablen
Zustand. Seine Agenten kauften heimlich die meisten Immobilien auf.
Als die letzten Besitzer merkten, was im Gange war, erhöhten sie
ihre Preise auf das Zehnfache. Aber nicht mit Don Jesus Gil.
Lastwagen mit Sand und Stein fuhren vor die verkaufsunwilligen
Besitzer und kippten ihre Ladungen vor deren Eingangstüren. Die
Besitzer riefen die Polizei und blockierten mit ihren Privatautos die
Hafeneinfahrt. Die Polizei kam, schleppte die Privatautos
kostenpflichtig ab und verhaftete die Besitzer. Demnächst wird
wahrscheinlich der Hafen genauso renoviert wie die Promenade
davor.
Die Gil-Partei tritt zur nächsten Wahl auch in Ceuta und Tetuan, der
spanischen Enklaven in Marokko an, und gewinnt er die Wahlen dort,
hat er den Daumen auf die Drogen- und Menschenschmuggelrouten
von Nordafrika nach Südeuropa. Herrliche aber auch gefährliche
Aussichten. Dieser Bürgermeister ist ein Volkstribun, er
beschlagnahmt Wohnblocks von Spekulanten, wenn diese leer
stehen, setzt wohnungslose, arme Familien rein mit der Auflage,
ihren Verbrauch an Strom und Wasser zu bezahlen und ringsum die
Anlagen zu pflegen und sauber zu halten, andernfalls ließe er sie
durch die Polizei rausschmeißen. Und da ihn alle kennen, werden
seine Anweisungen befolgt.
Ein neuer Supermarkt wurde an der Umgehungsstraße bei Marbella
gebaut. Die Bedingung für die Baugenehmigung war, alle
Arbeitsplätze,
circa
400,
außer dem Management mit Leuten aus Marbella zu besetzen. Da
die politischen Gegner ihm durch Wahlen nicht beikommen können,
versuchen sie es mit der Justiz. Aber auch das klappt nicht. Sobald
irgendwelche Anschuldigungen gegen ihn lanciert werden, kontert er
mit phantastischen Ideen wie zum Beispiel einen ausgemusterten
Flugzeugträger zu kaufen, vor Marbella auf Grund zu setzen und
daraus die größte Disco Europas zu machen. Selbst wenn nichts
daraus wird, ist er wieder mal bewundernd in aller Munde.
Ausländische Einzelkämpfer und Strandgut an der
Costa del Sol
Die Ausländer hier an der Costa del Sol sind ein interessanter,
internationaler Mix, meistens langweilig, angeberisch, manchmal
lustig und manchmal tragisch. Die Meisten konnten sich nach einem
arbeitsreichen Leben ein Appartement, ein kleines Häuschen oder
eine Finca leisten – und leben normal und unauffällig, freuen sich
über die Sonne und den Neid der Touristen, die nach ein paar
Wochen Urlaub wieder zurück in die Tretmühle müssen. Dann die
schwerreichen Villenbesitzer, die ihr Vermögen meistens ererbt,
erheiratet oder ergaunert haben und bei denen der Mensch erst bei
Mercedes 500 anfängt. Dann die echten Aussteiger, die irgendwo
von kümmerlichen Gelegenheitsarbeiten leben und vom Leben nichts
anderes mehr wollen als Sonne und keine Probleme und Sorgen. Die
miesesten Typen sind die Möchtegern-Aussteiger, können angeblich
alles und nichts richtig, immer auf dem Sprung, andere zu betrügen,
und sei es der Saufkumpan von gestern. Die Besten sind die echten
Aussteiger, leistungsstark und fähig, sich überall zu behaupten,
halten Wort, zahlen ihre Rechnungen, sind ehrlich und lassen sich
nichts gefallen, vergleichbar mit der Waffen-SS, die ja auch der
Gipfel des Kriegertums war.
Hier ein paar wahre Geschichten:
Eines Tages tauchte Achim auf, ein Berliner in mittleren Jahren mit
zwei Pferdchen, die ihm in seiner gepachteten Kneipe hinter der
Theke halfen, und eine konnte sogar gut kochen. Achim war immer
nett und witzig, jeder konnte ihn gut leiden. Leider stand er lieber vor
der Theke als dahinter, und er fuhr zu gern mit seinem
amerikanischen Straßenkreuzer durch die Gegend. Er unterschätzte
die spanische Polizei, denn die ist inzwischen mit ihren
Handcomputern europaweit vernetzt. Bei einer Fahrzeugkonrolle fing
dieser gemeine Computer an zu blinken, und bei Achim klickten die
Handschellen. Er hatte ein paar harmlose Sachen auf den Hacken
wie Scheckbetrug, Steuerhinterziehung und ähnliches. Achim kam in
Ausliefer-ungshaft, und als harmloser Fall wurde er nicht ins nächste
Flugzeug
gesetzt, sondern von einem Gefängnis zum nächsten befördert, bis
er nach einem Jahr in Berlin angelangt war. Der Richter verdonnerte
ihn zu zwei Jahren Knast, und da der Knast in Spanien doppelt zählt,
war Achim frei. Sein eines Pferdchen flog nach seiner Verhaftung
nach Deutschland, baute einen Autounfall und ist seitdem
querschnittsgelähmt, fand noch einen netten, älteren Rentner als
Ehemann und scherzte bei einem Spanienbesuch im Rollstuhl: „Die
Beine sind nicht so wichtig, die werden doch sowieso beiseite
geschoben.“
Die andere blieb in Spanien, arbeitete und sparte fleißig. Als Achim
wieder frei war, machten beide eine Giftmüllbeseitigunsfirma in Berlin
auf und kommen ab und zu auf eine Urlaubswoche her. Aber eines
Tages wird er wieder Ärger haben, denn die Verlockung des leichten
Geldes ist für ihn zu groß. Einen Teil des Giftmülls läßt er
ordnungsgemäß entsorgen und einen Teil karrt er ins nahe Polen
uns versenkt es irgendwo – bei denen wäre eh alles verseucht,
erklärte er augenzwinkernd.
Alex war ein richtiger Aussteiger, Handwerksmeister und als
Bauleiter in erfolgreich Arabien und Afrika gewesen. Er hatte die
Enge in Deutschland, die Wüsten- und Dschungelcamps satt und
wollte in Spanien ohne Streß arbeiten und leben. Es sprach sich
schnell herum, daß er zuverlässig war und gute Arbeit ablieferte. Als
er den Auftrag bekam, eine Pferderanch zu bauen, mußte er mehr
Helfer verpflichten. Das Grundstück war weitab von der Küste mit
zwei Bergen und einem Bach dazwischen. Mit einem Bagger mußten
Wege geschoben, ein Brunnen gebohrt, eine Brücke über den Bach
gebaut sowie die Gebäude errichtet werden. Trotz Warnungen
anderer verpflichtete Alex Willi für ein paar der anstehenden
Arbeiten. Willi machte An- und Umbauten mit ein paar älteren
spanischen Tagelöhnern, hatte eine Frau, die ein Kind von einem
Spanier hatte, trotzdem schob Willi stolz den Kinderwagen. Willi war
ein harmloser Trottel, und Alex wähnte ihn fest im Griff zu haben. Er
hatte allerdings nicht mit Willis Frau, einer bösartigen Nutte
gerechnet, die ihn immer aufhetzte. Zahlung nach Baufortschritt war
vereinbart, der erste Scheck kam, und die Arbeiten wurden
begonnen.
Als der zweite, größere Scheck eintraf, kam die Polizei und nahm
Alex mit. Eine Anzeige von Willi lag vor, der Auftrag und der Scheck
wäre für Willi, und der würde die Anzeige nur zurück nehmen, wenn
ihm der Auftrag und die Anzahlung übergeben würde. Natürlich
weigerte
sich
Alex.
Es
war
der
23.12., und Alex rechnete schon damit, eine Woche im Knast zu
sitzen, denn ab dem nächsten Tag hatte das Gericht Pause.
Glücklicherweise muß die Polizei jede Festnahme eines Ausländers
dem zuständigen Konsul melden, und der deutsche Konsul hatte als
ehemaliger Verbindungsoffizier der Blauen Division (der spanischen
Freiwilligen) zu der deutschen Wehrmacht an der Ostfront in Spanien
einen Ruf wie ein Donnerhall. Als Alex nach Spanien kam, hatte er
ein längeres Gespräch mit dem Konsul, und dieser verbürgte sich
nun beim Gericht für Alex. Wutschnaubend rief Alex Willi an und
drohte ihm mit dem Schlimmsten, was ihm gerade einfiel. Damit
hatte er diesem Fiesling wenigsten das Weihnachtsfest und das
Jahresende verdorben. Alex fuhr zum Konsul, und der riet ihm von
einem Prozeß oder persönlicher Vergeltung ab. „Wir hier in Spanien
machen das anders“, sagte er und begann zu telefonieren. Er sprach
mit allen Bürgermeistern im Umkreis und bat sie, Bauanträge von
Willi liegen zu lassen und nicht zu bearbeiten. Viele Bauarbeiten
werden schwarz geleistet, aber Willi stand jetzt unter ständiger
Beobachtung der Bauämter. Wenn Willi anfing zu arbeiten, weil die
Auftraggeber drängten, aber er noch keine Genehmigung hatte,
hagelte es Strafen für ihn und den Auftraggeber. Nach drei Jahren
starb Willi an Magenkrebs.
Erich war gestrandet, er hatte in Deutschland eine Kunstgalerie, die
pleite ging. Für eine Freundin richtete er in Marbella ihre Villa ein und
blieb hier. Er konnte sich gepflegt, kultiviert und interessant
unterhalten, in Folge beglückte er ein paar ältere Witwen als
Begleiter – er war auch nicht mehr der Jüngste – aber weil er Bi war
und einen Hang zu kleinen Straßenjungen hatte, flog er immer
wieder raus. Dann hatte er ein paar Jobs als Haus-meister und
wurde gnadenlos ausgebeutet. Anstatt sich mit heimlichen
Vermietungen zu revanchieren und sich ein paar Pesetas Reserve
anzusparen, verlor er auch diese Jobs und arbeitete schließlich als
privater Reisebegleiter und Gelegenheitsarbeiter. Viele spendierten
ihm in der Bodega einen Teller Pommes und ein Glas Wein. Bald
sah er immer ungepflegter aus, und als er ein paar Tage nicht
auftauchte, und sein Mischlingshund in seinem kleinen Studio heulte,
fand man ihn tot im Bett. Alle, die ihn kannten, kamen zur
Beerdigung, aber die fiel aus, weil die Kühlung zu stark eingestellt
war und Erich als Eisblock nicht in den Sarg paßte. Die Beerdigung
wurde auf den nächsten Tag verschoben – Erich war
noch nicht aufgetaut, am dritten Tag ging niemand mehr hin. Zum
Friedhof waren es immerhin 35 km.
Fernando ist jetzt ein alter Spanier, er kam während des zweiten
großen Krieges nach Deutschland, um als Tenor im Rundfunk die
blaue, spanische Division an der Ostfront mit spanischem Gesang zu
unterhalten. Als der Krieg zu Ende war, blieb er in Berlin, heiratete
eine deutsche Beamtin, machte jede Arbeit (als Tenor hatte er
Arbeitsverbot von den Besatzungsmächten). Als seine Frau starb,
verkaufte er das Haus, kaufte sich an der Costa del Sol ein
Appartement und lebte von seiner kleinen und der großen Rente
seiner Frau. Eines Tages stolperte er am Strand über eine sich nackt
sonnenbadende, belgische Krankenschwester mit üppigen Brüsten.
Fernando war hin und weg. Von da ab lief er ihr hinterher wie ein
kleiner Hund. Nachdem sie über seine Finanzen Bescheid wußte,
und obwohl er einen Kopf kleiner war und an Gewicht die Hälfte,
erhörte sie ihn nach ein paar Wochen. Da seine Frau sehr prüde
gewesen war, hatte er so etwas noch nie erlebt. In der Folge landete
sein Geld auf ihrem Konto, das Appartement wurde ihr
überschrieben, seine Rente wurde auf ihr Konto überwiesen, und
Fernando bekommt ein Taschengeld. Da sie noch arbeiten muß, lebt
er im Winter hier, damit sie mit ihrem Freund in Belgien die Liebe
genießen kann. Da dieser Freund aber auch verheiratet ist und älter
wird, werde die Liebesfreuden immer weniger.
Vor ein paar Jahren mußte Fernando in Belgien ins Krankenhaus,
und wegen seiner Krankheit schiß er ein paarmal ins Krankenbett.
Die Säuberung durch die Krankenschwertern muß er als sehr
angenehm empfunden haben, zumal mit normalem Sex mit über
achtzig Jahren auch nichts mehr ist. In der Folge schiß er laufend ins
Bett und die Schwestern beschwerten sich bei Anna. Das
Krankenhaus war ein ehemaliges Kloster mit alten Eichentüren und
Kastenschlösser mit alten Eisenschlüsseln. Anna hatte als
Oberschwester das gewaltige Schlüsselbund an einem breiten
Ledergürtel ständig um die Hüfte. Beim nächsten Einschiß befahl sie
den Schwestern, Fernando in seiner Scheiße auf den Bauch zu
drehen und festzuhalten. Dann versohlte sie ihm mit dem Ledergürtel
und dem Schlüsselbund kräftig den Hintern. Fernando hat nie wieder
ins Bett geschissen. Aber im Ganzen gesehen geht es ihm so besser
als im Alten-heim.
André ist ein Russe in den Dreißigern, sieht gut aus, hat fünf Kinder
mit fünf Freundinnen, verstreut von Schottland bis Marokko. Er war
der beste Timeshare-Verkäufer weit und breit, spricht Englisch,
Französisch, Spanisch und lernt jetzt auch noch Deutsch. Von den
ersten Russen, die hier auftauchten, hat er richtig abgezockt. Erst hat
er sie bei ihren Einkaufstouren begleitet und dafür gute Tagessätze
kassiert und dann noch Provisionen bei den Geschäften. Aber alles
verdiente Geld steckt er in Projekte, die pleite gehen. In den
Wintermonaten über holt er seine Eltern aus Moskau. Der Vater Oleg
stammt aus einer Fürstenfamilie, sein Onkel war Admiral beim
letzten Zaren, er sprach Französisch und Deutsch durch sein
deutsches Kindermädchen. Als die Kommunisten nach der
Revolution in Rußland gesiegt hatten, kamen fast alle, die
Fremdsprachen konnten, nach Sibirien, sie könnten ja Spione sein.
Er war tief religiös und sagte immer: „Gott liebt mich, ich habe sieben
Jahre Sibirien überlebt.“ Nach sieben Jahren wurde Oleg entlassen,
aber zuvor von einer Geheimdienstoffizierin verhört, ob er jetzt ein
nützliches Mitglied der Gesellschaft sei. Ihr Name war Tamara und
sie wurde seine zweite Frau. Oleg war als Offizier im Krieg sechsmal
verwundet
worden,
beide
hatte
gute
Pensionen,
eine
Eigentumswohnung in Moskau und eine Datscha außerhalb. Tamara
erzählte erschreckende Dinge aus ihrem Dienstleben. Zum Beispiel
hatte der Geheimdienst erfahren, daß in Kiew ein Lehrer ein Spion
für England sei. Der Aufwand, alle Lehrer zu verhören, überwachen
usw. wäre beträchtlich. Stalin fragte: „Wie viele Lehrer gibt es in
Kiew?“ Die Antwort war 256. Stalin befahl: „Alle erschießen, dann
muß er dabei sein.“
Oleg wurde in Spanien 95 Jahre, küßte jeder Frau die Hand und
machte ihr Komplimente. Jedes Jahr im Frühling, wenn sie wieder
nach Moskau flogen, nahmen sie zehn Koffer mit gesammelter,
gebrauchter aber guter Garderobe mit. Die erste Auswahl hatte die
große Familie und den Rest bekam die Kirche. Für die
Spendensammler brachte Tamara dann im Herbst Kaviar, Wodka,
georgischen Branntwein (den besten der Welt) und Räucherfisch mit.
Oleg wollte in seinem Alter noch Mohamedaner werden. Er scherzte:
„Ich kann zwar nicht vier Frauen unterhalten, aber vier Frauen
können mich unterhalten.“ Da hat er wohl den Koran nicht richtig
verstanden. Für Alex brachte er aus Moskau als persönliche
Wiedergut-machung
sechs
Bände
von
Meyers
Goethe
Klassikausgaben mit inclusive dem sowjetischen Raubstempel.
Karsten war ein Steuerflüchtling, kam aus Hamburg, hatte
nacheinander fünf Kneipen; immer wenn die Finanzbehörde zu
aufdringlich wurde, machte er die letzte Kneipe dicht und eine neue
auf. Aber die Finanz-beamten verlieren auch mal die Geduld, und
eines Tages packte er alles Wertvolle und Brauchbare in einen FordTransporter und setzte sich nach Spanien ab. Erst machte er wieder
eine Kneipe auf, aber das lief nicht so recht, denn er hatte eine
geschäftsschädigende Macke: Er soff zu gerne, war aber nie richtig
blau. Aber in diesem Zustand behauptete er die tollsten Sachen, er
wäre z.B. Adjutant von Rommel im Wüstenkrieg gewesen, obwohl er
gerade erst zur Schule kam, als der Krieg zu Ende war. Wenn seine
Gäste ihm nicht glaubten, schmiß er sie aus seiner Kneipe, und es
war ihm egal, ob sie bezahlten oder nicht. Ganz Clevere nutzten das
aus und soffen tagelang umsonst bei ihm. Gezwungenermaßen
mußte er nebenher Geld verdienen, und da er klein und schmal war,
und es seinen Neigungen entsprach, arbeitete er als Elektriker. Er
hatte diesen Beruf zwar nicht erlernt, aber er war ein begabter
Amateur. Eines Tages hatte man ihm wieder mal den Strom und das
Telefon gekappt, und er brauchte dringend Pesetas. Die Kneipe
hatte ihm der Verpächter wegen fehlender Zahlungen abgenommen,
und seine Ente pfiff auf dem letzten Loch und mußte repariert
werden. Eigene Aufträge an Land ziehen, war nicht seine Sache,
deslab rief er öfter Alex an. Nachdem Karsten Alex vorgejammert
hatte, daß er wieder mal total am Ende wäre, sagte Alex: „Karsten,
im Moment habe ich keine Elektroarbeiten, aber suche dir einen
spanischen Bauarbeiter mit dicken Muskeln, dann kannst du für
einen Kunden eine Natursteinterrasse bauen. Ich besorge Zement,
Sand, eine Mischmaschine und Natursteine aus dem CasaresSteinbruch. Ich zeige dir, wie es geht, und schaue jeden Tag nach,
wie die Arbeit läuft.“ Nachdem sie einen Festpreis ausgehandelt
hatten, lief die Arbeit an. Alex war kein Sozialamt und wollte natürlich
auch an diesem Auftrag verdienen, aber Karsten konnte jetzt sein
Telefon, seinen Strom und seinen spanischen Helfer bezahlen und
ein paar Wochen leben. Die Devise war leben und leben lassen. Für
ein par Mark mehr kann man nicht jede Notlage ausnützen und auch
noch den letzten Pfennig heraus pressen. Nach ein paar Tagen hatte
Alex auf seinem Anrufbeantworter eine Nachricht, er möchte bitte
eine Frau in Hamburg anrufen. Es passierte öfters, daß Alex
Aufträge von Unbekannten per Telefon erhielt. Er rief an, und eine
Frauenstimme fragte, ob er einen Karsten Herrmann kennen würde.
Alex fragte erst mal vorsichtig, wie sie auf ihn kommen würde, und
sie entgegnete, sie hätte das Konsulat angerufen, und die hätten
gesagt, er – Alex kenne jeden an der Costa del Sol. Sie wäre die
Stiefschwester diese Karsten Herrmann, ihr Vater wäre gestorben,
ohne Testament, und um das Erbe anzutreten benötige sie die
Unterschrift ihres Stiefbruders. Alex ließ sich den Namen und die
Telefonnummer geben, sagte, er kenne diesen Karsten von
gelegentlichen Kneipenbegegnungen, und falls er ihn demnächst
wieder treffen würde, werde er diese Nachricht weitergeben. Man
weiß ja nie, wer da anruft, dachte Alex, Polizei oder Finanzamt, oder
eventuell hat Karsten noch mehr an den Hacken. Das Studio, das
Karsten gerade bewohnte, gehörte einer früheren Freundin von ihm,
die spurlos verschwunden war, und das Telefon lief auch noch auf
ihren Namen. Am nächsten Morgen kam Alex zur Baustelle, der
Spanier füllte gerade den Zementmixer, und Karsten saß auf der
Eingangstreppe und begrüßte Alex mit den Worten: „In Hamburg
hätte ich 16 Monate für meine Steuer-schulden abzusitzen,
Unterkunft und Verpflegung wären gesichert, den ganzen Tag könnte
ich mit den anderen Knackis Karten spielen, und der Wärter öffnet
mir die Tür und schließt sie hinter mir. Und hier sitze ich in Spanien
und muß Steine schleppen.“ Alex grinste und erzählte ihm von dem
Anruf. Bei Karsten fiel erstmal die Kinnlade runter, und dann
erinnerte er sich tatsächlich eine Stiefschwester zu haben, aber die
hätte er zuletzt bei der Scheidung seiner Eltern vor rund 40 Jahren
gesehen. Am nächsten Morgen hüpfte Karsten wie Rumpelstilzchen
herum, er hatte mit seiner Stiefschwester telefoniert, ihr Vater hatte
600.000 DM in Bar und Aktien, ein Haus auf Ibiza, ein Appartement
aus Teneriffa und eine Eigentumswohnung in Hamburg hinterlassen,
und wer weiß, giftete er, wie viel sie sich jetzt schon unter den Nagel
gerissen hat. Typisch, dachte Alex, da hat Karsten jahrelang am
Rand des Existenzminimums gelebt, und kaum riecht er Geld, wird er
habgierig. Im nächsten halben Jahr konnte Karsten keine Nacht
richtig schlafen in der Befürchtung, das Finanzamt könnte sein
unverhofftes Erbe beschlagnahmen. Aber hatte Glück und einen
guten Rechtsanwalt. Er blieb auch auf dem Teppich, kaufte sich nur
einen Sport-wagen und arbeitete weiter, kaufte kleinere Immobilien,
renovierte sie, wie er es bei Alex gesehen hatte und verkaufte sie
dann teurer. Das versprochene fürstliche Essen in einem
Spitzenrestaurant für Alex und seine Frau fand nie statt. Nach drei
Jahren
flog
Karsten
nach
Hamburg,
ließ
sich
per Taxi durch alle von früher bekannten Winkel Hamburgs fahren,
ging am nächsten Tag ins Krankenhaus und starb 14 Tage später an
Krebs.
Petra, Jochen und Paco betrieben ein Restaurant an der Küste.
Jochen war zwanzig Jahre älter als Petra, war ehemaliger SternJournalist, lebte meist in ihrem kleinen Häuschen nahe Marbella und
ließ sich selten im Restaurant sehen. Er versuchte mit mäßigem
Erfolg, Reportagen über Andalusien zu verkaufen. Petra führte die
Bar, hatte ein Rückgratleiden, trug deshalb ein Stützkorsett und zog
gurgelnd die Luft ein wegen Kehlkopfasthma, rauchte trotzdem wie
ein Schlot und trank jeden Abend mindestens zehn Longdrinks. Paco
war Kellner und Koch und vertrat den Ehemann nach Schließung der
Bar ab und zu auf den Sitzbänken. Eines Nachts nach der Heimfahrt
ging es Petra schlecht. Jochen fuhr sie in Panik ins Krankenhaus
nach Marbella. Petra hatte keinen Hausarzt, der mit ihrer
Krankenakte vertraut war, der junge Assistenzarzt im Krankenhaus
roch Alkohol und Nikotin, zog die falschen Schlüsse, gab ihr ein paar
Tabletten Valium und sagte ihr, sie solle morgen wiederkommen.
Das war genau das Falsche, und in dieser Nacht machte Petra ihren
letzten Schnaufer. Jochen war die meiste Zeit seines Lebens
freiberuflich tätig gewesen und erhielt lediglich 300,- DM Rente,
Petra war Beamtin beim Finanzamt und von seiner und ihrer Rente
konnte Jochen gut leben. Jetzt hat er auch noch eine Arztwitwe
aufgegabelt, und gemeinsam können sie jedes Jahr eine Weltreise
unternehmen. Als die beiden wieder mal auf Reisen waren, baten sie
Harry, einen Frührentner, ihr Haus zu hüten und Hund und Katze zu
betreuen. Petras Urne stand im Gästezimmer im Schrank, und Harry
sagte jedes Mal, bevor er zu Bett ging: „Gute Nacht, Petra.“ Bis er
eines Tages Zecken über die Bettdecke krabbeln sah und seitdem in
seinem gemieteten Studio in der Stadt übernachtete und nur
tagsüber das Haus betreute. Eines Tages fand Harry das Haus
aufgebrochen und durchwühlt vor. Petras Urne stand im Garten, und
die Asche war verstreut. Der eintreffende Polizist klärte Harry auf:
Das waren Junkies, die haben gedacht, in dem Beutel in der Urne sei
Kokain und haben versucht, das Zeug zu schnupfen. Das war wohl
eine herbe Enttäuschung.
Mark war (angeblich) ein kanadischer Zahnarzt, der seine Praxis an
seine Tochter übergeben hatte und als Pensionär die Welt bereiste.
Alex
lernte
ihn
kennen, als zwei ihm bekannte Damen aus München ihn
anschleppten. Sie hatten ihn in Fuengirola in einem Restaurant
kennen gelernt, und eine von ihnen stieg am selben Abend mit ihm
ins Bett. Er war rotblond, fuhr einen weißen Mercedes mit einen
Kennzeichen aus Andorra, hatte eine Gürtel-fabrik in Madrid und
zwei Läden in Gibraltar, die er an Inder vermietet hatte. Er beklagte
dauernde Kontrollen wegen des Nummernschilds aus Andorra und
versuchte die Münchnerinnen zu überreden, seinen Wagen nach
Deutschland zu fahren, zu verkaufen und ihm einen VW mit
deutschem Kennzeichen mitzubringen. Den Beiden war die Sache zu
kompliziert, glücklicherweise. Kurze Zeit später wurde er verhaftet,
als Drogendealer, in seinem Appartement wurden fünf falsche Pässe
und sechs Kilo Heroin gefunden. Er war Marokkaner aus einer
einflußreichen Drogen-anbaufamilie. Er meldete sich telefonisch aus
der U-Haft voller Humor, er wäre jetzt in einem Männerpensionat,
leider keine Frauen. Ein Anwalt kam aus Marokko, schwarzhäutig,
gutaussehend, der fließend Englisch, Französisch, Spanisch und
Deutsch sprach. Nach drei Jahren war Mark wieder frei und meldete
sich telefonisch mal aus Nepal, Südamerika und Holland. Die Katze
läßt das Mausen nicht.
Charly ist sein Spitzname, seine beiden Vornamen sind deutsch und
sein Familienname polnisch. Einer, der ihn nicht leiden kann,
behauptet, Charly sei aus altem polnischen Portieradel. Er
schlawienerte sich so durchs Leben, und weil er an der deutschösterreichischen Grenze aufgewachsen ist, hat er viel von deren
Lebensart angenommen. Sein angeberisches, dummdreistes
Geschwätz wird von den gelangweilten Touristen amüsiert toleriert.
Er kann sogar Gitarre spielen, aber es reicht nur für drei Lieder. Ab
und zu fährt er ein paar alte Witwen nach Gibraltar zum Einkaufen
oder macht einfach Ausflüge mit ihnen, vermittelt bei Bedarf
Handwerker und kassiert von denen Provisionen. Dann stöhnt er
manchmal: „Was sich diese alten Ratten einbilden, die erwarten doch
tatsächlich, daß ich mit denen ins Bett steige.“ Vor ein paar Jahren
wurde angeblich sein Auto geklaut, in der gleichen Nacht flog er nach
Deutschland und kaufte sich ein Neues. Seitdem steht er in den
Computern der Versicherungen mit einem Fragezeichen. Dann zog
er mit einem Freund herum und tönte, er würde in Almeria Dutzende
von Reihenhäusern bauen. Und da Almeria als großer
Drogenumschlagplatz von Marokko nach Europa gilt, dachten einige
Kenner
der
Szene:
„Nachtigall,
ick hör dir trapsen.“ Nach ein paar Monaten wurde Charlys Freund in
London verhaftet, mit fast zwei Zentnern Haschisch in den
Hohlräumen seines Autos. Nach knapp zwei Jahren Knast tauchte
dieser Freund hier wieder auf, und Charly kannte ihn nicht mehr.
Wenn so einer knapp am Gefängnis vorbeigeschrammt ist, wird er
sehr vorsichtig.
Detlef hat eine Villa direkt am Strand, ein Privatflugzeug und ein paar
Straßenzüge in der Münchner Innenstadt bestehend aus
Mietshäuser – alles von seinem Vater geerbt. Der kannte seinen
stockschwulen Sohn und schenkte die Mietshäuser der Kirche mit
der Maßgabe, daß sein Sohn bis zu dessen Ableben die Hälfte der
Mieteinnahmen
bekam.
Außerdem
setzte
er
eine
Vermögensverwalterin ein, die wiederum von einem Anwalt
kontrolliert wurde. Detlef flog sein Flugzeug selbst und ab und zu
nach Marokko, da dort das Angebot an kleinen Jungs und
muskelbepackten Masseuren groß und solche Dinge normal waren.
Manche von diesen Detlefs werden vom Jet-set in Marbella toleriert
aber nie richtig anerkannt, außer sie vollbringen auf irgendeinem
Gebiet außergewöhnliche Leistungen. Und da ererbtes Geld und ein
Sportflugzeug nichts Besonderes ist, kaufte sich Detlef eine Yacht für
drei Millionen DM und mietete einen Liegeplatz in Puerto Banus.
Als er eines Tages wieder mal seine Yacht besuchte, lag neben ihr
eine wunderschöne Segelyacht, ganz aus Teakholz, sehr selten und
sehr teuer. Und direkt davor saßen auf einer Decke drei Hippis mit
bunten Hemden, ausgebleichten, zerfransten Jeans, langen Haaren
mit Stirnband und spielten auf seltsamen Instrumenten. Sie hatten
einen Cowboyhut vor sich liegen, und die vorbeiflanierenden
Touristen warfen ab und zu eine Münze in diesen Hut. Detlef
versuchte mit seinen paar Brocken Englisch und Spanisch diese
bunten Vögel zu vertreiben, und als sie von ihm keinerlei Notiz
nahmen, rief er per Handy wutentbrannt die Polizei. Leider stellte
sich heraus, daß diese drei Musikanten amerikanische Popstars und
die Eigner dieser schönen Yacht waren, und zehnmal soviel Geld wie
Detlef besaßen. Das mußte Detlef sehr geschockt haben, denn eine
Woche später fuhr er aufs Meer und auf den einzigen Felsen weit
und breit. Vor dem Untergang seiner Yacht konnte Detlef mit seinen
Begleitern noch in das Beiboot klettern und an Land fahren. Seitdem
ruht sein Boot auf dem Grunde des Mittelmeeres, und die
Versicherung zahlt auch nicht.
Michael war Maler, er malte nicht nur Wohnungen und Häuser an,
sondern machte auch Stilleben und Porträts. Sein Vater hatte in
Deutschland einen Malerbetrieb mit zwanzig Gesellen, und sein
Bruder war ein bekannter Kirchenmaler mit Aufträgen in ganz
Europa. Michael kam mit seiner Frau und seinen zwei Kindern für
einen dreiwöchigen Urlaub nach Spanien, und überwältigt von
Sonne, Strand und Rotwein blieb er hier. Er hatte den Streß im
väterlichen Betrieb gründlich satt. Als das Geld alle war, der Bankautomat seine Kreditkarte geschluckt hatte und nicht wieder
herausgeben wollte, von zu Hause auch nichts mehr zu erwarten
war, mußte er arbeiten. Er fand eine Hütte im Campo für billige Miete
ohne Strom und Wasser. Handys gab es noch nicht, und seine alten
Autos gaben regelmäßig nach kurzer Zeit ihren Geist auf oder
wurden von der Polizei beschlagnahmt, weil er keine Versicherung
bezahlt hatte. Er leistete gute Arbeit, und die Kunden verziehen ihm
auch, wenn er mal ein paar Tage nicht zur Arbeit kam. Dann hatte er
meistens ein paar Joints zuviel geraucht, und in diesem Zustand
malte er phantastische Horrorbilder, bei denen schon das Anschauen
Alpträume verursachte. Seine Frau zog zu einem schmutzigen,
schmierigen Engländer und nahm ihren Sohn mit, die Tochter blieb
bei ihm. Der Eng-länder verkaufte gesammelten Krempel auf
Trödelmärkten, und nach einem halben Jahr wollte sie wieder zurück
zu Michael, aber der wollte sie nicht mehr. Seine Tochter war
bildschön, hatte sein Maltalent geerbt, ging zur spanischen Schule
und war strohdumm und faul. Michael nahm in seiner Hütte öfters
junge deutsche Streunerinnen auf, eine bekam von ihm Zwillinge,
versuchte sich an der Herstellung von Kinderspielzeug aus Holz und
lebt jetzt in Deutschland vom Sozialamt. Eines Tages kam Michael
auf die Idee, am Strand Märchenfiguren aus Sand zu bauen. Sie
wurden wunderschön und erregten das Staunen der Touristen und
die Begeisterung der Kinder. Der Münzinhalt des Kartons mit der
dreisprachigen Beschriftung „Spende für einen Künstler“ reichte
immer für Essen und Wein. Als ein paar abgerissene Strandläufer
diese Idee nachmachen wollten, machte die Polizei dem Spuk ein
Ende und verjagte alle, auch Michael. Eines Tages starb sein Vater
und er mußte den väterlichen Malerbetrieb übernehmen. Und wie
man hört, gelingt ihm das sehr gut. Seine Tochter wurde volljährig,
kam wieder nach Spanien und lebt jetzt mit einem spanischen
Jugendfreund zusammen im Campo wie früher mit ihrem Vater.
Werner war Dachdecker und hatte einen Betrieb mit fünfzig Gesellen
und Helfern in München geerbt. Der bestand schon in der dritten
Generation, und die Aufträge kamen fast von selbst. Die Angestellten
und Arbeiter waren eingespielt, und Werner konnte seine meiste Zeit
damit verbringen, mit seinem Sportwagen die Leopoldstraße auf und
ab zu fahren und willige Mädchen aufzugabeln. Er war groß,
breitschultrig und sah gut aus, aber mit Mitte Dreißig waren seine
geschäftlichen Erfahrungen bescheiden. Gegen den Rat seines
Prokuristen nahm er einen Millionenauftrag von einem
Generalbauunternehmen an. Das ging pleite, und Werner mit ihm.
Anstatt seine Pleite sauber durchzuziehen, flüchtete Werner mit ein
paar Tausend Mark in der Tasche Hals über Kopf nach Spanien und
hatte prompt den Staatsanwalt auf den Fersen. Er mußte und konnte
jetzt selber arbeiten, er war kein Strandgut wie so viele andere und
wollte den Haftbefehl wegen seiner Pleite von den Hacken haben.
Sein Rechtsanwalt vereinbarte einen Termin vor dem Münchner
Gericht. Werner flog nach Düsseldorf und wollte mit der Bahn weiter
nach München, vor den bayrischen Grenz-beamten hatte er einen
Heidenbammel. Sein Zug nach München ging erst ein paar Stunden
später. Als er problemlos am Düsseldorfer Hauptbahnhof ankam,
wurde er sorglos, genehmigte sich in ein paar Lokalen ein paar Bier
und geriet in eine Polizeirazzia. Seine Paßdaten wurden in den
Computer getippt, und schon klickten die Handschellen. Vier Wochen
saß er im Knast, dann ging der nächste Gefangenentransport nach
München. Dort leistete er vor Gericht seinen Offenbarungseid und
durfte wieder nach Spanien abreisen. Jetzt konnte er auch wieder
einen neuen Reisepaß beantragen. Die meisten Menschen denken
dauernd darüber nach, wie sie mit weniger oder keiner Arbeit leichter
und besser leben können, so auch Werner. Er lernte eine hübsche,
zierliche Spanierin kennen und heiratete sie. Beide eröffneten ein
Gartenrestaurant in der Altstadt von Marbella, und da sie beide
wenig Geld hatten für Trespaso (Pacht + Inventarübernahme), kam
es wie meistens. In der Saison wurde gut verdient und leicht
ausgegeben, im Winter verdienten sie kaum die Pacht. Werner
inserierte in Münchner Zeitungen, ein Interessent kam mit
Schwarzgeld in der Tasche. Werner lieh sich von einem Freund
einen 500er Mercedes, holte den Interessenten vom Flughafen ab
und brachte ihn nach Marbella zu seinem Gartenrestaurant. Ein paar
Tage vorher hatte er alle Freunde und Bekannte zu diesem Abend
eingeladen, seine Frau hätte Geburtstag und Getränke und Essen
wären
kostenlos. Das ließ sich natürlich keiner entgehen, und da sich so
etwas herumspricht, kamen auch zahlreiche nicht eingeladene
Nassauer, kurz, das Restaurant war brechend voll, und der
Übernahmevertrag mit 20.000 DM Anzahlung am selben Abend
unterschrieben und bezahlt.
Die Ernüchterung kam in den nächsten Tagen, als kaum Gäste
erschienen. Der Interessent wollte vom Vertrag zurücktreten und die
Anzahlung zurück haben. Aber das geht in Spanien nicht: Wird ein
Vertrag nicht erfüllt, ist die Anzahlung verloren. Und weil das so gut
geklappt hatte, wollte Werner diese Sache wiederholen. Als nächstes
kam ein Japaner, sah sich alles ein paar Tage in Ruhe an, bestand
auf einen Notarvertrag und bezahlte die ganze Summe sofort. Hier
gibt es einen Spruch: Mit jedem Flugzeug kommt ein Dummer, und
am Flughafen steht ein Gehirnstrahler, mit dem 50 % der kleinen,
grauen Zellen eingeschläfert werden.
Scholte war ein typischer Geschäftshaifisch, er kaufte mit einer
kleinen Anzahlung ein altes, herunter gekommenes Hotel am Strand,
wandelte die Hotelzimmer in Eigentumswohnungen um, köderte
Rentner mit einer kostenlosen Busreise nach Spanien und verkaufte
schon während der Fahrt die ersten Wohnungen. Das Restaurant im
Hotel verpachtete er separat, und die Hotelverwaltungsräume
wurden seine Büroräume. Er sicherte sich per Vertrag die
Verwaltung und verdiente enorm. Dann machte er einen Fehler. Er
verkaufte mehr als die Hälfte und verlor die Mehrheit bei den
jährlichen Eigentümerversammlungen und wurde nach ein paar
Jahren als Verwalter abgewählt. Hätte er die Hälfte der Wohnungen
behalten und als Ferienwohnungen vermietet, dann wäre eine
Abwahl nicht möglich gewesen, und er hätte ein gesichertes
Einkommen bis an sein Lebensende gehabt. Aber Scholte wurde zu
maßlos, er benötigte Geld für ein großes Bauprojekt. Er kaufte in der
Wildnis nördlich von Malaga hunderte Hektar Land und wollte
Bauparzellen einteilen, Häuser, Hotels und eine Ayuveda-Klinik
bauen. Irgendeinem einflußreichen Spanier gefiel das nicht, und
plötzlich wurden die Baulizenzen torpediert und die Genehmigungsverfahren verschleppt. Scholte brauchte Geld. Er
verkaufte noch ein paar Wohnungen und erhöhte die
Verwaltungsgebühren. Die blauäugigen Deutschen lassen sich eine
Menge gefallen, aber eines Tages ist Schluß. Das ist vergleichbar
mit den Parteien in Deutschland. Denn Demokratie ist nichts weiter
als
zwanzig
Prozent
der
Wähler
mit
Begünstigungen überhäufen und in Abhängigkeit bringen,
hauptsächlich die Medienleute und die Beamten, den Rest kann man
verdummen, und schon hat man die Mehrheit. Aber jetzt scheint sich
eine Zeitenwende anzudeuten. Die jetzt heranwachsende Ich- und
Spaßgeneration wird mehr auf ihre eigenen Interessen achten und
sich nicht mehr ausbeuten lassen. Hoffentlich.
Otto war Fliesenleger und Mitte Dreißig. Er war von einem deutschen
Standvillenbesitzer nach Spanien gelockt worden, um seine Küche,
Bad und Pool neu zu fliesen, weil die meisten spanischen
Fliesenleger die Fliesen nicht mit Fugen verlegen können. Otto fand
eine Freundin, sie hatte ein Häuschen direkt neben seiner
Arbeitsstelle, war Engländerin, Witwe, Mitte Vierzig und sah noch
ganz passabel aus. Zwischen den Strandvillen und dem Meer lag
circa zehn Meter Sandstrand, der an den lauen Sommernächten zu
intimen Strandfesten einlud. Otto schleppte nach der Arbeit einen
Kasten Bier herbei, und die Engländerin Stangenbrot Salat, Käse
und Wurst. Sie plapperte pausenlos, und Otto grunzte ab und zu
zustimmend, obwohl er kein Englisch sprach, aber bei dem, was
beide wollten, brauchten sie keine Sprache. Wenn dann Otto nach
einem morgendlichen Bad im Meer bei einer anderen, über
siebzigjährigen Nachbarin vorbei kam, fragte die ihn regelmäßig: „Na
Otto, wieder mal gut gebumst?“ Da grunzte Otto wieder mal
zustimmend. Sie lud ihn dann regelmäßig zu einer Tasse Kaffee ein,
und es entwickelten sich tiefschürfende Gespräche. Sie: „Ich möchte
noch einmal so eine richtige, heiße Liebesnacht erleben, aber mit
den Männern in meinem Alter ist nichts mehr los, und dafür bezahlen
finde ich entwürdigend.“ Otto: „Wenn ich mal totalen sexuellen
Notstand habe und besoffen bin, können wir darauf zurück kommen.“
Da sie eine elegante, intelligente Dame mit Geschmack und Stil war
und keine direkte Zurückweisung riskieren wollte, köderte sie ihn mit
versteckten Hinweisen. Sie: „Otto, kennst du den Unterschied
zwischen Französisch und Französisch antik?“ Otto blickte fragend.
Sie: „Ist ganz einfach: Französisch antik ist ohne Zähne.“ Otto war
einfach gestrickt und nahm es als Witz. Abends an der Theke der
Strandbodega nach ein paar Feierabendbieren gab Otto seine
Lebensweisheiten von sich: „Männer, wir haben nur ein Problem, wir
müssen überleben. Falls wir mal im Altersheim landen, kommen auf
einen Mann zehn Frauen, die kloppen sich dann um
uns.“ Sein Thekennachbar: „Wir Männer sind ja angeblich das
stärkere Geschlecht, aber die Frauen sind augenscheinlich zäher.“
Ein anderer: „Otto, wie ist denn dein Status hier? Zahlst du Steuer,
Krankenkasse oder Rente?“ „Bin ich verrückt?“ entrüstete sich Otto,
„ich lasse mich nicht länger ausbeuten, weshalb soll ich Steuern
zahlen, diese beamteten Nichtstuer schmeißen doch unser Geld zum
Fenster raus. Weshalb verdient ein Krankenkassendirektor 30.000
Mark im Monat? Und die Rente ist der allergrößte Schwindel. Der
Generationenvertrag, in dem die Jungen für die Alten die Rente
bezahlen, hatte kurz nach dem Krieg, als alles hin war, seine
Berechtigung aber später nicht mehr. Was ihr und euer Arbeitgeber
in 45 Jahren einzahlt, summiert sich auf rund 1,5 Millionen. Bei nur
fünf Prozent Verzinsung ist das eine Rente von 7.500 DM im Monat
und das Kapital bliebe unangetastet, zum Vererben oder ähnlichem
Schabernack.
Sein Nachbar an der Theke bestellte noch eine Runde. „Aber Otto“,
warf er ein, „wenn du hier krank wirst und später mit einer Minirente,
wie soll das gehen?“ Otto tat den Einwand herablassend ab: „Ihr
ernährt in Deutschland hunderttausende von Scheinasylanten, und
andere Schmarotzer und Parasiten, da wird für mich im Notfall auch
noch was abfallen.“ Otto hatte dauernd Ideen, wie er ohne Arbeit
reich werden könnte, aber die Organisation der Ausführung zwischen
Idee und Resultat vergaß er regelmäßig. Aber er konnte trotzdem
von drei Tagen Arbeit in der Woche gut leben. Manchmal trank er
Einen über den Durst und fiel vom Barhocker und mit dem Kopf auf
die Bodenfliesen. Das hat ihm bisher nicht geschadet und eventuell
sogar genützt, um den Durchblick zu bekommen.
Oskar war ein Aussteiger, der glaubte, hier im Süden würden ihm die
gebratenen Tauben von selbst in den Mund fliegen. Alles an ihm war
mittel-mäßig, seine Figur, seine körperlichen und geistigen Gaben
sowie seine Fähigkeiten im allgemeinen. Er war circa 25 und hatte
ein paar mal Urlaub in Spanien gemacht. Seine achtzehnjährige
Freundin Inge hatte seinen Prahlereien von dem schönen Leben an
der Costa del Sol geglaubt und war ihm vertrauensvoll gefolgt. Nach
ein paar Monaten wurde die Lage langsam trostlos. Die Miete war
bald fällig, der Kühlschrank leer und das Geld alle. Jetzt machten
beide in ihrem gemieteten, kärglich und einfach möblierten Studio
Siesta. Draußen herrschte die nachmittägliche, drückende Hitze, und
drinnen war es auch nicht wesentlich kühler. Oskar lag auf seiner
Inge und pumpte sich seinem Orgasmus entgegen. Inge reagierte
mechanisch und dachte an die schwärmerischen Erzählungen älterer
und erfahrener Frauen von tollen Liebesnächten. Wann passiert
sowas mal mir, dachte sie. Oskar zwängt mir sein Ding rein, bewegt
sich ein paar Minuten auf und nieder, spritzt mich voll, rollt sich von
mir runter und fängt an zu schnarchen. Plötzlich ertönten laute
Schläge an der Tür, und eine Stimme rief: „Oskar, mach sofort auf,
hier ist Alex. Du hast gestern Abend um einen Auftrag zu ergattern in
Tonis Bar einen Haufen Lügen über mich erzählt, sofort kommst du
mit und entschuldigst dich dort öffentlich!“ Inge spürte, wie ein Teil
von Oskar in ihr plötzlich ganz klein wurde und aus ihr
herausrutschte. Er flüsterte in ihr Ohr: „Sei ganz ruhig, dann haut er
vielleicht ab.“ Plötzlich sprang die Tür auf, ein Mann stürmte herein,
griff Oskar in die Haare, zog ihn von Inge herunter und begann ihn
schallend zu ohrfeigen. Als Oskar nur noch wimmerte, schickte ihn
ein krachender rechter Haken wie ein Bündel Lumpen in eine Ecke,
wo er bewußtlos liegen blieb. Inge war nackt auf dem Bett mit der
durchgelegenen Matratze liegen geblieben, hatte mit den Händen
ihre Brüste bedeckt und ihre Beine zusammen gedrückt. Halb
ängstlich und halb fasziniert von der brutalen Bestrafung betrachtete
sie die Gestalt. Was für ein Bild von einem Mann, dachte sie. Groß,
breitschultrig, schmal in den Hüften, braungebrannt, dunkelblond, mit
gepflegtem kurzen Bart und grünen Augen. Alex betrachtete Inge,
schloß die Tür mit einem Fußtritt und sagte: „Hallo Inge, dein Oskar
fällt bis auf Weiteres aus, was hälst du davon, wenn wir beide weiter
machen?“ Inge nickte mechanisch, nahm ihre Hände von den
Brüsten, strich rechts und links von sich das Laken glatt, legte sich
bequem zurecht und spreizte ihre Beine.
Sie schaute erwartungsvoll, wie Alex seinen Gürtel öffnete, aus der
Hose stieg und den Slip abstreifte. Ohje, dachte sie, dieser Pimmel
ist doppelt so lang und dreimal so dick wie Oskars. Obwohl sie auch
gehört hatte, daß es darauf nicht ankommen sollte, breitete sich eine
wärmende Erregung in ihrem Unterleib aus. Alex setzte sich auf die
Bettkante, streifte sich sein Polohemd über den Kopf und griff ihr
zwischen die Beine. Er schob seinen Zeigefinger tief in ihre Muschi
und sagte: „Oh Gott, du bist ja so trocken wie die Sahara, das macht
so keinen Spaß.“ Er sah sich um, inspizierte die Gläser, Tuben und
Dosen auf dem Beistelltisch. Eine Plastikflasche mit Nußöl sagte ihm
zu. Er schüttete eine Portion in seine Handflächen, massierte mit
einer Hand abwechselnd ihre beiden Brüste und mit der anderen
Hand ihre Schamlippen und ihren Venushügel. Ab und zu glitt seine
Hand tiefer und benetzte und massierte ihren Anus. Nach einer
Viertelstunde intensiver Massage merkte er, wie sie feucht und bereit
wurde. Alex nahm ein Kopfkissen und schob es unter ihren Hintern.
Er kniete sich zwischen ihren Beinen, sie zog die Knie bis zu ihren
Brüsten zurück und öffnete sich völlig. „Los“, stöhnte sie, „schieb ihn
mir endlich rein.“ Langsam, genußvoll und mit Pausen erfüllte er
ihren Wunsch. Der Rest war reine Ekstase. Eine Weile später dachte
Inge erfüllt: Jetzt habe ich das auch erlebt und weiß, was für Freuden
einem ein Mann bereiten kann...
Beim Nachspiel bemerkte Alex, wie Oskar sich zu regen begann. Er
dachte, eigentlich sollte das eine Bestrafung für Oskar sein, aber
warum nicht das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden. Er
drückte Inges Kopf zwischen seine Beine und sagte: „Jetzt blas mir
meinen wieder steif, dann machen wir noch mal so eine Nummer.“
Inge machte sich mit Eifer ans Werk und Alex sah Oskar mit seinen
Klamotten unter dem Arm leise aus der Tür schleichen.
Man sah ihn nie wieder.
Zitate und Sprüche, die auffielen:
Ehre ist das Geschenk eines Menschen an sich selbst.
Religion ist das Opium der Dummen, Marxismus ist das Opium der Intellektuellen.
Jedes Ereignis und jede Tat muß man nach seinen Folgen
beurteilen.
EDV = Elektronische Datenverarbeitung oder Ende der Vernunft.
Die meisten Deutschen kümmern sich weder um ihre eigenen langfristigen
Interessen noch um die ihres Volkes, solange ihr Schweinetrog täglich gefüllt ist und
der Fernsehapparat nicht implodiert – gelungene Volks-verdummung.
Die Menschen verlieren zuerst ihre Illusionen, dann ihre Haare und Zähne und ganz
zuletzt ihre Laster.
Gesundheit kauft man nicht im Handel, sie liegt im Lebenswandel.
Gott schütze mich vor meinen Freunden, mit meinen Feinden werde
ich schon selber fertig.
Der Feige stirbt viele Tode, der Mutige nur einen.
Es gibt keinen Menschen an sich, sondern nur Menschen in ihrer
Prägung ihrer ethno-kulturellen Erscheinung.
Das multirassige Konzept ist der Ausdruck einer zutiefst
rassenverachten-den, weil rassenvernichtenden Gesellschaft und
daher folglich das schlimmste Verbrechen, das je an den Völkern der
Erde begangen wurde.
Gelassenheit ist, Dinge zu ertragen, die man nicht ändern kann. Mut
ist, Dinge zu ändern, die man ändern kann. Weisheit ist, das Eine
vom Anderen zu unterscheiden.
Das eherne Lohngesetz lautet: Je angenehmer eine Arbeit ist, desto
besser wird sie bezahlt.
Mitleid bekommt man geschenkt, Neid muß man sich hart erarbeiten.
Heinrich Heine sagte schon 1840: Türken, Inder, Hottentotten sind
sympathisch alle drei, wenn sie leben, lieben, lachen fern von hier in
der Türkei. Doch wenn sie in hellen Scharen, wie die Maden in dem
Speck, in Europa nisten wollen, ist die Sympathie schnell weg.
Mit Absicht wirft man (die staatenlosen Intellektuellen der linken,
roten Rattenloge) falsche Begriffsnetze über uns und damit werden
schon in den Schulen unsere Kinder von lebensfrohen Geschöpfen
zu bußfertigen, zerknirschten herabgewürdigt.
Ein Volk, das völlig auf Gewaltanwendung verzichtet, bereitet seinen
eigenen Untergang vor. Es verwandelt sich in eine Schafherde, die
der erstbeste Wolf abschlachten kann.
Laßt jedem Volk das Seine ohne Zwist. Doch seid bereit, euch bis
auf´s Blut zu wehren, begehrt ein fremdes Volk, was unser ist.
Sei ein Realist – versuche das Unmögliche.
Wenn ein Mann nicht bereit ist, für seine Überzeugung ein Risiko
einzugehen, dann taugt entweder die Überzeugung oder der Mann
nichts.
Ein Geizhals ist eine Plage für seine Mitmenschen aber eine Freude
für seine Erben.
Die Politik hat nicht zu rächen was geschehen ist, sondern dafür zu
sorgen, daß es nicht wieder geschieht.
„Das ehrenwerte Ziel“
Was ist der Sinn des Lebens?
Was ist ein sinnvolles Ziel?
Bestimmt nicht nur fressen, saufen und vögeln, wie ein SPDAbzocker aus dem Saarland behauptet.
Mit den Tugenden, die dieser Minus-Mann pflegt, kann man auch ein
Bordell führen.
Ein deutscher Tischlermeister – Bauleiter hat sich in seiner neuen
Heimat in Südspanien seinen Frust über Deutschland von der Seele
geschrieben, eingebettet in eine Handlung von Abenteuer, Liebe,
Erotik, rabenschwarzer Verschwörung und gerechter Vergeltung. Die
Berichte über Deutschland, Arabien, Afrika und Spanien sind
teilweise autobiographisch – die Namen der Beteiligten sind
geändert, sie selbst werden sich aber leicht erkennen, die Guten wie
die Bösen.
Hans-Ernst Raack
Persisches Sprichwort:
„Gib dem, der die Wahrheit sagt, ein Pferd,
damit er danach entwischen kann.“

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