Ingeborg Grau

Transcrição

Ingeborg Grau
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
Einleitung
Afrika im 20. Jahrhundert
»Afrika hatte weder unter kolonialer Herrschaft noch unter unabhängiger Verwaltung die Möglichkeit gehabt, wirtschaftliche Verflechtungen zum Rest der Welt zu entwickeln, die vielfältig, verschiedenartig und
dicht wären. […] Hat Afrika nur die Wahl zwischen Armut, die aus Marginalisierung entsteht, oder Verwüstung, zu der die Ausbeutung führt?«
(Cooper 2007:204)
Die vorangestellte Einschätzung eines herausragenden Afrikahistorikers der Gegenwart
kann als geeigneter Ausgangspunkt dienen, um in eine Geschichte Afrikas im 20. Jahrhundert einzuführen. Fraglos ist Afrika in die Welt von heute verflochten, doch auf sehr
spezifische Weise. Die ökonomische Integration Afrikas in das kapitalistische Weltsystem ist Frederick Cooper zufolge weder vielfältig noch verschiedenartig, sondern einbahnig und eindimensional, gewissermaßen »einfältig«. Sie basiert auf Exportanbindung
einerseits, auf dem reichlichen Vorhandensein einiger nachgefragter Rohstoffressourcen
andererseits. Daraus ergibt sich eine ausgeprägte Abhängigkeit Afrikas von internationalen Märkten und Machtverhältnissen. Gleichzeitig wird Afrikas Bedeutung für den Weltmarkt und noch viel mehr für die Weltpolitik gegenwärtig äußerst gering eingeschätzt.
Wiewohl sich diese Einschätzungen angesichts demographischer Entwicklungen und
Migrationsbewegungen womöglich bald verschieben werden, spricht mancherlei für sie.
Anders als das allgegenwärtige Gerede von Globalisierung und globaler Durchdringung glauben machen möchte, bleibt Afrika am Beginn des 21. Jahrhunderts nämlich
nach wie vor marginalisiert; die kapitalistische Durchdringung des Kontinents ist gegenwärtig, wie schon über das ganze 20. Jahrhundert hinweg, nur punktuell gegeben.
Afrika ist weniger »globalisiert« als es im 19. Jahrhundert gewesen war, bevor es zur
Einrichtung kolonialer Fremdherrschaft gekommen war. Cooper (2005:104ff) spricht
sarkastisch von »De-Globalisierung« anstelle von »Globalisierung« im Afrika des 20.
Jahrhunderts, weil seit der Kolonialzeit weit mehr (Zer)Störung und Entflechtung etablierter Beziehungsnetze geschehen ist als Intensivierung und Erweiterung von Verflechtungen. Das Kapital geht nur an bestimmte Orte, viele Regionen Afrikas lässt es links
liegen: »Afrika ist voller Plätze, an die internationale Investoren nicht gehen.« (Cooper
10
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
2005:106) Auch die Dichte der weltwirtschaftlichen Verflechtung Afrikas fällt bescheiden aus – und damit seine globale Integration.
Dies ändert freilich nichts an den Außenabhängigkeiten der afrikanischen Staaten
und Volkswirtschaften. Daher wäre ein Mehr an »Globalisierung« auch keine Lösung –
zumindest nicht, wenn die Verbesserung der Lebensumstände der Mehrheit der Bevölkerungen Afrikas das Ziel ist. Die Bemühungen in diese Richtung, die seit den frühen
1980er Jahren schlagwortartig mit dem Terminus Strukturanpassungsprogramme (SAP)
zu fassen sind, haben sich als kontraproduktiv erwiesen (Schicho 2010:163f). Von der
Verbesserung der Wirtschaftsdaten, die mancherorts festgestellt werden können, hat die
Mehrheit der Bevölkerung nirgends profitiert; die Zahl derer, die als »arm« eingeschätzt
werden, hat ganz im Gegenteil massiv zugenommen: »Während 1990 in Afrika 241 Millionen Menschen von weniger als einem US-Dollar pro Tag lebten (eines der gemeinhin
akzeptierten Bemessungskriterien für Armut), waren es 2004 298 Millionen AfrikanerInnen, die auf diesem Einkommensniveau lebten […]. Erschwerend kommt hinzu, dass die
Zahl jener AfrikanerInnen, die unter die Kategorie der ›Ultraarmen‹ fallen (die in einer
Welt der wachsenden Armut entwickelt wurde, um jene zu beschreiben, die von weniger
als 50 US-Cents pro Tag leben), von 92 Millionen im Jahr 1990 auf 121 Millionen im
Jahr 2004 angewachsen ist.« (Worger/Clark/Alpers 2010:236; vgl. 230f) Damit einher
ging ein rapides Absinken der durchschnittlichen Lebenserwartung, die auf das Afrika
südlich der Sahara gerechnet bei 47 Jahren für Frauen und 46 Jahren für Männer liegt.
Die negativen Folgen der von den internationalen Finanzinstitutionen (und Geberländern) oktroyierten »strukturellen« Programme waren – und sind – allerdings nicht
nur von der Bevölkerung schmerzhaft zu verspüren, sondern beeinträchtigten auch sichtlich die afrikanischen Staatshaushalte. Der UNCTAD-Report von 2004 berichtete: »Afrika war von seinen westlichen Gläubigern tatsächlich so abhängig geworden, dass es
ihm fast unmöglich war, einem ewigen Zyklus von Schuldenzahlung und Neuverschuldung zu entkommen, der seine Menschen für immer in Armut hält. Dies der Tatsache
zum Trotz, dass sie [AfrikanerInnen] für dieselben westlichen Kreditgeber ein enormes
Maß an Vermögen produzierten.« (Worger/Clark/Alpers 2010:236) Die offizielle Verschuldung des Kontinents stieg von knapp 7 Mrd. US-$ im Jahr 1970 im Zuge der globalen Rezession innerhalb von 10 Jahren auf gut 47 Mrd.; danach verdreifachte sie sich
sehr rasch (fast 160 Mrd. 1990) und kratzte schon im Jahr 2000 an der 200-MilliardenMarke (mehr als 194 Mrd.). Dabei waren von den zwischen 1970 und 2002 gegebenen
westlichen Darlehen in Höhe von 294 Mrd. US-$ 268 Mrd. zurückgezahlt worden; die
Schulden beliefen sich dessen ungeachtet weiterhin auf 210 Mrd. US-$ (Worger/Clark/
Alpers 2010:236).
Die Gestaltungsmöglichkeiten afrikanischer Regierungen wurden durch die Eingriffe der internationalen Finanzinstitutionen noch stärker limitiert, weil sie die Kreditvergabe nicht nur an wirtschaftliche, sondern auch an politische und soziale Bedingungen
knüpften: »Die Kontrolle fremder Mächte über Afrika […] zeigte sich nach Kolonisierung und Neokolonisierung in einer dritten Erscheinungsform: der konsensualen Unterwerfung der Eliten. War die erste Kolonisierung mit Gewalt und direkter Kontrolle verbunden gewesen, so reichte für die zweite, die neokoloniale, die wirtschaftliche Abhängigkeit. Die dritte Kolonisierung schließlich war eng verbunden mit Entwicklungshilfe
und Globalisierung. Die Politiker und Manager, die in den 1990er Jahren allmählich die
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
11
alte herrschende Klasse ablösten, hatten als Experten der internationalen Organisationen
und als Mitarbeiter der Weltbank die Regeln der global players bereits so verinnerlicht,
dass sie niemand mehr von der Richtigkeit der Vorschriften dieser neuen Mächte überzeugen musste.« (Schicho 2010:164) Die Ursachen dieser komplexen, von Asymmetrien und Ungleichheiten gekennzeichneten Situation der Gegenwart sind also historisch
über einen langen Zeitraum gewachsen. Ist Walter Rodney (1983/1973) davon ausgegangen, dass die »Entwicklung der Unterentwicklung« im atlantischen Sklavenhandel
grundgelegt worden war, betont die neuere Forschung zumeist die Bedeutung späterer,
dezidiert »kolonialer« Verhältnisse. Ohne jeden Zweifel kommt der »Bürde des kolonialen Erbes« in diesem Zusammenhang eine gewichtige Rolle zu – und damit der Geschichte der letzten 100 Jahre.
Der koloniale Schatten
Ein Großteil von Afrika im 20. Jahrhundert stand die längste Zeit über unter kolonialer
Herrschaft europäischer Imperien. Die Ära der Dekolonisierung nach dem Zweiten Weltkrieg, in deren Verlauf bis Mitte der 1950er Jahre die meisten nordafrikanischen Länder
ihre Unabhängigkeit erlangten und zwischen 1957 und 1968 der überwiegende Teil des
subsaharischen Afrika, ist nicht fein säuberlich abzustecken. Schließlich wurden die Territorien des portugiesischen Kolonialreichs erst Mitte der 1970er Jahre unabhängig, nach
langjährigen, blutigen Auseinandersetzungen. Zimbabwe konnte sich erst 1980, Namibia
erst 1990 aus den Fängen der Fremdherrschaft befreien, die das weiße Siedlerregime um
Ian Smith im einen Fall, der südafrikanische Apartheid-Staat im anderen über mehrere
Jahrzehnte ausübten. Erst 1994 endete schließlich in Südafrika die unumschränkte Herrschaft der weißen Minderheit – ein Datum, das manche Autoren zum Ende des politischen Kolonialismus in Afrika stilisieren (Cooper 2007:193ff). Andere sprechen im Hinblick auf diese späte Emanzipation in einem Staat, der seit 1910 als Union of South Africa innere Autonomie hatte, hingegen von »Quasi-Dekolonisierung« (Shipway 2008:15).
Der Dekolonisierungsprozess verlief auch nicht immer friedlich und reibungslos.
In Kenia erschütterte die Land-und-Freiheit-Bewegung, die bald pejorativ Mau Mau
genannt wurde, Anfang der 1950er Jahre das Selbstbewusstsein der britischen Siedler und der Kolonialverwaltung, ohne dass hier an einen Rückzug der Kolonialmacht
in absehbarer Zeit gedacht worden wäre. Freilich wirkte dieser Aufstand als Katalysator in eben diese Richtung (Berman/Lonsdale 1992; Davidson 1994). In Algerien, einer
anderen Siedlungskolonie und einer, die für die französische Metropole von besonderer Bedeutung war, tobte von 1954 bis 1962 ein grauenhaft blutiger Krieg, ehe Charles
de Gaulle bereit war, das Selbstbestimmungsrecht der Algerier anzuerkennen (Schicho
2004:87ff, 92ff). Auch in anderen Kolonien wurde antikoloniale Agitation, soweit die
Mittel es zuließen, verfolgt. Regelmäßig wurden führende Personen der jungen nationalen Bewegungen inhaftiert. Einige wurden, wie Kwame Nkrumah in Ghana, Patrice
Lumumba im Kongo oder Jomo Kenyatta in Kenia, mehr oder weniger aus der Haft in
politisch verantwortliche Ämter gehievt.
Mit den Unabhängigkeitserklärungen, die in der zweiten Jahrhunderthälfte »postkoloniale«, »neue Staaten« geschaffen haben, war das Zeitalter des Kolonialismus kei-
12
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
neswegs vorbei. Man muss hier nicht nur auf das fortwirkende »koloniale Denken« (Osterhammel 1995:112ff) verweisen, sondern auch darauf, dass die wirtschaftliche Anbindung der neuen Staaten an die ehemaligen Kolonialmächte häufig – und nicht immer
freiwillig – sehr eng blieb. »Die Probleme, denen sich die Postkolonien gegenübersahen, waren mannigfaltig«, wie Katharina Hass und Michael Pesek (2008:111) feststellen: »Wirtschaftlich standen sie zumeist auf schwachen Füßen und hatten mit den Folgen einer einseitig ausgerichteten kolonialen Entwicklungspolitik zu kämpfen [vgl. Schicho in diesem Band]. Politisch waren sie prekäre Gebilde, geprägt durch konfliktreiche
ethnische Gegensätze sowie oftmals nur lose Verbindungen zwischen Metropole und
Peripherie, zwischen urbanen und ländlichen Räumen. Die neuen Staatseliten trugen
schwer am Erbe des kolonialen Staates. Mit dem Kolonialismus war den afrikanischen
Gesellschaften ein europäisches Konzept von Staatlichkeit aufoktroyiert worden, das,
wenn auch mit einigen Abweichungen, als Modell für die Genese staatlicher Strukturen in den Postkolonien diente.« (vgl. auch Eckert, Melber und Baller in diesem Band)
In Frederick Coopers (2007:196ff) Terminologie agierten die neuen Staaten als gate
keeper states, als »Torwächterstaaten«, welche wesentlich die Funktion hatten, die Güterströme und Migrationsbewegungen (von Menschen und Ideen) sowohl von als auch
nach Afrika zu kontrollieren. Gleichzeitig fehlten ihnen weitgehend »die Ressourcen,
das von ihnen bewirtschaftete Territorium politisch, institutionell und symbolisch zu
durchdringen« (Hass/Pesek 2008:117f). Dieser Mangel ist umso zentraler, als die neuen
Staaten die koloniale Vorstellung von Entwicklung übernommen und zu ihrem Selbstverständnis gemacht hatten. Ihre Repräsentanten sahen sich und »den Staat vorwiegend
als Initiator und Leitungsinstanz eines gesellschaftlichen Wandels […], den sie als Modernisierung verstanden« (Hass/Pesek 2008:116). Von diesem Selbstverständnis wurden auch die Schritte in Richtung einer panafrikanischen politischen Integration geprägt
(vgl. Spielbüchler und Sonderegger in diesem Band).
Zudem betraten nach dem Zweiten Weltkrieg mit den USA, bald auch mit der UdSSR,
neue Kräfte das afrikanische Parkett, die – ungeachtet der anti-imperialistischen Rhetorik, in denen beide weltanschaulichen Lager schwelgten – ihren eigenen nationalen Inter­
essen nachgingen und nicht daran interessiert waren, die globale Asymmetrie zu ändern,
in der Afrika seit Jahrzehnten auf die Rolle eines Rohstoffproduzenten und Rohstofflieferanten reduziert und dementsprechend marginalisiert worden war. Freilich war das USamerikanische Projekt der »Entwicklung« weit durchschlagender als das der Sowjetunion, deren finanzielle Ressourcen in dieser Wettbewerbssituation klar unterlegen waren
(Cooper/Packard 1997). Trotzdem investierte die UdSSR großzügig in die Unterstützung
ihr genehmer afrikanischer Regime, denn, wie Tony Judt (2008:372) schrieb: »Von Moskau aus gesehen drehte sich der Kalte Krieg in substantiellem Maß um die nicht-europäische Welt. […] ›Mehr als ein Vierteljahrhundert lang,‹ schreibt ein Experte,« den Judt
zitiert, »glaubte der KGB, im Gegensatz zum CIA, dass die Dritte Welt jene Arena ist,
in der er den Kalten Krieg gewinnen könne.« Wie im wirtschaftlichen, so auch im politischen Bereich blieben Einmischung und Einflussnahme an der Tagesordnung. »Neokoloniale« Verhältnisse strukturierten nicht nur häufig die Beziehungen zwischen neuen Staaten und alten Metropolen, sondern auch zwischen ihnen und den Supermächten.
Schon für die 1980er Jahre, als internationale Institutionen afrikanischen Staaten
Strukturanpassungsprogramme verordneten, spricht Walter Schicho (2010) von der »drit-
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
13
ten Kolonialisierung«, die in seiner Interpretation der ersten Kolonialisierung – der formellen Annexion afrikanischer Territorien seit den 1880er Jahren – und dem »Neokolonialismus« der frühen Unabhängigkeitsphase folgt. Die dem Fall des real existierenden
Sozialismus folgende Demokratisierungswelle der 1990er Jahre (und darüber hinaus)
steht nach wie vor in dieser Tradition, die »kolonial« zu nennen durchaus nicht verfehlt
ist. Dass China, dessen Afrika-Engagement in den vergangenen 15 Jahren stark zugenommen hat, von vielen afrikanischen Regierungen nicht – wie im Westen empfunden –
als große Gefahr betrachtet, sondern vielmehr als hoffnungsvoller Partner willkommengeheißen wird, sollte angesichts der hier skizzierten euro-afrikanischen Beziehungsgeschichte nicht verwundern. Anders als der Westen tritt China als historisch unbelastete
Macht in Afrika auf. Freilich ist nicht zu verkennen, dass auch China primär seinen eigenen Interessen folgt (Melber/Southall 2009; Southall/Melber 2009). Gleiches gilt für Indien und Brasilien, die ebenfalls verstärkt am afrikanischen Marktgeschehen teilnehmen.
Westliche Staaten und Unternehmen geben ihrerseits ihre Interessen in Afrika nicht
kampflos auf. Noch vor einem Jahr schrieben Worger, Clark und Alpers (2010:vii): »Wenige nehmen die wachsende Bedeutung des Öls im Sudan und Tschad wahr, jetzt da die
Weltmächte ein neues Bemühen um Herrschaft beginnen; eines, das auf der Kontrolle
von Mineralien basiert, weit mehr darauf als auf den Landmassen, wie es während der
Kolonialzeit üblich und noch in der Zeit des Kalten Kriegs sichtbar war.« Inzwischen
steht angesichts des berüchtigten land grabbing durch externe Unternehmen und Interessengruppen, die große Ländereien aufkaufen, auch die »koloniale« Landnahme wieder auf der Agenda. David Newbury (2011:o.S.) formulierte kürzlich eine knappe, aber
gehaltvolle Kritik an dieser jüngsten außer Rand und Band geratenen Entwicklung:
»Die massiven Land-Grapscher, die heutzutage in vielen afrikanischen Ländern umgehen, stellen für viele afrikanische Menschen eine schreckenerregende Aussicht dar. […]
Solch weitläufige Anschaffungen betreffen häufig das fruchtbarste Land; oft ist es dicht
besiedelt; häufig ist ein enormer Wasserverbrauch vorgesehen; und oftmals beabsichtigen sie nicht, Nahrung zu produzieren […], sondern Bio-Energie. […] Leute von ihrem
Land verdrängen und sie sodann zu lächerlichen Löhnen wieder anzuheuern […] geht
nicht als ›Arbeitsplätze schaffen‹ durch (oder nur im oberflächlichsten und zynischsten
Sinn). Und […] agrarische Grundnahrungsmittel bzw. Produkte für den lokalen Markt
durch Exportprodukte zu ersetzen […] zählt nur im trockensten Verständnis von Produktion – definiert als Budgetposten (als gesteigerter Export) – als ›gesteigerte Produktivität‹ […]. Und schließlich sind die Finanzmittel, die uns in diese schöne neue Welt
führen, Hedge Fonds – also dieselben Anlagen, die diese (und die globale) Ökonomie
vor kaum drei Jahren an den Rand des Abgrunds gebracht haben.«
Wie immer man es dreht und wendet: Über dem 20. Jahrhundert – und bis in unsere Gegenwart hinein – liegt der Schatten des Kolonialismus. Die kapitalistisch organisierte Weltwirtschaft, die strukturell auf der Ungleichheit verschiedener Weltregionen,
verschiedenen Orts situierter Arbeitnehmer und verschiedener Branchen basiert (Wallerstein 1984), und die politische Ungleichheit, durch welche die internationale Staatenwelt von gestern und heute charakterisiert ist, wirken beide dahin, dass sich an diesem Befund in näherer Zukunft kaum viel ändern wird. Gleichwohl gibt es auf dem
Feld der politischen Auseinandersetzung durchaus Gegenwind und – innerhalb wie außerhalb Afrikas – lebhafte Gegenwehr. Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass bestehende
14
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
Verhältnisse globaler Ungleichheit erfolgreich herausgefordert werden können. Wenn
Frederick Cooper sein Buch zur Geschichte Afrikas seit 1940 mit der Frage beschließt:
»Oder stellen die Erfahrungen, die Afrikaner und Afrikanerinnen bei ihren Bemühungen der letzten 50 Jahre, Zusammenschlüsse und Bündnisse untereinander zu schmieden und neue Formen des religiösen, kulturellen und politischen Handelns zu entwerfen,
berechtigte Hoffnungen für die Zukunft bereit?« (Cooper 2007:204), so muss nicht nur
der antikapitalistische Zweckoptimist diese Frage mit einem zuversichtlichen Ja beantworten, sondern alle, die nach einem Ausweg aus Armut und Ausbeutung suchen. AfrikanerInnen, die ihr Leben unter oft widrigen Bedingungen gestalten müssen, können
sich, wie Basil Davidson (2000:320) pointiert formulierte, Pessimismus nicht leisten:
»Denn während Verzweiflung durchaus in Ordnung geht für die, die sie sich leisten können, kommt sie jene, die das nicht können, teuer zu stehen. Für letztere ist es eine Notwendigkeit, Grund zur Hoffnung zu haben.«
Agency: Geschichtsmächtigkeit, Handlungsmacht
und Handlungsspielräume
Wer ist Herr seiner Geschichte? Kompliziert wird diese einfache Frage durch die reale
Situation der Ungleichheit, durch die der afrikanische Kontinent im 20. Jahrhundert charakterisiert werden muss – erst durch koloniale Herrschaft, später durch globale Asymmetrien des internationalen politischen und ökonomischen Systems. Die Handlungsspielräume für AfrikanerInnen im Sinn autonomer Gestaltungsmöglichkeiten unterlagen und unterliegen daher spezifischen Begrenzungen, die enger gesetzt waren und sind,
als dies für Bewohner und Bewohnerinnen manch anderer Zonen dieses Planeten galt
und gilt. Seit den 1950er Jahren, als der tunesische Sozialwissenschaftler und Schriftsteller Albert Memmi sein Portrait du colonisé précédé du Portrait du colonisateur zu
Papier brachte (Memmi 1994) und antikolonial gesinnte Veröffentlichungen ein breiteres Publikum zu finden begannen, spielt das Begriffspaar Kolonisator-Kolonisierter
im akzeptierten Wissenschaftsdiskurs eine tragende Rolle, um das ungleiche Verhältnis
auf einen gemeinsamen Nenner hinunterzubrechen. Freilich hatten kritische Intellektuelle schon Jahrzehnte zuvor das Potenzial dieser Paarung erkannt und, wie etwa George Padmores (o.J./1936) Behandlung des britischen Imperiums in Afrika unter Beweis
stellt, es verstanden, sie zur präzisen Darstellung und kritischen Analyse der kolonialen Situation zu nutzen.
Der grundsätzliche Antagonismus zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren, dessen Behauptung und Betonung ein wesentliches Element des modernen Kolonialismus
darstellt (Osterhammel 1995), wurde im Rahmen antiimperialistischer Agitation und
antikolonialer Kämpfe aktiv aufgegriffen und kritisch umgedeutet. Stellte der hegemoniale koloniale Diskurs diese Differenz in einer Weise dar, die ganz klar zugunsten der
bestehenden Herrschaft ausfiel, so stemmten sich die Gegendiskurse der »Verdammten
dieser Erde« (Fanon 1981/1961), aber auch der antiimperialistischen Sympathisanten
von anderswo, dieser Inferiorisierung ganzer Teile der Weltbevölkerung vehement entgegen. Auch rezente Vertreter der sogenannten Postcolonial Studies setzten sich gerne
in diesem Sinn in Szene (Young 2001, 2003).
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
15
Der politisch artikulierte Antiimperialismus, wie er sich seit den 1960er Jahren
weithin durchsetzte, ist darum in derselben Gleichung verfangen wie der kolonialbefürwortende Diskurs. Beide befinden sich im Irrtum, Menschen könnten die autonom
entscheidenden und frei handelnden Herren ihrer Geschichte sein, und begreifen dementsprechend die Geschichte nicht als komplexen, wechselseitig verflochtenen Prozess,
sondern stellen sie sich in dichotomen Gegensätzen von »Tätern« und »Opfern«, »Machern« und »Duldern«, »Gebern« und »Nehmern« vor. Dabei vergessen sie, dass es den
einen geschichtlichen Entwicklungsprozess nicht gibt, von dem die evolutionsgeprägte Moderne immerzu träumt. Sie übersehen das vielfach verästelte Geschehen, das in
der Realität vorhanden ist und das »Geschichte macht«, sobald jemand es nutzt. Auch
hängen sie dem verfehlten Glauben an, es gäbe eine eigene, isolierbare Geschichte, die
nicht zugleich immer auch in die Geschichte anderer »verschränkt« und »verwickelt«
ist. Jede Geschichte ist entangled history.
Trotzdem ist nicht zu übersehen, wie verschiedene Schlüsse die beiden kolonialen Diskurse – den hegemonialen kolonialbefürwortenden und den oppositionellen –
aus derselben Gleichung ziehen. Gilt der nationalistische Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker in den Augen der Imperialisten nur für bestimmte Teile der
Menschheit, so sollte er den Antiimperialisten zufolge für alle gelten. Argumentiert der
Imperialismus aus Prinzip (und Notwendigkeit) rassistisch und schließt viele Menschen
von der Teilhabe an der menschlichen Gemeinschaft aus, so begründet der Antiimperialismus seinen Widerstand inklusiv, indem er Gleichheit und Zugehörigkeit einfordert. Er meldet sich darum prinzipiell antirassistisch zu Wort. So zu tun, als ob dieser Antagonismus zwischen Kolonisatoren und Kolonisierten heute keine Rolle mehr
spielen würde, weil – wie etwa Bayart (2000:222) zu begründen versucht – »die Vielfalt der Reaktionen« so groß war und ist, dient nur der Perpetuierung der kolonialen
Vorstellungswelten, des kolonialen Denkens; denn es bringt ein Kernelement des globalen Zusammenhangs – die Realität von Ungleichheit (in Wirtschaft, Politik, Wohlstand etc.) – auf diskursiver Ebene zum Verschwinden. Worüber nicht gesprochen wird,
hört freilich nicht auf, zu existieren. In der simplifizierenden Eindeutigkeit, in der dieser Antagonismus bisweilen in politischen Auseinandersetzungen vorgetragen wurde
und wird, ist er nicht haltbar, doch ihn gänzlich zu verabschieden, würde bedeuten, das
Kind mit dem Bade auszuschütten.
Etwas anderes sind Frederick Coopers »komplizierende« Hinweise auf die komplexe, vielförmige und verwickelte Geschichte des Kolonialismus und der Dekolonisation
in Afrika (Cooper 1996, 2005). Auch ihm geht es darum, »die monolithischen Ansichten zum Kolonialismus niederzureißen, die Trennungen innerhalb der Kolonisatoren zu
sehen« (Cooper 1996:9). Vor allem aber bemüht er sich, die Aktivitäten von Afrikaner­
Innen in den Blick zu bekommen: »nicht nur [die Aktivitäten] von jenen, die ›Widerstand leisteten‹ […], die ihre überlegten Ideologien und Identitäten bewahrt hatten und
sie zur rechten Zeit im Kampf mobilisierten, sondern […] das subtile und anhaltende
Wechselspiel aus Kooperation und Kritik, aus Aneignung und Zurückweisung« ist es,
worauf verstärkt Aufmerksamkeit gelegt werden sollte (Cooper 1996:10). Auch wenn
die Grenzen zwischen den beiden Polen der Kolonialherrschaft in der Praxis – also unter spezifizierbaren Umständen – in Fluss gerieten, ausgehandelt und lokalen Erfordernissen angepasst wurden, standen sie in der Theorie doch fest und limitierten damit die
16
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
Möglichkeiten, in denen diese Grenzen in Fluss kommen konnten, ganz beträchtlich.
Zudem waren die Möglichkeiten (und Unmöglichkeiten), je nach Position im kolonialen Herrschaftssystem – und das heißt: für verschiedene Akteure – durchwegs anders
geartet. Was den einen offenstand, war anderen unzugänglich: Dies galt für Weiße wie
für Schwarze im kolonialen Herrschaftsverband; allgemeine Chancengleichheit existierte nicht. Gleichwohl galt für Schwarze noch etwas mehr: Bestimmte Positionen waren
ihnen – und nur ihnen – von vorneherein unzugänglich, weil sie ihnen aufgrund ihrer
rassistischen Stigmatisierung verwehrt wurden.
Seit der Neuzeit ist Afrika nach und nach in die Weltwirtschaft integriert worden,
zunächst über den transatlantischen Sklavenhandel, Gold- und Gewürzhandel, seit dem
19. Jahrhundert dann über den Handel mit landwirtschaftlichen und mineralischen Exportprodukten (siehe die Beiträge in Eckert/Grau/Sonderegger 2010). Dem folgte im späten 19. Jahrhundert die politische Unterwerfung und Eingliederung afrikanischer Territorien in die europäischen Imperien Großbritannien, Frankreich, Portugal, Deutschland, Belgien und Spanien. Dieser langen Geschichte der asymmetrischen Integration
Afrikas ins Weltsystem zum Trotz, bildete sich ein erfolgreicher kolonialer Topos heraus, für den Afrika einen Ort – oder besser: einen Nicht-Ort – darstellte, der dem Wirkkreis der Geschichte enthoben war. Gegen diese verfehlte Ansicht laufen AfrikawissenschaftlerInnen seit mehr als 50 Jahren Sturm: »Denn der Subkontinent ist nichts mehr,
und nichts weniger, als ein Teil des Planeten; und es ist sinnlos, so zu tun, als ob er –
um einen früheren Kolonialgouverneur [Hubert Deschamps] zu zitieren – eine ›traditionelle Existenz [führen würde], von der Außenwelt abgeschirmt, als wäre er ein anderer Planet‹, der schwer am Schock zu kauen hat, von anderen Weltteilen abhängig gemacht worden zu sein.« (Bayart 2000:217)
Der hier geäußerten Kritik am kolonialen Topos der afrikanischen Isolation und totalen Andersartigkeit ist vollinhaltlich zuzustimmen. Terence Ranger wies in dieselbe
Richtung, als er 1983 auf den kolonialen Beitrag an der »Erfindung von Stämmen« aufmerksam machte: »Diese [vorkolonialen] Gesellschaften hatten mit Sicherheit Gebräuche und Kontinuitäten geschätzt, aber Sitten und Brauchtum waren locker definiert und
unendlich flexibel. Gebräuche und Sitten sorgten dafür, dass ein Gefühl der Identität
aufrechterhalten blieb, sie erlaubten aber gleichzeitig Anpassungsleistungen, die bis zur
Unmerklichkeit spontan und natürlich vollzogen wurden. Mehr noch: Jenes geschlossene
korporative Konsens-System, das man als typisch ›traditionelles‹ Afrika zu akzeptieren
lehrte, gab es in Wirklichkeit kaum einmal. […] Weit gefehlt ist die Annahme, es gäbe
eine einzelne ›Stammes‹-Identität. Die meisten AfrikanerInnen bewegten sich zwischen
mehreren Identitäten hin und her. Sie definierten sich einmal als Untertan dieses Chiefs,
ein anderes Mal als Mitglied jenes Kults, in einem Moment als Teil dieses Clans, in einem anderen als ein Angehöriger jener berufsmäßigen Zunft. […] Wettbewerb, Bewegung, Geschmeidigkeit waren Merkmale von kleinräumigen Gemeinschaften genauso
wie von größeren Gruppenverbänden.« (Ranger 1983:247f) Im gleichen kritischen Sinn
bemerkte Donald Wright (1999) lakonisch: »There were no tribes in Africa.«
Die Betonung der Aktivitäten der AfrikanerInnen, mit denen diese der »kolonialen
Situation« (Balandier 1970/1952) begegneten und in postkolonialen Zusammenhängen
agieren, hat gleichfalls großes Gewicht. Auch hierauf hatte Ranger (1983:237ff) hingewiesen. Freilich darf letztere nicht so verstanden werden, als ob die Abhängigkeit Af-
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
17
rikas im Weltsystem niemals eine manifeste Realität gewesen oder dass diese bislang
völlig überwunden worden wäre. »Der ungleiche und asymmetrische Charakter der
Beziehungen zwischen Afrika einerseits, Asien und Europa andererseits, der seit den
1870er Jahren akzentuiert war und in der militärischen Okkupation des Kontinents kulminierte, schließt die Möglichkeit nicht aus,« schreibt der Politologe Bayart (2000:218),
»dass während dieses langen Prozesses der Reduktion auf einen Zustand der Abhängigkeit hindurch Afrika eine aktive Rolle gespielt haben könnte.« Unpassend ist der Konjunktiv, weil das historische Wissen darüber, dass dem so war, seit Jahrzehnten vorliegt.
Adu Boahen (1987) etwa betonte die agency von AfrikanerInnen nicht weniger als
Bayart. Freilich wusste Boahen, der die leidige – weil unzureichende, ja irreführende –
Opposition von Aktion versus Reaktion zurückwies, zwischen aktivem Handeln unter
regional überschaubaren Bedingungen und aktivem Handeln in einer neuartigen Situation der erst wirtschaftlichen, dann politischen Durchdringung zu unterscheiden, in der
räumliche Begrenzungen immer weiter (transnational, transkontinental, global) und immer rascher überschritten wurden. Als ein individuelles Produkt der »kolonialen Dialektik« (Reinhard 1992) und als seriöser Historiker konnte sich Adu Boahen nicht den Luxus leisten, auf die Besonderheit und die Tiefenwirkungen des Kolonialismus für Afrika
zu vergessen bzw. dessen bleibende, fortwirkende Folgen zu unterschätzen. Das heutzutage wieder vermehrt vernehmbare Wort vom Kolonialismus als einer bloß »ephemeren ›Episode in der Afrikanischen Geschichte‹, die durch eine grundsätzliche Kontinuität der indigenen Institutionen charakterisiert« wird (Parker/Rathbone 2007:92), ist
von Jacob Ade Ajayi (1969) ursprünglich als optimistisches Schlagwort geprägt worden, um das erhoffte Projekt eines erfolgreichen nation building zu unterstützen, es ist
aber keine zur Gänze haltbare Tatsachenfeststellung. Ajayis Hinweis auf die endogenen
sozialen Kontinuitäten ist richtig, ebenso seine Feststellung der relativ kurzen Zeitdauer formeller Fremdherrschaft, »die nicht so dominant, kohärent und monolithisch war,
wie sie vorzugeben versuchte« (Parker/Rathbone 2007: 93); die Schlussfolgerung auf
den ephemeren Charakter des imperialen Impact auf soziale Strukturen und kulturelle
Vorstellungen in Afrika, die heute besonders von westlichen AfrikawissenschaftlerInnen gern zustimmend zitiert wird, ist jedoch alles andere als überzeugend. In Bezug auf
Wirtschaft und Politik ist die Vorstellung sogar absurd.
Wichtig ist zu erkennen, dass der imperiale Impact keine einseitig gerichtete, ausschließliche Beeinflussung von außen darstellte, sondern das Produkt vielfach gebrochener, vermittelter, umkämpfter und ausgehandelter Begegnungsprozesse war, eben
das Resultat von entangled histories. »Die Kolonisierten«, schrieb Wolfgang Reinhardt
(1996:343), »waren alles andere als hilflose Opfer des Kolonialismus, sondern wußten
sich die gegebenen Verhältnisse häufig sehr geschickt und erfolgreich zunutze zu machen.« Und die wahrscheinlich größere Zahl an AfrikanerInnen, die in ihren Bemühungen, unter kolonialen und prekären postkolonialen Bedingungen ihr Überleben zu sichern, weniger Erfolg hatten, kann ebenfalls nicht auf die Opferrolle reduziert werden.
Betont man die Handlungsdimension historischer Akteure, so verschwindet beides: eine
simplifizierende Erzählung nach dem Muster Täter-Opfer, und der irreführende Gegensatz zwischen exogener und endogener Entwicklung. In Bezug auf diesen häufig lancierten Gegensatz wird die Gleichzeitigkeit von »afrikanischen« Vorstellungen und sozialen Verhaltensweisen zum einen, von ursprünglich woanders entwickelten, aber in
18
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
Afrika aufgegriffenen »modernen« Ansichten und Institutionen zum anderen, nicht länger ein Problem darstellen. Denn es verschwindet dann die irreführende Tendenz, »afrikanisch« als »endogen« einer ominösen »Moderne« entgegenzusetzen, die für »exogen« ausgegeben wird. »Modernität« ist in Afrika nicht weniger zu finden als andernorts auf diesem Planeten.
Wenn aus der »Erfindung von Traditionen« (Hobsbawm/Ranger 1983) und der Kon­
struktion von »Stämmen« zu kolonialen Verwaltungszwecken etwas gelernt werden sollte,
dann dies: Die Differenz zwischen modern und traditionell verläuft nicht zwischen exogen
und endogen, sondern sie spielte – und spielt – sich innerhalb Afrikas ab, und ihre kategorialen Grenzen werden ständig Verschiebungen unterworfen – durch jene, die dort leben,
handeln und denken: Dies gilt für das politische Feld (vgl. Eckert und Melber in diesem
Band) ebenso wie für soziale Bereiche (vgl. Baller, Englert und Dilger in diesem Band),
für das Wirken von Religionen in Afrika (vgl. Loimeier und Grau in diesem Band) nicht
weniger als für die Entwicklung und Nutzung säkularer Ideen und politischer Instrumente (vgl. Sonderegger und Spielbüchler in diesem Band). Bayart ist darum recht zu geben,
wenn er im Anschluss an die neuere kolonialgeschichtliche Forschung darauf verweist,
dass »jene, die kolonisiert wurden, an diesem Vorgang partizipierten« und »dass externe
Zwänge von indigenen Machtbefugten und von anderen politischen Akteuren als Instrumente [für eigene Zwecke] benutzt wurden« (Bayart 2000:223, 224). Dass er im selben
Zusammenhang aber auch suggeriert, es herrsche genereller Konsens darüber, »dass die
soziale Erfahrung der Kolonisation von weißen und schwarzen Akteuren geteilt wurde«
(Bayart 2000:223), führt auf Abwege. Schon wahr: Beide waren von ihr betroffen. Doch:
In ganz anderem Maße und, vor allem, in entscheidend anderer Weise.
Vielgestaltigkeit und Uniformität Afrikas
Afrika ist ungemein vielgestaltig und variabel in jedweder denkbaren Hinsicht. Mit
Blick auf vorkoloniale Verhältnisse ist klar dokumentiert, wie sehr sich afrikanische
Gesellschaften in Lebensweise, Wirtschaftsformen, politischen Ordnungen, religiösen
Verständnisweisen und kulturellen Weltanschauungen voneinander unterschieden haben. Die Kolonisierung Afrikas seit dem späten 19. Jahrhundert – ihrerseits eine besondere Etappe in dem, was aus der Vogelperspektive und in Rückschau als ein fortlaufender Globalisierungsprozess erscheint – hat hier für eine gewisse Angleichung gesorgt:
einerseits durch die Etablierung eines neuartigen politischen Ordnungskonzepts, nämlich des in Volkstum bzw. Nation verankerten Territorialstaats, also durch die Durchsetzung der Idee des »modernen Staats« (vgl. Eckert, Melber und Sonderegger in diesem
Band); andererseits durch die verstärkte und erzwungene Ausrichtung der wirtschaftlichen Produktion auf die Exportmärkte und, daraus folgend, die geschaffene Abhängigkeit von Importen zur Befriedigung mehr oder minder elementarer Lebensbedürfnisse
(vgl. Schicho in diesem Band). Dadurch wurden sowohl die materielle Grundlage für
Wohlstand (Wirtschaft) als auch die Grundlage für Macht und selbstbestimmte Gestaltungsmöglichkeit (Politik) für afrikanische Akteure im 20. Jahrhundert arg in Mitleidenschaft gezogen. Dies gilt ganz selbstverständlich für die Zeit der kolonialen Fremdherrschaft. Es gilt aber auch für die Zeit danach.
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
19
Eine gewisse Angleichung heißt freilich: keine wirklich umfassende. Der Kolonialismus hat keineswegs zur völligen Gleichschaltung geführt, weder auf wirtschaftlicher
noch auf politischer Ebene, vor allem aber nicht im sozialen und kulturellen Leben. Neben der kolonial geschaffenen und postkolonial fortwirkenden Exportwirtschaft haben
Nischen der Subsistenz sowie der Produktion für lokale und regionale, aber auch für
grenzüberschreitende Märkte überdauert und spielen nach wie vor eine ungemein wichtige Rolle für das Überleben afrikanischer Bevölkerungen. Dass diese Wirtschaftsformen
sich ohne staatlich kontrollierten bürokratischen Zugriff vollziehen und auf dem »informellen Sektor« abspielen (Komlosy/Parnreiter/Stacher/Zimmermann 1997:13) sowie im
internationalen (und auch wissenschaftlichen) Diskurs häufig kriminalisiert werden (indem sie etwa als »Schmuggel« und »Schwarzarbeit« diskreditiert oder als Zeichen der
»Korruption« interpretiert werden), ändert nichts an ihrer existenziellen Bedeutung für
die Mehrheit afrikanischer Menschen (Stacher 1997:151ff, 164ff; Nugent 2002). Akzeptiert man diesen Befund, so wird auf einen Schlag klar, weshalb die soziale Vielfalt
in Afrika – trotz Uniformierungsbemühungen der Kolonialherrschaft und des (oft autoritären) postkolonialen afrikanischen Staats – keineswegs geschwunden ist. Der Rückgriff auf bestehende Netzwerke, die »Erfindung« und der Aufbau neuer Organisationsformen geschehen notwendigerweise immer im Rahmen existenter historischer Verhältnisse und unter aktiver Nutzung spezifischer kultureller Parameter (vgl. Baller, Dilger
und Englert, aber auch Loimeier und Grau in diesem Band).
Selbiges gilt auch für die sozialen Dimensionen des politischen Lebens. Auch die
»moderne« Staatlichkeit, die erst mit dem Kolonialstaat, dann mit den »neuen« Staaten der nachkolonialen Ära eingeführt wurde, hat die afrikanischen Wirklichkeiten nur
unzureichend und punktuell durchdrungen. Zahlreiche Funktionen, die der »moderne«
Staat in der Theorie erfüllen sollte (soziale Sicherheit, Wohlstandssicherung, etc.), sind
in der afrikanischen Praxis im 20. Jahrhundert nicht erfüllt worden; darin unterscheiden sich die afrikanischen Verhältnisse allerdings nur graduell von denen in Europa und
den USA. Die Rhetorik des Wohlfahrtsstaats wurde (und wird) von Seiten der Regierenden wohl eifrig genutzt, die sozialen Aufgaben wurden aber, wie in der Kolonialzeit so
auch seit der Unabhängigkeit, vorrangig ausgelagert. Freilich war dies – anders als im
neoliberal geführten Westen – oft blanker Notwendigkeit geschuldet, da nicht leistbar;
es bleibt jedoch als Faktum bestehen, dass dadurch wichtige politische Maßnahmen effektiv nicht durch staatliche Stellen gesetzt und umgesetzt werden, sondern durch zivilgesellschaftliche Gruppen und Unternehmungen sowie durch individuelle Initiativen.
Dies passt nun gar nicht zu gängigen Vorstellungen, die man sich außerhalb Afrikas von afrikanischen Verhältnissen macht: Individuelle Initiative? Aktive Zivilgesellschaft? Rationales Wirtschaften und rationale politische Entscheidung? In Afrika? Aber
genau das ist es, was geschieht – und was im 20. Jahrhundert andauernd geschehen ist.
Die hier versammelten Beiträge zielen nicht zuletzt darauf ab, diese Handlungslogiken
an bestimmten Themenfeldern herauszuarbeiten und unter Rückgriff auf zahlreiche regionale Beispiele zu illustrieren. Voraussetzung für ihr Verständnis ist freilich, sich die
vielfältigen Verflechtungen vor Augen zu führen, in die afrikanische Akteure eingebunden sind und die ihnen spezifische Handlungszwänge auferlegen.
20
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
Themen der Afrikanischen Geschichte im 20. Jahrhundert –
und der Beiträge
Aus der Perspektive der Gegenwart scheinen sich mehrere Themenfelder aufzudrängen, wenn es um Afrika geht – den »K-Kontinent«, wie der Korrespondent Bartolomäus Grill (2005:12) ihn 2003 nannte: »K für Kriege, Krisen, Katastrophen, Korruption,
Kriminalität, Kapitalflucht, Krankheit.« Grill hebt hier offensichtlich negative Charakteristika in einer Weise hervor, die Zustände als naturwüchsig gegeben, nicht als historisch gemacht erscheinen lassen. Seine »K« gelten ihm als typisch afrikanisch; sein
Buchtitel »Ach, Afrika« ist leider nicht ironisch gemeint. »Armut« und »Hunger« sind
Themen, die ähnlich allgegenwärtig mit Afrika assoziiert werden. Doch auch hier gilt:
Sie kommen weltweit vor, sind also keineswegs typisch afrikanisch, und sie resultieren
nicht aus einer natürlich gegebenen Situation. Hungersnöte etwa sind, worauf Aram Ziai
(2011:274) aufmerksam macht, »keineswegs eine ›natürliche Folge‹ von ›Überbevölkerung‹ oder Missernten, sondern soziale und politische Phänomene. Auch dort, wo eine
Naturkatastrophe zu Nahrungsknappheit führt, sind die Auswirkungen stets durch soziale und politökonomische Strukturen vermittelt und betreffen nie alle Menschen gleichermaßen.« Bartolomäus Grills Zugang verstellt den Blick auf Einsichten wie diese.
Zwar gibt es für ihn nicht nur »Tage in Afrika, da wird man als journalistischer Beobachter unweigerlich vom Afropessimismus befallen«, sondern auch »die anderen Tage,
Tage, die heiter und zuversichtlich stimmen, weil sie die unbändige Lebenslust und verschwenderische Schönheit Afrikas offenbaren. […] Tanz der Masken […] prächtige Ini­
tiationsfeier […] Volksfest […].« (Grill 2006:11) Doch aus der dichotomen Wahrnehmungshaltung kommt man auf diese Weise freilich nicht heraus, und ebenso wenig kann
man auf solche Weise der eurozentrisch verzerrenden Darstellung entrinnen.
Ein anderer Journalist, Peter Scholl-Latour, betont hingegen nicht die eigene Verantwortlichkeit des Kontinents, sondern die der westlichen Länder und insbesondere der
USA. Wortreich beklagt er den »Ausverkauf des Schwarzen Kontinents«, erklärt in seiner Afrikanische[n] Totenklage aber gleichzeitig Afrika zum »unergründliche[n] Rätsel« (Scholl-Latour 2001:12). Als geschichtsmächtige Akteure bringt Scholl-Latour afrikanische Menschen auf diese Weise erfolgreich zum Verschwinden. Letztere bekommen nur in den Reportagen eines weiteren Journalisten, Ryszard Kapuscinski, lebendige
Konturen. Bescheiden leitete er eines seiner letzten Bücher folgendermaßen ein: »Das
ist daher kein Buch über Afrika, sondern über einige Menschen von dort, über die Begegnungen mit ihnen, die gemeinsam verbrachte Zeit. Dieser Kontinent ist zu groß, als
daß man ihn beschreiben könnte. Er ist ein regelrechter Ozean, ein eigener Planet, ein
vielfältiger, reicher Kosmos.« (Kapuscinski 2009:5) Es ist nur dieses eine »K«-Wort,
das einer um Ausgewogenheit bemühten Geschichte Afrikas zugrunde gelegt werden
kann: Afrika als »Kosmos«, der so groß, so reich, so vielfältig, so dynamisch und wandelhaft ist, dass er zwar nicht vollständig beschrieben, aber in mehreren seiner Facetten ins Licht gerückt werden kann. Die hier versammelten Beiträge beabsichtigen nicht
mehr, aber auch nicht weniger als eben dies.
Der Band setzt mit einem Text von Henning Melber zu Kolonialen Grenzziehungen und afrikanischem (National-)Staat ein. Darin thematisiert er eine der zentralen Fragen der Kolonialgeschichte und rückt gängige Fehlverständnisse aus der Perspektive
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
21
des Afrikawissenschaftlers zurecht, indem er kritisch die »Grenzen von Grenzen« herausarbeitet. Melber setzt mit der papiernen Aufteilung Afrikas am Ende des 19. Jahrhunderts ein, seine Skizze der Grenzproblematik verfolgt ihre Geschichte jedoch über
formale koloniale Verhältnisse hinaus bis in die Gegenwart. Im folgenden Beitrag Nation, Staat und Ethnizität in Afrika im 20. Jahrhundert fokussiert Andreas Eckert ebenfalls auf den Bereich der Politik, den er in seiner Vielfältigkeit nachzeichnet, um daraus gewisse Etappen abzuleiten, in der politische Konzeptionen aufgetreten sind. Durch
seinen Text zieht sich der ambivalente Zusammenhang zwischen »moderner«, kolonialstaatlicher bzw. nationalstaatlicher Programmatik und der häufig geübten Praxis der
»indirekten Herrschaft«, den Eckert vor allem am Beispiel Tanzanias verdeutlicht. Die
daraus resultierende fragile Staatlichkeit ist allerdings durchaus typisch für viele »neue
Staaten« Afrikas und macht sie zu einem jener »komplizierten Orte«, als die Clifford
Geertz (2010:200) die staatlichen Ergebnisse der Dekolonisationsära bezeichnet. Eckert
vermittelt in seinem Text Einblicke, welche die komplexe postkoloniale politische Situation – zwischen dem Bemühen um territorial-staatliche »nationale« Integrität, kontinentale »panafrikanische« Integration und regionalistischen »tribalistischen« Bestrebungen – einsichtig machen.
Walter Schicho verfolgt die wirtschaftliche Kontrolle Afrikas unter dem Titel Von
der »zivilisatorischen Mission« zur »Partnerschaft« durch das lange 20. Jahrhundert hindurch. Während auch von ihm eine grundlegende Kontinuität zwischen kolonialen und
gegenwärtigen globalen Metropolen konstatiert wird, fördert Schicho doch zahlreiche
Brüche zutage, die sowohl die wirtschaftlichen Vorstellungen als auch die praktischen
Umsetzungen und ökonomischen Unternehmungen in Afrika betreffen. Dementsprechend gliedert er seinen Beitrag nach mehreren Szenarien, und seine Darstellung reicht
von kolonialer Raubwirtschaft und kolonialer Planwirtschaft in der ersten Jahrhunderthälfte bis zur Schuldenkrise und den rezenten Anzeichen einer moderaten Erholung afrikanischer Ökonomien zu Beginn des neuen Jahrtausends.
Politische Integration auf kontinentaler Ebene, wie sie seit der Gründung der Organisation für Afrikanische Einheit (OAU) 1963 von einem institutionalisierten Apparat
betrieben wurde, ist das Thema von Thomas Spielbüchlers Beitrag zur Afrikanischen
Integration. Hier verläuft die gewichtige Interessendivergenz zwischen nationalstaatlicher Souveränität einerseits und einer kontinentalen panafrikanischen Einheit andererseits. Letztere erfordert die Beschränkung nationalstaatlicher Souveränitätsrechte, welche die staatlichen Regierungen nur unwillig abzugeben bereit waren und sind. Mit der
Umstrukturierung bzw. Gründung der Afrikanischen Union (AU) 2002 ist ein deutliches
Signal gesendet worden, dass kontinentale Kooperation im Sinn eines schlagkräftigen
politischen Bündnisses intensiviert werden sollte. Freilich setzen die globalen internationalen Verhältnisse auch der AU in ihren Gestaltungsmöglichkeiten recht enge Grenzen.
Dies musste man erst kürzlich wieder zur Kenntnis nehmen, als im März 2011 auf Initiative Frankreichs, Großbritanniens und der USA eine militärische Intervention in Libyen gegen den artikulierten Widerstand der Afrikanischen Union durchgesetzt wurde,
die sich ihrerseits für friedliche Vermittlungsgespräche eingesetzt hatte (Mbeki 2011).
Bei Abfassung dieser Einleitung im Juli 2011 sind die Bombardements Libyens nach
wie vor, sogar in intensivierter Form im Gange, ebenso wie die Vermittlungsbemühungen
der AU. Die westliche Militärallianz stellt sich Letzteren gegenüber freilich nach wie vor
22
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
taub. Ihrer Absicht, ungehinderten Zugriff auf das libysche Öl zu erzwingen, steht Muammar al-Gaddafis Regime seit Langem im Weg. Ob sie es schaffen wird, Gaddafi – einen
wesentlichen Mitgestalter der Afrikanischen Union – beiseitezuräumen, steht in den Sternen; dass es bei dieser Intervention aber nicht um die Unterstützung einer opponierenden
Volksbewegung geht (wie in Tunesien und Ägypten in der ersten Jahreshälfte 2011) und
sie nicht aus humanitären Gründen (»Schutz von Zivilisten«) durchgeführt wird, geben
selbst Befürworter der Allianz-Interessen offen zu, sofern sie Regionalexpertise besitzen
(Downie 2011). Es ist nicht zuletzt das überzeugend antikoloniale Moment in Gaddafis
Panafrikanismus, das die einen schätzen und die anderen stört; die Mittel, die ihm dank
des Ölreichtums Libyens zur Verfügung stehen, machen seine panafrikanischen Ambitionen, die am globalen Status quo zu rütteln bemüht sind, zur Gefahr.
Panafrikanismus spielt aber, wie Arno Sondereggers Text zum Panafrikanismus
im 20. Jahrhundert zeigt, nicht nur seit der zweiten Jahrhunderthälfte eine bedeutsame
Rolle, und nicht nur in der institutionalisierten Form zwischenstaatlicher Beziehungen,
sondern seine Geschichte reicht ins ausgehende 19. Jahrhundert zurück und erstreckt
sich über zahlreiche Netzwerke, die häufig weitab von den politischen Entscheidungssphären funktionierten, wiewohl sie sich immer um Emanzipation bemühten. Erst in
der Zwischenkriegszeit, als die Politisierungsbemühungen einer jüngeren afrikanischen
Generation entlang nationalistischer Vorstellungen erste Erfolge zeitigten, begann panafrikanisches Gedankengut auf afrikanischem Boden von weiten Teilen der Bevölkerung rezipiert zu werden. Der dem Panafrikanismus eigene Antikolonialismus fiel auf
fruchtbaren Boden, der allerdings nur innerhalb der kolonial gesetzten Grenzen effektiv verwirklicht werden konnte. Nur dort war jene Massenmobilisierung möglich, die
nach dem Zweiten Weltkrieg zur Grundlage der Unabhängigkeitsbewegungen wurde.
Hans-Jörg Dilger diskutiert die Gesichtspunkte Macht, Pluralität und soziale Beziehungen am Beispiel von Gesundheit und Heilung im Afrika des 20. Jahrhunderts. Dabei
bringt er die komplexen Beziehungen zwischen indigenen Vorstellungen von Gesundheit und Heilung und dem Verständnis von Kolonial- und Missionsmedizin ebenso zur
Sprache wie postkoloniale Bemühungen um den Aufbau und Ausbau eines funktionsfähigen Gesundheitssystems. Die HIV-Problematik nutzt Dilger unter anderem beispielhaft, um auf die zunehmend global formulierten und vorgegebenen Gesundheitsstrategien
der jüngeren Vergangenheit hinzuweisen. Räumlich gesehen fokussiert Dilgers Aufsatz
verstärkt auf Beispiele aus Ostafrika und aus dem südlichen Afrika. Roman Loimeier
und Ingeborg Grau behandeln in ihren beiden Beiträgen die religiösen, politischen und
sozialen Zusammenhänge, die der Islam zum einen, das Christentum zum anderen in
verschiedenen afrikanischen Kontexten spielten und spielen. Loimeier weist gleich eingangs darauf hin, dass neben Indonesien und Indien gegenwärtig die meisten Muslime
auf dem afrikanischen Kontinent beheimatet sind. Er arbeitet dann eine »religiös-politische Geographie« Afrikas heraus und unterscheidet zu diesem Zweck drei afrikanische
Staatengruppen, wobei Anzahl, Rolle und Bedeutung des muslimischen Bevölkerungsanteils zugrunde gelegt werden. Loimeier diskutiert in weiterer Folge islamische Reformbewegungen in drei Regionen: im Senegal, in Nordnigeria und an der Swahiliküste.
Während Loimeiers Text zu Muslimen in Afrika im 20. Jahrhundert besonders Beispiele aus West- und Ostafrika zur Illustration seiner Aussagen heranzieht, konzentriert sich Ingeborg Grau auf ein spezifisches Land. Sie diskutiert Religion und Politik
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
23
in Nigeria: Christentum und Islam im langen 20. Jahrhundert. Die politische Szenerie
des bevölkerungsreichsten Landes Afrikas südlich der Sahara wird seit langem durch
ein Nebeneinander von sogenannten »Afrikanischen Traditionellen Religionen«, Islam
und Christentum geprägt, das sich politisch unter anderem in regionalistischen Differenzen ausdrückt. Ingeborg Grau skizziert diese komplexe Geschichte in ihren Grundzügen. Abschließend verweist sie auf Anzeichen dafür, dass die religionsübergreifende
Dialogbereitschaft innerhalb der nigerianischen religiösen Eliten zuzunehmen scheint.
Birgit Englert thematisiert Die junge Generation als politischer Akteur im Afrika
des 20. Jahrhunderts. Ihr Beitrag behandelt die sich wandelnde Rolle von jungen AfrikanerInnen, die aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position in spezifischen Abhängigkeiten standen. Diese Abhängigkeiten änderten sich unter kolonialen und postkolonialen
Verhältnissen ebenso wie die Bemühungen und konkreten gestalterischen Versuche, sie
zu durchbrechen. Die Kategorie »Jugend« wurde zu diesem Zweck seit der Zwischenkriegszeit als progressive politische Kategorie aufgegriffen. Birgit Englert führt in diese
Zusammenhänge der ersten Jahrhunderthälfte ein und widmet sich dann schwerpunktmäßig den politischen Rollen, die »Jugendliche« seit Mitte des 20. Jahrhunderts eingenommen haben und ausüben. Ausgehend von der Feststellung, dass zu Anfang des 20.
Jahrhunderts keine 5 % der subsaharischen Bevölkerung in Städten lebten, zu Anfang
des 21. Jahrhunderts aber schon beinahe 40 % (Tendenz stark und rasch steigend), macht
Susann Baller Urbanisierung und Migration in Afrika zum Gegenstand ihres Beitrags.
Sie behandelt koloniale Segregation und Raumordnungen. In historischer Perspektive
verdeutlicht sie die komplexen Wechselwirkungen zwischen Migration, Arbeitsmöglichkeiten, Arbeitszwängen und dem Leben in der Stadt. Sie weist auf den ambivalenten
Charakter afrikanischer Städte während der Kolonialzeit hin und zeichnet ein anschauliches Bild der Bemühungen von AfrikanerInnen, den urbanen Alltag aktiv und selbstbestimmt zu gestalten. Nicht erst in postkolonialen Zusammenhängen wurden afrikanische Städte zu »umstrittenen Räumen«.
Um Handlungsmacht geht es auch im folgenden Beitrag. Henning Melber macht
dort die Entwicklungen im südlichen Afrika am Ende des 20. und im ersten Jahrzehnt
des 21. Jahrhunderts zum Thema. Unter Rückgriff auf die Befreiungsbewegungen an
der Macht in Südafrika, Zimbabwe und Namibia stellt er sich die Frage nach den Grenzen der Emanzipation unter nachkolonialen Herrschaftsbedingungen. Dieser Text führt
also unmittelbar in die rezente Zeitgeschichte hinein; zahlreiche seiner Implikationen
scheinen jedoch auch geeignet, um ein besseres Verständnis für die ersten Unabhängigkeiten der 1950er und 1960er Jahre zu bekommen: für die Möglichkeiten, aber auch die
Grenzen, die den politischen Repräsentanten jeweils gegeben sind. Abschließend vermittelt Arno Sonderegger einen Überblick über Periodisierungen der Geschichte Afrikas
im 20. Jahrhundert. Dies geschieht im Rahmen einer Nachbetrachtung zur Kolonialgeschichte und Historiographie Afrikas, in welcher auch der Schatten des Kolonialismus
ausdrücklich thematisiert wird, der sich allzu oft und allzu leicht über historische Arbeiten zu Afrika legt. In diesem Sinn schließt der hier vorliegende zweite Afrika-Band
ab, wo der erste Band Afrika 1500–1900 angesetzt hat: mit historiographischer Kritik
an Eurozentrismen.
24
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
Literatur
Ajayi, Jacob F. (1969): Colonialism: An Episode in African History. In: Gann, Lewis H./Duignan, Peter, Hg.: Colonialism in Africa 1870-1960. Bd. 1. Cambridge: Cambridge University Press: 497-509
Balandier, Georges (1970/1952): Die koloniale Situation. Ein theoretischer Ansatz. In: von Albertini, Rudolf, Hg.: Moderne Kolonialgeschichte. Köln: Kiepenheuer & Witsch: 105-124
Bayart, Jean-Francois (2000): Africa in the World: A History of Extraversion. In: African Affairs
99: 217-267
Berman, Bruce/Lonsdale, John (1992): Unhappy Valley. Conflict in Kenya & Africa. Oxford:
James Currey
Boahen, A. Adu (1987): African Perspectives on Colonialism. Baltimore: Johns Hopkins University Press
Cooper, Frederick (1996): Decolonization and African Society. Cambridge u. a.: Cambridge University Press
Cooper, Frederick (2005): Colonialism in Question. Theory, Knowledge, History. Berkeley/ Los
Angeles/London: University of California Press
Cooper, Frederick (72007/2002): Africa Since 1940. The Past of the Present. Cambridge u. a.:
Cambridge University Press
Cooper, Frederick/Packard, Randall (1997): Introduction. In: Cooper, Frederick/Packard, Randall, Hg.: International Development and the Social Sciences. Essays on the History and
Politics of Knowledge. Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press: 1-41
Davidson, Basil (1994): The Motives of Mau Mau. In: London Review of Books 16, 4 (24 February): 12, verfügbar unter http://www.lrb.co.uk (18.08.2010)
Davidson, Basil (2000/1992): The Black Man`s Burden. Africa and the Curse of the Nation-State.
Ibadan: Spectrum Books
Downie, Richard (2011): Five Myths About Moammar Gaddafi. In: Washington Post, Friday,
March 11, verfügbar unter: http://www.washingtonpost.com (14.06.2011)
Eckert, Andreas/Grau, Ingeborg/Sonderegger, Arno, Hg. (2010): Afrika 1500–1900. Geschichte
und Gesellschaft. Wien: Promedia
Fanon, Frantz (1981/1961): Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Geertz, Clifford (2010/2004): What Is a State If It Is Not a Sovereign? Reflections on Complicated Places. In: Life Among the Anthros and Other Essays, Hg. Fred Inglis. Princeton: Princeton University Press: 200-218
Grill, Bartolomäus (52005/2003): Ach, Afrika. Berichte aus dem Inneren eines Kontinents. München: Goldmann
Grill, Bartolomäus (2006): Ein verlorener Kontinent? Plädoyer für eine andere Wahrnehmung
Afrikas. In: Der Fischer Weltalmanach Aktuell Afrika, Hg. Volker Ullrich/Eva Berié. Frankfurt am Main: Fischer: 11-14
Hass, Katharina/Pesek, Michael (2008): Kleiner Mann auf Reisen. Erich Honecker auf Staatsbesuch in Afrika. In: Baller, Susann/Pesek, Michael/Schilling, Ruth/Stolpe, Ines, Hg.: Die Ankunft des Anderen. Repräsentationen sozialer und politischer Ordnungen in Empfangszeremonien. Frankfurt am Main/New York: Campus: 106-132
Hobsbawm, Eric/Ranger, Terence, Hg. (1983): The Invention of Tradition. Cambridge u. a.: Cambridge University Press
Judt, Tony (2008/2006): Whose Story is It? The Cold War in Retrospect. In: Reappraisals. Reflections on the Forgotten Twentieth Century. New York u.a.: Penguin: 368-383
Kapuscinski, Ryszard (132009/2001): Afrikanisches Fieber. Erfahrungen aus vierzig Jahren. München: Pieper
Einleitung: Afrika im 20. Jahrhundert
25
Komlosy, Andrea/Parnreiter, Christof/Stacher, Irene/Zimmermann, Susan (1997): Der informelle
Sektor: Konzepte, Widersprüche und Debatten. In: Komlosy, Andrea/Parnreiter, Christof/Stacher, Irene/Zimmermann, Susan, Hg.: Ungeregelt und unterbezahlt. Der informelle Sektor in
der Weltwirtschaft. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel/Wien: Südwind: 9-28
Mbeki, Thabo (2011): Libya and African Self-Determination. In: Star Newspaper, 5 April; als
Blog vom 2. April 2011 in H-Africa, verfügbar unter: http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=h-africa&month=1104&week=d&msg=C94hRIhICcLivtvqWLddZw&u
ser=&pw= (10.06.2011)
Melber, Henning/Southall, Roger (2009): Introduction: A New Scramble for Africa? In: Southall, Roger/Melber, Henning, Hg.: A New Scramble for Africa? Imperialism, Investment and
Development. Scottsville: University of KwaZulu-Natal Press: xix-xxvii
Memmi, Albert (1994/1966): Der Kolonisator und der Kolonisierte. Zwei Porträts. Hamburg: Europäische Verlagsanstalt
Newbury, David (2011): Universities in Africa »land grab«: Reply. In: H-Africa, verfügbar unter
http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl?trx=vx&list=H-SAfrica&month=1106&week=b
&msg=j2LMUuvCWjfLfEI4keSDfQ&user=&pw= (14.06.2011)
Nugent, Paul (2002): Smugglers, Secessionists and Loyal Citizens on the Ghana-Togo Frontier:
the lie of the borderlands since 1914. Athens: Ohio University Press/Legon: Sub-Saharan
Books/Oxford: James Currey
Osterhammel, Jürgen (1995): Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen. München: C. H. Beck
Parker, John/Rathbone, Richard (2007): African History. A Very Short Introduction. Oxford u. a.:
Oxford University Press
Padmore, George (o.J./1936): Afrika unter dem Joch der Weissen. Erlenbach-Zürich/Leipzig:
Rotapfel-Verlag
Ranger, Terence (1983): The Invention of Tradition in Colonial Africa. In: Hobsbawm, Eric/Ranger,
Terence, Hg.: The Invention of Tradition. Cambridge u.a.: Cambridge University Press: 211-262
Reinhard, Wolfgang (1992): Dialektik des Kolonialismus. Europa und die Anderen. In: Bade, Klaus
J./Brötel, Dieter, Hg.: Europa und die Dritte Welt. Hannover: Metzler Schulbuchverlag: 5-25
Reinhard, Wolfgang (1996): Kleine Geschichte des Kolonialismus. Stuttgart: Kröner
Rodney, Walter (1983/1973): Afrika. Die Geschichte einer Unterentwicklung. Berlin: Wagenbach
Schicho, Walter (2004): Handbuch Afrika, Band 3: Nord- und Ostafrika. Frankfurt am Main:
Brandes & Apsel/Wien: Südwind
Schicho, Walter (2010): Geschichte Afrikas. Stuttgart: Theiss
Scholl-Latour, Peter (72001): Afrikanische Totenklage. Der Ausverkauf des Schwarzen Kontinents. München: Bertelsmann
Shipway, Martin (2008): Decolonization and its Impact. A Comparative Approach to the End of
the Colonial Empires. Malden/ Oxford/Victoria: Blackwell
Southall, Roger/Melber, Henning (2009): Conclusion: Towards a Response. In: Southall, Roger/
Melber, Henning, Hg.: A New Scramble for Africa? Imperialism, Investment and Development. Scottsville: University of KwaZulu-Natal Press: 404-427
Stacher, Irene (1997): Afrika südlich der Sahara: Erzwungene Abkoppelung und Informalisierung.
In: Komlosy, Andrea/Parnreiter, Christof/Stacher, Irene/Zimmermann, Susan, Hg.: Ungeregelt und unterbezahlt. Der informelle Sektor in der Weltwirtschaft. Frankfurt am Main: Brandes & Apsel/Wien: Südwind: 149-167
Wallerstein, Immanuel (1984): Der historische Kapitalismus. Berlin: Argument
Worger, William H./Clark, Nancy L./Alpers, Edward A., Hg. (2010): Africa and the West. A Documentary History, Bd. 2: From Colonialism to Independence, 1875 to the Present. Oxford u.
a.: Oxford University Press
Wright, Donald R. (1999): »What Do You Mean There Were No Tribes in Africa?« Thoughts on
Boundaries – and Related Matters – in Precolonial Africa. In: History in Africa 26: 409-426
26
Arno Sonderegger – Ingeborg Grau – Birgit Englert
Young, Robert J.C. (2001): Postcolonialism. An Historical Introduction. Malden/Oxford: Black­well
Young, Robert J.C. (2003): Postcolonialism. A Very Short Introduction. Oxford u. a.: Oxford
University Press
Ziai, Aram (2011): Hungersnöte. In: Atac, Ilker/Kraler, Albert/Ziai, Aram, Hg.: Politik und Peripherie. Eine politikwissenschaftliche Einführung. Wien: Mandelbaum: 273-275

Documentos relacionados