Meine Schulzeit in Chemnitz
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Meine Schulzeit in Chemnitz
Autor : Heiner Matthes, Alter : Jahrgang 1939 Wohnort: Chemnitz Beruf: Dipl. Ing. Erste Schuljahre nach dem 2. Weltkrieg „Nur vier Monate nach Ende des zweiten Weltkriegs 1945 begann meine Schulzeit, deren Start von Unsicherheiten geprägt war. Zuerst einmal war es unklar, wo ich eingeschult werden sollte, denn es gab jeweils eine Schule in Schönau und in Stelzendorf. Es gab diesbezüglich bestimmte territoriale Vorgaben, die erst geklärt werden mussten. Auch der Termin für den Schulbeginn war unklar. Endlich wurden die Familien mittels eines „ Zettels“ informiert, welcher beim Bäcker aushing. Am 16. September 1945, einem verregneten Sonntagnachmittag, fand dann meine offizielle Einschulungsfeierlichkeit in der Grundschule Stelzendorf statt, welche vom Direktor persönlich vorgenommen wurde. Es war eine sehr schöne Feier. Wir wurden alle einzeln aufgerufen und begrüßt. Zur“ Versüßung“ des Schulbeginns erhielt jeder ABC- Schütze eine an Papierfaden aufgereihte Kette aus schmackhaften schwarzen Plätzchen, die mit Hirschhornsalz gewürzt und von unseren Lehrern selbst gebacken wurden, kredenzt. Zuckertüten, wie sie es heute gibt, haben wir nicht erhalten. Dennoch hat mir meine Mutter eine Zuckertüte aus grüner Pappe gebastelt und mit selbstgemachten Bonbons aus Sirup und einem kleinen Schokoladenschwein gefüllt, das sie selbst einmal als Jugendliche geschenkt bekommen hatte. Schokolade war aber keinesfalls dabei. Der eigentliche Unterricht begann aber erst am 01. Oktober 1945, einem sonnigen Herbsttag. Als ich meinen Direktor fragte, warum erst heute der Unterricht startet, bekam ich zur Antwort: „Wir haben alle nicht genug zu essen. Ihr müsst euch noch ein wenig etwas anfuttern, damit ihr auch genügend Kraft habt, um die vielen Treppen zum Klassenzimmer zu schaffen“. Den wirklichen Grund für den späten Start erfuhr ich später. Es waren keine Briketts für die Feuerung der Heizung vorhanden. Auf Grund zahlreicher nachträglich aufgenommener Mitschüler, deren Familien nach ihrer dramatischen Aussiedlung aus Pommern, Schlesien und Ostpreußen sich auf der Durchreise befanden, wurde die Klasse 1 in zwei erste Klassen mit jeweils 20 Schülern aufgeteilt. Später hat sich dann die Klassenstärke auf jeweils etwa 25 Schüler eingepegelt. Meine Lehrer waren so genannte „Neulehrer“. Zu einem Großteil waren es junge Frauen im Alter von17bis18 Jahren, welche uns unterrichteten und den Lehrermangel aufgrund der nach dem zweiten Weltkrieg entstandenen Situation und der Entnazifizierung ausglichen. Sie hatten keine klassische Lehrerausbildung, sondern absolvierten ein Seminar, welches parallel zum Unterricht verlief, welchen sie uns erteilten. An einem Tag waren sie im Lehrerseminar und am nächsten Tag vermittelten sie in der Klasse das Gelernte. An einige erinnere ich mich ganz besonders: So erteilte das zierliche Fräulein Wenzel mit ihrer eigenen Art von Strenge und Güte sowie auch einer gewissen Portion Humor den Unterricht. Im Gedächtnis blieb mir die Anfertigung einer bescheidenen Bastelarbeit aus Buntpapier als Ostergeschenk für unsere Eltern 1946.Alle waren glücklich, ihren Eltern eine kleine Freude bereiten zu können. Auch wenn wir einen schweren Start mit unseren Lehrern hatten, dennoch hat sich die Spreu mit der Zeit vom Weizen getrennt. Insgesamt aber hatten wir viel Glück mit ihnen. Sie waren sehr gut zu uns, darauf bedacht uns Wissen zu vermitteln, aber auch wichtige Dinge des Lebens, wie Disziplin, Sparsamkeit usw. Sie haben uns Märchen erzählt oder Fragestunden mit uns gestaltet, um die Phantasie zu wecken. In diesen Fragestunden am Samstag konnten wir uns in den Sinn kommende Dinge erfragen und erhielten zu meist direkt Antwort oder beim nächsten Mal, wenn die Lehrer die Antwort nicht direkt wussten. Nach einem Lehrplan wurde erst nach 1948 unterrichtet. Auf Grund des ständigen Lehrerwechsels in dieser Zeit nahm Herr Melzer als Schulleiter und erfahrener Lehrer mit einer gewissen Strenge oft das Zepter selbst in die Hand. Er übte mit uns Lesen, Schreiben, Zählen und Rechnen. Für diese „Wissenschaften“ standen zwei Lehrbücher zur Verfügung. Geschrieben wurde im 1. Schuljahr übrigens noch mit dem Griffel auf die Schiefertafel, die sich jeder selbst besorgen musste. Meine Tafel war aus richtigem Schiefer, einem Dachschiefer, den mein Großvater in einen Bilderrahmen gesteckt hatte. Das Löschschwämmchen dieses Requisits baumelte lustig auf dem Schulweg aus dem Ranzen heraus. Papier und Bleistift – oft waren es nur „ Stummel“- sowie Feder und Tintenfass folgten, was nicht problemlos vonstatten ging. Abgesehen von den auf Fingern, Gesicht und Kleidung hinterlassenen Spuren von schwarzer Tinte wurden die karierten und linierten Hefte vom Klassenlehrer zugeteilt. Grund dafür war der allgegenwärtige Mangel, selbst an Papier. Unsere geschriebenen Aufgaben landeten auf grauem rauem Papier. Die kratzenden Schreibfedern verhakten sich öfters im fasernden Papier, sodass Tintenkleckse zur Normalität gehörten. Die Schulbücher und Hefte waren für uns anfangs kostenlos. Später kosteten die Hefte 10 Pfennig für das Format DIN A-5. Außerdem musste nur ein Atlas für nur 4 Ostmark gekauft werden. Dies waren die einzigen Ausgaben, welche in der Zeit der Grundschule und Oberschule getätigt werden mussten. Alle anderen Lehrbücher wurden vom Staat finanziert. Unsere Lehrer achteten sehr auf den sparsamen und ordentlichen Umgang mit den Materialien. Wenn Jemand in den Schulheften die letzte Zeile auf der Seite frei gelassen hat, um später noch etwas hineinschreiben zu können, so wurde er vom Lehrer ermahnt, diese zu beschreiben. Erst dann erhielt man ein neues Heft. Unsere Schulhefte zeichneten sich durch eine „Besonderheit“ aus. Sie hatten einen Reklameumschlag aus Kupfertiefdruck, entweder in braun oder grün. Auf dem Umschlag waren Orte unserer deutschen Heimat mit einem Bild abgelichtet wie z.B. das Stadttor von Bamberg, die „Loreley“ der Felsen am Rhein, den die amerikanische Besatzungsmacht sprengen wollte. Auf einer weiteren Seite des Heftumschlages war dazu ein Lied abgedruckt, welches sich gegen die amerikanische Besetzung Deutschlands richtete, „ Ami, Ami, Ami go home , spalt für den Frieden dein Atom. Lass’ in Ruh’ den Vater Rhein, rühr’ nicht an sein Töchterlein . Loreley solang du singst, wird Deutschland sein.“. So wurden bereits Schüler in die politische Propaganda einbezogen. Die Sparkasse trat uns Kindern gegenüber mit dem saloppen Slogan auf: „ Spare, lerne, leiste was, dann haste, kannste, bist ’e was.“ Für neue Schulhefte mussten wir Altpapier sammeln, welches gebündelt und wieder verwertet wurde. Typische Unterrichtsfächer in der Grundschule waren: Rechnen und Lesen. Unsere Bücher für Rechnen und Lesen hatten wir gleich schon zu Beginn erhalten, sie schienen noch alte Vorkriegsbestände zu sein. Weitere Bücher erhielten wir erst einmal nicht. Mittels der „Fibel“ lernten wir alle Buchstaben und lasen einfache Lesetexte: EMIL, SUSI, LEO EMIL Laufe, SUSI Laufe LEO RENNE – AU MEINE NASE, All das wurde akribisch gepaukt. Das Lesebuch der 2. Klasse war eine recht nüchtern aufgebaute Broschüre und mit nur wenigen Federskizzen illustriert. Es enthielt einige kurze Märchen und Reime aus altem deutschen Kulturgut, wie unter anderem:“ Heraus aus den Betten, heraus aus dem Haus. Die liebe Frau Sonne lacht euch Langschläfer schon aus. Hans steigt in die Hosen, hell strahlt sein Gesicht: Komm’ Wasser, komm’ Seife, ich fürchte mich nicht….“ Rechnen wurde uns anhand von Bildbeispielen gelehrt. Ein sehr beliebtes und oft genutztes Objekt war hier der Kreisel- ein Kinderspielzeug. Die Zahlen von 1-10 wurden uns mittels Äpfel und Birnen beigebracht. Ein weiteres Fach in der Grundschule war Singen. Wir haben gesungen, es gab keine Notenkunde. Unsere Lehrerinnen brachten Kinderlieder bei, welche sie in ihrer Kindheit gelernt hatten. „Kampflieder“ wurden erst nach der vierten Klasse in der Zeit Gründung der DDR gesungen, wie z. B. „Wir wollen Pioniere sein“. nur uns Die der Natürlich hatten wir auch Turnunterricht als Unterrichtsfach. Doch das Turnen an den Geräten wie Reck, Kasten, Pferd, Bock, Barren Matten, Sprossenwänden und Kletterstangen, die noch aus der Vorkriegszeit vorhanden waren, war erst ab der 2. Klasse erlaubt. Doch das störte uns nicht, denn wir interessierten uns für den Rundlauf, einer drehbaren Scheibe an der Decke, an der Seile befestigt waren, welche bis nach unten hingen. Wir hielten uns fest, schoben uns an wie beim Karussell, sausten dann los und schwebten mit angezogenen Beinen im Kreis. Es war etwas für sportliche junge Männer. Der Rundlauf war unter den Schülern sehr beliebt. Auch Freiübungen, Relikte aus der NS-Zeit und Leibesübungen zur Ertüchtigung gab es zudem im Turnunterricht. Eine weitere Möglichkeit war der Sport im Freien. Wir machten dort Wettrennen und Weitsprung. Ich möchte nun über einige „ allgemeine“ Dinge aus unserem Schultag berichten: In den ersten Nachkriegsjahren fehlte es an allem, auch an Grundnahrungsmitteln. Doch an die hungrigen Schulkinder wurde gedacht. So erhielten wir ab der 2. Klasse eine warme Mahlzeit, die für uns alle kostenlos war. Dafür wurde die „ große Essenpause“ eingerichtet. Ich brachte einen alten Stahlhelm mit, welcher zu einer Schüssel umgeschmiedet war. Manch Anderer brachte das Feldgeschirr mit, welches der Vater im Krieg genutzt hatte. So standen wir mit schwerem Kochgeschirr und Löffel bewaffnet und mampften dicke süße Nudeln, Gräupchen, Graupen (Treppenhupper genannt) oder Ähnliches, was man zum Füllen der hungrigen Mägen in der Stadtküche zubereitet hatte. Doch wehe, wenn sich das auf die schräggestellte Schreibplatte abgestellte gefüllte Gefäß durch Unachtsamkeit selbständig gemacht hatte. Unser Hausmeister, der gute Geist, wusste dann in diesen Fällen Rat und Hilfe. Der übrig gebliebene Brei durfte mit nach Hause genommen oder ausgekippt werden für die Schweine der Bauern. Ich erinnere mich noch an ein weiteres Erlebnis zum Thema „ Essen“. Während des Unterrichts drang uns ein etwas strenger Geruch in die Nase, dessen Quelle sich bei einer Schülerin lokalisierte. Prompte Anfrage der Lehrerin:“ Ist dir etwas passiert oder hast du gar…?“Unter Tränen wies die zu Unrecht Beschuldigte ihr Käsebrot als Pausenverzehr vor, das sie unter die Schreibplatte gelegt hatte. Immerhin zählte solch ein Produkt noch zu den Seltenheiten in den ersten Nachkriegsmonaten Ab und an gab es in der Schule eine Sonderzuteilung von einem bis zwei mit Marmelade „ geimpften“ dunklen Brötchen oder einem Ein- PfundBrot. Dies war für uns wie ein Festtag. Wenn es gerade ausgeteilt worden war, rief uns die Messingglocke mit drei Schlägen bereits wieder zum Unterricht, ohne einmal hineingebissen zu haben. Ein Mitschüler, welcher anscheinend morgens nichts zu essen bekommen hatte, kroch jedoch mehrmals unter die Bank und biss in das frische Brot. Zunächst übersah dies unser Lehrer. Doch dann sprach er in Güte, dass der schlimmste Hunger doch gestillt sein müsste und seine Mutter sich über ein Stückchen Brot sehr freuen würde. Der Junge war einsichtig und das Brot war schnell in Zeitungspapier eingewickelt und in der Schultasche verschwunden. Das hatte gedanklich gefruchtet! Die große Sorge unserer Eltern galt, den ständigen Hunger ihrer Sprösslinge entgegen zu wirken. Nur wie? Am meisten beschäftigte dies unsere Mütter, waren doch viele Väter nicht oder noch nicht aus dem Krieg oder der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. So gingen sie Ähren von den bereits abgeernteten Feldern nachlesen und Kartoffeln stoppeln, wenn der Bauer das Feld freigegeben hatte. Mitunter wurden auch wir Kinder zur Hilfeleistung mitgenommen, ebenso für das Einsammeln von Holz im nahegelegenen Wald. Ja, unsere Eltern brachten sogar entbehrlichen Hausrat, wie Wäschestücke, Bestecksätze und sogar Schmuck aufs Land, um auf diesen nicht ungefährlichen „Hamsterfahrten“ in berstend vollen Zügen ein paar Kartoffeln, Körner und Eier als Gegenleistung mit nach Hause zu bringen. Wie nur in aller Welt mögen sie das alles bewerkstelligt haben! Durch diese Anstrengungen und Mühen gelang es ihnen mit viel Liebe, das Leben ihrer Familie etwas zu erleichtern. In den ersten drei Schuljahren hatten wir auf Grund der hohen Schülerzahl Vormittags- und Nachmittagsunterricht, was zur folge hatte, dass wir den langen Schulweg zweimal absolvieren mussten. Am Abend standen dessen ungeachtet Hausaufgaben an, aber wie denn? In den Wintermonaten herrschte meist Stromsperre zwischen 18.00 Uhr und 23.00 Uhr und die Mutter musste bei früher Dunkelheit eine oder zwei flackernde Tranfunzeln aufstellen, damit der Stift überhaupt über das Papier gleiten konnte. Die „ Kerzen“ fertigte Mutter selbst aus Paraffinwachs und einem Wollfaden als Docht an. Diese flackerten sehr und waren für die Augen anstrengend. Später gab es als Alternative Gaslampen. Abend für Abend war es das gleiche Bild. Manchmal saß ich abends bis 19 Uhr an den Hausaufgaben. Auch wenn die Stromsperre beschwerlich war, hatten wir Kinder jedoch auch unseren Spaß daran. So formten wir im Winter kleine Schneebälle und pressten diese auf die Hausklingeln von Nachbarn. Wenn der Strom wiederkam, läuteten diese und hörten von alleine nicht wieder auf. Das war ein Spaß! Schauen wir überdies einmal auf unser damaliges Schuhwerk: entweder trugen wir ausgetretene „ Secondhand“- Lederschuhe oder schwere, steife Holzpantinen mit Kunstlederbezug, später dann Igelit Halbschuhe aus brüchigem Material mit penetrantem chemischen Geruch. Sogenannte „ Bundschuhe“ kamen erst wesentlich später auf den Markt. Für Jacken, Mäntel und Hosen mussten zwangsweise ältere getragene Modelle dienen, welche die Mutter umgeändert hatte. Ich erinnere mich noch gern an einige „ Höhepunkte“ in den ersten Schuljahren, die unsere Kinderherzen höher schlugen ließen. Sobald die Adventszeit begann, nahm unsere Schule einen eigenartigen Charakter an. So ging am 6. Dezember obligatorisch St. Nikolaus (alias Lehrer Schmidt) kostümiert durch das Schulhaus, von Klassenzimmer zu Klassenzimmer und verlas aus einem dicken Buch unsere „ Missetaten“ und erteilte Strafen mit seiner Rute. Auf diese Weise wurde das staatlich verordnete Prügelverbot elegant umgangen. Die Vorfreude auf das kommende Weihnachtsfest verspürte ich auch in der Schule von der ersten Klasse an. Etwas Feierliches lag in der Luftsicher teilten sich Lehrer und Schüler gemeinsam diese Vorfreude. Einmal mehr griff der Lehrer in dieser Zeit zu einem Buch, um uns etwas vorzulesen, das uns Freude bereiten sollte. Ein Höhepunkt waren die Weihnachtsfeiern im proppevollen Stelzendorfer Gasthof, wo die jahrüber auf dem Schulboden ausgelagerten Requisiten des Weihnachtsaufzugs lebendig zur Schau gestellt wurden : der Bergmann mit Kappe, Geleucht und Werkzeug, die Flügel, Kerzen und Krone des Lichterengels, die Wichtelumhänge, das mit Pfefferkuchen bestickte Gewand der Erzgebirgsfrau und der Nussknacker. Dann ging der Weihnachtsaufzug los mit dem Lied von der „Pfefferkuchenfrau mit ihrem Mann aus Olbernhau“. Meist folgte dieser Darbietung ein von der Lehrerschaft inszeniertes Weihnachtsmärchen und endlich wurden – von uns sehnsüchtig erwartet- Malzkaffee und Kuchen gereicht. Knecht Ruprecht (Lehrer Weber mit seiner tiefen Bassstimme) verteilte schließlich mit sparsam gehaltenen Worten der Ermahnung kleine Geschenkpäckchen, welche die Eltern vorher unbemerkt abgeliefert hatten. Unsere Lehrer konnten uns nichts schenken, sondern nur mit warmen aus dem Herzen kommenden Worten eine schöne Weihnacht wünschen. Ich möchte jetzt auch etwas darüber erzählen, wie wir unsere unterrichtsfreie Zeit verlebten: Die Wintermonate zeigten sich bekannterweise noch mit viel Schnee und Frost. Oft wurde in die Verbindungsstraßen innerhalb und außerhalb unseres Ortes durch die Bauern mit pferdebespannten Schneepflügen eine schmale Schneise gezogen. Wir Kinder nutzten diese Tage , um gleich am Dorfrand zu rodeln oder mit einfachen Bretteln den Hang hinunter zu rutschen, was aber erst im Dunkeln richtigen Spaß machte, wenn der Frost im Gesicht zwickte und an den Trainingshosen die Eisklunker klebten. Für die „ Bretteln“ gab es keine extra Schule, wie wir sie heute kennen. Wir trugen alles, was uns die Zeit für den Alltag anbot, selbst Gummigaloschen mussten herhalten. Zum Rutschen am Hang musste oft der lederne Ranzen herhalten, der für dieses Vergnügen als Rodelschlitten umfunktioniert wurde. Wurden die Außentemperaturen wieder angenehmer, so benutzten wir für den Schulweg und die Freizeit entweder den Tretroller in Altbau- oder einfacher Nachkriegskonstruktion oder ein gebrauchtes Fahrrad mit Ersatzbereifung und waren stolz auf deren Besitz, konnten wir diese sogar zerlegen und befummeln! Mit Hilfe des Gepäckträgers ließ sich überdies zu zweit fahren und der Mitfahrer hatte die Pedale zu treten. Sattelrutscher nannte man das. Ein Sturz gehörte zu den Normalitäten, der oft zur Folge hatte eine „Acht“ aus den Felgen wieder auszudengeln. Problematischer war hingegen der Ersatz total zerrissener Strümpfe, die sich nicht mehr stopfen ließen; denn die „ Punktekarte“ für rationierte Textilien ließ keinesfalls den großzügigen Nachkauf dafür zu. Meist war die Straße unser Spielumfeld, gab es doch damals nur wenig Verkehr. So gehörte uns die Fahrbahn, wo Jungen und Mädchen mit Peitschen die Kreisel antrieben, Ballhüpfkästchen mit Lehmsteinen aufmalten oder Straßenfußball bzw. -handball spielten. Natürlich stand für uns Jungen das „Schruppen“ mit einem ballartigen Gegenstand(Pille), einer Gummi“Flutsche“, notfalls einer alten Blechdose oder eines Holzstücks an erster Stelle. Ein geeigneter Platz fand sich dafür immer. Der Hand- oder Leiterwagen, eigentlich zum Transport von Heizmaterial vorgesehen, erfuhr durch uns eine Zweitfunktion. Die Deichsel zum Lenken zwischen die Beine genommen, wurde er von einem zweiten Buben angeschoben und dann mit Schwung bestiegen und schnell ging es die Straße bergab. Blaue Flecke und andere Blessuren blieben nicht aus. Wir waren aller erfinderisch beim Gestalten neuer Fahrzeuge. So wurden zwei Kinderwagenräder mit einer Achse verbunden und mit einem Stock zum Rollen gebracht, das sogenannte „Steckenrad“. Für die Mädchen gehörte zweifelsfrei das Spiel mit ihren antiquierten, geliebten Puppen zur Hauptkategorie ihrer Freizeitbeschäftigung. Das waren aber keine Barbiepuppen, sondern liebenswerte Geschöpfe aus den Häusern von Schildkröt oder Kruse und mit echten Haarzöpfen und Schlafaugen. Mit Puppenwagen zog man dann zu den Klassenkameradinnen in die Wohnung zum gemeinsamen Spiel. Wir waren glücklich mit unseren bescheidenen Spielsachen. Stelzendorf war eine beschauliche Ansiedlung am Stadtrand mit Wiesen, Feldern und Bauernwirtschaften. Die Lebenslage war in den ersten Nachkriegsjahren hier genauso besch… wie anderswo. Andererseits konnten sich einige Jungen bei den Bauern zum Hüten der Kühe auf der Weide verdingen, was schließlich noch etwas zum Essen einbrachte. Ende der 40er Jahre kam der Aufruf an unsere Schule, nach Kartoffelkäfern zu suchen( welche angeblich in der letzten Nacht von britischen und amerikanischen Flugzeugenausgesetzt worden sind, um die Ernte zu vernichten).So zogen wir am Nachmittag auf die Felder, um diese einzusammeln. Manche Bauern stimulierten uns großzügig : „…’ne Fettbemm un een Dopp Millich- dos ist amtlich!- Un nu guckt Zeil fer Zeil im Fald nach Kaafern!“. Später ereilte uns ein von unseren Lehrern motivierter Aufruf, eine Woche lang auf unserem Schulweg und in der Freizeit rostige Nägel zu sammeln, um auf diese Weise mitzuhelfen, die Stahlproduktion im Land wieder anzukurbeln. Mit unserer Musiklehrerin übten wir in der Adventszeit 1950 das Märchenspiel „Dornröschen“ ein, das nicht nur unsere Eltern sondern auch die Mitarbeiter unseres Patenbetriebes -Wismut- Polizei- begeistert hat. Diese bewirteten uns mit Kaffee und Stollen. Ein Teil der Mitschüler erhielt dabei das blaue Halstuch überreicht. Es war der 13. Dezember, der zweite Geburtstag der Pionierorganisation. Doch dazu möchte ich mehr erzählen: Der Verband der Jungen Pioniere steckte seinerzeit noch in den Anfängen, so dass übereifrige Aktivitäten von uns nicht zu erwarten waren. Außerdem war die Mitgliedschaft freiwillig und noch kostenfrei. – Wenn montags das Anlegen der Halstücher angesagt war, so wurde dies halt getan, desgleichen zu Maidemonstrationen, Chorauftritten usw. Wir besaßen übrigens nur das blaue Halstuch; das rote Halstuch erhielten nach 1952 nur die uns nachfolgenden höheren Schulklassen als „ Thälmann- Pioniere“ übereignet. Ansonsten wechselte der traditionelle Gruß“ Guten Morgen“, der zu Beginn des Unterrichts stehend entgegengenommen bzw. dem Lehrer mit dem über dem Kopf erhobenen rechten Handrücken entboten worden ist, zu „ Seid bereit!“„ Immer bereit! “ Wichtig war bei der ganzen Sache die Einhaltung der erlassenen Pioniergesetze, wie Anstand, Hilfs- und Lernbereitschaft, Ehrlichkeit, Sauberkeit, Kameradschaftlichkeit und Freundschaft mit allen Völkern der Erde- eigentlich Charaktereigenschaften eines ordentlichen Menschen. Wenn es einmal damit nicht so richtig klappen wollte, legten die Lehrer mit wenigen Worten den Finger in die Wunde und appellierten an die „Pionierehre“. Ansonsten wurde die „große Politik“ durch unsere Lehrer nur sparsam an uns herangetragen. Trotz aller Entbehrungen ist es für uns eine schöne Kindheit gewesen. Achtung , Anstand und Dankbarkeit gegenüber Eltern und Lehrern sowie Grußpflicht gegenüber Erwachsenen sind haften geblieben. Soweit ein Ausschnitt aus meinen Erinnerungen. Die Darstellungen verfolgten einzig das Ziel, längst in Vergessenheit Geratenes einmal ins Gedächtnis zurückzurufen. Ich wollte damit auch die durchlebten Höhen und Tiefen aus der Sicht der heranwachsenden Kinder einer Grundschulklasse in den schweren Nachkriegsjahren aufzeigen.“