Was kostet eine „Cabinet”? Was kostet eine „Cabinet”?

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Was kostet eine „Cabinet”? Was kostet eine „Cabinet”?
Was kostet eine „Cabinet”?
Von Moisés Pinto Rendição
I
.
José und fünfundachtzig weitere Landsleute sind heute, am 12. April 1986, in
der berühmten Stadt Ost-Berlin angekommen.
„Das ist eine andere Welt!“, sagt einer der Gefährten, dessen Bruder in der
Nähe von Karl-Marx-Stadt arbeitet.
José ohne Koffer und Gepäck lächelt.
Außer den Klamotten, die er auf dem Leibe trägt, einer Uhr, die eine Stunde vorgeht, außer Schuhen, einer Jacke hat er
nichts. Wenige von ihnen können mehr
aufweisen. Es sind junge Männer von bescheidener Herkunft, Söhne von Bauern
und Arbeitern.
Hinter dem Zoll werden sie von der
deutschen Betreuerin, ihrem Gruppenchef und dem Dolmetscher begrüßt; ihre
Pässe werden eingesammelt. José ist es
gleich. Dieses Büchlein – kleiner als sein
altes Gebetbuch – war ihm erst in der
Abflughalle ausgehändigt worden, kurz
vor dem Abflug mit Interflug. Es war nur
in Brazzaville und Paris gültig, den Stationen ihrer Reise.
Danach fährt die Gruppe mit dem Bus
nach Weimar. Wie seine Gefährten will
José einen Beruf lernen und mit einem
hübschen Bündel Banknoten heimkehren, zwei Dingen, die seiner Meinung
nach im Leben eines Mannes Wunder
bewirken.
Chá – Tee, pão – Brot, cerveja – Bier,
cigarro – „Cabinet“ (1): die ersten Worte
des jungen Mannes.
Drei Monate lang büffelt die Gruppe
Deutsch: von 7.00 bis 12.00, von 14.00
bis 16.00 Uhr; zwei Stunden für Mittagessen und Pause. Alle sind zufrieden. Das
Leben im Land der Deutschen ist angenehm und schön.
Die Alten – so nennen sie jene, die
schon früher gekommen sind – haben
in ihren Zimmern zwei, drei Koffer mit
Klamotten, Musikapparate und Fernseher
und andere Sachen. Aber das Irrste: Die
weißen Frauen schämen sich nicht, mit
unseren Landsleuten zu gehen. Lieber
Himmel! Das ist wirklich eine andere
Welt ...
Mosambik-Rundbrief Nr. 69 • April 2006
Foto: Mário Alucuamala
Im Hof sitzt José und steckt sich eine
„Cabinet“ an. Auf der Bank neben ihm
sein Zimmergenosse, raucht eine F6 (2)
und lauscht dem Bericht des Freundes.
José hat sich in Maputo in die Liste
einschreiben lassen, wo er damals auf
der Flucht vor dem Militärdienst lebte
und auf einen Job in Südafrika hoffte. Auf
Anraten von Verwandten und Freunden
entschied er sich jedoch für Deutschland.
Das Verfahren war einfach.
„Personalausweis?“ hatte die Beamtin
X gefragt. „Aufenthaltsberechtigung?“...
José hätte beinahe geheult. Der
Ausweis aus Zambézia galt nicht in der
Hauptstadt und in der Provinz war die
Meldefrist schon abgelaufen. Mit der
letzten Münze ruft er seinen Onkel in
Quelimane an und bittet ihn inständig
um 1.500 Meticais (ein Viertel von dessen Monatslohn).
So kam es, dass José sich zwei Tage
später heimlich eine Aufenthaltsberechtigung kauft. Dort, unter der Nase der
berüchtigten Staatspolizei, konnte in
jenen finsteren Zeiten ein Mensch in
aussichtloser Lage aus der einen Tasche
Geld ziehen und in die andere einen
Marschbefehl, Personalausweis oder gar
Pass stecken.
Lieber Himmel! Was wäre aus ihm
geworden, wenn es nicht den Onkel und
seinen Freund mit seinen Verbindungen
gegeben hätte? Letzterer half ihm auch
beim Ausfüllen der Aufenthaltsberechtigung.
„Stempel und Unterschrift sind schon
drauf!“ sagte der Künstler. „Jetzt fehlt
nur noch die Adresse: Ru-a Ro-ber-to de
I-vens, 614 ...“
Es war ein Meisterwerk, und als der
junge Mann von zwanzig Jahren sich in
Chamanculo – in der Baixa hätte ihn die
Beamtin X wiedererkennen können – registrieren ließ, verpasste ihm der Beamte
die Nummer 686, unterschrieb und stempelte, ohne mit der Wimper zu zucken.
Nicht so José. Seine Wimpern zuckten bis
er draußen war. Ob ihm etwas ins Auge
geraten war?
Danach ging's der Reihe nach durch
die Labors der Hauptstadt: Blut, Urin,
Stuhl in der Avenida 25 de Setembro,
Röntgenuntersuchung in Alto-Maé. Zum
Schluss warfen die deutschen Ärzte in der
Avenida Mao Tse Tung einen Blick aus
ihren blauen Augen auf die Ergebnisse,
fuhren sich mit der Hand durch das blonde Haar und kümmerten sich um den
Rest: Blutdruck, Abklopfen, Sehtest plus
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KULTUR
Einzeluntersuchung des nackten Körpers.
Uff! Eine deutsche Ärztin untersuchte Josés Glied. Alles war bestens in Ordnung.
In Weimar durchlief die Gruppe allerdings
weitere Untersuchungen und Analysen.
Dorthin wurden auch ihre klinischen Unterlagen übersandt.
„Nummer 686, geeignet!“ José atmete erleichtert auf. Er lieferte zwei
Schwarzweiß-Fotos ab und unterschrieb
einen Vertrag mit dem Arbeitsministerium. Die Hälfte davon Vertragschinesisch,
das er nicht begriff. Danach ging es ins
Eisenbahnerheim, wo es Mittagessen
und Vorträge über Deutschland gab. Die
deutschen Dozenten sagten: „Streiche
werden nicht toleriert. Achtet die Frauen
und schont eure Leber.“
Und so gelangten José und seine Gefährten vom Rande des Kontinents ins
Herz des sozialistischen Europas. Zu jener
Zeit kamen in Ost-Berlin Hunderte von
Proletariern und Studenten an, Männer
wie Frauen. Sie kamen aus Kuba, Angola,
Mosambik. Aus den entferntesten Winkeln der großen roten Weltkarte.
II.
März 1990. Die mosambikanischen
Arbeiter des VEB Weimar-Werk, einem
Hersteller und Exporteur von landwirtschaftlichen Maschinen, halten eine Versammlung ab: „Die Entscheidung liegt bei
Euch!“ informiert sie der Betriebsleiter.
„Ihr könnt gehen oder bleiben.“
José konnte vor Freude kaum an
sich halten. „Ich geh' nach hause! Ich
unterschreib' die Papiere!“ Ein Cousin
von ihm, mit einer Polin verheiratet, riet
ihm ab:
„Geh' nicht, José. Geh' nicht nach
Mosambik! Die Klamotten, der Eisschrank, der Fernseher, alles, was Du gekauft hast, sichert dich nicht ab. Deutschland ist ein gutes und angenehmes Land.
Es gibt nur zwei traurige Dinge: Den
Winter und die Buchenwald-Gedenkstätte. Du willst von hier fort gehen? Geh'
ruhig. Der Tag wird kommen, an dem Du
nicht mal mehr Geld für eine Zigarette
haben wirst!“
Vier Jahre lang arbeitete der junge
Walzarbeiter in der Fabrik und nach Auskunft seines Chefs betrugen seine Überweisungen nach Mosambik in dieser Zeit
38.000 Mark.
40
Er arbeitete im
Schichtbetrieb: von 6.30
– 16.00 Uhr mit einer
Stunde Mittagszeit. In der
folgenden Woche: von
18.30 – 4.00 Uhr, freitags
von 16.00 – 20.00 Uhr.
Samstags trank er „Pilsner“ mit den Freunden,
rauchte „Cabinet“...
In den ersten beiden
Monaten bekam er 1.600
Mark. Danach wegen der
Transfers am Siebten oder
Achten des Monats 125
Mark Prämie, am 14. je
nach Leistung zwischen
400 und 500 Mark und
am 27. des Monats 300
Mark zusätzlich für jeden.
José kehrte nach
Mosambik zurück und
erhielt vom Arbeitsministerium ca. 3,7 Millionen
Meticais (3). Von seiner
Gruppe blieben nur zwei
Kameraden in Weimar.
III.
Eines Abends, als er die Avenida Karl
Marx hinuntergeht, trifft José einen Schulkameraden, der Strohhüte verkauft.
„Oh, José!“... Ich wusste nicht, dass du in
Johannesburg warst.“
Voller Stolz erklärt ihm José, dass er
vor zwei Tagen aus Europa zurückgekehrt sei. Aus den Augenwinkeln schätzt
der Freund Kleider, Schuhe und Hemdentasche ab.
„Hast Du eine Zigarette für mich?“
José fühlt, wie sich sein Herz zusammenzieht. In seiner Erinnerung erscheint
ihm auf einmal ein seltsames Bild: Die
Fabrik mit ihren zwei hohen Kaminen,
aus denen Rauch aufsteigt, und er in seinem Blaumann mit schwarzen Schuhen
und Arbeitshandschuhen aus Wildleder
hört die Stimme seines Cousins: „Geh'
nicht, José. Geh' nicht zurück nach Mosambik!“
„Nimm!“ Er hält seinem Freund einen Schein hin. „Die Packung ist leer!“
Lächelnd verschwindet der Strohhutverkäufer im Gewimmel der Stadt.
José bleibt zurück, bewegungslos, in
Gedanken versunken ...
Dann zieht er das Päckchen aus der
Hemdentasche und zündet seine letzte
„Cabinet“ an ...
Aus dem Portugiesischen übertragen von
Ulf-Dieter Klemm.
Aus: Moçambique-Alemanha, Ida e Volta. Erlebnisse von Mosambikanern vor,
während und nach dem Aufenthalt in
Deutschland.
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3) Dies entsprach einem Bruchteil seines
überwiesenen Betrags
1)
2)
Mosambik-Rundbrief Nr. 69 • April 2006