Aeneis - Nimaatre

Transcrição

Aeneis - Nimaatre
ARMAVIRUMQUECANOTROIAEQUIP
RIMUSABORISITALIAMFATOPROFUG
USLAVINAEQUEVENITLITORAMULT
UMILLEETTERRISIACTATUSETALTO
AENEIS
PUBLIUS VERGILIUS MARO
VISPERUMSAEVAEMEMOREMIUNON
ISOBIRAMMULTAQUOQUEETBELLO
PASSUSDUMCONDERETURBEMINFE
RRETQUEDEOSLATIOGENUSUNDEL
ATINUMALBANIQUEPATRESATQUEL
ATAEMOENIAROMAEMUSAMIHICAU
SASMEMORAQUONNUMINELAESOQ
UIDVEDOLENSREGINADEUMTOTVO
LVERECASUSINIGNEMPIETATEVIRU
MTOTADIRELABORESIMPULERITTA
NTANTAENEANIMISCAELESTIBUSIR
ASEURBSANTIQUAFUITTYRIITENUE
RECOLONIKARTHAGOITALIAMCONT
RATIBERINAQUELONGEOSTIADIVES
OPUMSTUDIISQUEASPERRIMABELLI
QUAMIUNOFERTURTERRISMAGISON
Deutsche, kostenlose Übersetzung
Frederic Laudenklos
Vorwort
Diese Übersetzung ist während meiner Vorbereitung auf das Staatsexamen entstanden. Es kann
durchaus sein, dass sich hier und da kleinere Übersetzungsfehler eingeschlichen haben; dennoch soll
die Übersetzung gerade für diejenigen, die sich näher mit dem Inhalt der Aeneis beschäftigen
möchten, oder einen Übersetzungsvergleich anstreben, eine Hilfe sein. Auch für all diejenigen, die
eine sinnvolle Übung darin erkennen, sich privat – außerhalb des Lateinunterrichts – an der Aeneis zu
versuchen, ist die Übersetzung an manchen, allzu kniffligen Stellen sicherlich eine gute Hilfe, da sie
relativ wörtlich ist.
Frederic Laudenklos
Inhaltsverzeichnis
Buch 1
3
Buch 2
20
Buch 3
38
Buch 4
53
Buch 5
69
Buch 6
89
Buch 7
109
Buch 8
128
Buch 9
144
Buch 10
162
Buch 11
184
Buch 12
204
2
Buch I
Ich singe von Waffen und dem Mann, der als erster von Trojas Küste des Schicksals wegen als
Flüchtling nach Italien und an die lavinische Küste kam, ich will jenen preisen, der durch die Gewalt
der Götter, wegen des Zorns der wilden Iuno weithin über Länder und über das hohe Meer getrieben
wurde. Er erlitt viel im Krieg, bis er eine Stadt gründete und seine Götter nach Latium trug, woher das
latinische Geschlecht kommt und die albanischen Väter, sowie die hohen Mauern Roms. Muse,
berichte mir von den Gründen, durch welchen beleidigten, göttlichen Willen oder durch welchen
Schmerz hat die Königin der Götter (10) den durch Pflichtgefühl ausgezeichneten Mann dazu
veranlasst, so viel Unglück auf sich zu nehmen, so viele Mühen? Besteht etwa für die
Himmelsbewohner so viel Gemütszorn?
Es war einmal eine alte Stadt namens Karthago, tyrische Siedler besaßen sie, gegenüber von Italien
und fern von der Tibermündung. Sie war reich an Streitkräften und äußerst wild im Hinblick auf ihren
Kriegseifer. Iuno habe diese als einzige in allen Ländern, so berichtet man, mehr verehrt als das
hintangestellte Samos. Hier waren ihre Waffen, hier ihr Streitwagen. Die Göttin strebte schon damals
danach, wenn es die Göttersprüche zuließen, dass dieses Königreich über die Völker walten würde.
Doch sie hatte (20) gehört, dass ein Geschlecht aus trojanischem Blut entstehe, welches einst die
tyrischen Burgen stürzen würde. Von hier würde ein Volk kommen, weithin als König, stolz im Krieg,
für den Untergang Libyens. So sponnen es die Parzen. Dies fürchtete die Tochter des Saturns,
eingedenk des alten Krieges, den sie zuerst bei Troja für das ihr teure Argos geführt hatte. Noch
immer nicht sind die Gründe ihres Zorns und die wilden Schmerzen aus ihrer Seele gewichen: Das
Urteil des Paris und das Unrecht an ihrer verschmähten Schönheit wurden in ihrem erhabenen Geist
aufbewahrt, sowie das verhasste Geschlecht und die Ehrungen des geraubten Ganymedes. Nachdem
sie über diese Dinge in Zorn entbrannt war hielt sie die über das ganze Meer getriebenen Trojaner,
(30) die Reste von den Danaern und dem unsanften Achilles, fern von Latium. Viele Jahre lang irrten
sie, von Fata (Göttersprüchen, Anm.) getrieben, auf allen Meeren umher. So viel Mühe kostete es,
das römische Geschlecht zu begründen!
Kaum aus dem Blickfeld der sizilianischen Erde segelten sie glücklich auf das hohe Meer, und wühlten
die schäumende Salzflut mit ihrem erzbeschlagenen Bug auf, als Iuno, ewiglich der Wunde in ihrer
Brust dienend, dies für sich sagte: „Fange ich an mich als Besiegte aufzugeben und den König der
Teucrer nicht von Italien abwenden zu können? Freilich, es wird mir durch die Fata verboten. Konnte
etwa Pallas (40) die argivische Flotte anzünden und die Argiver selbst im Meer versenken wegen der
Schuld und Raserei eines einzigen: Ajax, Sohn des Oileus? Sie selbst zerschmetterte die Flöße, indem
sie das reißende Feuer Jupiters aus den Wolken schleuderte und sie wühlte die Meeresoberfläche
3
mit Winde auf, während sie jenen, der aus durchbohrter Brust Flammen ausblies, mit einem Strudel
ergriff und auf einen scharfen Felsen stieß. Aber ich, die ich als Herrscherin der Götter einherschreite,
sowohl als Jupiters Schwester als auch als dessen Gattin, führe mit einem einzigen Volk so viele Jahre
lang Krieg! Und da soll (50) in Zukunft noch jemand den göttlichen Willen der Iuno anbeten oder
demütig Ehrungen auf die Altäre legen?“
Derartiges überlegte für sich die Göttin mit entflammtem Herzen hin und her und kam in die Heimat
der Gewitterwolken, eine Gegend reich an rasenden Südwinden, nach Aeolien. Hier unterdrückt
König Aeolus in einer riesigen Höhle die widerspenstigen Winde und rauschenden Stürme unter
seiner Herrschaft und zügelt sie durch Fesseln und Kerker. Jene sich empörende Stürme lärmten bei
lautem Rauschen des Berges um ihre Verliese. Aeolus sitzt auf einer aufragenden Burg, während er
das Zepter in der Hand hält und besänftigt die Gemüter, mäßigt den Zorn. Falls er das nicht täte,
rissen die rasenden Stürme freilich Meere, Länder und den weiten Himmel mit sich fort und
schleiften sie durch die Lüfte. (60) Aber der allmächtige Vater versteckte sie, dies fürchtend, in
finsteren Höhlen und setzte darüber eine Steinmasse und hohe Berge, er gab ihnen einen König, der
laut einem bestimmten Vertrag sowohl wissen sollte, sie zu unterdrücken, als auch ihre Zügel auf
Befehl zu lockern. Diesen redete damals Iuno demütig mit diesen Äußerungen an:
„Aeolus, dir freilich legte der Vater der Götter und König der Menschen auf, die Flut zu besänftigen
und durch Wind emporzuheben. Ein mir feindliches Volk segelt über das tyrrhenische Meer, Ilion und
die besiegten Penaten nach Italien tragend. Errege die Gewalt der Winde, überdecke die versenkten
Schiffe (70) oder treibe sie in verschiedene Richtungen und zerstreue ihre Körper auf dem Meer. Mir
gehören vierzehn Nymphen von herausragendem Körper, von denen Deiopea die schönste Gestalt
hat: Ich will sie mit dir in einer festen Ehe verbinden und sie dir zu eigen geben, so dass sie mit dir für
solche Verdienste all die Jahre verlebt, und sie soll dich durch eine schöne Nachkommenschaft zum
Vater machen.“
Aeolus erwiderte dies: „Dein Werk ist es, oh Königin, zu prüfen, was du wünschst. Mir ist es eine
heilige Pflicht, gemäß deinen Befehlen zu streben. Du verschaffst mir hier was auch immer vom
Königreich, du verschaffst mir das Zepter, machst mir Jupiter geneigt, du lässt mich bei den
Göttermählern zu Tisch liegen, (80) machst mich zum Beherrscher von Gewitter und Sturm.“
Nachdem dies gesagt wurde, stieß er mit einer umgedrehten Lanze dem hohlen Berg in die Seite und
die Winde stürzten, wie ein aufgestellter Heereszug, durch das geöffnete Tor und durchwehten die
Länder in einem Wirbel. Sie stürzten auf das Meer, und gemeinsam wühlten es durch und durch von
seinen tiefsten Stellen der Ostwind und der Südwind auf, sowie der Südwestwind, zahlreich an
4
Stürmen, und sie wälzten die riesigen Fluten gegen die Küsten. Es folgte das Geschrei der Männer
und das Zischen der Taue. Die Wolken entrissen den Himmel und den Tag aus den Augen der
Teucrer. Finstere Nacht lag auf dem Meer. (90) Es donnerten die Pole und die Luft zuckte vor
zahlreichen Blitzen und alles bedrohte die Männer mit dem Tod. Augenblicklich wurden dem Aeneas
vor Kälte die Glieder gelähmt: Er seufzte und während er seine beiden Hände zu den Gestirnen hob,
sprach er mit folgenden Worten: „Oh welch dreimal, viermal Glückliche, denen es zuteil wurde, vor
den Gesichtern der Väter und unter den hohen Mauern Trojas den Tod zu finden! Oh du äußerst
tapferer des Danaervolkes, Sohn des Tydeus! Konnte ich etwa nicht auf den Feldern Ilions sterben
und durch deine Rechte diese Seele aushauchen, wo der wütende Hector mit einem Pfeil des
Aeciden, wo der gewaltige (100) Sarpedon liegt, wo der Fluss Simois so viele an sich gerissene Schilde
der Männer, sowie Helme und tapfere Körper unter seinen Wogen wälzt?“
Als er solche Worte ausrief, schlug der Sturm mit einem zischenden Nordwind von vorn gegen das
Segel, und hob die Flut bis zu den Sternen. Es brachen die Ruder. Dann wendete der Bug und gab die
Schiffsflanke den Wellen preis; dann folgte ein mit der ganzen Wassermasse jäh abfallender
Wasserberg. Die einen hingen in der höchsten Flut, den anderen offenbart eine sich spaltende Woge
den Meeresboden inmitten der Flut; Die Strömung tobt am Küstensand. Der Südwind hatte drei
Schiffe weggerissen und an verborgene Felsen gewirbelt – die Italer nennen die Felsen, die mitten in
den Fluten stehen, ‚Altäre‘ – riesige (110) Riffe unmittelbar an der Meeresoberfläche. Drei Schiffe
trieb der Ostwind vom hohen Meer an eine seichte Meeresstelle und auf eine Sandbank, schrecklich
mit anzusehen, er stieß sie auf eine Untiefe und umgab sie mit einem Sandwall. Bei einem Schiff, das
die Lykier und den treuen Orontes trug, schlug vor den Augen des Aeneas von oben her das Meer auf
das Heck. Der Kapitän wurde vornüber herausgeschleudert und kopfüber in die Fluten gewälzt. Aber
jenes Schiff wirbelte die Flut, indem sie es dreimal auf derselben Stelle ringsum trieb und ein
reißender Wirbel verschlang es im Meer. Es kamen vereinzelte, in einem ungeheuren Strudel
schwimmende Männer, Waffen der Männer, Tafeln und der trojanische Schatz zum Vorschein – über
die Wogen zerstreut. (120) Schon besiegte das Unwetter das mächtige Schiff des Ilioneus, schon das
des tapferen Achates und das, auf dem Abas fuhr, sowie das, auf dem der hochbetagte Aletes fuhr.
Nachdem die Gefüge der Schiffsflanken locker geworden waren, nahmen alle Schiffe den feindlichen
Regen auf, und sie zersprangen an ihren Fugen. Inzwischen wurde das Meer unter lautem Brausen
aufgewirbelt und Neptunus fühlte das herausgelassene Unwetter und die Wassermassen aus den
unteren Schichten, die nach oben gedrängt wurden; er war darüber sehr bestürzt. Und als er aufs
hohe Meer blickte, streckte er seinen sanften Kopf über die höchste Meereswoge. Er sah auf dem
ganzen Meer die zerstreute Flotte des Aeneas, Trojaner, unter einem Wolkenbruch durch Flutwellen
5
begraben (130) und nicht blieben dem Bruder Jupiter List und Zorn der Iuno verborgen. Er rief Ostund Westwind zu sich, anschließend sprach er solches:
„Beherrschte euch etwa das so große Selbstvertrauen eurer Art? Schon bringt ihr Himmel und Erde
ohne meinen göttlichen Willen in Unordnung, ihr Winde, und wagt es, so große Wassermassen
aufzutürmen? Ich sollte euch… Doch es ist besser die Flutbewegungen zu ordnen. In Zukunft büßt
ihr mir andersartige Strafen! Ergreift eilends die Flucht und sagt dies eurem König: „Nicht jenem
wurde vom Schicksal die Herrschaft über das Meer sowie den wilden Dreizack gegeben, sondern mir!
Jener besitzt die gewaltigen Felsen, (140) dein Haus, Eurus. Aeolus möge in seinem Palast großtun
und regieren – nachdem der Kerker der Winde verschlossen wurde.“
So sprach er und nachdem er dies gesagt hatte, besänftigte er rasch die aufgewühlte
Meeresoberfläche. Die Wolken, die er zusammengesucht hatte, schlug er in die Flucht und führte die
Sonne zurück an ihren Platz. Gleichzeitig stießen Cymothoe und Triton angestrengt die Schiffe von
einem schroffen Felsen herab. Neptunus selbst hob sie mit seinem Dreizack empor. Und er machte
die gewaltigen Sandbänke zugänglich, zügelte das Meer, und durcheilte die größten Wogen mit
seinen leichten Rädern. Und wie in einer großen Volksmenge, wenn oftmals Aufruhr ausbricht, das
niedere Volk in seinen Gemütern tobt (150) und schon Fackeln und Steine fliegen – und die Raserei
sich Waffen verschafft; Dann schweigen die Leute, wenn sie etwa einen durch Pflichtgefühl und
Verdienste erhabenen Mann sehen und stehen mit spitzen Ohren da. Jener beherrscht durch seine
Worte die Gemüter und streichelt die Seele – so schwand all das Getöse des Meeres, nachdem der
Schöpfer Neptunus auf das Meer blickte und in den offenen Himmel gefahren war; er wendete die
Pferde, ließ auf dem rasch hineilendem Wagen fliegend die Zügel schießen. Die erschöpften Männer
des Aeneas strengten sich auf ihrer Fahrt an die nächstgelegene Küste zu erreichen und wendeten zu
Libyens Gestade. Es gibt in weiter Abgeschiedenheit einen Ort: Eine Insel (160) bewirkt einen
natürlichen Hafen durch die Vorlagerung ihrer Ufer, an welchen jede vom hohen Meer kommende
Welle gebrochen wird und sich in entlegene Buchten schneidet. Von hier und von da ragten
gewaltige Felsen und eine zweifache Felsklippe in den Himmel, unter deren weitem Scheitel das
Wasser sicher schwieg; dann ein Schauplatz von einem schimmernden Wald eingefasst und es ragte
ein finsterer Hain mit unheilvollem Schatten herein. Gegenüber befand sich eine Höhle in
vorragenden Felswänden, im Inneren befanden sich sanften Gewässer und Sessel aus lebenden
Steinen, die Wohnsitze der Nymphen. Hier hielt die ermüdeten Schiffe nicht ein einziges Tau, kein
Anker befestigte sie mit gekrümmtem Biss. (170) Hierher kam Aeneas nur sieben Schiffen aus der
Gesamtzahl, nachdem er sie zusammengesucht hatte. Und die gelandeten Trojaner erreichten mit
großer Sehnsucht nach Land den gewünschten Sand und legten ihre vor Salzwasser triefenden
Glieder an den Strand. Zuerst schlug Achates mit einem Kieselstein Funken, fing das Feuer unten mit
6
Blättern auf und legte ringsum getrocknetes, brennbares Material und beschleunigte das Feuer im
Zündstoff. Dann holten sie, erschöpft von den Ereignissen, das von den Wellen verdorbene Getreide
und die Geräte des Ceres herbei. Nachdem die Feldfrüchte aufgenommen worden waren, bereiteten
sie es vor, sie an den Flammen zu rösten und am Stein zu zermahlen.
(180) Inzwischen fing Aeneas an die Felswand zu erklimmen und strebte nach der vollständigen
Aussicht über das weite Meer, ob er Antheus, vom Wind verschlagen, sah, sowie die phrygischen
Zweirruderer oder Capys, oder aber die in den aufragenden Schiffshecks befindlichen Waffen des
Caicus. Kein Schiff war in Sichtweite, er sah drei an der Küste umherirrende Hirsche. Diesen folgte
eine ganze Herde im Rücken und der weite Zug weidete über die ganzen Täler zerstreut. Hier machte
er Halt, ergriff hastig mit seiner Hand den Bogen und die schnellen Pfeile, die der treue Achates als
Waffen führte; zuerst streckte er die Herdenführer nieder, die hohen Köpfe, (190) die ein
baumartiges Geweih trugen, dann die einfachen Mitglieder der Herde, dann vermengte er die ganze
Herde, während er sie mit Pfeilen durch die belaubten Haine trieb. Er hörte nicht eher auf, bis er als
Sieger sieben gewaltige Körper zu Boden strecken und die Anzahl mit den Schiffen gleichsetzen
konnte. Von dort eilte er zum Hafen und die Beute wurde auf alle Kameraden verteilt. Den Wein, den
der gute Acestes in Krügen gefüllt und an der trinacrischen Küste den aufbrechenden Helden
geschenkt hatte, verteilte anschließend Aeneas und besänftigte die traurigen Gemüter mit folgenden
Worten: „Oh Kameraden – wir sind schon vorher nicht unerfahren im Leid gewesen – oh, die ihr
Schlimmeres erlebt habt, der Gott wird auch diesen Übeln ein Ende bereiten. (200) Ihr seid sowohl an
die Wut der Scylla und weit an die klingenden Felsklippen herangetreten und ihr habt auch die Felsen
des Zyklopen kennen gelernt: Ruft euren Mut zurück und schickt Trauer und Furcht fort. Vielleicht
wird es helfen sich auch einmal an diese Dinge zu erinnern. Wir eilen durch verschiedene
Schicksalsschläge, durch so viele kritische Momente nach Latium, wo die Göttersprüche uns ruhige
Wohnsitze zeigen. An jenem Ort wird nach göttlichem Recht die Herrschaft Trojas
wiederauferstehen. Haltet aus und bewahrt euch selbst für das Glück.“
Eine derartige Äußerung machte er – und der aufgrund von gewaltigen Sorgen traurige Held spielte
mit seinem Gesichtsausdruck Hoffnung vor und unterdrückt den tiefen Schmerz in seinem Herzen.
(210) Jene umgürteten sich mit der Beute, ihrem zukünftigen Mahl. Sie rissen das Fell von den Rippen
und entblößten das Fleisch. Ein Teil schnitt die erlegten Tiere in Stücke und heftete sie noch zuckend
an einen Jagdspieß. Andere stellen Kessel an die Küste und verschaffen sich Feuer. Dann riefen sie
durch die Speise ihre Kräfte zurück und zerstreut über dem Gras füllten sie sich mit altem Wein und
fettem Wildbret. Nachdem der Hunger durch die Speisen gestillt worden und die Tische entfernt
worden waren, fragten sie in einem langen Gespräch nach den verlorenen Kameraden, zwischen
Hoffnung und Furcht schwankend, sei es, dass sie glaubten, jene würden noch leben, sei es, dass sie
7
glaubten, jene hätten das Schlimmste erlebt und würden die Rufe nach ihnen nicht mehr vernehmen.
(220) Vor allem der pflichtbewusste Aeneas seufzte für sich bald über den energischen Orontes, bald
über das Schicksal des Amycus, über das grauenhafte Schicksal des Lycus, über den tapferen Gyas
und über den tapferen Cloanthus.
Und nun war Schluss mit den Klagen, als Jupiter vom höchsten Äther herunterblickte auf das
segelbeflügelte Meer, auf die dar liegenden Länder, auf die Küsten und die weit verstreuten Völker –
so machte er auf dem Gipfel des Himmels halt und richtete seine Augen auf das libysche Königreich.
Und jenen, der in seiner Brust derartige Sorgen herumwälzte, sprach Venus, die mit Tränen ihre
glänzenden Augen benetzte, recht traurig an: „“Oh, der du die Angelegenheiten der Menschen und
Götter (230) durch deine ewig während Herrschaft lenkst und durch Blitze erschrecken lässt, was
konnte mein Aeneas nur gegen dich ausrichten, was die Trojaner, denen nur wegen Italien der ganze
Erdkreis verschlossen ist und die so viele Todesfälle erlitten haben? Du hast fest versprochen, dass
von hier einmal die Römer abstammen, im Lauf der Jahre, von hier einmal Führer entstünden, vom
erneuerten Blut der Teucrer stammend, die das Meer und die Länder durch ihre vollkommene Macht
beherrschen würden – welche Ansicht, oh Schöpfer, hat dich jetzt davon abgebracht? Damit tröstete
ich mich freilich über den Untergang Trojas und über die traurigen Ruinen hinweg, während ich das
gegenteilige Fatum gegen jene Göttersprüche aufgewogen habe. (240) Nun verfolgt das gleiche,
wankelmütige Schicksal die Männer, die durch so viele Schicksalsschläge getrieben wurden. Welches
Ende bereitest du den Mühen, großer Götterkönig? Antenor konnte, nachdem er mitten unter den
Achivern entschlichen war, in die illyrischen Buchten, und sicher in das innerste Königreich der
Liburner eindringen, die Quelle des Flusses Timavus überwinden, wovon sich der Fluss mit neun
Armen unter großem Getöse des Berges ergießt, ein hervorbrechendes Meer, und mit rauschender
Flut die Felder überschwemmt. Hier hat jener dennoch die Stadt der Pataver und die Wohnsitze der
Teucrer gegründet, er hat dem Volk einen Namen gegeben, er hing die Waffen aus Troja im Tempel
auf. Nun ruht er in sanftem Frieden zur Ruhe gebettet. (250) Wir, deine Nachkommenschaft, denen
du die Himmelsburg gewährst, werden, nachdem wir die Schiffe verloren haben (entsetzlich!), wegen
dem Zorn einer einzigen verraten und weitab von den Gestaden Italiens getrennt. Ist dies die Ehrung
für Pflichtgefühl? So setzt du uns wieder in die Herrschaft ein?“
Jener Schöpfer der Menschen und der Götter, spendete mit einem Lächeln im Gesicht, das Himmel
und Stürme aufheitert, der Tochter Küsse und sagte anschließend folgendes: „Spar dir deine Furcht,
Cytherea: die Fata deiner Leute bleiben dir unverändert; du wirst die Stadt Lavinium und Laviniums
versprochene Stadtmauern erkennen und du wirst den erhabenen und (260) mutigen Aeneas zu den
Gestirnen des Himmels tragen; und keine Meinung hat mich umgestimmt. Dieser wird für dich einen
gewaltigen Krieg in Italien führen (ich werde nämlich ausführlicher sprechen, da diese Sorge an dir
8
nagt und vortragend werde ich dir die Geheimnisse des Schicksals offenbaren) und er wird wilde
Völker zerschlagen, den Männern sowohl Sitten als auch Mauern aufstellen, so lange bis der dritte
Sommer ihn in Latium regieren sehen wird und drei Winter für die unterworfenen Rutuler vergangen
sein werden. Aber sein Junge Ascanius – dem jetzt den Beinamen Iulus gegeben wird (dieser lautete
Ilius, als die Herrschaft Iliums noch Bestand hatte), wird dreißig lange Jahre im Lauf der Monate (270)
mit seiner Herrschaft ausfüllen, die Königsherrschaft von dem Wohnsitz der Laviner verlegen und
mit viel Mühe die Stadt Alba Longa befestigen. Hier wird dann ganze dreihundert Jahre unter der
Führung Hectors Stammes regiert werden, solange bis die Königstochter und Priesterin durch eine
Geburt Zwillinge beschert. Dann wird der glückliche Romulus unter dem gelbbraunen Schutz seiner
Amme, der Wölfin, den Stamm fortführen, er wird die kriegerischen Stadtmauern gründen und die
Einwohner ‚Römer‘ nach seinem Namen nennen. Diesen setze ich weder räumliche und zeitliche
Grenzen. Ich schenkte ihnen eine Herrschaft ohne Grenze. Ja sogar die schroffe Iuno, (280) die nun
das Meer, die Länder und den Himmel mit ihrer Furcht ermüdet, wird zu einer besseren Besinnung
kommen und mit mir die Römer, die Herren der Dinge, das Toga tragende Volk verehren: So lautet
mein Beschluss. Es wird im Ablauf der Jahre eine Zeit kommen, wenn das Haus der Assaracer Phtia
und das berühmte Mycene in Knechtschaft unterdrücken wird und die besiegten Arger werden
beherrscht werden. Es wird ein Trojaner geboren werden, von hübscher Herkunft: Caesar – eine
Herrschaft die erst am Ozean endet, Ruhm, der erst bei den Sternen endet – Iulius, ein Name
abgeleitet vom großen Iulus. Diesen wirst du einmal im Himmel, beladen mit den geraubten
Rüstungen des Orients, (290) unbekümmert empfangen. Auch dieser wird in Gebete angerufen
werden. Dann werden die rauhen Jahrhunderte durch beigelegte Kriege sanft werden. Die
ehrwürdige Fides und die Vesta, sowie Quirinus gemeinsam mit seinem Bruder Remus werden
Gesetze aufstellen. Die düsteren Tore des Krieges werden mit eisernen Klammern und eisernen
Riegeln verschlossen werden. Die pflichtvergessene Raserei im Inneren, über tobenden Waffen
sitzend und mit hundert ehernen Knoten auf dem Rücken gefesselt wird schauderhaft aus blutigem
Maul brüllen.“
Dies sagte er und schickte Merkur vom Himmel, damit die Länder und die Burgen des neuen
Karthago den Teucrern in Gastfreundschaft offen stünden, damit nicht Dido, die von dem Fatum
nichts wusste, sie (300) von ihren Grenzen fernhielt. Jener flog weit mit seinem Ruderwerk aus
Flügeln durch die Lüfte, und machte rasch Halt an der Küste Libyens. Und schon führt er die Befehle
aus und die Punier legten ihre kriegerischen Herzen ab, wie es der Gott wünschte. Vor allem die
Königin nahm ein ruhiges Gemüt gegenüber den Teucrern auf und eine wohlwollende Denkweise.
Aber der pflichtbewusste Aeneas, der während der Nacht zahlreiche Gedanken hin und her wälzte,
beschloss, sobald ihm das nährende Tageslicht gewährt wurde, aufzubrechen, die neuen Gegenden
9
zu erforschen und zu untersuchen, an welche Gestade er durch den Sturm gekommen war, welche
Wesen sie besaßen (denn er sah sie unbewohnt), Menschen oder wilde Tiere und schließlich die
ausgeführten Dinge den Kameraden zu berichten. (310) Er verbarg die Flotte in einer Wölbung aus
Hainen, die unter einem hohlen Felsvorsprung ringsum von Bäumen und düsteren Schatten
umschlossen war. Er selbst schritt einzig von Achates begleitet mit zwei Lanzen in der Hand, die eine
breite Schneide hatten.
Ihm zeigte sich seine göttliche Mutter mitten im gegenüberliegenden Wald, mit einem Gesicht und
einem Äußeren einer jungen Frau und spartanische Waffen einer jungen Frau tragend, oder so, wie
die Thrakerin Harpalyce die Pferde ermüdet und den geflügelten Hebrus bei seiner Flucht überholt.
Denn die Jägerin hat über ihre Schultern nach Brauch einen handlichen Bogen gehängt, und sie ließ
zu, dass ihr Haar durch die Winde verweht wurde, (320) mit nackten Knien und ihr fließendes
Gewand war mit einem Knoten befestigt. Und als erste sagte sie: „He, ihr jungen Männer, zeigt mir,
habt ihr eine meiner Schwestern hier zufällig umherirren sehen, umgürtet mit einem Kescher und
einer Bedeckung eines gefleckten Luchses, oder wie sie unter Geschrei die Flucht eines schäumenden
Ebers unterdrückte?“
So sprach Venus. Und der Sohn der Venus begann folgendermaßen zu antworten: „Ich habe keine
deiner Schwestern gehört oder gesehen. Oh, wie soll ich dich denn nennen, junge Frau? Denn du
hast kein menschliches Gesicht, und deine Stimme klingt nicht nach einem Menschen: Oh, du bist
sicherlich eine Göttin, etwa die Schwester des Phoebus? Oder bist du eine, von dem Blut der
Nymphen? (330) Sei glückbringend, du mögest unsere Mühen erleichtern, wer immer du auch bist,
und lehre uns, unter welchem Himmel wir endlich und an welche Küste wir auf dem Erdkreis gespült
werden. Wir irren umher, unkundig der Menschen und Gegenden, wir wurden vom Wind und von
gewaltigen Strömungen hierher getrieben. Viele Opfertiere werden für dich vor den Altären durch
meine Rechte fallen.“
Dann erwiderte Venus: „Ich halte mich gewiss nicht für eine derartige Ehrung würdig. Für junge
Frauen aus Tyros ist es Brauch einen Kescher zu tragen und sich die Waden ins purpurne Jagdstiefel
zu schnüren. Du siehst die punischen Königreiche: Das Land der Tyrier und die Stadt des Agenor.
Aber auch das Gebiet der Libyer, ein Stamm der im Krieg unüberwindbar ist. (340) Dido regiert das
Herrschaftsgebiet, die aus der tyrischen Stadt aufgebrochen ist, als sie vor ihren Brüdern floh. Lang
ist die Liste des Unrechts, lang die, der Täuschungen; aber ich will zu den Höhepunkten der Dinge
kommen: Der Mann dieser Frau war Sychaeus, der Phonizer, der an Ackerland am reichsten war und
er wurde von der Unglücklichen sehr geliebt, dem ihr Vater sie unbefleckt gegeben und sie mit ihm in
erster Ehe verbunden hatte. Aber die Herrschaft über Tyros hatte ihr Burder Pygmalion inne, der in
10
Sachen Verbrechen grausamer war als alle anderen. Unter diesen kam Wut auf. Jener hat
pflichtvergessen (350) heimlich den unvorsichtigen Sychaeus vor den Altären, blind vor Liebe zu Gold,
mit einem Schwert besiegt, unbekümmert über die Liebe dessen Schwester. Die Tat verbarg der
schlechte Kerl lang und verspottete die traurige Liebende durch leere Hoffnung, während er ihr vieles
vormachte. Doch ihr erschien sogar im Traum das Bild ihres unbestatteten Gatten, wie er sein
bleiches Antlitz auf wundersamer Weise erhob, die grausamen Altäre und seine mit einem Schwert
durchbohrte Brust entblößte und er enthüllte das ganze, finstere Verbrechen der Vaterstadt; dann
riet er ihr eine rasche Flucht und die Heimat zu verlassen. Als Wegeshilfen erschloss er ihr alte, in der
Erde verborgene Schätze, von unbekanntem Gewicht an Silber und an Gold. (360) Über diese Dinge
bestürzt, bereitete Dido die Flucht vor und versammelte Kameraden um sich: Es trafen sich Leute,
die entweder grausamen Hass gegen den Tyrannen hegten, oder heftige Furcht vor ihm hatten.
Schiffe, die zufällig bereit lagen, rissen sie an sich und beluden sie mit Gold. Es wurde der Besitz des
gierigen Pygmalion über das Meer getragen; eine Frau war die Anführerin der Tat. Sie gelangten in
die Gegenden, wo du jetzt die gewaltigen Mauern und die sich erhebende Burg des neuen Karthagos
erkennst. Sie kauften Boden, nach dem Namen des Kaufs Byrsa genannt, so viel, wie sie mit einer
Stierhaut umgeben konnten. Aber wer seid ihr endlich, oder von welchen Gestaden seid ihr
gekommen, (370) oder wohin führt eure Reise?“
Der mit solchen Worten fragenden Frau antwortete Aeneas mit einem Seufzen, als er aus tiefer Brust
folgende Äußerung hervorbringt: „Oh Göttin, wenn ich zurückdenkend von unserer ersten Herkunft
ab sprechen will und Zeit ist, von den Jahrbüchern unserer Mühen zu hören, würde vorher der
Abendstern, nachdem der Olymp verschlossen wurde, den Tag zur Ruhe betten. Uns, die wir vom
alten Troja, falls der Namen Trojas euch zufällig zu Ohren gekommen ist, über verschiedene Meere
gefahren sind, hat ein Unwetter gemäß seines Schicksals an Libyens Küste heran getrieben. Ich bin
der pflichtbewusste Aeneas, der ich aus Feindes Hand die geraubten Penaten in meiner Flotte mit
mir führe, ich bin durch meinen Ruf durch alle Äther bekannt. Ich suche mein (380) italisches
Vaterland und ich bin der Nachkomme des höchsten Jupiters. Ich bin mit zwanzig Schiffen auf das
Meer Phrygiens gefahren, während mir meine Göttermutter den Weg zeigte; ich bin den
vorgegebenen Göttersprüchen gefolgt. Es sind nur mit Mühe sieben übrig, von Wellen und vom
Ostwind heftig mitgenommen. Ich selbst durchwandere unwissend und bedürftig die Wüsten Libyens
– aus Europa und Asien ausgestoßen.“ Und Venus ertrug es nicht, dass er noch mehr klagte und
unterbrach ihn mitten in seinem Schmerz: „Wer auch immer du bist, ich glaube nicht, dass du, als
jemand, der den Göttern verhasst ist, den Lebensatem nutzt, der du zur Stadt Tyros gekommen bist.
Breche nur auf, und gelange von hier an die Schwelle der Königin, (390) denn ich melde dir, dass
deine Kameraden zurückgekehrt sind, deine Flotte zurückgebracht und in Sicherheit gen Norden
11
getrieben wurde, wenn mich meine Eltern nicht umsonst die Kunst der Vogelschau gelehrt haben.
Erblicke die zwölf fröhlichen Schwäne in einem Zug, die Jupiters Vogel, der durch die
Himmelsgegenden geglitten ist und sie vom offenen Himmel her aufscheuchte. Nun fassen sie
entweder den Boden in langer Reihe oder sie scheinen auf den schon lange ergriffenen Boden
herunterzublicken. Wie jene zurückgekehrt mit rauschenden Flügeln spielen und im Schwarm die
Pole umgürteten und gesungen haben, so liefen nicht anders deine Schiffe und die Mannschaft
deiner Leute (400) entweder in einen Hafen ein, oder fahren mit vollen Segeln der Mündung
entgegen. Breche nur auf, und wohin dich die Straße führt, dahin lenke deinen Schritt.“
So sprach sie, und während sie sich abwendete, erstrahlte ihr rötlicher Nacken, und der göttliche
Duft ihrer ambrosischen Haare wehte aus ihrem Scheitel, ihr Kleid ergoss sich tief bis zu ihren Füßen
und durch ihren Gang war sie als wahrhaftige Göttin zu erkennen. Jener folgte seiner flüchtenden
Mutter, sobald er sie erkannt hatte, mit folgenden Worten: „Wieso spielst auch du, Grausame, durch
so viele Trugbilder mit deinem Sohn? Warum ist es nicht gestattet deine Rechte mit meiner Rechten
zu verbinden, oder wahre Dinge zu hören und zu sagen?“
(410) Mit derartigen Fragen klagte er sie an und lenkte den Schritt zu den Stadtmauern Karthagos.
Aber Venus umgab die dahin Schreitenden mit einem dunklen Nebel; die Göttin umgoss sie ringsum
mit einer dicken Umhüllung aus Wolken, damit sie niemand erkennen, damit sie niemand berühren
oder aufzuhalten versuchen, oder sie nach den Gründen ihres Kommens fragen konnte. Sie selbst
entschwand nach Paphos durch die Lüfte und besuchte ihre glücklichen Wohnsitze, wo für jene ein
Tempel steht, und hundert Altäre mit sabäischem Weihrauch glühen und nach frischen
Blumengewinden duften.
Inzwischen durcheilten sie den Weg, wie der Pfad ihn wies. Und schon stiegen sie auf einen Hügel,
der am höchsten über die Stadt (420) ragte und von oben den Blick auf die gegenüberliegenden
Burgen freigab. Aeneas bewunderte den Riesenbau, einst Hütten, er bewunderte die Tore, den Lärm
und das Straßenpflaster. Mit glühendem Eifer stehen die Tyrier bereit: Ein Teil zieht die Mauern
hoch, lässt die Burg ausbauen und wälzt mit den bloßen Händen die Steine hinauf, ein anderer Teil
wählte sich einen Platz für sein Haus und umschloss ihn mit einer Furche. Sie wählen Recht, Ämter
und den heiligen Senat aus. Hier gruben welche einen Hafen aus, dort legten andere die hohen
Fundamente eines Theaters an, sie hauten gewaltige Säulen aus Felsen, die aufragende Zierde der
zukünftigen Bühnen: (430) Ganz wie die Arbeit Anfang Sommer die Bienen unter der Sonne über die
blühenden Felder treibt, wenn sie die ausgewachsene Brut ihres Stammes hinausführen oder wenn
sie sich mit flüssigem Honig vollstopfen und die Waben mit süßem Nektar ausfüllen, oder wenn sie
die Last der ankommenden Bienen aufnehmen, oder wenn die Drohnen, nachdem sie einen Zug
12
gebildet haben, das träge Vieh von den Bienenkörben abhalten: Die Arbeit braust, und der duftende
Honig riecht nach Thymian. „Oh ihr Glücklichen, deren Mauern sich schon erheben!“ , sagte Aeneas
und bewunderte die Dächer der Stadt. Er begab sich (440) mitten hinein, umgeben von Nebel –
sonderbar das zu sagen – mischte sich unter die Männer und wurde von niemandem erkannt. Mitten
in der Stadt befand sich ein Hain, äußerst reich an Schatten, wo zum ersten mal die von Wellen und
einem Wirbelsturm hin und her geworfenen Punier ein Bildnis ausgruben, dass ihnen die
Götterkönigin Iuno zeigte – einen Kopf eines energischen Pferdes. Denn so würde es sein: Ein im
Krieg herausragendes Volk, das leicht über die Jahrhunderte sein Leben meisterte. Hier gründete die
Sidonierin Dido der Iuno einen gewaltigen Tempel, reich an Gaben und an göttlichem Willen der
Göttin, dem sich die ehernen Schwellen in Abstufungen erhoben, er hatte erzumschlungene Balken
und die Türflügel knarrten in ihren erzbeschlagenen Eingängen. (450) In diesem Hain besänftige zum
ersten Mal die sich zeigende neue Sachlage die Furcht, hier wagte Aeneas zum ersten Mal auf
Rettung zu hoffen und in den üblen Umständen zuversichtlicher zu sein. Denn während er unterhalb
des gewaltigen Tempels die Details musterte, als er auf die Königin wartete, während er bewunderte,
welches Glück der Stadt beschieden ist, und die Tätigkeiten der Künstler untereinander, sowie die
Mühe der Arbeiten, sah er in Reihenfolge die trojanischen Kämpfe, Kriege, die durch ihren Ruhm
bereits auf dem ganzen Erdkreis verbreitet waren, er sah die Atriden und Priamus, sowie den
Achilles, der gegen beide kämpfte. Er machte Halt und sprach weinend: „Welcher Ort, (460) welche
Region auf der Erde war schon nicht voll von unseren Mühen, Achates? Siehe, Priamus! Auch hier hat
er seine Belohnungen für seinen Ruhm, es gibt auch hier Tränen über die Vorkommnisse und die
menschlichen Angelegenheiten berühren auch hier den Geist. Zerstreue die Furcht; dieser Ruhm
möge dir etwas Hoffnung bringen.“ So sprach er und weidete sein Gemüt an den gewaltigen
Gemälden, während er viel seufzte und sein Gesicht mit einem großen Tränenfluss benetzte. Denn er
sah, wie die kämpfenden Griechen um Pergamon an dieser Stelle flohen, wie sie die trojanische
Jungmannschaft unter Druck setzte, hier die Phryger, denen der kammtragende Achilles auf dem
Wagen hart zusetzte. Nicht weit von hier (470) erkannte er unter Tränen die Zelte des Rhesus mit
ihren schneeweißen Leinen, die zur Zeit des ersten Schlafes verraten worden waren und die der
blutrünstige Tydides in einem Blutbad verwüstete, er wendete die hitzigen Pferde zu den Lager bevor
sie das Futter Trojas kosten und aus dem Xanthus trinken konnten. An einer anderen Stelle sah er
den flüchtenden Troilus, nachdem er seine Waffen verloren hatte, den unglücklichen Jungen und
dem Achilles ungleich im Kampf, von Pferden wurde er mitgerissen, er haftete auf dem Rücken
liegend in einem leeren Streitwagen, während er dennoch die Zügel hielt. Ihm wurden sein Nacken
und seine Haare über die Erde geschliffen und mit seinem umgedrehten Speer wurde in den Staub
gezeichnet. Inzwischen gingen trojanische Frauen, mit gelösten (480) Haaren zum Tempel der
zürnenden Pallas und brachten demütig ein Obergewand dar, nachdem die traurigen ihre Brüste mit
13
den Handflächen geschlagen hatten. Die Göttin hielt abgewandt die Augen gen Boden gerichtet.
Dreimal hatte Achilles Hector um die trjoanischen Mauern geschleift und versuchte dann dessen
toten Körper für Gold zu verkaufen. Dann stieß Aeneas aber einen gewaltigen Seufzer aus seiner
tiefen Brust hervor, als er die geraubten Rüstungen, den Streitwagen, den Körper seines Freundes
selbst sah und Priamus, der die unbewaffneten Hände ausstreckte. Er erkannte auch sich selbst
vermengt unter den führenden Achivern, die östliche Schlachtreihe und die Waffen des schwarzen
Memnon. (490) Es führte die Heereszüge der Amazonen mit ihren halbmondförmigen Schilden, die
tobende Penthesilea und glänzte inmitten der Soldatinnen, während sie den goldenen Gürtel unter
ihrer entblößten Brust trug, die Kriegerin, und sie wagte es als junge Frau sich mit Männern zu
messen.
Während diese Dinge dem Dadaner Aeneas bewundernswert schienen, während er staunte und
einzig in der Betrachtung versunken war, schritt die Königin, an Aussehen äußerst schön, zum
Tempel, dicht umdrängt von einer Schar junger Leute. Wie an den Küsten des Eurotas oder über den
Bergrücken des Cynthus Diana die Reigen ausbildete, wie tausend Bergnymphen, die ihr folgten,
(500) von hier und von da zusammengeballt wurden; Jene trug einen Kescher auf ihrer Schulter, und
während sie einherschritt, überragte sie alle Göttinnen (Freuden durchbebten die stille Brust der
Latona): Genauso war Dido, als solche begab sich die Glückliche mitten in die Schar, eifrig bedacht
auf das Werk der zukünftigen Herrschaft. Dann bei dem Portal der Göttin, mitten unter dem
Deckengewölbe des Tempels, umgeben von Waffen ließ sie sich auf einen hohen Thron stützend
nieder. Sie gab den Männern Recht und Gesetz, sie machte die Mühe der anstehenden Arbeiten
durch gerechte Verteilung für alle gleich, oder leitete sie von einem Los ab, als plötzlich Aeneas sah,
dass (510) Antheus, Sergestus und der tapfere Cloanthus sich dem großen Zusammenlauf näherten,
sowie andere der Teucrer, die der schwarze Wirbelsturm auf dem Meer zerstreut und an komplett
andere Küsten weggerissen hatte. Er selbst staunte und zugleich war Achates durch Freude und
Furcht niedergeschlagen; begierig brannten sie darauf sich die Hände zu reichen. Doch die unklare
Sachlage beunruhigte die Gemüter. Sie verbargen sich und beobachteten von einer hohlen Wolke
umgeben, welches Schicksal der Männer beschieden war, an welcher Küste sie die Flotte verlassen
hatten und wieso sie gekommen waren. Denn von allen Schiffen auserlesen gingen sie und baten um
Gunst und eilten aufgrund des Lärms zum Tempel. (520) Nachdem sie eingetreten waren und ihnen
die Möglichkeit gegeben wurde, öffentlich zu sprechen, fing Ilioneus, der Ranghöchste, mit ruhigem
Gemüt an: „Oh Königin, der dir Jupiter die Möglichkeit gegeben hat, eine neue Stadt zu gründen und
durch Gerechtigkeit überhebliche Völker zu zügeln, wir unglückliche Trojaner, die wir von Stürmen
über alle Meere getragen wurden, bitten dich, halte unsägliche Feuer von unseren Schiffen fern,
verschone das pflichtbewusste Volk und erblicke näher unsere Lage. Weder sind wir gekommen, um
14
mit dem Schwert eure libyschen Penaten zu zerstören, noch die geraubte Beute gen Küste zu
wenden. Weder schwebt den Besiegten diese Gewalt vor, noch eine so große Überheblichkeit. (530)
Es gibt einen Ort, den die Griechen bei seinem Beinamen Hesperien nennen, ein altes Land, mächtig
im Hinblick auf seine Waffen und auf die Fruchtbarkeit seines Erdbodens. Diese bestellten die
Oenotrer. Nun, so geht das Gerücht, hätten die Nachfahren den Volksstamm Italien genannt,
ausgehend vom Namen des Führers. Und so verlief unsere Fahrt: Als sich plötzlich der Orion, reich an
Regenflut, erhob und uns auf unsichtbare Untiefen trug und uns vollkommend mit dreisten
Südwinden und einer uns überragenden Salzflut über dem ganzen Meer und über unwegsame Felsen
zerstreute, sind wir wenige hierher an eure Gestade geschwommen. Was ist dies für eine Gattung
von Menschen? Oder welches so barbarische Vaterland (540) erlaubt diesen Brauch? Die
Gastfreundschaft des Strandes wurde uns verweigert. Sie griffen uns an und verboten uns auf dem
äußersten Land zu stehen. Wenn ihr die Menschenart und menschliche Waffen verachtet, dann
macht euch gefasst darauf, dass sich die Götter an Recht und Unrecht erinnern. Uns war Aeneas ein
König und weder war ein anderer gerechter im Hinblick auf die Pflichterfüllung, noch im Krieg und im
Hinblick auf Waffenführung größer als er. Wenn die Fata diesen Mann beschützen, wenn er sich an
der Himmelsluft labt und weiterhin nicht im grauenhaften Schattenreich weilt, gibt es für uns keine
Furcht. Und es soll dich nicht reuen um Gefälligkeit als erste wettgeeifert zu haben. Es gibt auch
Städte (550) und Waffen in den sizilianischen Gebieten und den berühmten Acestes, von
trojanischem Blut abstammend. Es möge erlaubt sein, die heftig erschütterte Flotte den Winden zu
entziehen, und in den Wäldern Balken anzupassen und Ruder glatt zu streifen, damit wir, nachdem
wir Kameraden und König wieder aufgenommen haben, glücklich nach Italien und Latium eilen
können, wenn es uns vergönnt ist, nach Italien zu ziehen. Wenn aber unser Glück verbraucht ist, und
dich, bester Vater der Teucrer, das libysche Meer festhält und keine Hoffnung mehr auf Iulus bleibt,
dann lasst uns wenigstens zum Meer Siziliens, zu den von uns vorbereiteten Wohnsitzen, von denen
wir hier her gefahren sind und zu dem König Acestes eilen.“ Solches sagte Ilioneus. Alle (560)
Dardaniden murmelten gleichzeitig Beifall. Dann erklärte Dido kurz, mit gesenktem Blick, feierlich:
„Löst die Furcht aus eurem Herzen, Teucrer, entfernt die Sorgen. Eine beschwerliche Sachlage und
die Neuheit meiner Herrschaft zwingen mich, derartiges zu unternehmen und mit einer breiten
Polizei die Grenzen zu schützen. Wer würde nicht das Geschlecht des Aeneaden kennen, wer nicht
die trojanische Stadt, die Tugenden, die Männer, oder die Feuer des so großen Krieges? Wir Punier
führen nicht so abgestumpfte Gemüter und nicht so sehr abgewandt von der tyrischen Stadt
verbindet der Sonnengott seine Pferde. Sei es, dass ihr das große Hesperien und die saturnischen
Felder, (570) sei es, dass ihr den König der erycischen Gebiete, Acestes, wünscht, unter meiner Hilfe
werde ich euch als sichere Leute entlassen, durch meine Streitmächte werde ich euch helfen. Ihr
wollt euch auch in diesem Königreich auf gleicher Ebene mit mir niederlassen – die Stadt, die ich
15
errichte, ist eure! Zieht eure Schiffe an Land! Von mir wird kein Unterschied zwischen Trojer und
Tyrier gemacht werden. Und wenn doch nur euer König selbst, Aeneas, getrieben vom gleichen
Südwind, hier wäre! Ich will freilich zuverlässige Leute an die Küsten schicken, und werde befehlen,
die äußersten Gebiete Libyens zu mustern, ob er in irgendwelchen Wäldern oder Städte umherirrt.“
Durch diese Worte ermutigt brannten sowohl der tapfere Achates (580) als auch der Vater Aeneas
schon lange darauf, aus der Wolke auszubrechen. Als erster treibt Achates Aeneas an: „Sohn der
Göttin, welche Meinung erhebt sich nun in deinem Gemüt? Du siehst, wie alles in Sicherheit ist: Die
Flotte und die Kameraden wurden empfangen. Ein einziger Mann fehlt, den wir selbst mitten in der
Flut untergehen sahen, die übrigen Dinge stimmen mit den Worten deiner Mutter überein.“
Kaum hatte er das gesagt, als plötzlich die sie umgebende Wolke aufriss und sich in klare Luft klärte.
Übrig blieb Aeneas und strahlte im hellen Licht, im Hinblick auf sein Gesicht und auf seine Schultern
war er einem Gott gleich. Denn die Mutter selbst hatte dem Sohn glänzendes (590) Haar und das
rosige Licht der Jugend, sowie seinen Augen glückliche Anmut verliehen, indem sie ihn angehaucht
hatte. So geben Künstlerhände dem Elfenbein Würde oder wenn Silber oder parischer Marmor von
Elektrum umgeben werden. Dann sprach er so die Königin an und sagte plötzlich allen unvermutet:
„Ich, den ihr sucht, bin zugegen, der Trojaner Aeneas, den libyschen Wellen entrissen. Oh du einzige,
welche die entsetzlichen Mühen der Trojaner beklagt hat, die du uns, die Reste der Danaer, die wir
schon durch alle Schicksalsschläge des Landes und des Meeres erschöpft sind und die wir an allem
Mangel leiden, (600) in die Stadt, in deinen Palast aufnimmst – Dido, dir gebührend zu danken
vermögen wir nicht, auch nicht was noch irgendwo vom Dardanervolk übrig ist, das über dem großen
Erdkreis zerstreut ist. Die Götter mögen dir würdige Belohnungen bringen, wenn irgendwelche
göttliche Willen pflichtbewusste Menschen beachten, wenn es irgendwo irgendeine Gerechtigkeit
gibt und ein Bewusstsein für das Gute. Welche so glückliche Zeitalter haben dich hervorgebracht?
Welche so großen Eltern haben eine solche Tochter gezeugt? Solange die Flüsse in die Meere fließen
werden, solange in den Gebirgen die Schatten die Wölbungen mustern werden und der Pol sich an
den Gestirnen weiden wird, wird stets deine Ehre, dein Name und dein Lob bestehen bleiben, (610)
welche Ländereien mich auch immer rufen.“
So sprach er und reichte seine Rechte dem Freund Ilioneus, die Linke Serestus, danach den anderen:
dem tapferen Gyas und dem tapferen Cloanthus. Die Sidonierin Dido staunte anfangs über den
Anblick, dann über den so großen Schicksalsschlag des Mannes, und sprach laut folgendes: „Welches
Geschick verfolgt dich, Sohn einer Göttin, durch so viele Gefahren? Welche Gewalt lässt dich an so
unwirtlichen Küsten landen? Bist du etwa jener Aeneas, den die gütige Venus dem Dardaner
Anchises an den Wogen des phrygischen Simois geboren hat? Und ich erinnere mich freilich an den
16
Griechen Teucer, (620) der aus seiner Heimat vertrieben wurde und nach Sidon kam, wo er ein neues
Königreich suchte, mit Unterstützung des Belus. Dann verwüstete mein Vater Belus das fruchtbare
Zypern und hielt es als Sieger unter seiner Herrschaft. Schon seit dieser Zeit sind mir das Unglück der
Stadt Troja, sowie dein Name und die pelasgischen Könige bekannt. Er selbst brachte den
trojanischen Feinden außerordentliches Lob dar, und er wollte, dass er vom alten Stamm der
Trojaner abstammte. Wohlan, oh ihr jungen Männer, tretet in unseren Palast ein. Auch ich wurde
von Fortuna durch viele ähnliche Mühen geworfen und sie wollte, dass ich mich endlich auf diesem
Land niederlasse. (630) Mir ist das Übel nicht unbekannt und ich lerne jetzt den Unglücklichen
beizustehen.“
Dies sprach sie. Sie führte Aeneas in ihren Königspalast, gleichzeitig verkündete sie göttliche
Ehrungen in den Tempeln. Aber sie schickte auch für die Kameraden zwanzig Stiere an die Küste,
struppige Felle von einhundert großen Schweinen, einhundert fette Lämmer mit ihren
Mutterschafen, als Geschenke und Freude des Tages. Aber der funkelnde Palast wurde im Inneren
mit königlicher Pracht ausgestattet und inmitten des Palastes bereitete man ein Gastmahl vor: Nach
den Regeln der Kunst mit stolzer Purpurfarbe gefertigte Decken, (640) gewaltiges Silbergeschirr auf
den Tischen und mit Gold ziseliert sind die tapferen Taten der Väter: Eine äußerst lange Bilderreihe
der Ereignisse, die von so vielen Helden ab dem Beginn des Volksstammes ausgeführt wurden.
Aeneas (weil nämlich die väterliche Liebe es nicht duldete, dass sein Gemüt zur Ruhe kam) schickte
den schnellen Achates zu den Schiffen, um seinem Sohn Ascanius die vorgefallenen Dinge zu
berichten und ihn selbst zur Stadt zu führen. Jede Sorge des Vaters gehörte dem teuren Ascanius.
Darüber hinaus befahl er Geschenke zu holen, die er den trojanischen Ruinen entrissen hatte: einen
Mantel, der vor Bildnissen und Gold starrte und einen Schleier der mit safranfarbenen Schotendorn
umsäumt war, (650) den Schmuck der Argiverin Helena, den jene aus Mykene herausgetragen hatte,
als sie nach Pergamon und in eine unrechtmäßige Ehe strebte, eine bewundernswerte Gabe ihrer
Mutter Ledea; außerdem ein Zepter, das einst Ilione getragen hatte, die älteste Tochter des Priamus,
ferner eine mit Perlen verzierte Halskette, die sie an ihrem Hals getragen hatte, und schließlich die
Doppelkrone mit Edelsteinen und Gold. Folglich marschierte Achates zu den Schiffen, um diese Dinge
rasch in die Tat umzusetzen.
Doch Venus überlegte sich in ihrer Brust neue Kunstgriffe und neue Pläne, nämlich dass Cupido,
nachdem er seine Gestalt und sein Gesicht verändert hatte, als der süße Ascanius kommen und mit
seinen Gaben die liebeskranke Königin in Liebe (660) entflammen, mit seinen Küssen das Feuer in ihr
entfachen sollte. Venus fürchtete nämlich das zweifelhafte Königshaus und die doppelzüngigen
Tyrier. Es quält sie die trotzige Iuno und in der Nacht kehrte die Sorge zurück. Also sprach sie den
geflügelten Amor mit diesen Worten an: „Mein Sohn, meine Kräfte, meine große Macht, mein
17
einziger Sohn, der du die Waffen des höchsten Vaters Iupiter, die Typhon zum Verhängnis wurden,
verachtest: Ich flüchte mich zu dir und fordere demütig deine göttliche Wirkkraft an. Dass dein
Bruder Aeneas auf dem Meer um alle Küsten durch den Hass der ungerechten Iuno verschlagen wird
ist dir bekannt, und du hast oft unseren Schmerz geteilt. (670) Über diesen herrscht nun die
Phönizerin Dido und hält ihn mit schmeichelnden Worten auf. Ich aber habe Bedenken, wohin sich
die Gastfreundschaft der Iuno wendet. Iuno wird in einem so entscheidenden Augenblick nicht auf
sich warten lassen. Deshalb sinne ich darauf, die Königin zuvor mit einer List zu fesseln und sie mit
einer Liebesglut zu umgeben, nicht dass sie ihre Meinung durch göttliche Wirkkraft ändert, sondern
dass sie mit mir von der großen Liebe zu Aeneas beherrscht wird. Vernimm nun meine Überlegung,
auf welche Weise du dies machen kannst: Der königliche Junge bereitet sich auf den Ruf seines
teuren Vaters vor zur sidonischen Stadt zu gehen – das ist meine größte Sorge – und er bringt als
Gaben mit, was von Troja aus dem Meer und aus den Flammen übrig blieb: (680) Diesen will ich im
Schlaf betäubt auf der hohen Insel Cythera oder auf dem Berg Idalium bei meinem geweihten
Wohnsitz verwahren, damit er nicht etwa von der List Wind bekommt, oder ihr auf halben Wege
begegnen kann. Täusche du sein Aussehen eine Nacht und nicht länger durch eine List vor und trage
als Junge die bekannten Gesichtszüge des Jungen Ascanius, damit du, wenn dich die äußerst fröhliche
Dido auf ihren Schoß zwischen den königlichen Speisen und dem Wein nehmen und dich umarmen
und dir süße Küsse aufdrücken wird, ihr das verborgene Liebesfeuer einhauchen und sie mit
Liebesgift täuschen kannst.“
Amor gehorchte den Worten seiner lieben Mutter, (690) legte seine Flügel ab und schritt freudig in
der Gangart des Iulus einher. Aber Venus spülte dem Ascanius sanfte Ruhe durch die Glieder und die
Göttin nahm den warmgehaltenen Ascanius in ihrem Schoß mit in die hohen Haine Idaliens, wo der
sanfte Majoran ihn mit seinen Blüten anwehte und mit seinem süßen Schatten umgab.
Und schon ging Cupido während er dem Gesagten gehorchte und gab den Tyriern die königlichen
Geschenke, glücklich über seinen Führer Achates. Als er kam, hatte sich die Königin auf erhabenen
Decken in der Mitte eines goldenen Sofas niedergelassen. Schon hatten sich der Vater Aeneas und
die trojanische Jungmannschaft (700) getroffen und man legte sich auf einer ausgebreiteten
Purpurdecke nieder. Diener gaben für die Hände Wasser, holten aus Körbchen Brot hervor und
brachten Handtücher mit kurzem Flor. Im Inneren waren fünfzig Dienerinnen, die sich um die lange
Abfolge der Speisen kümmerten, sowie darum, die heimischen Herde heiß zu halten. Es gab
einhundert andere Dienerinnen und ebenso viele Diener gleichen Alters, die die Tische mit Speisen
beschwerten und Becher aufstellten. Nicht weniger kamen auch die Tyrier zahlreich über die
glücklichen Schwellen zusammen und legten sich auf Befehl auf buntbemalte Polster. Sie bewundern
die Gaben des Aeneas, sie bewundern Iulus und die Gesichtszüge des (710) leidenschaftlichen
18
Gottes, die geheuchelten Worte, das lange Obergewand und den mit safranfarbenen Schotendorn
bemalten Schleier. Vor allem die unglückliche Phönizierin, dem zukünftigen Unheil ergeben, konnte
ihr Herz nicht sättigen, entbrannte beim Anblick und war sowohl durch den Jungen als auch durch die
Gaben berührt. Jener, sobald er in Aeneas Umarmung und an seinem Hals hing und die große Liebe
seines falschen Vaters ausfüllte, eilte er zur Königin. Jene hing mit ihren Augen und mit ihrem ganzen
Herzen an ihm. Ab und an wärmte sie ihn auf ihrem Schoß – die unwissende Dido – welch großer
Gott sich auf der Unglücklichen niederließ! Und jener, der an seine (720) Mutter Venus dachte, fing
allmählich an, ihren toten Mann Sychaeus aus dem Herzen zu tilgen und versuchte mit lebendiger
Liebe Vorkehrungen gegen ihre schon lange erstarrten Gefühle und ihr Herz zu treffen, das nicht
mehr gewohnt war zu lieben. Nachdem die erste Ruhe bei den Speisen eingekehrt war, die Tische
entfernt wurden, wurden große Mischkrüge aufgestellt und der Wein umkränzt. Es entstand Lärm im
Palast; die Leute ließen ihre Stimme durch die weiten Vorhallen erschallen; An dem goldenen Getäfel
der Zimmerdecken hingen brennende Leuchter herunter und die Kerzen besiegten mit ihren
Flammen die Nacht. Hier forderte die Königin eine durch Edelsteine und Gold schwere Opferschale
und füllte sie mit unvermischtem Wein, wie es Belus und all (730) seine Nachfolger gewohnt waren.
Dann herrschte Stille im Palast.
„Jupiter, denn sie sagen, du gäbest den Gastfreunden Rechte, mögest du wollen, dass dieser Tag für
die Tyrier und die, die von Troja aufgebrochen sind, ein glücklicher Tag wird und dass wir an unsere
Nachkommen denken. Es möge Bacchus hier sein, der Spender von Frohsinn und die gute Iuno. Auch
ihr, oh Tyrier, feiert gewogen die Zusammenkunft.“ Das sagte Dido und goss ein Trankopfer auf den
Tisch und nachdem sie das getan hatte, berührte sie es als Erste nur mit ihrem Mund, dann gab sie es
dem Bitias während sie ihn schalt; jener trank die schäumende Schale unverdrossen aus, trank in
vollen Zügen und (740) nach ihm andere vornehme Männer. Iopas spielte mit langem, wallendem
Haar auf einer vergoldeten Zither, den der äußerst erhabene Atlas gelehrt hatte. Er sang über den
wandernden Mond und über die Mühen der Sonne, woher das Menschengeschlecht und das Vieh
kam, woher der Regen und die Feuer kamen, er sang von Arcturus, den regnerischen Hyaden, und
den beiden Bärensternbildern; warum die Wintersonne sich so sehr beeilte in den Ozean
einzutauchen, oder welche Verzögerung den späten Sommernächten im Wege stand. Der Tyrier
wiederholten den Beifall, die Trojaner folgten ihrem Beispiel. Und auch die unglückliche Dido zog die
Nacht mit verschiedenen Gesprächen in die Länge und trank langwährende Liebe, während sie (750)
vieles über Priamus fragte, vieles über Hector, bald zu welcher Streitmacht der Sohn der Aurora
gekommen war, bald wie die Pferde des Diomedes gewesen waren, bald wie groß Achilles gewesen
war. „Wohlan, Gast, erzähle mir von Anfang an von den Überfällen der Danaer, vom Schicksal der
19
deinigen und von deinen Irrfahrten, denn dich Umherirrenden trägt schon der siebte Sommer über
alle Länder und Meere.“
Buch 2
Alle verstummten und ihre Mienen waren gespannt. Dann fing der Vater Aeneas von seinem hohen
Polster so an zu sprechen: „Du befiehlst, unsäglichen Schmerz wiederaufzugreifen, wie die Danaer
die trojanischen Streitkräfte, die ich äußerst unglücklich selbst gesehen habe und bei welchen ich
eine große Rolle gespielt habe, sowie das beklagenswerte Königreich von Grund auf zerstörten. Wer
von den Myrmidonen, den Dolopen oder wer von dem hartherzigen Soldaten Odysseus könnte sich
von den Tränen fern halten, wenn er derartiges erzählen würde? Und schon geht die feuchte Nacht
am Himmel zu Ende und die untergehenden Sterne raten zum Schlaf. (10) Aber wenn das Verlangen
unsere Schicksalsschläge kennen zu lernen und in knapper Weise von der letzten Mühe Trojas zu
hören so groß ist, fange ich an zu berichten, obwohl mein Gemüt davor schaudert, sich an die Dinge
zu erinnern und vor lauter Trauer davon zurückweicht. Vom Krieg gebrochen und durch
Göttersprüche im Laufe schon so vieler Jahre vertrieben, bauten die Führer der Danaer nach der
göttlichen Kunst der Pallas ein Pferd, hoch wie ein Berg. Sie bedeckten die Seitenwände mit gesägten
Tannenbrettern. Sie gaben vor, es sei eine Art Gelübde für ihre Heimkehr. Dieses Gerücht machte
jedenfalls die Runde. Dort schlossen sie, nachdem sie sie ausgelost haben, heimlich ausgewählte
Soldaten in den dunklen Bauch ein und sie füllten die (20) gewaltigen Höhlungen sowie den Bauch
des Pferdes völlig mit bewaffneten Soldaten. In Sichtweite ist Tenedos, durch ihren Ruf eine sehr
bekannte Insel, reich an Schätzen als noch Priamus die Herrschaft inne hatte, nun aber nur noch eine
Bucht und ein recht unsicherer Ankerplatz. Hierhin sind sie vorgerückt und haben sich an der
einsamen Küste verborgen. Wir aber rechneten damit, das sie weggegangen seien und mit dem Wind
nach Mykene geeilt seien. Deshalb löste sich ganz Troja aus langwährender Trauer. Die Tore wurden
weit geöffnet, es gefiel zu dem dorischen Lager zu gehen und die verlassenen Orte sowie die
zurückgelassene Küste zu sehen. Hier befand sich die Mannschaft der Dolopen, hier zeltete der wilde
Achilles. Hier war der Ort (30) für die Flotten, hier pflegten sie in Kampfreihe zu kämpfen. Ein Teil
staunte über das unheilvolle Geschenk der unvermählten Minverva und bewunderte die Masse des
Pferdes. Als erster forderte Thymoetes dazu auf, dass es in das Gemäuer geführt und auf die Burg
gestellt wird, sei es aus List, sei es weil das bereits die Göttersprüche über Troja so mit sich brachten.
Aber Capys und diejenigen, die einen besseren Geistesgedanken hatten, befahlen die Falle und das
verdächtige Geschenk der Danaer entweder ins Meer herabzustürzen oder es mit einem darunter
gelegten Brand zu verbrennen, oder aber die Höhlungen des Bauchs zu durchbohren und die
Schlupfwinkel zu untersuchen. Das unsichere Volk wurde in zwei unterschiedliche Bemühungen
gespalten. (40) Als erster, noch vor allen anderen, rannte der eifrige Laocoon von der sehr hohen
20
Burg herunter, von einer großen Schar begleitet, und sagte schon aus der Ferne: „Oh ihr
unglücklichen Bürger! Welch große Unvernunft! Glaubt ihr, dass der Feind abgereist ist? Oder glaubt
ihr, dass irgendeine Gabe der Danaer frei von List ist? Ist euch Odysseus so bekannt? Entweder
verstecken sich in diesem Holz Achiver, darin eingeschlossen, oder dieses Bauwerk wurde zum
Angriff auf unsere Mauern gebaut und es soll in unsere Häuser hineinblicken oder von oben her auf
die Stadt kommen, oder es verbirgt sich ein anderer Irrtum. Traut nicht dem Pferd, Teucrer! Was
auch immer dies ist, ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen.“
(50) So sprach er und mit starken Kräften schleuderte er eine gewaltige Lanze in die Seite des Pferdes
und dem Gefüge in die gewölbte Bauchhöhle des wilden Tiers. Jene blieb zitternd stecken, und
nachdem der Bauch erschüttert worden war, ertönten die hohlen Gewölbe und gaben ein Stöhnen
von sich. Und wenn die Göttersprüche, wenn der Verstand nicht so linkisch gewesen wäre, hätte er
veranlasst, dass das argolische Versteck mit dem Schwert zu verunstalten und Troja würde jetzt noch
stehen, und du hohe Burg des Priamus, würdest jetzt noch sein. Sieh, einen jungen Mann, dem die
Hände auf den Rücken gefesselt waren, zogen dardanische Hirten unter großem Geschrei zum König.
Dieser Unbekannte hatte sich den Kommenden freiwillig ausgeliefert, damit er (60) zu dem selbigen
Fehler anstiftete und Troja den Achivern eröffnen konnte. Dabei vertraute er auf seinen Mut und er
war zu beidem bereit: Sei es, dass er die List in die Tat umsetzte, sei es dass er einem sicheren Tod
entgegen ging. Nachdem ihn die trojanische Jugend von allen Seiten umgeben hatte, vor lauter Eifer
ihn zu sehen, stürzte sie los und wetteiferte, den Ergriffenen zu verspotten. Vernimm nun die List der
Danaer und lerne sie alle anhand eines einzigen Verbrechens kennen. Denn sobald er bestürzt mitten
im Blickfeld stehen blieb, unbewaffnet und mit seinen Augen um sich herum die phrygischen
Heereszüge erblickte, sagte er: „Weh, welche Erde, welches Meer kann mich jetzt noch (70)
empfangen? Oder was bleibt mir Unglücklichem schließlich noch übrig, für den bei den Danaern
nirgendwo ein Platz frei ist und die mir feindlich gesinnten Dardaner blutige Strafen für mich
fordern? Durch dieses Jammern wurden die Gemüter umgestimmt und jeder Ansturm auf ihn
unterdrückt. Wir forderten ihn auf, zu sagen, aus welchem Blut er entsprossen ist, und was er
vorbringen wolle. Er sollte erzählen, welche Zuversicht er als Gefangener hätte.
„Ich werde dir freilich, König, alles wahrheitsgemäß gestehen, was auch immer geschehen wird, und
nicht leugnen, dass ich vom argolischen Volksstamm abstamme. Dies zuerst: Wenn Fortuna aus Sinon
einen unglücklichen Mann (80) gemacht hat, wird die boshafte nicht auch noch einen Windbeutel
und einen Lügner aus ihm machen. Vielleicht ist dir durch Klatsch und Tratsch irgendein Name des
Palamedes, Nachkomme des Belus, zu Ohren gekommen und sein durch Gerüchte berühmter Ruhm
– ein Mann, den die Pelasger unschuldig, wegen einer falschen Anschuldigung und einer
entsetzlichen Anzeige, nur weil er sein Veto gegen die Kriege einlegte, in den Tod schickten und nun
21
bei Tageslicht vergeblich um ihn trauern. Jenem schickte mein armer Vater mich, jung an Jahren, als
Begleiter und Blutsverwandter in den Krieg. Solange er noch unversehrt im Hinblick auf seine
Herrschaft Bestand hatte und im Kriegsrat der Könige noch in Ansehen stand, (90) führte auch ich
noch irgendeinen Namen und eine Ehre. Nachdem er aus dem Reich des Lichts aufgrund der
Missgunst des ränkevollen Odysseus gewichen war (ich sage nichts Unbekanntes), schleppte ich mein
Leben niedergeschlagen in Finsternis und in Trauer hin und entrüstete mich über den
Schicksalsschlag meines unschuldigen Freundes. Ich Wahnsinniger schwieg nicht und versprach mich
zu rächen, falls es der Zufall gestattete, falls ich als Sieger zu den argischen Vätern zurückkehren
würde und ich erregte mit diesen Worten bitteren Hass. Von da an begann ich im Übel zu versinken,
von da an erschreckte mich Odysseus mit immer neuen Anschuldigungen, von da an verbreitete er
beim Volk zweifelhafte Äußerungen und suchte bewusst nach Waffen gegen mich. (100) Denn er kam
nicht zur Ruhe, solange er mit Hilfe seines Gehilfen Calchas… Aber wozu freilich rolle ich diese
unangenehmen Dinge vergeblich wieder auf, wozu halte ich mich damit auf? Wenn ihr denkt, dass
alle Achiver vom gleichen Schlag sind und dies zu hören schon genug ist, dann bestraft mich sofort!
Dies möchte der Ithaker und die Atriden würden ihn für viel Geld abkaufen.“
Dann aber brannten wir darauf zu erforschen und nach den Gründen zu fragen, unwissend von den
so großen Verbrechen und der Kunst der Pelasger. Folgendes schilderte er zitternd und sprach mit
einem heuchlerischen Gemüt: „Oft hatten die Danaer den Wunsch, nachdem sie Troja verlassen
haben würden, die Flucht einzuleiten und erschöpft aus dem langen Krieg zu scheiden. (110) Wenn
sie es doch nur getan hätten! Oft hat der raue Winter des Meeres jene eingeschlossen und der
Südwind hat sie, während sie fuhren, erschreckt. Vor allem, als schon das Pferd hier stand, mit
Ahornbrettern bedeckt, da krachten die Wolken im ganzen Äther. Besorgt schickten wir Eurypylus,
um die Orakelsprüche des Phoebus zu erfragen, und dieser brachte uns vom Heiligtum diese
traurigen Worte: „Ihr habt die Winde mit Blut und mit dem Jungfrauenmord besänftigt, als ihr,
Danaer, zum ersten Mal zu Ilions Küste gekommen seid. Mit Blut müsst ihr eure Rückkehr erkaufen
und es ist eine Seele aus Argos zu opfern.“ Sobald diese Äußerung zu den Ohren des Volkes
gedrungen ist, (120) erstarrten die Gemüter vor Schreck und eisiges Zittern lief ihnen durch das tiefe
Gebein: Wem würden die Göttersprüche dies bereiten, wen würde Apollo fordern? Hier schleppte
der Ithaker den Seher Calchas unter großem Aufruhr in die Mitte. Er forderte von ihm eine Antwort
auf die Frage, was das für göttliche Willen seien. Und schon prophezeiten mir viele ein grausames
Verbrechen des Kunsthandwerkers, und schauten verschwiegen, was da im Begriff war zu kommen.
Jener schwieg zehn Tage und weigerte sich versteckt irgendjemanden mit seinem Wort zu verraten
beziehungsweise dem Tod entgegenzustellen. Kaum wurde er letztlich unter großem Geschrei des
Ithakers getrieben, stieß er gemäß Vereinbarung die Äußerung hervor und bestimmte mich für den
22
Altar. (130) Alle stimmten zu und sie ertrugen es, dass, was ein jeder für sich fürchtete, sich zum
Verderben eines einzigen Unglücklichen wendete. Und schon war der unsägliche Tag gekommen.
Und schon wurden für mich das Ritual, sowie gesalzene Feldfrüchte vorbereitet und um meine
Schläfen Binden. Ich gestehe, ich entriss mich dem Tod und durchbrach die Fessel, ich versteckte
mich die Nacht über bei einem schlammigen See verborgen im Schilf, solange bis sie die Segeln
setzten, wenn sie sie überhaupt setzten. Weder habe ich nunmehr irgendeine Hoffnung die alte
Heimat wiederzusehen noch meine süßen Söhne, oder den Vater, den ich herbeisehne, Menschen,
die jene Griechen wegen meiner (140) Flucht vielleicht büßen lassen, und diese Schuld durch den Tod
der Unglücklichen sühnen. Daher bitte ich dich bei den Göttern, bei den göttlichen Willen, die noch
um das Wahre wissen, bei der unverletzten Treue, wenn überhaupt noch welche irgendwo den
Menschen übrig ist, erbarme dich so großer Mühen, erbarme dich einem Gemüt, dass unwürdiges
erträgt.“
Durch diese Tränen schenkten wir ihm das Leben und hatten freiwillig Mitleid. Priamus selbst befahl
als erster, dass dem Mann die Handfessel und die engen Seile abgenommen würden und sprach so
mit freundlichen Worten: „Wer auch immer du bist, vergesse nunmehr ab jetzt die verlorenen
Griechen, du wirst unser Mann sein, und berichte mir ausführlich, der ich nach diesen wahren Dingen
frage: (150) Warum stelltet ihr diese Masse von einem gewaltigen Pferd auf? Wer ist dessen
Urheber? Was erstreben sie damit? Welcher Kult ist das? Oder welcher Kriegsapparat?“ Das hatte er
gesprochen. Jener, der in der List und der pelasgischen Kunst unterrichtet worden war, erhob die
Handflächen, die er aus den Fesseln herausgezogen hatte, zu den Sternen und sagte: „Ihr ewigen
Feuer, euch und euren unverletzbaren, göttlichen Willen rufe ich als Zeuge an, euch, ihr Altäre und
entsetzlichen Schwerte, vor denen ich geflohen bin, sowie die Binden der Götter, die ich als Opfer
getragen habe: Es ist mir ein göttliches Recht das geheiligte Recht der Griechen zu lösen, es ist mir
göttliches Recht die Männer zu hassen und alles ans Tageslicht zu bringen, was sie verheimlichen,
und ich bin nicht durch irgendwelche Gesetze des Vaterlandes gehalten. (160) Mögest du, gerettetes
Troja nur bei deinen Versprechungen bleiben und mir die Treue halten, wenn ich Wahres sprechen,
wenn ich Großes vergelten werde. Die ganze Hoffnung der Danaer und die Zuversicht des
angefangenen Krieges basiert stets auf den Hilfstruppen der Pallas. Aber da hieraus der gottlose Sohn
des Tydeus und der Erfinder der Verbrechen, Odysseus sich daran machten, aus dem heiligen Tempel
das verhängnisvolle Palladium zu entreißen und nachdem die Wächter hoch oben an der Burg
getötet waren, sie das heilige Bild mit blutigen Händen ergriffen und es wagten die jungfräulichen
Binden der Göttin zu berühren, zerfloss seit jener Zeit (170) die versunkene Hoffnung der Danaer,
und zog sich zurück, die Kräfte sind zerbrochen und der Geist der Göttin abgewandt. In
unzweifelhaften Zeichen gab Tritonia dies zu erkennen: Kaum war das Abbild im Lager aufgestellt,
23
brannten zitternde Flammen aus ihren aufgerichteten Augen und der salzige Schweiß rann über die
Glieder und dreimal sprang sie selbst (sonderbar zu sagen) vom Boden, ein Rundschild und eine
zitternde Lanze tragend. Sofort pries Calchas, dass man das Meer durch eine Flucht auf die Probe
stellen müsse und dass Pergamon nicht von argolischen Waffen zerstört werden könne, wenn sie
nicht erneut Auspizien aus Argos einholen und die Gottheit zurückführen würden, die sie auf dem
Meer in ihren bauchigen Schiffen mit sich fortgerissen hätten. (180) Und nun, weil sie mit dem Wind
zum heimatlichen Mykene eilten und sich Waffen und Götter als Begleiter bereiteten, werden sie,
nachdem sie das Meer erneut durchfahren haben, unvorhergesehen hier sein. So erklärt Calchas die
Vorzeichen. Die von ihm ermahnten Männer stellten diese Pferdegestalt, die den traurigen Frevel
sühnen sollte, anstelle des Palladiums auf, für den verletzten göttlichen Willen. Trotzdem befahl
Calchas diese gewaltige Masse mit zusammengefügtem Hartholz aufzurichten und bis zum Himmel
zu Türmen, so dass sie nicht durch die Tore passe oder in eine Stadt geführt werden, oder euer Volk
unter dem alten Kult beschützen könne. Denn wenn eure Mannschaft die Gabe für Minerva
verletzten würde, dann würde dem Reich des Priamus und den Phrygern ein (190) großer Untergang
bevorstehen (Würden die Götter doch vorher gegen ihn selbst die Vorzeichen richten!). Wenn es
aber durch eure Hände in eure Stadt aufsteigen würde, dann würde sogar Asien in einem großen
Krieg zu den Stadtmauern des Pelops kommen, und diese Göttersprüche warteten auf unsere Enkel.“
Durch den derartigen Hinterhalt und die Kunst des meineidigen Sinon wurde die Sache glaubhaft und
die Männer wurden gefangen genommen durch die List und die erzwungenen Tränen, Männer, die
weder Tydeus noch der Larisser Achilles bezwungen hatten, auch nicht die zehn Jahre, nicht die
tausend Schiffe. Jetzt (200) stellte sich den Unglücklichen noch etwas anderes, noch viel
Furchtbareres entgegen und die Ahnungslosen wurden verwirrt. Laocoon, der durch das Los des
Neptun zum Priester bestimmt wurde, wollte bei den Feierlichkeiten einen gewaltigen Stier bei den
Altären schlachten. Doch sieh, ein Schlangenpaar stürzte sich von Tenedos (mir graut es das zu
berichten!) in gewaltigen Kreisbahnen durch das ruhige, tiefe Meer und sie eilten gemeinsam zur
Küste. Deren aufgerichtete Brüste und ihre blutroten Kämme ragten inmitten der Flut über die
Wogen und der übrige Teil streifte hinten über das Meer und es krümmte sich in einer Windung der
gewaltige Rücken. Es entstand Lärm während das Meer schäumte. Schon zogen sie zu den Fluren
(210) und ihre brennenden Augen waren mit Blut und Feuer unterlaufen, mit einem Zischlaut leckten
sie sich immer wieder mit zitternden Zungen ihre Mäuler. Blass vor Entsetzen über den Anblick
flohen wir in alle Richtungen. Jene eilten in einem festen Zug zu Laocoon und zuerst umschlangen
beide Schlangen die kleinen Körper der zwei Söhne, umwickelten sie und verschlangen die
unglücklichen Glieder mit einem Biss. Später ergriffen sie Laocoon selbst, der gerade zur Hilfe eilte
und Waffen trug und sie umschlungen ihn in gewaltigen Windungen. Zweimal hatten sie ihn schon in
24
der Körpermitte umschlungen, zweimal hatten sie ihre schuppigen Rücken um seinen Hals gelegt und
überragten ihn mit ihrem Kopf und ihrem hohen Nacken. (220) Jener strengte sich zugleich an, die
Knoten mit seinen Händen auseinanderzureißen. Die priesterlichen Binden waren mit Geifer und
dunklem Gift begossen und er erhebt Furcht erregende Schreie zu den Sternen. So beschaffen ist das
Geschrei, wenn ein verwundeter Stier vor dem Altar flieht und das unsicher geführte Beil von seinem
Nacken abschüttelt. Aber die beiden Schlangen flohen mit einer Bewegung ganz nach oben zum
Tempel und eilten zur Burg der wilden Göttin von Triton und verbargen sich unter den Füßen der
Göttin und unter dem Rund des Schildes. Dann aber drang neue Furcht in all die zitternden Gemüter.
Man sagte, dass der schuldige (230) Laocoon für sein Verbrechen bezahlte, der mit seiner Lanze das
heilige Hartholz des trojanischen Pferdes verletzt hatte und die verbrecherische Lanze in dessen
Rücken geschleudert hatte. Sie riefen, man müsse das Nachbild eines Pferdes in die Stadt ziehen und
den Willen der Göttin Minerva anbeten. Wir spalteten die Mauern und öffneten so die Mauern der
Stadt. Alle machten sich ans Werk und legten den Füßen Rollen zum Gleiten unter, legten Seile aus
Werg um den Hals. Der verhängnisvolle Apparat stieg voll mit Waffen über die Stadtmauern.
Ringsum besangen die Jungen und die unvermählten Mädchen das Götterbild und freuten sich, die
Taue mit ihrer Hand zu berühren. (240) Jener Apparat kam herbei und glitt drohend zur Stadtmitte.
Weh, Heimat, weh Haus der Götter, Ilion, und die durch den Krieg bekannte Stadtmauer der
Dardaner! Viermal blieb es an dieser Schwelle des Tores stehen und viermal gaben die Waffen im
Bauch ein Geräusch von sich. Dennoch drängten wir weiter ohne etwas zu merken, blind vor Raserei,
und stellten das unglückbringende Ungeheuer in die heilige Burg. Dann öffnete Cassandra sogar für
zukünftige Göttersprüche den Mund, dem auf Befehl der Göttin von den Teucrern niemals geglaubt
wurde. Wir Unglückliche, für die jener der letzte Tag war, schmückten die Heiligtümer der Götter in
der ganzen Stadt mit festlichem Laub. (250) Inzwischen drehte sich der Himmel und die Nacht brach
über dem Ozean herein, während sie sowohl das Land, als auch den Pol und die List der Myrmidonen
verhüllte. Die Teucrer, die entlang der Stadtmauer zerstreut waren, verstummten. Der Schlaf
umschlang die erschöpften Glieder. Und schon segelte die argivische Phalanx, nachdem die Schiffe in
Formation gestellt waren, von Tenedos her durch die freundliche Ruhe des schweigenden Mondes
und eilte an die bekannten Gestade, als das königliche Schiff ein Feuersignal hervorgebracht hatte.
Durch die ungünstigen Schicksalssprüche der Götter geschützt, befreite Sinon heimlich die im
Pferdebauch eingeschlossenen Danaer und öffnete das hölzerne Gefängnis. Nachdem es geöffnet
war, (260) gab es jene Männer wieder an die Luft zurück und glücklich drangen aus dem gehöhlten
Holz hervor: Thessandrus und Sthenelus, die Anführer, und der grausige Odysseus – sie glitten an
einem herabgelassenem Seil herab – sowie Acamas und Thoas, Pelides, Neoptolemos, als erster
jedoch Machaon, Menelaus und schließlich der Urheber der List: Epeos. Sie fielen in die Stadt ein, die
25
unter Schlaf und Wein begraben war. Die Wächter wurden getötet, sie nahmen ihre Kameraden
durch die geöffneten Tore auf und verbanden sie in bewusst aufgestellten Heereszügen.
Es war die Zeit, wo für die erschöpften Menschen die erste Ruhe begann und als Geschenk der Götter
schlich sie äußerst willkommen herbei. (270) Sieh, der äußerst unglückliche Hector erschien mir im
Traum vor meinen Augen und er brachte brach in einen Strom von Tränen aus, wie er einst von
Zweigespannen weggerissen wurde, schwarz vor Blut und Staub, die geschwollenen Füße waren von
Riemen durchbohrt. Weh mir, wie er war, wie sehr er verändert war von dem Hector, der mit der
Rüstung des Achilles bekleidet zurückkehrte oder die phrygischen Feuer gegen die Schiffe der Danaer
schleuderte! Er trug einen mit Dreck überzogenen Bart und Haare, die von Blut verkrustet waren; er
trug jene zahlreiche Wunden, die er ringsum der heimatlichen Stadtmauern erhalten hatte. Überdies
schien ich den Mann selbst weinend (280) anzureden und folgende traurige Äußerungen
auszudrücken: „Oh dardanisches Licht, oh treueste Hoffnung der Teucrer, welcher so große
Aufenthalt hielt dich fern? Von welchen Küsten kommst du, ersehnter Hector? Dass wir erschöpfte
Männer dich nach vielen Begräbnissen der Deinigen, nach verschiedenen Mühen der Männer und
der Stadt erblicken! Welcher unwürdige Schicksalsschlag hat deine heiteren Gesichtszüge
verunstaltet? Oder warum erkenne ich diese Wunden?“ Jener antwortete nicht, hielt sich auch nicht
mit mir, der Sinnloses fragte, auf, sondern seufzte schwer aus tiefer Brust und sagte: „Oh fliehe, Sohn
der Venus und entreiße dich diesen Flammen. (290) Der Feind hält die Stadtmauern. Troja stürzt vom
hohen Gipfel her ein. Genug wurde für die Heimat und für Priamus gegeben. Wenn Pergamon durch
eine rechte Hand hätte verteidigt werden können, dann wäre es sogar von dieser da verteidigt
worden. Troja vertraut dir die Heiligtümer und seine Penaten an. Nimm diese als Begleiter deines
Schicksals, suche für diese eine große Stadt, die du schließlich, nachdem du auf dem Meer
umhergeirrt sein wirst, gründen wirst.“ So sprach er und trug aus dem Innersten der Tempel mit
seinen eigenen Händen die Binden, die mächtige Vesta und das ewige Feuer heraus.
Unterdessen wurden die Stadtmauern mit verschiedenartiger Trauer erfüllt. Und mehr und mehr
erschallte der Lärm, obwohl das entlegene Haus meines Vaters (300) Anchises, das von Bäumen
verdeckt war, abseits lag, brach das Grauen der Waffen herein. Ich riss mich selbst aus dem Schlaf
und nachdem ich den höchsten Punkt des Hauses erklommen hatte, überragte ich die Gipfel und
stand mit aufgerichteten Ohren da. Es war, wie wenn das Feuer durch den rasenden Südwind
angetrieben in die Saat fällt, oder ein reißender Gebirgsstrom mit seinem Bergwasser Äcker
vernichtet, er vernichtet üppige Saatfelder und die Arbeiten der Rinder, ganze Wälder stürzt er um
und reißt sie mit. Der unwissende Hirte staunt vom hohen Gipfel des Felsen, wenn er das Getöse
hört. Dann aber war die falsche Glaubwürdigkeit offenkundig und die (310) List der Danaer
offenbart. Schon war das weite Haus des Deiphobus, durch Volcanus besiegt, eine Ruine, schon
26
brannte das des Nachbars Ucalegon. Die breite sigeische Brandung glänzte vor Feuer. Es erhob sich
sowohl das Geschrei der Männer als auch das Dröhnen der Tuben. Wahnsinnig ergriff ich die Waffen.
Hinlänglich überlegt war der Griff zu den Waffen nicht, aber mein Gemüt brannte darauf, für den
Krieg eine Mannschaft zusammenzubringen und gemeinsam mit den Kameraden zur Burg zu laufen.
Raserei und Zorn stürzten meinen Verstand und es kam mir in den Sinn, dass es schön sei im Krieg zu
sterben.
Sieh, Panthus ist jedoch den Waffen der Achivern entglitten, Panthus, Sohn des Othrys, Priester der
Burg und des Phoebus. Er selbst zog mit seiner Hand (320) heilige Gegenstände, die besiegten Götter
und seinen kleinen Enkel mit und marschierte auf seinem Weg wahnsinnig zu meiner Türschwelle.
„An welchem Ort fällt die Entscheidung, Panthus? In welchem Zustand erreichen wir die Burg?“
Kaum hatte ich dieses gesagt, antwortete er mit einem Seufzen dieses: „Es ist der letzte Tag und die
unabwendbare Zeit für Dardanien gekommen. Wir Trojer waren einmal, Ilion und der gewaltige
Ruhm Trojas waren einmal. Der wilde Jupiter hat alles der Stadt Argos übergeben. In der
entflammten Stadt herrschen nun die Danaer. Während das Pferd steil aufragend mitten in der Stadt
dasteht, bringt es bewaffnete Männer hervor und der Sieger Sinon verursacht uns (330) verspottend
Brände. Andere Männer sind bei den doppelt geöffneten Stadttoren, so viele Tausende, wie jemals
vom großen Mykene hergekommen waren. Andere belagern mit ihren uns entgegen gerichteten
Waffen die Wegengen. Es starrt eine gezückte Schneide mit ihrer funkelnden Spitze des Schwertes,
bereit zu töten. Kaum wagen die ersten Torwächter den Kampf und leisten im unüberschaubaren
Kriegsgetümmel Widerstand.“ Aufgrund der so beschaffenen Worte des Sohnes des Othrys und
durch den Willen der Götter stürzte ich in die Flammen und zu den Waffen, wohin mich der traurige
Erinys, wohin mich der Lärm sowie das zum Himmel erhobene Geschrei rief. Hinzu kamen als
Kameraden Rhipeus und der äußerst waffenfähige (340) Epytus, sie erschienen im Mondeslicht, und
Hypanis und Dymas schlossen sich an unserer Seite an, sowie der junge Mann Coroebus, Sohn des
Mygdon – er war in jenen Tagen zufällig nach Troja gekommen, entbrannt in wahnsinniger Liebe zu
Cassandra und als Schwiegersohn brachte er Priamus und den Phrygern Hilfe. Der Unglückliche, der
nicht auf die Weisungen seiner rasenden Verlobten gehört hatte! Nachdem ich diese dicht gedrängt
gesehen hatte, wie sie darauf brannten in die Schlacht zu ziehen, begann ich noch zu sagen: „Junge
Männer, eure Brust ist vergeblich sehr tapfer, wenn ihr das Verlangen habt kühn in die letzte (350)
Entscheidungsschlacht zu folgen, schaut welches Schicksal dem Gemeinwesen beschieden ist: Alle
Götter verließen die Heiligtümer und die übrigen Altäre, durch die einst unsere Herrschaft Bestand
hatte. Ihr kommt einer entflammten Stadt zur Hilfe. Mögen wir sterben und mitten unter den Waffen
stürzen. Die einzige Hoffnung für die Besiegten ist es, keine Hoffnung zu erhoffen.“
27
So wurde dem Mut der jungen Männer Wut zugefügt. Daraufhin schritten wir, wie räuberische Wölfe
in finsterem Nebel, welche die schändliche Gier des Magens blind heraus treibt und welche die
zurückgelassenen Welpen mit ihren trockenen Schlünden erwarten, durch die Wurfgeschosse, durch
den Feind und bahnten uns sicheren Todes einen Weg mitten in die (360) Stadt. Finstere Nacht
umschwebte uns ringsum mit einem hohlen Schatten. Wer könnte das Unglück jener Nacht, wer die
Verluste mit Worte darlegen oder mit Tränen die Mühen ausgleichen? Die alte Stadt, die über so
viele Jahre geherrscht hatte, stürzte ein. Zahlreiche leblose Körper wurden weit und breit auf den
Straßen niedergestreckt, in den Häusern und an den heiligen Schwellen der Götter. Nicht nur büßten
die Teucrer mit ihrem Blut: Manchmal kehrte den Besiegten sogar die Tugend in die Herzen zurück
und es fielen die danaischen Sieger. Überall grausame Trauer, überall Furcht und das zahlreiche Bild
des Todes. (370) Als erster der Danaer erscheint uns Androgeos, begleitet von einer großen Schar,
der uns unwissend für einen verbündeten Heereszug hielt und sprach uns freiwillig mit diesen
freundlichen Worten an: „Beeilt euch, Männer! Denn welche so späte Trägheit hält euch auf? Andere
verwüsten und plündern das brennende Pergamon. Kommt ihr nun erst von den aufragenden
Schiffen? Das sagte er und merkte sofort (es wurden nämlich keine Antworten gegeben, die
zuverlässig genug waren) dass er mitten unter Feinde gefallen ist. Er erstarrte vor Schreck und
hemmte seinen Schritt und seine Stimme. Wie jemand, der in rauhen Dornsträuchern unversehens
eine Schlange (380) erdrückt, während er sich auf den Boden stützt und plötzlich zitternd vor der sich
erhebenden und Zorn und ihren dunkelgrünen Hals auftürmenden Schlange zurückflieht, genauso
versuchte Androgeos, der durch unseren Anblick zitterte, wegzugehen. Wir stürzten auf ihn und er
wurde mit dicht aufeinanderfolgenden Waffen übergossen. Wir streckten die ortsunkundigen und
die von Furcht ergriffenen weit und breit nieder. Zunächst unterstützte uns Fortuna bei unserer
Bemühungen. Und an diesem Punkt sagte Coroebus, der durch den Erfolg und seinen Mut
ausgelassen war: „Oh Kameraden, wo Fortuna zuerst einen Weg der Rettung zeigt und wo sie sich
günstig offenbart, dahin lasst uns folgen. Lasst uns unsere Rundschilde tauschen und uns die
Abzeichen der Danaer (390) anfügen. List oder Tugend, wen interessiert das im Angesicht des
Feindes? Sie selbst werden uns ihre Waffen geben.“ So sprach er und zog darauf den buschigen Helm
des Adrogeos an, sowie das glänzende Abzeichen seines Rundschilds und fügte das Argiverschwert an
seiner Seite an. Dies machte Rhipeus, dies machte Dymas selbst und die ganze Jungmannschaft
glücklich. Ein jeder bewaffnete sich mit frischen Rüstungen. Unter die Danaer gemischt schritten
einher – nicht unter dem Schutz unserer Gottheit – und begannen während der finsteren Nacht viele
Kämpfe, nachdem wir mit dem Feind zusammengetroffen waren. Viele Soldaten der Danaer
schickten wir ins Jenseits. Andere flüchteten zu den Schiffen und eilen mit ihrem Lauf zur (400)
treuen Küste. Ein Teil bestieg durch die Furcht verwirrt wieder das gewaltige Pferd und verbarg sich
im bekannten Bauch.
28
Oh, niemand darf unwilligen Göttern vertrauen! Siehe, da wurde die Jungfrau aus Priamos,
Cassandra mit gelöstem Haar vom Tempel und den Heiligtümern der Minerva weggeschleppt,
während sie ihre brennenden Augen vergeblich dem Himmel entgegenstreckte, denn Seile fesselten
ihre zarten Handflächen. Coroebus ertrug diesen Anblick mit seinem rasenden Verstand nicht und
warf sich, bereit zu sterben, mitten in den Heereszug. Wir folgten alle und warfen uns in dicht
aufeinander folgende Waffen. Jetzt wurden zuerst Leute von uns durch Wurfgeschosse, die von dem
hohen Gipfel des Heiligtums kamen, überschüttet und es entstand ein äußerst unglückliches Blutbad
durch das Aussehen der Waffen und den Irrtum, den die griechischen Mähnen hervorriefen. Dann
fielen die Griechen vor lauter Trauer und Zorn über die geraubte Jungfrau von allen Seiten über uns,
nachdem sie sich versammelt hatten: Der äußerst energische Ajax, die beiden Atriden und das ganze
Heer der Dolopen. Es war, wie wenn bei einem hervorgebrochenen Sturm entgegen gerichtete
Winde zusammenstoßen: Der Westwind, der Südwind und der Südostwind, glücklich über die Pferde
der Eos. Es rauschten die Wälder, es wütete der schäumende Nereus mit seinem Dreizack und
bewegte das Wasser vom tiefsten Grund. (420) Sogar jene Männer erschienen, die wir etwa in der
finsteren Nacht durch die Schatten mit Hilfe unserer List in die Flucht geschlagen hatten und durch
die ganze Stadt gejagt hatten. Die ersten erkannten die Rundschilde und die nachgemachten
Wurfgeschosse und bemerkten die Andersartigkeit unserer Stimme. Sogleich werden wir von der
Schar überwältigt: Als erster stürzte Coroebus durch die Rechte des Peneleus vornüber auf den Altar
der waffenmächtigen Göttin. Es fiel auch Rhipeus, der Gerechteste, der unter den Teucrern war, und
er war ein unbestechlicher Wächter des Rechts (den Göttern schien es anders). Es gingen sowohl
Hypanis als auch Dymas zugrunde – beide von den eigenen Kameraden durchbohrt. Dich, Panthus,
als du zu Boden (430) glittst, schützte weder dein großes Pflichtgefühl, noch die Binde des Apollon.
Asche Ilions und Totenfeuer der meinen, euch rufe ich als Zeugen an, dass ich bei eurem Tod weder
Waffen noch irgendwelche andere Gefahren gemieden habe und wenn es das Schicksal gewollt
hätte, dass ich falle, dann hätte ich verdient, durch Danaerhand zu fallen.
Daraufhin wurden wir auseinandergerissen. Iphitus und Pelias waren bei mir (von ihnen war Iphitus
schon träger durch sein hohes Lebensalter, und Pelias war durch eine Wunde, die ihm Odysseus
zugefügt hatte, geschwächt). Von Geschrei wurden wir eilends zum Wohnsitz des Priamus gerufen.
Hier aber tobte ein gewaltiger Kampf, als gäbe es nirgendwo andere Kämpfe, als würden in der
ganzen Stadt keine Leute sterben. (440) So erkannten wir den ungezähmten Krieg und Danaer die zu
dem Haus stürzten und die Schwelle, die von dem vorwärtsgetriebenen Schilddach voll war. An den
Mauern hingen Leitern, dicht an den Pfosten selbst erklommen sie die Stufen und die Geschützten
hielten mit ihrer Linken den Wurfgeschossen ihre Rundschilder entgegen. Sie ergriffen mit ihrer
Rechten den Dachgiebel. Die Dardaner vernichteten die Türme und alle Giebel des Hauses. Sie
29
bereiteten sich vor, als sie ihre letzte Stunde erkannten, sich noch kurz vor dem Tod mit
Wurfgeschossen zu verteidigen und sie wälzten die vergoldeten Balken, die erhabene Zierde ihrer
Vorfahren herab. Andere (450) besetzten mit gezogenem Dolch die unteren Türen und bewahren
diese in einer dicht gedrängten Rotte. Der Mut war wiederhergestellt, dem königlichen Palast zur
Hilfe zu eilen, die Männer zu unterstützen und den Besiegten Kraft zu verleihen.
Es gibt eine Schwelle – eine geheime Tür – und ein Durchgang zwischen den Gebäuden des Priamus,
eine zurückgelassene Pforte im hinteren Bereich, durch die der unglückliche Andromache, als das
Königreich noch Bestand hatte, zu oft unbegleitet zu den Schwiegereltern zu stürzen pflegte und den
Jungen Astyanactos dem Großvater hinbrachte. Ich ging zum Gipfel des höchsten Daches woher die
unglücklichen Teucrer mit ihrer Hand vergeblich Wurfgeschosse warfen. (460) Es stand ein Turm auf
abschüssigem Gelände und der höchste Punkt des Daches reichte bis zu den Sternen, von wo man für
gewöhnlich ganz Troja, die Schiffe der Danaer und die achäische Burg sehen konnte. Wir griffen ihn
ringsum mit unserem Eisen an, wo die obersten Stockwerke Verbindungen gewährten, die sich
lockerten; Wir rissen ihn aus dem erhöhten Sitz und stießen ihn fort. Nachdem er geschwankt hatte,
stürzte er plötzlich mit Getöse ein und fiel auf den breiten Heereszug der Danaer. Aber andere
kamen herbei, und unterdessen wichen weder die Wurfsteine noch irgendeine andere Art von
Wurfgeschossen.
Der durch seine Wurfgeschosse und durch das bronzene Licht funkelnde Pyrrhus (470) jubelte am
ersten Eingang gleich vor der Vorhalle. Es war wie wenn eine Schlange bei Tageslicht schlechtes Gras
gefressen hat, und sie der Winter aufgewühlt unter der Erde verbarg, und nun, nachdem sie ihr Kleid
abgestreift hat, wieder wie neu ist und in ihrer Jugend glänzt, ihren schlüpfrigen Rücken ringelt, wenn
sie ihre Brust steil zur Sonne erhoben hat und sie ihre dreispaltige Zunge aus ihrem Mund zucken
lässt. Zugleich rücken der gewaltige Periphas, der Pferdelenker des Achilles, der waffentragende
Automedon und die ganze scyrische Mannschaft zum Gebäude und warfen Brandfackeln an die
Dächer. Er selbst durchbrach die harte (480) Eingangstür, nachdem er hastig die Doppelaxt ergriffen
hatte, und riss die erzbeschlagenen Pfosten aus der Türangel. Und schon höhlte er das Holz aus,
nachdem ein starker Querbalken herausgehauen war; er schuf einen Zugang mit einer weiten
Öffnung. Es kam das Innere des Hauses zum Vorschein und die langen Hallen standen offen. Es
kamen die Wohnräume des Priamus und der alten Könige zum Vorschein und sie sahen bewaffnete
Soldaten am ersten Eingang stehen. Doch das Innere des Hauses wurde von Trauer und von
unglücklichem Aufruhr erfüllt, und die gewölbten Räume erklangen durch das Wehklagen der
Frauen. Das Geschrei stieß bis zu den goldenen Sternen. Dann irrten die ängstlichen Mütter in den
Zimmern umher, hielten die Pfosten (490) umschlungen und drückten ihnen Küsse auf. Pyrrhus
setzte mit der Gewalt seines Vaters nach. Weder die Riegel noch die Wächter selbst konnten ihn
30
aufhalten. Die Tür wankte durch den zahlreich eingesetzten Rammbock und die aus den Angeln
gehobenen Pfosten fielen vornüber. Gewalt bahnte sich ihren Weg. Die hineinstürzenden Danaer
brachen sich einen Zugang, erdolchten die ersten und füllten die Räume weithin mit Soldaten. Es ist
nicht so wild, wenn ein schäumender Strom, nachdem er den Uferdamm durchbrochen hat, aus
seinem Flussbett läuft und die ihm entgegenstehenden Massen mit seinem Strudel besiegt und mit
der ganzen Wassermasse rasend auf die Felder stürzt und über alle Felder zusammen mit den Ställen
die Herdentiere mitreißt. Ich selbst sah den vor (500) Blut rasenden Neoptolemos und an der
Schwelle die beiden Atriden, ich sah Hecuba, und die einhundert Schwiegertöchter, Priamus, der
über den Altären liegend die Flammen mit seinem Blut besudelte, die er selbst geweiht hatte. Jene
fünfzig Schlafzimmer – die so große Hoffnung auf Enkel – und die Pfosten, die durch ausländisches
Gold und Rüstungen erhaben wirkten, stürzten ein. Was das Feuer ausließ, besetzten die Danaer.
Vielleicht fragst du auch, wie die Göttersprüche für Priamus aussahen? Sowie er das Unglück der
eroberten Stadt, die zerstörten Palasttüren sowie den Feind sah, der sich bereits im Inneren des
Gebäudes befand, (510) umgab der alte Mann, der schon lange nicht mehr daran gewohnt war,
vergebens seine durch ihr hohes Alter zitternden Schultern mit Waffen und umgürtete sich mit dem
nutzlosen Schwert, stürzte dann, bereit zu sterben in die dichte Feindesschar. Mitten im Gebäude
unter der blanken Himmelsachse befanden sich ein gewaltiger Altar und dicht daneben ein äußerst
alter Lorbeer, der sich dem Altar zuneigte und die Penaten, die von dessen Schatten umschlossen
waren. Hier saßen vergeblich Hecuba und ihre Töchter ringsum den Altar, wie durch einen finsteren
Sturm vorwärtsgeneigte Tauben, während sie dicht gedrängt waren und die Abbilder der Götter
umarmten. Sobald sie allerdings Priamus selbst sah, der die jugendlichen Waffen an sich genommen
hatte, sprach sie: „Welcher so unheilvolle Gedanke, unglücklichster Gatte, hat dich dazu (520)
veranlasst diese Waffen umzugürten? Oder: Wohin eilst du? Die Zeit bedarf doch nicht solcher Hilfe
und auch nicht diesen Verteidigern, auch nicht, wenn jetzt mein Hector selbst zugegen wäre. Komm
doch endlich hierher: Dieser Altar wird uns alle beschützen oder wir werden zusammen sterben.“
Nachdem sie so gesprochen hatte, nahm sie ihn bei sich auf und setzte den Hochbetagten an die
heilige Stätte.
Doch sieh da, Polites, einer der Söhne des Priamus, der dem Tötungsversuch des Pyrrhus entkommen
war, floh durch die Wurfgeschosse, durch die Feindesreihen unter den langen Säulenhallen und
durchquerte verwundet die leerstehenden Hallen. Rasend (530) folgte ihm Pyrrhus mit feindlichem
Hieb und schon ergriff er ihn mit seiner Hand und durchbohrte ihn mit seiner Lanze. Sowie er endlich
bis vor die Augen und das Antlitz der Eltern gekommen war, brach er zusammen und goss mit viel
Blut sein Leben aus. An diesem Punkt konnte Priamus nicht an sich halten, obwohl er schon selbst so
gut wie tot war und schonte weder seine Stimme noch seinen Zorn. Er schrie: „Dir aber sollten die
31
Götter für dieses Verbrechen, für derartige Dreistigkeiten, sofern es für den Himmel irgendein
Pflichtgefühl gibt, das sich um derartige Dinge sorgt, würdigen Dank abstatten und dir die
geschuldeten Belohnungen geben, der du veranlasstest, dass ich in Anwesenheit meines Sohnes
seinen Tod wahrnehmen musste und der du die väterlichen Gesichtszüge mit Totschlag befleckt hast.
(540) Aber nicht einmal jener Achilles, dessen Sohn zu sein du vorlügst, benahm sich so seinem Feind
Priamus gegenüber. Sondern er achtete mit Ehrfurcht die Gesetze und die Treue eines Flehenden Er
gab den blutleeren Körper des Hector zur Bestattung zurück und schickte mich in mein Königreich
zurück.“ So sprach der alte Mann und schleuderte unkriegerisch seine Lanze ohne Stoßkraft die
sofort am dumpf tönenden Schild des Pyrrhus zurückprallte und an der obersten Krümmung des
Rundschildes herabhing. (Unlogisch, aber so Vergil!) Diesem antwortete Pyrrhus: „Dieses also wirst
du berichten und als Bote zu meinem Vater, Sohn des Peleus, gehen. Erinnere dich, jenem von
meinen unglücklichen Taten und vom entarteten Neoptolemos zu berichten. (550) Nun mögest du
sterben!“ Während er dies sagte, zog er den Zitternden, der in dem vielen Blut seines Sohnes
ausglitt, zu dem besagten Altar und packte ihn mit seiner Linken an den Haaren, mit der Rechten
holte er sein funkelndes Schwert heraus und stieß es ihm bis zum Griff in die Seite. Dies ist das Ende
von Priamus‘ Schicksal, dieses Ende ereilte jenen schicksalsgemäß, der das entflammte Troja und das
einstürzende Pergamon sah, einst der erhabene Beherrscher von so vielen Völkern und Ländereien
Kleinasiens. Da liegt ein gewaltiger Verwundeter an der Küste, ein von den Schultern weggerissener
Kopf, ein Leichnam ohne Namen.
Doch mich umzingelte dann zum ersten Mal wildes Entsetzen. (560) Ich erstarrte vor Schreck. Mir
kam das Bild meines teuren Vaters in den Sinn, als ich den König, der im gleichen Alter war, durch die
grauenvollen Wunde sterben sah; mir kam die verlassene Creusa in den Sinn, das geplünderte Haus
und das Schicksal des kleinen Iulus. Ich blickte zurück und betrachtete, welche Truppe ich um mich
hatte. All die erschöpften Männer hatten mich im Stich gelassen und ihre Körper mit einem Sprung
zur Erde herabgestürzt oder ihre leidenden Körper den Feuern überlassen. Nun war ich so weit als
einziger übrig, als ich an der Schwelle des Vestatempels die sich rettende und sich still in dem
abgeschiedenen Ort verbergende Tochter des Tyndareus, Helena, erblickte. Die Brände gewährten
mir (570) Umherirrenden, der seine Augen weit und breit über alles schweifen ließ, ein helles Licht.
Jene, die sich im Voraus vor den Teucrern fürchtete, die ihr wegen dem zerstörten Pergamon
feindlich gesinnt waren, und vor den Strafen der Danaer, sowie vor den Zorneswallungen ihres
Mannes, den sie verlassen hatte – die gemeinsame Dämonin Trojas und ihrer Heimat – hatte sich
versteckt und saß verhasst bei den Altären. In meinem Herzen entbrannte das Feuer. Es packte mich
der Zorn die fallende Heimat zu rächen und schreckliche Strafen zu verhängen. „Die Dame wird
natürlich unversehrt Sparta erblicken, sowie ihre Heimat Mykene; und nach dem gewonnenen
32
Triumph geht sie als Königin einher?! Sie wird ihren Gatten, das Haus ihres Vaters und ihre Söhne
wiedersehen, begleitet von einer Schar aus (580) Illion und von phrygischen Dienern? Soll Priamus
durch ein Schwert gestorben sein? Soll Troja im Feuer verbrannt sein? Sollte die Küste der Dadaner
sooft von Blut triefen? So nicht! Denn auch wenn man sich keinen denkwürdigen Namen bei der
Bestrafung einer Frau erwirbt, wird dieser Sieg Lob mit sich bringen. Ich werde dafür gelobt werden,
dass ich den Frevel ausgelöscht und über sie die verdienten Strafen verhängt haben werde. Es wird
meinem Gemüt helfen, wenn ich den Ruf eines Rächers und die Asche meiner Leute befriedigt haben
werde.“ Derartige Dinge überlegte ich mir und ließ mich von meinem rasenden Verstand getrieben,
als sich mir meine gütige Mutter, die durch die Nacht in reinem Licht glänzte, (590) zu sehen gab – für
meine Augen so deutlich, wie nie zuvor. Nachdem sie mir gestanden hatte, dass sie die Göttin Venus
ist, so beschaffen und so groß sie den Himmelsbewohnern für gewöhnlich zu sein schien, nahm sie
meine Rechte, umfasste sie und fügte mit ihrem rosafarbenden Mund noch folgendes hinzu: „Sohn,
welcher so große Schmerz erregt solche ungezähmten Zorneswallungen? Wieso tobst du? Und wohin
ist dir deine Sorge uns gegenüber gewichen? Willst du nicht erst einmal schauen, wo du deinen
altersschwachen Vater Anchises zurückgelassen hast, oder ob Creusa und dein Sohn Ascanius noch
leben? Die ganze Kampfreihe der Griechen treibt sich von allen Seiten um sie herum, und wenn ihnen
nicht meine Fürsorge Widerstand leistete, hätten die (600) Flammen sie schon dahingerafft und das
feindliche Schwert sie schon durchbohrt. Nicht die Gestalt der Helena, die verhasste Spartanerin,
oder der schuldige Paris, sondern die Strenge der Götter – der Götter! – stürzen dir die Macht und
die Stadt Troja von ihrer Höhe. Schau her (denn ich werde die ganze Wolke, die nun vor dir
Schauendem aufzieht, deine menschliche Sehkraft schwächt und dich mit den feuchten Schwaden
blind macht, entreißen, so dass du dich nicht vor den Befehlen deiner Mutter fürchtest, oder dich
weigerst ihre Weisungen Folge zu leisten!) Hier, wo du zerstreute Gesteinsmassen siehst, Felsen, die
von anderen Felsen abgesprengt sind und Rauch mit Staub vermischt hervor strömen siehst, (610)
erschüttert Neptunus die Stadtmauern und die vom großen Dreizack emporgehobenen Fundamente.
Er zerstört die ganze Stadt von Grund auf. Hier hält die äußerst grimmige Iuno als erste die
scaeischen Stadttore und ruft rasend den Heereszug ihrer Kameraden von den Schiffen herbei,
nachdem sie sich das Schwert umgürtet hat. Schon hat die Tochter des Triton, Pallas, die obersten
Zinnen besetzt, während sie aus einer Wolke mit ihrer wilden Gorgo hervor leuchtet; schau dich um!
Der Göttervater selbst verleiht den Danaern Mut und günstige Waffen, er selbst hetzt die Götter
gegen die dardanischen Waffen auf. Entreiße dich, mein Sohn, setze auf die Flucht und auf ein Ende
für deine Mühe. (620) Nirgendwo werde ich dich allein lassen und ich werde dich sicher an der
väterlichen Schwelle zum Stehen bringen.“ So sprach sie und verbarg sich in den ausgedehnten
Schatten der Nacht. Es erschienen finstere Gestalten und die großen Wirkkräfte der Götter, die Troja
feindlich gesinnt waren. Dann aber schien mir ganz Illium in Flammen zu versinken und das
33
neptunische Troja von Grund auf zerstört zu werden. Es war, wie wenn hoch oben in den Bergen
Bauern im Wettstreit drängen eine alte Bergesche, die bereits mit dem Eisen angehakt war, mit
zahlreichen Schlägen der Doppelaxt zu fällen, bis jene droht zu fallen und erzitternd mit ihrer
Baumkrone wankt, während ihr Wipfel erschüttert wird, (630) solange bis sie allmählich durch die
Wunden besiegt ist, ein letztes Mal ächzt, dann niederstürzt, nachdem sie aus dem Bergrücken
gerissen wurde. Bei meinem Abstieg konnte ich unter göttlicher Führung meinen Weg durch das
Feuer und den Feind bahnen. Die Wurfgeschosse ließen mir Raum und die Flammen wichen zurück.
Und nachdem ich schon die Schwelle meines Vaters Haus und die alte Wohnstätte erreicht hatte,
weigerte sich mein Vater, den ich als ersten in die hohen Berge mitnehmen wollte und als ersten
eilends aufsuchte, sein Leben im zerstörten Troja in die Länge zu ziehen und das Exil zu erdulden. Er
sprach: „Oh ihr, denen euch noch das frisches Blut eures jungen Alters, sowie in ihrem Kern echte
Kräfte zur Verfügung stehen, (640) flieht ihr! Hätten die Götter gewollt, dass ich mein Leben
weiterhinziehe, hätten sie mir diesen Wohnsitz bewahrt. Es ist mehr als genug, einen Untergang der
Stadt gesehen zu haben und es überlebt zu haben, wie die Stadt eingenommen wurde. So, oh so lasst
meinen Körper liegen und geht, nachdem ihr mich gegrüßt habt! Ich selbst werde durch meine Hand
den Tod finden, oder es wird sich ein Feind erbarmen und nach Beute streben. Für mich ist der
Verzicht auf ein Grab leicht. Schon längst bin ich den Göttern verhasst und verweile unnütze Jahre,
seit mich der Göttervater und König der Menschen mit den Winden seiner Blitze und mit dem Feuer
berührt hat.“
(650) Während er derartiges sprach, verharrte er und blieb starr. Wir waren hingegen
verschwenderisch mit unseren Tränen: auch meine Gattin Creusa und Ascanius, das ganze Haus, so
dass mein Vater nicht alles mit sich vernichten und das drängende Schicksal beschleunigen würde. Er
verweigerte, und hing an seinem Vorhaben und an dem besagten Wohnsitz. Wieder eilte ich in den
Kampf und wünschte mir äußerst Unglücklichem den Tod. Denn welcher Rat oder welches Glück
wurde mir gewährt? Hoffst du etwa, Vater, dass ich einen Fuß vor die Tür setzen könnte, wenn du
zurückbleibst? Ist ein so großer Frevel aus dem väterlichen Mund entwichen? Wenn den Göttern
nichts aus der so großen Stadt gut scheint übrig zu bleiben (660) und es in deinem Geist fest sitzt und
es dir hilft dich und deine Angehörigen dem untergehenden Troja hinzuzufügen, steht diesem Tod
die Tür offen. Schon wird Pyrrhus hier sein, triefend vom vielen Blut des Priamus, der den Sohn vor
dem Gesicht des Vaters, der den Vater bei den Altären niedergehauen hat. War dies der Grund,
gütige Mutter, dass du mich durch die Wurfgeschosse, durch die Feuer hierher entrissen hast, sodass
ich mitten im Haus den Feind, sodass ich Ascanius, meinen Vater und daneben Creusa erkennen
muss, wie der eine im Blut des anderen hingeopfert niederliegt? Waffen, Männer, bringt Waffen! Der
34
letzte Tag ruft die Besiegten. Gebt mich wieder den Danaern zurück! Lass mich wieder in den erneut
angefachten (670) Kampf ziehen! Niemals werden wir heute sterben, ohne uns gerächt zu haben!“
Darauf umgürtete ich mich mit dem Schwert und wollte erneut die Linke in das Schild stecken, um es
anzupassen und aus dem Gebäude stürzen. Doch sieh, die Gattin hing an der Schwelle, indem sie
meine Füße umschlungen hatte und streckte mir, dem Vater, den kleinen Iulus hin. Sie sprach:
„Wenn du jetzt fortgehst, bereit zu sterben, reißt du auch uns mit dir in alle Gefahren, wenn du aber
auf Grund der Erfahrung irgendwelche Hoffnung auf die aufgenommenen Waffen setzt, dann mögest
du zunächst dieses Haus schützen. Wem wird der kleine Iulus, wem dein Vater und ich, die ich einmal
nach deinen Worten deine Gattin war, zurückgelassen?“
Während sie solches schrie erfüllte sie das ganze Gebäude mit einem Seufzen, (680) als plötzlich –
erstaunlich das zu sagen – ein Wunder entstand. Denn zwischen den Händen und den Gesichtern der
traurigen Eltern schien ganz oben am Scheitel des Iulus eine leichte Flamme ein Licht
hervorzubringen, und die sanfte Flamme schien unschädlich bei der Berührung seine Haare zu lecken
und sich um seine Schläfen zu fressen. Wir Ängstlichen zitterten vor Furcht, versuchten das
brennende Haar abzuschütteln und das heilige Feuer an der Quelle zu löschen. Doch mein Vater
Anchises erhob fröhlich seine Augen zu den Sternen und streckte mit diesen Worten seine
Handflächen dem Himmel entgegen: „Allmächtiger Jupiter, wenn man dich durch irgendwelche
Gebete umstimmen kann, (690) erblicke uns – dies nur! – und wenn wir es durch unser Pflichtgefühl
verdienen, gewähre uns endlich deine Hilfe, Vater, und bekräftige dieses Wunder!“
Kaum hatte der alte Mann dies gesprochen, donnerte es plötzlich mit einem Krachen zur Linken und
ein Stern, der vom Himmel durch die Schatten glitt und ein Feuerschein hinter sich her zog, flog mit
einem großen Schweif den Himmel entlang. Wir erkannten jenen herabgleitenden Stern über den
höchsten Giebel des Hauses, wie er sich hell im Wald des Idagebirges verbarg und seinen Weg
kennzeichnete. Dann brachte die Grube in einem langen Pfad Licht hervor und weit und breit
dampfte ringsum die Gegend vor Schwefel. Hier aber erhob sich mein Vater zum Himmel, nachdem
er sich geschlagen gegeben hatte, (700) sprach zu den Göttern und rief flehend das Gestirn an:
„Schon, schon bleibt kein Verzug mehr. Ich folge euch, und wohin ihr mich führt, ich werde zur Stelle
sein, väterliche Götter. Bewahrt mein Haus, bewahrt mein Enkel. Dies ist euer Vorzeichen und Troja
steht unter eurem göttlichen Willen. Ich gebe freilich nach, mein Sohn, und weigere mich nicht, dich
zu begleiten.“ Das sagte jener und schon waren die Feuer über die Stadtmauern hinweg deutlicher
zu hören und schon wälzten die Brände die Hitzefront näher. „Also, nun denn, lieber Vater, setze dich
auf meinen Nacken. Ich selbst werde dich auf meine Schultern nehmen, und diese Mühe wird mir
nicht schwer fallen. Wie es auch immer kommen mag, gemeinsam wird für uns beide ein und
35
dieselbe Gefahr bestehen, (710) ein und dieselbe Rettung. Mir sei der kleine Iulus ein Begleiter und in
gebührendem Abstand möge die Gattin meinen Schritten folgen. Ihr Diener, achtet auf das, was ich
sagen werde: Wenn man aus der Stadt kommt, gab es einen Hügel und einen alten Tempel der
verlassenen Ceres, gleich daneben eine alte Zypresse, die durch einen Kult der Väter über viele Jahre
hinweg bewahrt wurde. Zu dieser einen Stätte werden wir aus verschiedenen Richtungen kommen.
Du, mein Vater, ergreife mit deiner Hand die heiligen Gegenstände und die Penaten der Väter. Für
mich, der ich aus einem so großen Krieg und aus dem frischen Blutvergießen schreite, ist es ein
Frevel nach ihnen zu greifen, solange bis ich mich in einem fließenden Gewässer (720) gewaschen
habe.“
Nachdem ich dies gesagt hatte, bedeckte ich meine breite Schultern und den gebeugten Nacken mit
einer Decke bestehend aus einem blonden Fell eines Löwen und nahm die Last auf mich. Der kleine
Iulus hielt sich an meiner Rechten fest und folgte dem Vater in kleineren Schritten. Hinten folgte die
Gattin unmittelbar nach. Wir stürzten durch die Schatten der Orte, und mich, der mich vor einer
Weile keinerlei Wurfgeschosse, die auf mich zielten, erschütterten, auch keine in einer feindlichen
Schar gedrängten Griechen, den erschraken nun alle Luftzüge, alle Geräusche beunruhigten mich, der
ich einerseits angespannt war, und andererseits um meinen Begleiter und um meine Last besorgt
war. (730) Und schon näherte ich mich den Toren und ich dachte, den ganzen Weg zurückgelegt zu
haben, als mir plötzlich das dicht aufeinanderfolgende Geräusch von Schritten zu Ohren zu kommen
schien. Mein Vater, der durch die Schatten Ausschau hielt, schrie: „Sohn, fliehe, mein Sohn! Sie
nähern sich uns. Ich erkenne glühende Rundschilde und funkelndes Erz.“ An dieser Stelle hat mir, der
ich vor Angst zitterte, irgendeine übel gesinnte Wirkkraft meinen bereits verwirrten Verstand
geraubt. Denn als ich einen Seitenpfad entlang lief, und die bekannte Richtung der Wege verließ,
machte meine Gattin Creusa Halt – ach! – ob sie mir durch das unglückliche Schicksal entrissen
wurde, ob sie den Weg entlang irrte oder nachdem sie gestürzt war, zurückblieb, ist (740) unsicher.
Auch später sahen wir sie nicht mehr. Und ich blickte mich nicht früher nach der
Verlorengegangenen um, oder dachte eher an sie, bis wir zu dem Hügel des alten Ceres-Tempels und
der geheiligten Stätte gekommen waren. Hier erst fehlte eine Frau, nachdem sich alle versammelt
hatten und sie ist den Begleitern, meinem Sohn und meinem Vater unbemerkt geblieben. Wem von
den Menschen und von den Göttern habe ich Tor keine Vorwürfe gemacht, oder was habe ich in der
vernichteten Stadt Grauenvolleres gesehen? Ich vertraute Ascanius, meinen Vater Anchises und die
trojanischen Penaten den Kameraden an und verbarg sie in einer Talsenke. Ich selbst eilte zur Stadt
zurück und umgürtete mich mit funkelnden Waffen. (750) Die Lage erforderte es erneut alles zu
durchleben, und noch einmal durch die ganze Stadt Troja zurückzugehen, erneut den Kopf den
Gefahren entgegenzuhalten. Zuerst eilte ich zu den Stadtmauern und zu den verborgenen
36
Türschwellen zurück, durch die ich herausgegangen war, und folgte in entgegengesetzter Richtung
den Fußspuren, auf die ich Acht gab, durch die Nacht und musterte sie mit meinem Auge. Überall
war Schauder in meinem Herzen und erschreckte mich zugleich mit der Stille selbst. Von da wende
ich mich zu unserem Haus zurück, falls sie vielleicht, ja falls sie vielleicht dorthin gegangen ist. Die
Griechen waren eingebrochen und besetzten das gesamte Gebäude. Sogleich wurde das verzehrende
Feuer vom Wind bis an den höchsten Giebel gewälzt. Die Flammen überragten ihn und die Hitze
tobte bis in den Himmel. (760) Ich rückte vor und suchte nochmals die Wohnstätte des Priamus
sowie die Burg auf. Und schon bewachten an den leeren Säulenhallen, in der Freistadt der Iuno
ausgewählte Wächter, nämlich Phoenix und der unheilvolle Odysseus die Beute. Hierher wurden von
allen Seiten der trojanische Schatz, der aus den brennenden Tempeln geraubt wurde, sowie die
Opfertische der Götter, Mischgefäße aus massivem Gold und erbeutete Decken zusammengetragen.
Ringsum standen die Jungen und die verängstigten Mütter in einer langen Reihe. Ich wagte sogar,
Rufe durch die Schatten auszustoßen, die Straßen mit Geschrei zu erfüllen und ich Unglücklicher rief
vergebens, (770) seufzend immer und immer wieder Creusa. Mir Suchendem und endlos in alle
Gebäude der Stadt Eilendem erschienen vor meinen Augen das unglückliche Abbild und der Schatten
Creusas selbst und das Bild war größer als sie mir bekannt war. Ich erstarrte vor Schreck, meine
Haare richteten sich auf und die Stimme blieb mir im Rachen stecken. Dann sprach sie mich so an
und nahm mir durch folgende Worte die Sorgen: „Was nur bringt es dir, oh süßer Gatte, dem
wahnsinnigen Schmerz nachzugeben? Diese Dinge geschehen nicht ohne göttlichen Willen. Du darfst
mich, Creusa, nach einem göttlichen Gesetz nicht von hier als Begleiterin mitnehmen, auch lässt es
jener König des erhabenen Olymp nicht zu. (780) Auf dich wartet ein langes Exil und du musst die öde
Meeresoberfläche durchpflügen, du wirst zum Land Hesperiens kommen, wo zwischen den an
Helden üppigen Feldern mit sanfter Strömung der lydische Thybris fließt. Dort wird es für dich ein
glückliches Gemeinwesen, ein Königreich und eine Königin als Gattin geben. Vertreibe die Tränen
über deine geschätzte Creusa. Ich werde nicht die erhabenen Wohnstätte der Myrmidonen oder
Dolopen erblicken, oder zu den griechischen Frauen gehen um ihnen zu dienen, ich aus dem Stamm
der Dardaner und Schwiegertochter der göttlichen Venus. Aber mich hält die große Schöpferin der
Götter, Iuno, an diesen Gestaden fest. Und nun: Mach’s gut und bewahre die Liebe zu unserem
gemeinsamen Sohn.“ (790) Nachdem sie diese Worte von sich gegeben hatte, verließ sie mich, ihren
weinenden Mann, der noch vieles sagen wollte und entschwand in die zarten Lüfte. Dreimal
versuchte ich dort, meine Arme um ihren Hals zu legen. Dreimal entfloh das Abbild meinen Händen,
nachdem es vergeblich berührt wurde, den leichten Winden gleich und einem schnellen Traum sehr
ähnlich. So kehrte ich endlich, nachdem die Nacht verbracht war, zu meinen Kameraden zurück. Und
hier fand ich, mich darüber wundernd, dass eine gewaltige Anzahl neuer Begleiter herbeigeströmt
war: Mütter, Männer, eine Jungmannschaft, die sich für das Exil versammelt hatte, das unglückliche
37
Volk. Von überall her waren sie zusammengekommen, Menschen, die in ihrem Herzen und mit ihren
Kräften bereit waren, mich über das Meer zu den Ländern zu begleiten, (800) wohin ich auch immer
gehen wollte. Und schon stieg der Morgenstern auf die Bergrücken des sehr hohen Idagebirges und
führte den Tag herbei. Die Griechen hielten die Schwellen der Stadttore besetzt und es gab keine
Hoffnung auf Hilfe. Ich ging weg und strebte mit meinem Vater auf den Schultern zu den Bergen.
Buch 3
Nachdem es den Göttern gut schien, das Gemeinwesen Asiens und den Volksstamm des Priamus zu
vernichten, der dies nicht verdient hatte, und nachdem das stolze Ilium gefallen war, das ganze
neptunische Troja von der Erde auf rauchte, wurden wir von Vorzeichen der Götter angetrieben,
verschiedene Zufluchtsorte in der Fremde und verlassene Ländereien zu suchen. Wir bauten unter
Antandros selbst, unter den Bergen des phrygischen Idagebirges eine Flotte, ohne sicher zu sein,
wohin uns die Göttersprüche bringen würden, wo sie uns Halt machen ließen. Wir versammelten die
Männer. Kaum hatte der erste Sommer begonnen, befahl mein Vater Anchises gemäß den
Göttersprüchen die Segel zu hissen, als ich weinend die (10) Gestade meiner Heimat, den Hafen und
die Felder, wo einst Troja stand, verließ. Ich eile mit meinen Kameraden, meinem Sohn, den Penaten
und den erhabenen Göttern auf das hohe Meer.
In der Ferne wurde das Land des Mars mit seinen weiten Feldern bebaut (die Thraker pflügten es)
und einst wurde es vom strengen Lycurgus regiert. Es war ein alter Ort der Gastfreundschaft Trojas,
die Penaten unsere Bundesgenossen, solange uns das Schicksal hold war. Hierhin eilte ich und
errichtete die erste Stadt – ich betrat das Land unter ungünstigem Schicksal. Ich gab den Bewohnern
von meinem eigenen Namen den Namen Aeneaden. Ich wollte der Tochter des Diones, meiner
Mutter und den Göttern, den (20) Beschützern von neu begonnenen Bauwerken, Opfer darbringen
und ich wollte für den himmlischen König der Himmelsbewohner einen fetten Stier schlachten.
Zufällig befand sich nebenan ein Hügel, auf dem sich ganz oben festes Buschwerk befand und eine
Myrte, schrecklich aufgrund ihrer dichten Schäften. Ich stieg herauf und versuchte den jungen Wald
aus dem Boden loszureißen, um die Altäre mit den laubtragenden Ästen zu bedecken und sah dann
ein schauderhaftes Wunder, sonderbar es zu berichten. Denn der Strauch, der als erster mit seinen
aus dem Boden gebrochenen Wurzeln herausgerissen wurde, dem flossen Tropfen aus schwarzem
Blut herunter und sie beflecken die Erde mit Jauche. Mir erschüttert ein eisiger Schauer die (30)
Glieder und das Blut gefriert mir vor lauter Furcht. Erneut machte ich mich daran auch das zähe
Gestrüpp des anderen Strauchs loszureißen und vollends die verborgenen Gründe für dieses Wunder
38
zu untersuchen. Auch von der Rinde des anderen folgte schwarzes Blut. Vieles bedachte ich im Geiste
und verehrte die ländlichen Nymphen, den Vater Gradivus, der den getischen Fluren vorsteht, damit
sie die Erscheinung gebührend begünstigten und das böse Omen erträglicher machten. Aber
nachdem ich unter größerer Anstrengung an das dritte Gestrüpp herangegangen war, und mich mit
den Knien gegen den Sand abgestützt hatte, war ein (soll ich es aussprechen oder lieber schweigen?)
weinerliches Seufzen zu (40) hören, das tief aus dem Hügel kam, und es drang mir ein antwortender
Ruf zu meinen Ohren: „Was misshandelst du den Unglücklichen, Aeneas? Verschone den
Begrabenen, spare es dir die pflichtbewussten Hände durch Frevel zu entweihen. Ich bin dir nicht
fremd, komme aus Troja und dieses Blut entspringt nicht von einem Zweig. Oh, fliehe vor dieser
grauenhaften Erde, fliehe vor der habgierigen Küste! Denn ich bin Polydoros. Diese eiserne Saat aus
Wurfgeschossen bedeckte mich, der ich durchbohrt wurde, und wuchs in Form von spitzen
Schäften.“
Dann aber erstarrte ich vor Schreck, durch zweifache Angst in meinem Geiste bedrängt, die Haare
stellten sich mir auf und meine Stimme blieb im Rachen stecken. Der (50) unglückliche Priamus hatte
einmal diesen Polydoros mit einem großen Gewicht an Gold heimlich dem Thrakerkönig zur
Erziehung anvertraut, als er schon nicht mehr den dardanischen Waffen vertraute und als er sah,
dass seine Stadt durch eine Belagerung umgürtet wurde. Jener schloss sich dem Gemeinwesen
Agamemnons und den siegreichen Waffen an, weil die Macht der Teucrer gebrochen war und das
Glück wich. Er brach jedes göttliche Recht. Er machte Polydoros nieder und bemächtigte sich
gewaltsam des Goldes. Wozu zwingst du die menschlichen Gemüter nicht, du heiliger Hunger nach
Gold! Nachdem die Furcht meine Gebeine verlassen hatte, berichtete ich die Wunder der Götter
ausgewählten, vornehmen Männer des Volkes, allen voran meinem Vater, und wollte wissen, was
ihre Meinung dazu war. (60) Alle hatten die gleiche Gesinnung, nämlich die mit Frevel befleckte Erde
zu verlassen und so verließ ich den besudelten Platz der Gastfreundschaft und ließ meine Flotte
entlang dem Südwind fahren. Also erneuerten wir für Polydoros das Begräbnis und es wurde viel
Erde zu einem Hügel aufgehäuft. Für die Manen standen Altäre mit schwärzlichen Binden des
Trauerschmucks und eine schwärzlichen Zypresse, und ringsum befanden sich Trojanerinnen die
nach Brauch ihr Haar gelöst hatten. Wir stellten warme Milch in schäumenden Schüsseln darauf
sowie Schalen mit heiligem Blut. Wir bergen die Seele im Grab und sagten ihr mit lauter Stimme den
letzten Gruß. Dann, sobald man dem Meer zum ersten Mal traute, die Winde ein besänftigtes Meer
(70) gewährten und der sanfte Südwind rauschend auf das hohe Meer rief, ließen die Kameraden die
Schiffe zu Wasser und erfüllten die Küste.
Wir fuhren aus dem Hafen. Länder und Städte entschwanden. Ein heiliges und ein der Mutter der
Wassernymphen und dem Neptun aus Aegaios äußerst angenehmes Stück Land – die Insel Delos –
39
wurde mitten im Meer bewohnt, welches der pflichtbewusste Apollon am aufragenden Myconos und
Gyaros befestigt hatte, nachdem es um die Küsten des Festlandes umhergeirrt war. Er gewährte,
dass die nun unbewegliche Insel bewohnt wurde und ließ sie die Winde verachten. Dorthin eilte ich,
diese sehr sanfte Insel nahm uns erschöpfte Männer in ihrem sicheren Hafen auf. Nachdem wir von
Bord gegangen waren, grüßten wir die Stadt des Apollon ehrfurchtsvoll. (80) Der König Anius, der
zugleich König der Menschen, aber auch Priester des Phoebus war, kam uns an seinen Schläfen mit
Binden und Lorbeerlaub bekränzt, entgegen. Er erkannte seinen alten Freund Anchises. Wir gaben
uns zum Zeichen der Gastfreundschaft unsere Rechte und betraten den Palast. Ich begrüßte die
Tempel, die für den Gott aus altehrwürdigem Stein gebaut wurden. „Gib uns ein eigenes Zuhause,
Thymbraeus. Gib den Erschöpften eine Stadtmauer, Nachkommen und eine Stadt, die Bestand haben
wird. Rette die andere Burg Trojas, und die Reste, die von den Danaern und dem wilden Achilles
verschont geblieben sind. Wem folgen wir? Oder wohin befielst du zu gehen? Wo sollen wir eine
Stadt gründen? Gib uns, Vater, ein Vorzeichen und ziehe in unseren Geist ein.“
(90) Kaum hatte ich diese Dinge gesagt, schien plötzlich alles zu erbeben, die Schwellen, der Lorbeer
des Gottes, der ganze Berg schien sich ringsum zu bewegen, und das Orakel zu dröhnen, nachdem
sich das Allerheiligste geöffnet hatte. Kniend erbaten wir Land. Eine Stimme dringt uns zu Ohren:
„Hartgesottene Dardaner, die Erde, die euch von der ersten Nachkommenschaft eurer Ureltern
getragen hat, dieselbe wird euch Zurückgekehrten an ihrem glücklichen Busen empfangen. Sucht die
alte Mutter! Hier wird dann das Haus des Aeneas über alle Küsten herrschen, sowie die Söhne der
Söhne und deren Nachkommen.“ Dies sprach Phoebus. Es brach lärmend gewaltige (100) Freude aus,
und alle fragten, was dies für eine Stadt sei, die Phoebus ausrief und den Umherirrenden befahl,
dorthin zurückzukehren. Während mein Vater dann die Überlieferungen der alten Helden bedachte,
sagte er: „Hört her, ihr vornehmen Männer, und lernt eure Hoffnung kennen. Kreta, die Insel des
großen Jupiters liegt mitten im Meer, wo sich der Berg Idaeus und die Geburtsstätte unseres
Volksstammes befinden. Dort bewohnen die Menschen einhundert große Städte, es sind äußerst
fruchtbare Königreiche, von wo der äußerst erhabene Stammesvater Teucrus, wenn ich mich
ordnungsgemäß an Gehörtes erinnere, zum ersten Mal an die rhoetischen Küsten gefahren ist. Er
wünschte einen Ort für sein Königreich. Noch nicht standen Illium und die Burgen (110) Pergamons.
Die Menschen wohnten in tiefen Tälern. Dann folgte die Mutter, die Verehrerin der Cybele und die
corybantischen Bronzegefäße, der Hain des Idagebirges, dann die gewissenhafte Ruhe bei den
Heiligtümern sowie die Löwen, die an den Wagen der Herrin gebunden waren. Wohlan also, folgen
wir, wohin uns die Befehle der Götter führen! Lasst uns die Winde besänftigen und zum gnosischen
Königreich streben. Sie sind keine lange Fahrt von hier entfernt. Hilft uns nur Jupiter, wird am dritten
Tag die Flotte an den Gestaden Kretas Halt machen.“
40
So sprach er und opferte den Altären würdige Ehrungen: dem Neptun einen Stier, auch dir einen
Stier, hübscher Apollon, ein (120) schwarzes Schaf dem Sturm, ein weißes den glückbringenden
Westwinden. Das Gerücht verbreitete sich schnell, dass der Führer Idomeneus aus dem Königreich
seines Vaters vertrieben wurde, es dann verließ, und die Gestaden Kretas verlassen seien, der Palast
durch den Feind leer sei und die Häuser verlassen dastünden. Wir verließen den Hafen Ortygiens,
eilten auf dem Meer nach Naxos, auf dessen Bergrücken der Bacchuskult gefeiert wird, zum grünen
Donusa, nach Olearos sowie zum schneeweißen Paros, zu den auf dem Meer vertreuten Cycladen.
Wir durchstreiften die strömungsstarken Meerengen bei den zahlreichen Inseln. Es brach in einem
bunten Wettkampf das Geschrei der Seeleute aus: Die Kameraden forderten dazu auf, nach Kreta
und zu den Vorfahren zu streben. (130) Es folgte uns Fahrenden ein sich vom Schiffsheck erhebender
Wind und endlich gelangten wir an die alten Küsten der Cureten. Also baute ich gierig die
Stadtmauern der erwünschten Stadt und nenne sie Pergamea. Ich ermahnte meinen Volksstamm,
der über den Namen erfreut war, die heimischen Herde zu lieben und eine Burg mit Gebäuden zu
errichten. Und schon waren die Schiffe etwa an den trockenen Strand gezogen, da war die
Jungmannschaft mit Heiraten und den neuen Feldern beschäftigt, ich war gerade dabei Gesetze und
Häuser zuzuweisen als plötzlich eine ausreichend verzehrende Seuche für Mensch und Pflanzen aus
einer verdorbenen Himmelsgegend und ein totbringendes Jahr aufkamen. (140) Die Menschen
verließen ihr süßes Leben oder schleppten ihre kranken Körper daher. Dann verbrannte der Sirius die
Äcker, so dass sie unfruchtbar wurden, es dörrten die Kräuter und die kranke Saat verweigerte die
Nahrung. Mein Vater forderte auf, erneut zum Orakel Ortygiens und zu Phoebus zu fahren und
nachdem das Meer erneut überquert wurde, um Gnade zu bitten und um zu erfahren, welches Ende
er unserem Unglück bereitete, woher er befahl Hilfe für die Strapazen zu suchen und wohin man nun
fahren sollte. Es war Nacht und auf dem Land besaß der Schlaf alle Lebewesen. Mir schienen die
heiligen Abbilder der Götter und der phrygischen Penaten, die ich mit mir aus Troja, mitten aus den
Flammen der Stadt (150) herausgetragen hatte, vor meinen Augen zu stehen – mir, dem
Träumenden waren sie ganz deutlich in hellem Licht, wo der Vollmond durch die herein geklappten
Fenster schien. Dann sprachen sie mich so an und nahmen mir durch diese Worte meine Sorgen:
„Was dir Apollon sagen wollte, wärest du nach Ortygien gelangt, prophezeit er dir hier und schickt
uns von sich aus an deine Schwellen. Wir sind dir und deinen Waffen nach Dardaniens Untergang
gefolgt, haben unter deiner Führung mit unserer Flotte das aufgewühlte Meer durchreist. Zugleich
werden wir unsere zukünftigen Nachkommen zu den Sternen erheben und deiner Stadt eine
Herrschaft gewähren. Bereite du für große Männer eine (160) große Stadt und gebe nicht die lange
Mühe der Irrfahrt auf. Du musst den Wohnsitz verlegen. Apollon aus Delos hat dir nicht zu dieser
Küste geraten oder befohlen, dass du dich auf Kreta niederlassen sollst. Es gibt einen Ort, die
Griechen nennen bei seinem Beinamen Hesperien, ein altes Land, mächtig an Waffen und fruchtbar
41
im Hinblick auf seine Erdschollen. Oenotrische Männer bewohnten es. Nun geht das Gerücht um, die
Nachkommen hätten es nach dem Namen ihres Anführers Italien genannt. Diese Wohnstätten sind
uns zu Eigen, von hier ist Dardanus und der Vater Iasius, von diesem Anführer stammt unser
Volksstamm. Wohlan, steh auf, und berichte diese Dinge, (170) an denen nicht gezweifelt werden
darf, fröhlich deinem hochbetagten Vater. Er soll Corythus und die Ländereien Ausoniens suchen. Die
dicteischen Felder verwehrt dir Jupiter.“ Über derartige Erscheinungen und über die Stimme von
Göttern bestürzt (und das war kein Traum, sondern ich bildete mir ein von Angesicht zu Angesicht die
Gesichter, die verhüllten Haare und die gegenwärtigen Münder zu erkennen. Dann floss mir eisiger
Schweiß über den ganzen Körper) stürzte ich meinen Körper aus dem Bett, hielt meine Hände
zurückgestreckt gen Himmel und spendete den Opferherden mit einem Gebet unvermischten Wein.
Nachdem ich die Ehrung vollbracht hatte, unterrichtete ich glücklich Anchises und breitete ihm die
Sachlage der Reihe nach aus. (180) Er erkannte die doppelsinnige Nachkommenschaft und die beiden
Ahnherren, und dass er sich mit einem neuen Fehler in den alten Ortschaften getäuscht hatte. Dann
sprach er: „Sohn, du vom trojanischen Schicksal Geplagter, Cassandra hat mir als einzige wiederholt
ein derartiges Unglück prophezeit. Nun erinnere ich mich wieder, dass sie diese geschuldeten Dinge
wiederholt unserem Geschlecht verkündet und oft Hesperien, oft die italischen Königreiche genannt
hat. Aber wer hätte denn geglaubt, dass wir Teucrer an die Gestade Hesperiens kommen würden?
Oder wen hätte die Seherin Cassandra damals bewegt? Mögen wir uns Phoebus fügen und gewarnt
besseren Verhältnissen folgen.“ So sprach er, und alle gehorchten frohlockend seinem Wort. (190)
Auch diese Wohnstätte verließen wir und nachdem nur wenige zurückgeblieben sind, hissten wir die
Segel und fuhren mit unseren bauchigen Schiffen auf das weite Meer. Nachdem die Schiffe auf das
hohe Meer fuhren und weithin kein einziges Land mehr zu sehen war, von allen Seiten nur Himmel
und Meer, da blieb über meinem Kopf ein schwärzliches Gewitter stehen, die Nacht und den Sturm
bringend, und das Gewässer erbebte in der Finsternis. Ununterbrochen wälzten die Winde das Meer
und die große Meeresoberfläche erhob sich. Wir wurden durch einen großen Strudel zerstreut. Die
Regenwolken verhüllten den Tag und die feuchte Nacht raubt den Himmel. Es krachten die Blitze aus
den zerfetzten Wolken, wir wurden von unserem Kurs (200) gestoßen und irrten auf den finsteren
Wogen umher. Der Steuermann Palinurus selbst verneinte, Tag und Nacht am Himmel unterscheiden
und sich an die Routen mitten auf dem Meer erinnern zu können. Wir irrten drei ungewisse Tage lang
auf dem Meer, umgeben von undurchsichtigem Dunkel, und ebenso viele sternenlose Nächte.
Endlich schien sich zum ersten Mal am vierten Tag ein Land zu erheben, Berge sich uns zu eröffnen
und Rauch aufzusteigen. Die Segel fallen, wir erheben die Ruder. Keine Verzögerung – die Seemänner
kräuseln angestrengt die Gischt und durchfurchten das blaue Meer. Zum ersten Mal nahmen mich,
der ich mich aus den Wogen gerettet hatte, die Gestade der Strophaden (210) auf. Die StrophadenInseln, so werden sie bei ihrem griechischen Namen genannt, befinden sich im großen Ionischen
42
Meer, die die finstere Celaeno und die anderen Harpyien bewohnen, nachdem der Palast des Phineus
geschlossen wurde und sie die früheren Tische aus Furcht verlassen haben. Kein Ungeheuer war
abstoßender als jene, kein wilderes Verderben, kein wilderer Zorn der Götter erhob sich von den
Gewässern des Styx. Die jungfräulichen Mienen der Vogelwesen, der äußerst hässliche Auswurf ihrer
Bäuche, die gekrümmten Hände und stets die vor Hunger blassen Gesichter. Sobald wir, die wir
hierhin verschlagen wurden, in den Hafen einliefen, siehe, da sahen wir eine (220) glückliche
Rinderherde auf den Feldern weit und breit und hirtenloses Ziegenvieh über den Gräsern zerstreut.
Wir stürzten uns mit dem Schwert auf sie, riefen die Götter und Jupiter selbst zu dieser Gegend und
zur Beute. Wir errichteten an der kurvigen Küste Lager und verspeisten das fette Opfermahl. Und
plötzlich kamen die Hyrpyien in schrecklichem Sturzflug von den Bergen herbei und unter viel Lärm
schwangen sie ihre Flügel. Sie plünderten das Mahl und besudelten alles mit ihrer ekelhaften
Berührung. Dann noch ihre unheilvolle Stimme mitten in ihrem abscheulichen Geruch. Erneut (231)
errichteten wir in weiter Abgeschiedenheit unter einer Felsenhöhle unsere Tische und stellten erneut
auf die Altäre das heilige Feuer. Erneut flog aus verschiedenen Himmelsrichtungen und aus den
dunklen Verstecken die lärmende Menge der Harpyien mit ihren gebogenen Klauen um die Beute
und verschmutzte mit ihren Mäulern die Speisen. Dann befahl ich den Kameraden die Waffen zu
ergreifen und mit dem unheilvollen Volk Krieg zu führen. Nichts anderes machen die Männer, die
dies von mir befohlen bekamen, und verteilten ihre verborgenen Schwerter über das Gras und
verbargen ihre unsichtbaren Schilde. Sobald sie also im Sinkflug über der kurvigen Küste Lärm von
sich gaben, gab Misenus von einer hohen Warte aus das Zeichen mit dem (240) ehernen Horn. Die
Kameraden griffen an und wagten einen ungewohnten Kampf. Sie versuchten die ekelhaften
Meeresvögel mit dem Schwert blutig zu schlagen. Aber sie ließen keine Gewalt durch ihr Gefieder
noch erlitten sie an ihren Rücken Wunden. Schnell flogen sie auf ihrer Flucht zu den Sternen und
hinterließen eine halbverzehrte Beute und hässliche Fußspuren. Als einzige setzte sich Celaeno auf
einen vorragenden Felsen, die unglückbringende Seherin, und diese Äußerung stößt sie aus ihrem
Herzen hervor: „Ihr seid bereit einen Krieg für den Tod unserer Rinder und den niedergemachten
Stieren anzufangen, ihr Nachkommen des Laomedon, einen Krieg anzufangen und die unschuldigen
Harpyien aus dem Königreich ihres Vaters zu vertreiben? (250) Vernehmt also mit euren Gemütern
diese meine Worte und prägt sie euch ein: Was der allmächtige Vater dem Phoebus, und Phoebus
Apollo mir vorhersagte, erläutere ich nun euch, die größte der Furien. Ihr strebt auf eurer Fahrt nach
Italien, nachdem ihr die Winde gerufen habt. Ihr werdet nach Italien reisen und es wird euch erlaubt
sein, in die Häfen einzulaufen. Aber ihr werdet die euch gewährte Stadt nicht eher mit Mauern
umgeben, bevor euch nicht eine unheilvolle Hungersnot und das Unrecht des Mordanschlages an uns
dazu zwingen, mit euren Kiefern selbst Tische von allen Seiten anzunagen und zu verzehren.“ Dies
sagte sie und flüchtete sich, nachdem sie sich mit ihren Flügelschwingen entfernt hatte, in den Wald.
43
Doch den Kameraden (260) erstarrte durch die plötzliche Furcht das eisige Blut. Es schwand der Mut,
und schon befahlen sie nicht weiter mit Waffen, sondern mit Gelübden und Gebeten Frieden zu
erbitten, seien es Göttinnen, seien es unheilvolle und ekelhafte Vogelwesen. Und mein Vater
Anchises rief von der Küste aus mit ausgestreckten Handflächen die großen göttlichen Willen und
verkündet ihnen ihre verdienten Ehrungen. „Götter, bewahrt uns vor den Drohungen. Götter, wehrt
ein derartiges Unglück ab und bewahrt sanftmütig uns pflichtbewussten Männer.“ Dann befahl er an
der Küste das Seil loszureißen und nachdem die Segeltaue entrollt waren sie schießen zu lassen. Die
Südwinde spannten die Segel. Wir flüchteten auf der schäumenden Flut wohin uns der Wind und der
Steuermann auf Kurs riefen. (270) Schon erscheinen mitten in der Flut das bewaldete Zacynthos,
Dulichium, Same und das durch seine Felsen steile Neritos auf. Wir flüchten vor den Felsenküsten
Ithakas, vor dem Königreich des Laertes und wir verfluchen das Mutterland des wilden Odysseus.
Bald erscheinen auch die wolkenverhangenen Gipfel des Berges Leucates und der von den Seeleuten
gefürchtete Apollontempel. Hierhin eilen wir erschöpft und rücken an die kleine Stadt heran. Der
Anker wurde vom Bug ausgeworfen. Die Schiffe lagen an der Küste. Also verschafften wir uns endlich
unverhofften Boden unter den Füßen. Wir weihten für Jupiter unsere Gelübde und zündeten die
Altäre an. Wir feierten die Küste (280) Actiums mit trojanischen Spielen. Die nackten Kameraden
übten, mit gleitendem Öl eingesalbt, was sie auf den Sportplätzen der Väter gelernt hatten. Wir
waren glücklich aus so vielen argolischen Städten entkommen zu sein und mitten im Feind die Flucht
bewerkstelligt zu haben. Inzwischen umkreiste die Sonne den Lauf eines großen Jahres und ein
eisiger Winter wühlte mit seinen Nordwinden die Meereswogen auf. Ich befestigte das Rundschild
aus gewölbtem Erz und die Waffen des großen Abas an die gegenüber liegenden Pfosten und
bezeichnete das Ereignis mit einem Gedicht: ‚Aeneas hat diese Waffen von den danaischen Siegern
geraubt und weiht sie.‘ Dann befahl ich aus dem Hafen auszulaufen und auf den Ruderbänken Platz
zu nehmen. (290) Im Wettstreit stießen die Kameraden die Ruder ins Meer und fegten über die
Wasseroberfläche. Sofort ließen wir die himmlischen Burgen der Phaecen hinter uns, wir streiften die
Küste von Epirus, liefen in den Hafen von Chaonios ein und schreiten zu der aufragenden Stadt von
Buthrotum. Hier drang ein unglaubliches Gerücht zu den Ohren: Helenus, Sohn des Priamus regiere
über griechische Städte, nachdem er sich der Gattin und des Zepters des Pyrrhus, Sohn des Aecus
bemächtigt hatte und dass Andromache wieder an einen Ehemann aus der Heimat gefallen sei. Ich
staunte und mein Gemüt entbrannte in wundersamem Verlangen den Mann anzusprechen und von
den so großen Schicksalsfügungen zu erfahren. (300) Ich schritt vom Hafen her weiter, verließ die
Flotte und die Küste als Andromache zufällig ein feierliches Opfermahl und Trauergaben vor der Stadt
in einem Hain bei den Gewässern des falschen Sinois der Asche spendete und die Manen bei Hectors
Grabhügel anrief, den sie leer mit einem grünen Rasenstück weihte, sowie zwei Altäre - um dort zu
weinen. Sowie sie mich Kommenden erblickte und wie sie außer sich die trojanischen Waffen, die
44
sich um meinen Körper befanden, sah, war sie aufgrund des großen Wunders erschrocken und
erstarrte mitten im Anblick, die Wärme verließ ihr Gebein, sie schwankte und nach langer Zeit sprach
sie endlich mit Mühe: (310) „Ist deine Gestalt etwa wahrhaftig, kommst du als wahrer Bote, Sohn der
Göttin? Lebst du etwa? Oder wenn dein Lebenslicht gewichen ist, wo ist Hector?“ Das sagte sie,
vergoss Tränen und erfüllte den ganzen Ort mit ihrem Geschrei. Mit Mühe gab ich der Rasenden
weniges preis und tat verwirrt mit nur dünner Stimme den Mund auf: „In der Tat lebe ich und ich
führe mein Leben durch jede Notlage. Zweifle nicht, denn du siehst Wahres. Welcher
Schicksalsschlag hat dich Vertriebene eines so großen Ehemanns beraubt, oder welches Glück, das
deiner ausreichend würdig ist, ist dir zu Teil geworden, Andromache, Gattin des Hector? Dienst du
Pyrrhus als Gattin?“ (320) Sie senkte ihre Miene und sprach mit kleinmütiger Stimme: „Oh die allen
voran einzig glückliche Jungfrau des Priamus, ihr wurde befohlen bei dem feindlichen Hügel unter
den erhabenen Stadtmauern Trojas zu sterben, die nicht irgendwelche Verlosungen um ihre Person
ertragen musste, auch nicht als Gefangene das Bett ihres siegreichen Herrn berührt hat! Ich hingegen
fuhr, nachdem das Vaterland vernichtet wurde, über verschiedene Meere, ertrug den Hochmut des
Achillessprosses sowie einen arroganten jungen Mann und gebar in Knechtschaft ein Kind. Dieser
folgte anschließend der Tochter des Ledas, Hermione und ging eine Spartanerehe mit ihr ein,
übergab mich seinem Diener Helenus als Dienerin. (330) Aber in großer Liebe zu der entrissenen
Gattin entflammt und von den Furien seiner Verbrechen getrieben, empfing Orestes jenen
unvorsichtigen Pyrrhus und ermordete ihn am väterlichen Altar. Nach dem Tod des Neoptolemos
fällt der ihm zugestandene Teil des Königreiches an Helenus, der die chaonischen Felder und ganz
Chaonien nach dem trojanischen Chaon nannte, der Pergamon und diese iliacische Burg auf die
Anhöhen baute. Aber welche Winde, welches Schicksal gestattete dir diesen Kurs? Oder welcher Gott
hat dich Unwissenden an unsere Küsten getrieben? Was ist mit deinem Sohn Ascanius? Hat er
überlebt und nährt sich an der Lebensluft? (340) Den dir bereits Troja … [nicht überliefert] Macht sich
der Junge wenigstens Sorgen um seine verlorene Mutter? Ermuntern ihn etwa sein Vater Aeneas und
sein Onkel Hector zur altehrwürdigen Tugend und zu einer männlichen Gesinnung?“ Derartiges
brachte sie hervor, während sie noch lange vergebens das Jammern von sich hören ließ, als sich aus
der Stadt kommend der Held Helenus, Sohn des Priamus, der von vielen Männern begleitet wurde,
dazugesellte. Er erkannte die Seinigen und führte sie glücklich zu seinem Palast. Zwischen den
einzelnen Worten vergoss er oft Tränen. Ich ging weiter und erkannte ein kleines Troja, und eine
nach dem großen Vorbild nachgebaute kleine (350) Burg, sowie einen ausgetrockneten Bach, der
nach Xanthus benannt war, und umschlang die Schwellen des scäischen Tores. Und nicht zuletzt
erfreuten sich gleichzeitig die Teucrer an der Schwesterstadt. Jene Männer empfing der König in
weiten Säulenhallen. Sie spendeten inmitten der Halle mit Becher voll Wein das Trankopfer,
nachdem das Opfermahl auf goldenem Geschirr aufgetischt war und hielten die Opferschalen.
45
Schon verging Tag für Tag. Die Lüfte riefen nach den Segeln und das Leinen wurde vom stürmischen
Südwind angeblasen. Ich schritt zum Seher mit folgenden Worten und fragte ihn solches: „Du, vom
trojanischen Geschlecht, Dolmetscher der Götter, der du den göttlichen Willen des Phoebus, der du
(360) die Orakel und den Lorbeer des Gottes Clarus, und die Sterne verstehst, sowie die Zungen der
Vögel und die Vorzeichen der glückverheißenden Feder, antworte mir nun (denn mein ganzes
religiöses Empfinden sagte mir wohlwollend eine Reise voraus und alle Gööter rieten mir mit ihrem
göttlichen Wink nach Italien zu streben und die verborgenen Ländereien zu berühren. Als einzige
prophezeit die Harpyie Celaeno – welch Frevel das zu sagen – ein neues Wunder und kündigt uns
finsteren Zorn und entsetzlichen Hunger an. Welche Gefahren meide ich zuerst? Welchen Weg
könnte ich gehen, um so große Mühen zu überwinden?“ Jetzt (370) bat Helenus, nachdem er zuerst
gemäß Brauch die jungen Stiere geschlachtet hatte, inständig um den Frieden der Götter und löste
die Binden von seinem geheiligten Haupt; er führte mich mit seiner Hand zu deinem Heiligtum,
Phoebus, der ich angstvoll ob so vieler, göttlichen Wirkkraft war. Anschließend prophezeite der
Priester aus seinem göttlichen Mund Folgendes: „Sohn einer Göttin (denn die Garantie ist
offenkundig, dass du unter größeren Vorzeichen über das hohe Meer fährst; so lost der Götterkönig
die Schicksalsstränge, so will er den Wechsel des Schicksals, nach dieser Ordnung dreht sich die
Welt), ich will dir nur weniges aus den vielen Orakelsprüchen darlegen, damit du umso sicherer auf
fremden Meeren reisen und dich in einem Hafen Ausoniens niederlassen kannst. Denn die Parzen
verhindern, dass ich, Helenus, das übrige (380) weiß und die saturnische Iuno verbietet, dass es
gesagt wird. Zuerst Italien, das du schon nahe glaubst, du Unwissender, und dich darauf vorbereitest
in seine benachbarten Häfen einzulaufen – ein langer unwegsamer Weg, der über entlegene Länder
führt, trennt dich weit von deinem Ziel. Vorher muss sich sowohl das Ruder in den trinacrischen
Wogen biegen, als auch ist das Salzmeer Ausoniens mit den Schiffen zu bereisen, sowie den See der
Unterwelt und die Insel der Circe Aeae, bevor du die Stadt auf sichere Erde stellen kannst. Ich
möchte dir Zeichen geben – halte du sie aufbewahrt in deiner Erinnerung: Wenn sich dir besorgtem
Mann an dem Wasser eines abgeschiedenen Flusses, eine gewaltige Sau niederlegen wird, die du
unter den (390) am Ufer befindlichen Steineichen findest, die dreißig Junge geworfen hat und weiß
mit dem Rücken auf dem Boden liegt und die weißen Junge um ihre Zitzen, dann wird dies der Ort
deiner Stadt sein, die sichere Ruhe nach den Mühen. Und fürchte du nicht das zukünftige Essen der
Tische: Die Schicksalsstränge werden ihren Weg finden und der von dir gerufene Apollon wird dir
beistehen. Fliehe jedoch vor diesen Ländereien und von dieser Küste Italiens, die ganz nahe von der
Brandung unseres Meeres bespült wird. Alle Städte dort werden von üblen Griechen bewohnt. Dort
haben auch die Locrer aus Naryx eine Stadt errichtet (400) und Idomeneus aus Lyctus besetzt mit
Soldaten die sallentinischen Felder. Hier liegt das kleine Petelia, vom Anführer der Meliboer,
Philoctetes erbaut, das seiner Stadtmauer vertraute. Sobald schon deine Flotte nach der Überfahrt
46
auf der anderen Seite des Meeres steht und du bereits deine Gelübde einlöst, indem du die Altäre
errichtet hast, verhülle dein Haar, indem du es mit einem purpurnen Gewand bedeckst, damit sich
nicht irgendeine feindliche Erscheinung zwischen den heiligen Feuern zur Ehrung der Götter zeigt
und die Vorzeichen stört. Diesen Opferbrauch sollen deine Kameraden, aber auch du selbst
bewahren! Bei diesem Brauch sollen auch eure frommen Nachkommen bleiben. (410) Aber sobald
dich der Wind nach deiner Abreise an die sizilische Küste spült und die Meerenge bei Pelorus noch
enger wird, soll von dir das linke Land und in einem weiten Umweg das linke Meer erstrebt werden.
Meide die rechte Küste und ihr Meer. Diese Gegend sei einst durch Gewalt und von einem großen
Einsturz erschüttert, zersprungen (soviel kann die lange Dauer der Zeit ändern), als beide Landstücke
noch ein zusammenhängendes Stück waren. Mitten hinein kam das Meer mit seiner Gewalt und
schnitt mit seinen Wogen die hesperische Seite von Sizilien ab und überflutete an der Küste Felder
und Städte, die nur durch einen engen Küstenstreifen getrennt waren, mit seiner Brandung. (420) Die
rechte Seite besetzt Scylla, die linke Seite die trotzige Charybdis. Sie schluckt dreimal riesige Fluten
mit dem tiefen Strudel ihres Schlundes in den Abgrund und schleudert sie dann abwechselnd unter
den Himmel und peitscht mit ihrer Woge die Sterne. Eine Höhle aber hält Scylla in dunklen
Schlupfwinkeln fest, die dort ihre Gesichter herausstreckt und die Schiffe auf Felsen zieht. Ihre erste
äußere Erscheinung bis zum Unterleib ist die eines Menschen, eine Jungfrau mit schöner Brust, aber
ganz hinten an ihrem ungeheuren Körper ist sie ein Meerungeheuer, hat Schwanzflossen von
Delphinen mit einem Bauch eines Seewolfs verbunden. Es ist besser, wenn du (430) zögerlich die
Spitzen des Pachynum-Gebirges auf Trinacris umfährst und in einem weiten Bogen umschiffst, als
einmal die hässliche Scylla unter ihrer riesigen Höhle gesehen zu haben und die Felsen die von den
bläulichen Hunden widerhallen. Außerdem, wenn mir, dem Seher Helenus etwas Klugheit zu eigen
ist, wenn du mir irgendwie vertraust, wenn Apollon mein Geist mit wahren Dingen erfüllt, werde ich
dir jenes eine, Sohn einer Göttin, das eine allem voran vorhersagen und dich daran erinnern, indem
ich es immer und immer wieder wiederhole: Verehre und bete zuerst den göttlichen Willen der
großen Iuno an, singe für Iuno bereitwillig Gebete, überliste mit demütigen Gaben die mächtige
Herrin. So wirst du dich endlich als Sieger, nachdem du (440) Trinacria verlassen hast, auf die
italischen Gebiete stürzen können. Sobald du dorthin angelangt sein wirst, wirst du zur Stadt Cumae
gehen, zu den göttlichen Seen und zu der durch die Wälder rauschende Gegend um den Avernus, du
wirst eine rasende Seherin erblicken, die unter einem tiefen Felsen Göttersprüche verkündet, den
Blättern Zeichen und Namen anvertraut. Welche Weissagungen die Jungfrau auch immer auf die
Blätter niederschreibt, ordnet sie in einer Reihenfolge und lässt sie verschlossen in der Höhle zurück.
Jene Weissagungen bleiben fest an ihren Plätzen und fallen nicht aus der Ordnung. Doch wenn der
Wind, nachdem sich die Türangeln gedreht haben, die feinen Blätter antreibt und der Eingang das
zarte Laub in Unordnung gebracht hat, kümmert sie sich dann (450) niemals darum, die in dem
47
hohlen Felsen umherfliegenden Blätter zu ergreifen, auch nicht darum, sie an ihren Platz
zurückzurufen oder die Prophezeiungen zu verbinden: Die Ratlosen ziehen von dannen und hassen
den Sitz der Sibylle. Hier soll dir der Zeitverlust nicht so wichtig sein, gleichwohl dich deine
Kameraden schelten werden, deine Reise die Segel mit Gewalt aufs hohe Meer rufen wird und du die
Schwellung des Segels mit günstigen Winden erfüllen könntest. Ja, du sollst zur Seherin herantreten
und sie durch Bitten um eine Weissagung beten, sie selbst soll dir prophezeien und willig ihre Stimme
und ihren Mund eröffnen. Sie wird dir die Völker Italiens (460) darlegen, die Kriege, die kommen
werden, und auf welche Weise du jede Mühe entweder meiden und ertragen kannst. Wenn du sie
darum bittest, wird sie dir günstige Wege gewähren. Dies sind die Dinge zu denen ich dich mit meiner
Stimme ermahnen darf. Gehe nun, trage das gewaltige Troja durch deine Taten bis zu den Sternen.“
Nachdem der Seher diese Worte so in freundlichem Ton gesprochen hatte, befahl er, dass
anschließend Geschenke, die durch das Gold und dem geschnitzten Elfenbein schwer an Gewicht
waren, zu den Schiffen getragen wurden und er stopfte in die Schiffe gewaltiges Silber und Kesseln
aus Dodona, einen Brustpanzer, der mit Stacheln verbunden war, aus Gliedern mit dreifachem Gold
geflochten, eine Helmspitze eines ausgezeichneten Helms, einen Helmbusch: die Waffen des
Neoptolemos. Seine Gaben galten auch meinem Vater. (470) Er gab Pferde hinzu und Wagenlenker,
er ergänzte das Ruderwerk, zugleich rüstete er die Kameraden mit Waffen aus. Inzwischen befahl
Anchises, dass sich die Flotte mit den Segeln bereit machen sollte, nicht dass es zu irgendeiner
Verzögerung bei dem tragenden Wind kam. Diesen Sprach der Übersetzer des Phoebus mit viel
Ehrfurcht an: „In erhabener Vermählung mit der Venus - voll Würde, Anchises, Schutzbefohlener der
Götter, der du zweimal aus den trojanischen Ruinen entrissen wurdest, siehe das Land Ausoniens
liegt vor dir. Beeile dich dorthin zu segeln. Und trotzdem ist es nötig auf dem Meer an diesem Land
vorbeizugleiten: Jener Teil Ausoniens, den euch Apollo ausbreitet, liegt fern. (480) Gehe“, sagte er,
„du Glücklicher ob des Pflichtgefühls deines Sohns. Wozu fahre ich noch weiter fort und halte dich
durch mein Sprechen von den aufkommenden Südwinden ab?“ Und nicht weniger war Andromache
über die endgültige Abreise betrübt und brachte Gewänder, die mit goldenem Faden bestickt waren,
und für Ascanius einen phyrgischen Mantel (und sie stand in der Ehre nicht nach), belud ihn mit
Kleidergeschenken und spricht solches: „Empfange auch diese Dinge, Junge, die dir Erinnerungen
meiner Hände sein mögen, sie mögen die langwährende Liebe von mir, Andromache, der Gattin des
Hector, bezeugen. Ergreife die letzten Gaben der Deinigen, oh das mir einzige Abbild meines
Astyanas! (490) Genauso hatte er die Augen, die Hände, den Mund. Und jetzt würde er im gleichen
Alter mit dir zum Mann werden.“ Als ich schon dabei war wegzugehen sprach ich alle mit Tränen in
den Augen an: „Lebt glücklich, für die sich das Schicksal sich schon erfüllt hat. Wir werden von den
einen zu den anderen Göttersprüchen gerufen. Euch ist Ruhe verschafft. Ihr müsst keine
48
Meeresoberfläche durchpflügen und nicht müsst ihr die ausonischen Fluren suchen, die stets zurück
weichen. Ihr seht das Abbild des Xanthus und Troja, das eure Hände nachgebildet haben – unter
besseren Vorzeichen, wünsche ich – und das es den Griechen weniger stark ausgeliefert sein möge.
(500) Wenn ich einmal den Tiber und die benachbarten Fluren des Tibers betrete, und die meinem
Stamm gegebenen Stadtmauern erblicken werde, und einmal die verwandten Städte, die
benachbarten Völker und Epirus und Hesperien (denen zugleich Dardanus als Gründer und dasselbe
Schicksal zu eigen ist), dann werden wir beide Troja in unseren Gemütern zu einem einzigen machen:
Es möge diese Sorge um unsere Nachkommen bleiben.“
Wir fuhren aufs Meer hinaus, in der Nähe des benachbarten Ceraunia, wovon der Weg nach Italien
und die Fahrt über die Wogen am kürzesten sind. Die Sonne war inzwischen untergegangen und die
dunklen Berge wurden von Schatten umgeben. Wir legen uns im Schoß unserer ersehnten Erde bei
den Wogen nieder und nachdem die Ruderwachen (510) ausgelost wurden, legten wir unsere Körper
weit und breit an den trockenen Strand. Der Schlaf erfrischte unsere erschöpften Glieder. Noch nicht
war die Nacht, die von den Stunden getrieben wurde, mitten auf ihrer Kreisbahn. Rasch stand unser
Steuermann Palinurus von seinem Bett auf, erforschte alle Winde und vernahm mit seinen Ohren die
Lüfte. Er bezeichnet alle Sterne, die über den stillen Himmel glitten, den Arcturus, und die
regenverursachenden Hyaden, die beiden Dreschochsen und suchte den mit Gold bewaffneten
Orion. Nachdem er gesehen hatte, dass alle Sterne am heiteren Himmel feststanden, gab er vom
Schiffsheck ein helles Signal. Wir brachen auf, (520) versuchten weiter zu reisen und breiteten die
Schwingen unserer Segel aus. Schon färbte sich Aurora rot, nachdem die Sterne in die Flucht
geschlagen waren, als wir in der Ferne dunkle Hügel und das flache Italien sahen. Als erster rief
Achates laut ‚Italien‘ und auch die Kameraden begrüßten in fröhlichem Geschrei Italien. Anchises gab
einen Kranz auf einen großen Krug, füllte ihn mit unvermischtem Wein und rief die Götter an,
während er aufragend auf dem Schiffsheck stand: „Götter, Beherrscher des Meeres, der Erde und der
Stürme, gebt uns eine günstige Route mit Rückenwind und weht uns gütig an.“ (530) Es folgten
zahlreich die erwünschten Winde, der Hafen stand schon näher offen und der Tempel erschien auf
der Burg der Minerva. Die Kameraden wickelten die Segel auf und wendeten den Bug zur Küste. Der
Hafen war durch die südöstliche Strömung zum Bogen geformt und die vorliegenden Felsen
schäumten durch die Salzgischt, er selbst verbirgt sich dahinter. Die turmhohen Felsen tauchten ihre
Arme ein und bildeten zwei Mauern und der Tempel lag hinter der Küste zurück. Hier sah ich vier
Pferde mit einem schneeweißen Glanz auf dem Gras – das erste Vorzeichen – die das Feld weit und
breit abgrasten. Und mein Vater Anchises sagte: „Oh fremde Erde: Du bringst Krieg. (540) Für Krieg
werden die Pferde ausgerüstet, diese Herde droht mit Krieg. Aber dennoch werden die gleichen
Pferde es einmal gewohnt sein einen Wagen zu ziehen und die Zügel unter dem Joch in Eintracht zu
49
tragen – und die Hoffnung auf Friede.“ Dann beteten wir zu den heiligen Wirkkräften der
waffentönenden Pallas, die uns Jubelnden als erste empfing, und wir verhüllten unser Haupt vor den
Altären mit einem phrygischen Schleier. Gemäß den Anweisungen des Helenus – die größte die er
uns gegeben hatte –verbrannten wir, wie befohlen, die Dankopfer der argivischen Iuno. Es gab
keinen Aufschub! Sofort nachdem wir die Gebete der Reihe nach beendet hatten, wendeten wir die
Rahe der Segelstangen und (550) verließen die griechischen Wohnstätten und die verdächtigen
Fluren. Jetzt erkannten wir den Meeresbusen von Tarent, eine Stadt des Hercules (wenn das Gerücht
wahr ist), gegenüber erhebt sich die Göttin Lacinia, die caulonischen Burgen und das Schiffbruch
bereitende Scylaceum. Dann war in der Ferne, in der Flut von Trinacria der Ätna zu erkennen, und wir
vernahmen das gewaltige Tosen des Meeres und weithin gepeitschte Felsen sowie an der Küste
gebrochene Stimmen. Die Wasser sprangen auf und in der Brandung mischte sich der Sand. Und
mein Vater Anchises sagte: „Das ist hier ohne Zweifel jene Charybdis: Diese Klippen hat uns Helenus
prophezeit, auch diese schrecklichen Felsen. (560) Befreit euch, oh Kameraden, und erhebt euch
sogleich an den Rudern. Palinurus wendete den Bug zu den Wogen auf der linken Seite. Die ganze
Gefolgschaft strebte mit Hilfe der Rudern und der Winde zur linken Seite. Wir wurden von einem
gekrümmten Strudel gen Himmel gehoben und sanken zugleich, nachdem die Woge unter uns
wegbrach, bis zu den tiefen Manen. Dreimal gaben die Klippen zwischen den hohlen Felsen Lärm von
sich,dreimal sahen wir die herausgeschlagene Gischt und tropfende Sterne. Inzwischen verließ uns
erschöpfte Männer der Wind mit der Sonne und wir, die wir den Weg nicht mehr kannten, gelangten
an die Küste des Kyklopen. (570) Der Hafen war vor dem Andrang der Winde geschützt und war
selbst gewaltig. Aber gleich nebenan krachte der Ätna mit seiner schrecklichen Verwüstung und
manchmal brach er eine schwarze Wolke zum Himmel in einem pechschwarzen Wirbel dampfend mit
glühender Asche hervor. Er erhob Feuerkugeln und beleckte die Sterne. Manchmal richtete er ganze
Felsen und die entrissenen Innereien des Berges auf indem sie sie ausspie, ballte das verflüssigte
Gestein mit Lärm unter dem Himmel zusammen und kochte es im tiefsten Grund auf. Es gab das
Gerücht, dass der wegen eines Blitzes halbverbrannte Körper des Enceladus durch diese Masse
bedrückt wurde und dass der gewaltige Ätna auf ihm die ihm (580) aufgebürdeten Flammen aus
seinen jähen Ofen ausblies und sooft der Erschöpfte die Seite wechselte, habe ganz Trinacria unter
Rauschen gebebt und den Himmel mit Rauch bedeckt. Wir ertrugen während jener Nacht durch die
Wälder geschützt unvorstellbare Schreckgestalten, ohne dass wir sahen, welche Ursache das
Geräusch hervorbrachte, denn es waren weder die Feuer der Sterne noch das mit seinen
himmlischen Sternen leuchtende Himmelsgewölbe zu sehen, dafür aber Gewölk am dunklen Himmel
und die tiefe Nacht hielt den Mond in einer Wolke. Und schon erhob sich der folgende Tag, als sich
der Morgenstern das erste Mal zeigte, und Aurora hatte den feuchten Schatten am Himmelsgewölbe
wegbewegt, (590) als plötzlich die ungewöhnliche, vor Magerkeit geschwächte, bei ihrem Zustand
50
bemitleidenswerte Gestalt eines unbekannten Mannes aus dem Wald schritt und demütig ihre
Hände zur Küste ausstreckte. Wir blickten zurück: Finsterer Schmutz, ein langgewachsener Bart und
ein Gewand, das mit Dornen verbunden war. Aber im Hinblick auf das Übrige war er ein Grieche und
wurde einst in die vaterländischen Kämpfe nach Troja geschickt. Sobald dieser Mann die dardanische
Kleidung und fern die trojanischen Waffen sah, verharrte er kurz, heftig bestürzt über diesen Anblick,
und zügelte sein Schritt. Bald darauf stürzte er weinend unter Flehen zur Küste: „Ich schwöre bei den
Sternen, (600) bei den Göttern und bei diesem belebenden Licht des Himmels, nehmt mich mit, ihr
Tecurer. Führt mich weg, egal zu welchen Ländern. Dies möge genügen. Ich weiß, dass ich einer von
der griechischen Flotte bin und gestehe, dass ich im Krieg die Penaten Iliums angegriffen habe. Dafür
werft mich in die Flut, wenn das Unrecht meines Verbrechens so groß ist, oder ertränkt mich im
weiten Meer. Wenn ich sterbe, wird es mich freuen, dass ich durch Menschenhände umgekommen
bin.“ Das sagte er, umfasste unsere Knie und verharrte, indem er sich vor unseren Knien hin und her
wälzte. Wir forderten ihn auf zu sagen, wer er sei, welchem Blut er entwachsen und schließlich zu
verraten, welches Schicksal ihn umtreibe. (610) Ohne lange zu zögern gab dem jungen Mann mein
Vater Anchises selbst die Hand und stärkte dessen Mut durch die gegenwärtige Bürgschaft. Jener,
nachdem er diese Furcht endlich abgelegt hatte, sagte: „Ich komme aus der Heimat Ithaka, bin ein
Begleiter des unglückbringenden Odysseus namens Achaemenides. Ich bin nach Troja aufgebrochen,
weil mein Vater Adamastos arm war (wenn das doch nur mein Schicksal geblieben wäre!). Hier ließen
mich die vergesslichen Kameraden, als sie die blutigen Schwellen rastlos verlassen hatten, in der
gewaltigen Höhle des Kyklopen im Stich. Die Wohnhöhle ist voller Eiter und blutigem Fraß, innen
schattig, gewaltig. Er selbst ragt steil hinauf und erschüttert die hohen (620) Sterne (Götter – wendet
derartiges Unheil von der Erde ab!) – das ist weder leicht mit anzusehen noch leutselig für irgendeine
Rede. Er ernährt sich von den Gedärmen unglücklicher Menschen und von ihrem finsteren Blut. Ich
hab selbst gesehen wie er die Körper von zwei meiner Kameraden inmitten in der Höhle mit dem
Rücken an einem Felsen zerbrach, nachdem er sie mit seiner großen Hand ergriffen hatte und wie die
rauhen Schwellen im blutigen Eiter schwammen. Ich sah, wie er die in finsterer Jauche
schwimmenden Glieder verzehrte und wie die warmen Rippen unter seinen Zähnen erbebten –
freilich nicht straflos, denn Odysseus ertrug derartiges nicht, noch vergaß der Ithaker seiner selbst in
so großer Gefahr. (630) Denn als er zugleich durch seinen Fraß vollgefressen war und im Wein
versank legte der Riese seinen gekrümmten Nacken und sich quer in der Höhle nieder, während er im
Schlaf blutigen Eiter ausspie sowie Brocken, die mit blutigem Wein vermischt waren, beteten wir zu
den großen göttlichen Wirkkräften, losten uns wechselseitig aus und zerstreuten uns von allen Seiten
gemeinsam um ihn. Mit einem spitzen Speer durchbohrten wir sein gewaltiges Auge, das sich als
einziges Auge unter seiner finsteren Stirn verbarg, so groß wie die argolischen Rundschilde oder die
Sonne. Endlich rächten wir Glückliche die Seelen unserer Kameraden. Aber flieht, oh ihr
51
Unglücklichen, flieht und (640) löst das Tau von dieser Küste. Denn wie beschaffen und wie groß
Polyphermus in der Höhle Wolle tragende Schafe einsperrt und ihre Brüste melkt, so wohnen
massenweise hundert andere entsetzliche Kyklopen an dieser kurvigen Küste, und sie irren in den
hohen Bergen umher. Dreimal füllen sich die Bogen des Mondes mit Licht, während ich mein Leben
in den Wäldern, zwischen den verlassenen Wildlagern der Tiere und den Wohnhöhlen dahinschleppe
und von einem Felsen aus die riesigen Kyklopen erblicke und vor dem Geräusch ihrer Füße und vor
ihrer Stimme erzittere. Die Zweige (650) gewähren unglückliche Nahrung, Beeren und steinige
Kornelkirschen, und Gräser, samt den Wurzeln herausgerissen, ernähren mich. Während ich alles um
mich herum beobachtete, erblickte ich zum ersten Mal eine Flotte, die zu dieser Küste fuhr. Dieser
Flotte, welche sie auch immer sei, habe ich mich ausgeliefert. Es ist genug dem entsetzlichen
Volksstamm entflohen zu sein. Vernichtet lieber ihr diese Seele mit irgendeiner Todesart.“ Kaum
hatte er das gesagt, da sahen wir ganz oben auf dem Berg den Hirte Polyphemus selbst, der sich
zwischen seinem Kleinvieh mit seiner gewaltigen Masse bewegte und zur ihm bekannten Küste
strebte, ein Schrecken erregendes Ungeheuer, hässlich, gewaltig, dem das Augenlicht geraubt wurde.
Eine gestutzte Pinie lenkte seine Hand und festigte seine Schritte. (660) Er wurde von Wolle
tragenden Schafen begleitet. Dies war sein einziges Vergnügen und ein Trost für sein Unglück.
Nachdem er das tiefe Meer berührt und die Meeresoberfläche erreicht hatte, wusch er sodann das
noch flüssige Blut seines ausgestochenen Auges ab, während er mit den Zähnen knirschte und
stöhnte. Er schritt mitten durch das Meer, noch nicht hatte die Flut seine steil aufragenden Seiten
benetzt. In der Ferne beschleunigten wir Zitternden unsere Flucht, nachdem wir den demütig
Bittenden – und so mit Recht – aufgenommen hatten und zerschnitten leise das Tau. Wir wendeten
uns, vorwärts gegen die wettstreitenden Ruder geneigt, dem Meer zu. Der Kyklop fühlte das und
wendete seine Schritte zu dem Geräusch meiner Stimme. (670) Sobald es aber keine Möglichkeit
mehr gab uns mit seiner Rechten heftig zu erstreben und er der ionischen Flut beim Verfolgen nicht
mehr gleichkommen konnte, erhob er gewaltiges Geschrei, wodurch das Meer und alle Wogen
erbebten, die Erde Italiens völlig erschrak und der Ätna aus seinen bauchigen Höhlen dröhnte. Doch
die Kyklopensippe, aus den Wäldern und von den hohen Bergen aufgescheucht, stürzte zum Hafen
und erfüllte den Strand. Wir erkannten, wie die Brüder des Ätnas vergebens mit finsterem Blick
dastanden und ihre Köpfe hoch gen Himmel richteten, eine schaudererregende Versammlung. Und
wie mit ihren aufragenden Spitzen die (680) in den Himmel ragenden Eichen oder die
zapfentragenden Zypressen dastanden, der hohe Wald des Jupiter oder der Hain der Diana. Heftige
Furcht trieb uns dazu die Schiffstaue wohin auch immer herausschießen zu lassen und die Segel in
den günstigen Winden zu spannen. Wohingegen mich die Befehle des Helenus mahnen, nicht den
Kurs zwischen Scylla und Charybdis zu wählen – auf beiden Seiten ein Todesweg mit nur geringem
Unterschied. Es war sicher die Segel zurückzuwenden. Doch siehe: Da half uns der Nordwind, der von
52
der Meerenge von Pelorus geschickt wurde. Ich fuhr an der Küste aus gewachsenem Felsen
Pantagiens, sowie an der megarischen Bucht und an dem flachliegenden Thapsos vorbei. (690) Solche
seiner Irrfahrten zeigte uns Achaemenides, als er in entgegengesetzte Richtung erneut an den Küsten
vorbeisegelte, damals als Begleiter des unglückbringenden Odysseus. Im sizilischen Golf liegt eine
vorgestreckte Insel gegenüber dem wellenreichen Plemyrium. Die Vorfahren nannten sie Ortygien. Es
gab das Gerücht, dass der Strom Alpheus von Elis hierhin seine geheimen Bahnen unterhalb des
Meeres gelenkt hatte, der nun an deiner Küste, Arethusa, mit dem sizilischen Meer zusammenfließt.
Wie uns befohlen wurde, verehrten wir die großen Wirkmächte des Ortes und ich überwand den
fruchtbaren Boden des überschwemmenden Helorus. Jetzt (700) segelten wir an den hohen Felsen
und an den nach vorn geneigten Klippen von Pachynum vorbei und in der Ferne tauchte Camerina
auf, das vom Schicksal niemals zugestanden bekam, sich zu bewegen und die geloischen Felder,
sowie Gela selbst, das nach dem Namen seines wilden Flusses benannt ist. Dann zeigte der steil
aufragende Acragas weithin seine äußerst großen Mauern, einst ein mutiger Erzeuger von Pferde.
Und ich verlasse auch dich, nachdem mir Winde gewährt wurden, du palmenreicher Selinus, und
streife die unheilvollen, lilybeischen Untiefen mit ihren verborgenen Felsen. Jetzt nahmen mich der
Hafen von Drepanum und seine unerfreuliche Küste auf. Hier, von so vielen Stürmen des Meeres
getrieben, ach, (710) verliere ich meinen Vater Anchises, mein ganzer Trost für die Sorgen und
Schicksalsschläge. Hier, teuerster Vater, lässt du mich Erschöpften im Stich, ach, der du vergebens
aus so großen Gefahren entrissen wurdest. Und nicht sagte mir der Seher Helenus, obwohl er mir
viele grauenvolle Dinge vorhersagte, diese Trauer voraus, auch nicht die finstere Caelano. Dies war
die letzte Anstrengung, dies war die Grenze meiner langen Reisen. Als ich von dort abreiste, spülte
mich ein Gott an eure Gestade.“
So erzählte der Vater Aeneas all den gespannten Leuten als einziger die Schicksalssprüche der Götter
und belehrte sie über seine Route. Letztlich verstummte er und nachdem er hier geendet hatte,
ruhte er.
Buch 4
Aber die Königin, die schon lange durch schwere Sorge verwundet war, ernährte mit ihren Adern die
Wunde und verzehrte sich selbst durch das verborgene Liebesfeuer. Immer wieder traten ihr die
vielen Tugenden des Mannes und die große Ehre seines Stammes vor Augen. Es hafteten sein Gesicht
und seine Worte fest in ihrer Brust und die Sorge gewährte ihren Gliedern keine sanfte Ruhe. Am
folgenden Tag musterte Aurora mit der Leuchte des Phoebus die Ländereien und entfernte den
53
feuchten Schatten vom Himmelsgewölbe, als die verstörte Dido so zu ihrer Schwester spricht, die mit
ihr einmütig war: „Anna, meine Schwester, welche Traumbilder mich Angstvolle erschrecken! (10)
Welcher neue Gast näherte sich hier an unsere Heimat, wie sieht er aus, wie sehr mit tapferer Brust
und Waffen! Ich glaube freilich – und der Glaube ist nicht unbegründet – dass er ein Göttersohn ist.
Die Furcht offenbart gewöhnliche Menschen. Ach, durch welches Schicksal wurde jener
umgetrieben! Von welchen Kriegen, die er durchlitten hatte, berichtete er! Wenn es mir nicht fest
und unverrückbar in meinem Herzen säße, dass ich mich nicht mehr mit irgendeinem Mann durch
einen Ehebund vereinigen will, nachdem mich – vom Tod getäuscht – meine erste Liebe betrogen
hat, wenn ich der Hochzeit und der Hochzeitsfackeln nicht überdrüssig wäre, könnte ich vielleicht
dieser einen Versuchung unterliegen. (20) Anna – ich werd’s dir nämlich gestehen – nach dem
Schicksal meines unglücklichen Gatten Sychaeus und nach den Penaten, die mit dem brüderlichen
Blut benetzt worden sind, kann dieser Mann als einziger meine Gefühle umstimmen und meinen
schwankenden Sinn bewegen. Ich erkenne Spuren meines alten Liebesfeuers. Aber eher wünschte
ich, dass sich mir entweder die tiefe Erde spaltete, oder mich der allmächtige Vater durch einen
Blitzschlag in die Schattenwelt hineinstieß, in die bleichen Schatten im Erebus, und in die tiefe Nacht,
bevor ich dich, Anstand, verletze oder deine Gesetze außer Kraft setze. Jener, der mich als erster
heiratete, hat meine Liebe mit ins Grab genommen. Jener möge sie bei sich haben und im Grab
bewahren.“ (30) So sprach sie, dann netzte sie ihren Busen mit hervorbrechenden Tränen. Anna
antwortete ihr: „Oh du von deiner Schwester mehr Geschätzten als das Licht, willst du alleine, ewig
trauernd deine Jugend zerpflücken, und nicht die süßen Söhne der Venus auch nicht ihre
Belohnungen kennen lernen? Denkst du, das kümmere die Asche oder die begrabenen Totengeister?
Sei es so: Keine Ehemänner haben dich Liebeskranke bisweilen umgestimmt, weder in Libyen noch
vorher in Tyros. Du hast Iarbas verschmäht und andere Fürsten, reich an Siegen, die das afrikanische
Land ernährt. Kämpfst du jetzt sogar gegen eine angenehme Liebe? Ist dir noch nicht in den Sinn
gekommen auf wessen Fluren du dich da niedergelassen hast? (40) Von hier umzingeln dich die
Städte der Gaetuler – ein im Krieg unüberwindlicher Volksstamm – und die zügellosen Numider,
sowie das ungastliche Syrte. Von dort die vor lauter Dürre verlassene Gegend und die weithin
tobenden Barcaeer. Wozu soll ich die Kriege nennen, die sich von Tyros aus erheben sowie die
Drohungen deines Bruders? Ich freilich glaube, dass die trojanischen Kähne mit dem Wind gemäß
den göttlichen Auspizien und dank der günstig gesinnten Iuno ihre Route hierher eingeschlagen
haben. Wie mächtig wirst du, Schwester, diese Stadt, dieses Königreich sich durch einen solchen
Ehemann erheben sehen! Durch welch große Ereignisse, von den Waffen der Teucrer begleitet, wird
sich der punische Ruhm erheben! (50) Bitte du nur die Götter um ihre Gunst und nachdem du Opfer
unter günstigen Vorzeichen vollbracht hast, gebe dich der Gastfreundschaft hin und umschlinge
54
Gründe, die ihn zum bleiben bewegen, während der Wintersturm und der wasserreiche Orion auf
dem Meer wüten, die Schiffe beschädigt sind und der Himmel nicht günstig ist.“
Nach diesen Worten entflammte Didos Gemüt in heftiger Liebe und Anna gab ihrem zweifelnden
Geist Hoffnung und löste die Scham. Zunächst gingen sie zu den Tempeln und ersuchten an den
Altären Frieden. Gemäß Brauch schlachteten sie auserlesene Schafe für den gesetzbringenden Ceres,
für Phoebus und für den Vater Lyaeus und allen voran für Iuno, die sich um das Band der Ehe sorgt.
Die äußerst schöne Dido (60) selbst, die in ihrer Rechten eine Schale hielt, goss mitten zwischen die
Hörner eines strahlendweißen Ochsen Wein oder sie ging vor dem Antlitz der Götter zu den reich
geschmückten Altären, erneuerte den Tag durch Opfergaben und fragte die noch lebenden Innereien
um Rat, indem sie in die geöffneten Bäuche des Viehs spähte. Oh, der unkundige Verstand der Seher!
Welche Gelübde, welche Tempel helfen dem rasenden Menschen! Inzwischen verzehrte die sanfte
Liebesflamme ihr Mark und verschwiegen lebte die Wunde unter ihrer Brust. Die unglückliche Dido
wurde vom Feuer verzehrt und sie streifte rasend in der ganzen Stadt umher, wie eine vom Pfeil
getroffene Hirschkuh, (70) die in der Ferne ein Hirte inmitten der Haine Kretas, weil sie unvorsichtig
war, getroffen hatte als er jagte, und unwissend das Flugeisen im Tier stecken ließ: Jene
durchwanderte auf ihrer Flucht Wälder und die dictaeischen Gebirgspässe. An ihrer Seite haftete der
totbringende Pfeil.
Nun führte Dido Aeneas mit sich mitten durch die Stadt, zeigte ihm die sidonischen Schätze, die für
ihn gewappnete Stadt, begann zu sprechen, stockte dann mitten im Wort. Nun erstrebte sie abends
ein gleiches Gastmahl, erbat dringend, erneut in wahnsinnigem Zustand von den trojanischen Mühen
zu hören und hing erneut an den Lippen des Sprechenden. (80) Sobald sie später auseinander
gegangen waren, der dunkle Mond seinerseits das Licht unterdrückte und die untergehenden Sterne
zum Schlaf rieten, trauerte sie allein in ihrem leerstehenden Palast und lag auf ihren verlassenen
Polstern. Sie – von ihm getrennt – hörte jenen Abwesenden, sah ihn, oder hielt in ihrem Schoß
Ascanius, ergriffen von der Ähnlichkeit zu seinem Vater, und versuchte, ob sie nicht die unsägliche
Liebe täuschen konnte. Es erhoben sich nicht mehr die angefangenen Türme, die Jungmannschaft
übte keine Waffen aus, noch bereiteten sich der Hafen oder die für den Krieg sicheren Bollwerke vor.
Es lagen die unterbrochenen Arbeiten brach, sowie die gewaltigen Zinnen der Stadtmauern, einem
Bauwerk, das nahezu den Himmel berührte. (90) Sobald die teure Gattin des Jupiter fühlte, dass
Dido von einer derartigen Krankheit befallen war und ihr guter Ruf ihrer Raserei nicht im Wege stand,
griff die Tochter des Saturn mit derartigen Worten Venus an: „Ihr heimst wahrhaft herausragendes
Lob und reiche Beute ein, du und dein Sohn (eine große und erwähnenswerte Wirkkraft, wenn eine
Frau durch die List zweier Götter besiegt wurde). Es blieb mir so weit nicht verborgen, dass du unsere
Stadt fürchtetest und dass dir die Häuser des erhabenen Karthagos verdächtig waren. Aber welche
55
Art ist das, oder wohin führt das nun in einem solchen Wettstreit? Warum (100) sorgen wir nicht für
einen ewigen Frieden und für ein Ehebündnis? Du hast doch, was du mit deinem ganzen Sinn
erstrebt hast: Dido brennt in Liebe und die Raserei läuft ihr durch das Gebein. Lass uns also dieses
gemeinsame Volk unter der gleichen Leitung regieren! Möge sie dem phrygischen Gatten dienen und
die Tyrier als Mitgift deiner Rechten anzuvertrauen.“ Dieser erwiderte Venus wie folgt (sie spürte
nämlich, dass Iuno in heuchlerischer Absicht sprach, damit sie die Herrschaft Italiens zu den libyschen
Gestaden umwenden konnte): „Wer würde denn töricht solches ablehnen oder sich lieber mit dir in
einem Krieg messen? Wenn nur dem, was du als Tatsache schilderst, Fortuna folgte! (110) Doch ich
werde durch das Schicksal in Ungewissheit gehalten, ob Jupiter will, dass aus den Tyrern und den von
Troja Aufgebrochenen eine einzige Stadt wird und ob er es gutheißt, dass sich die beiden Völker
vermischen und durch Verträge miteinander verbinden. Du bist seine Gattin, du hast das göttliche
Recht sein Gemüt durch Bitten auf die Probe zu stellen. Geh los, ich will dir folgen!“ Dann nahm die
königliche Iuno wie folgt die Rede auf: „Ich werde mich darum kümmern. Nun, nach welcher
Überlegung ausgeführt werden kann, was uns bevorsteht, werde ich dir in wenigen Worten (pass
auf!) erklären: Aeneas und zugleich die äußerst unglückliche Dido bereiten sich vor in den Wald zu
gehen um zu jagen, sobald der morgendliche Titan Sol den ersten Sonnenaufgang erhebt und den
Erdkreis mit seinen Strahlen erneuert. (120) Auf diese will ich von oben her eine schwarze Wolke mit
Hagel vermischt ausschütten und den ganzen Himmel mit Donner erschüttern, während die Jäger
aufgeregt bei der Treibjagd den Weideplatz einkreisen. Die Begleiter werden flüchten und sie werden
von der dunklen Nacht bedeckt werden. Dido und der trojanische Fürst werden zu ein und derselben
Höhle gelangen. Ich werde da sein und – wenn mir dein Einverständnis sicher ist – sie in einem festen
Eheband verbinden und sie ihm ganz zu eigen geben. Hier wird ihre Hochzeit sein.“ Nicht abgeneigt
stimmte Venus der Bittenden zu und lächelte über die erfundene List.
Inzwischen verließ Aurora den Ozean, während sie sich zum Himmel erhob. Eine erlesene
Jungmannschaft marschierte aus den Stadttoren, nachdem die Sonne aufgegangen war, dabei
weitmaschige Netze, Fallstricke, Jagdspieße mit breiter Schneide, und es stürzten die massylischen
Reiter sowie die Menge der Spürhunde los. Die Vornehmen der Punier erwarteten die Königin, die
noch im Schlafgemach zögerte, an der Schwelle und es stand da ihr Pferd, auffallend durch ein
Purpurgewand und Gold und kaute wild auf den schäumenden Zügeln. Endlich trat sie hervor, von
einer großen Schar dicht umdrängt, umgeben von einem sidonischen Obergewand, das einen bunten
Saum hatte. Ihr Köcher war aus Gold und ihr Haar war mit Gold durchflochten und eine goldene
Gewandspange hielt ihr purpurnes Gewand zusammen. (140) Nicht zuletzt traten auch die
phrygischen Begleiter und der fröhliche Iulus ein. Aeneas selbst, allen voran der Schönste, stürzte
sich als Kamerad hinein und verband die beiden Züge. Es war, wie wenn Apollon das mütterliche
56
Delos besuchte, nachdem er das winterliche Lycien und die Strömungen des Xanthus verlassen hatte,
und die Reigentänze wiederholte, dann die Kreter, die Dryoper und die buntbemalten Agathyrser
vermischt um den Altar lärmten. Wie wenn er selbst von den Bergrücken des Cynthus schritt und sein
fließendes Haar mit weichem Laub niederhielt indem er es sanft berührte, und mit Gold umwickelte
und die Pfeile auf seiner Schulter klangen. Nicht lässiger als er marschierte (150) Aeneas, und es
strahlte so große Würde aus seinem edlen Gesicht. Nachdem man in den hohen Bergen und in den
unwegsamen Wildlagern angekommen ist – da schau – liefen vom Gipfel eines Felsens vertriebene,
wilde Ziegen die Bergrücken herab. Von einer anderen Seite überquerten Hirsche in ihrem Lauf
leerstehende Felder, bildeten bei ihrer Flucht einen staubigen Zug und verließen die Berge. Und der
Junge Ascanius freute sich mitten in den Tälern auf seinem eifrigen Pferd und bald überholt er diese
in seinem Galopp, bald jene, und wünschte sich durch Gebete, dass ihm zwischen dem trägen Vieh
ein schäumender Eber gewährt würde oder dass ein rotgelber Löwe vom Berg herabstieg. (160)
Inzwischen begann der Himmel mit großem Brausen vermischt zu werden, es folgte eine Wolke mit
untergemischtem Hagel und in Furcht eilten weit und breit die tyrischen Begleiter, die trojanische
Jungmannschaft sowie der dardanische Enkel der Venus über die Felder hinweg zu verschiedenen
Hütten. Dido und der trojanische Fürst gelangten zur selben Höhle. Zuerst gaben Tellus und die
Ehestifterin Iuno ein Zeichen: Es glänzten die Sterne sowie der Äther, als Zeuge des Hochzeitsfestes,
und vom höchsten Gipfel heulten die Nymphen. Jener Tag war der erste, der (170) schuld an Tod und
Übeln war: Dido wurde nämlich nicht mehr von ihrem äußeren Schein und ihrem Ruf bewegt, auch
sann sie nicht nur auf eine heimliche Liebesaffäre. Sie schreit nach Hochzeit, und bedeckte durch
dieses Wort ihre Schuld.
Sofort zog das Gerücht durch die großen Städte Libyens, das Gerücht: Kein anderes Übel ist schneller!
Es erstarkte im Laufe und mehrte im Lauf seine Stärke. Anfangs aus Furcht noch klein, doch bald
erhob es sich in die Lüfte, schritt auf dem Erdboden einher und barg seinen Kopf zwischen den
Wolken. Dieses hat die Erde, aufgrund des erregten Hasses auf die Götter hervorbringend, dem
Coeus und dem Enceladus als Schwester (180) geboren, schnell zu Fuß und mit verderblichen
Schwingen. Ein schauderhaftes Ungeheuer, riesig, und so viele Federn hatte es am Körper, genauso
viele wachsame Augen hatte es darunter (wundersam auszusprechen), genauso viele Münder, wie
Zungen, und so viele Ohren spitzte es. Mitten in der Nacht flog es zischend durch das Dunkel des
Himmels und der Erde und es wandte nicht die Augen im sanften Schlaf von seinem Ziel ab. Es saß
bei Tag als Wächter entweder auf dem höchsten Giebel des Daches, oder auf hohen Türmen und
erschreckte die großen Städte, ebenso sehr am Erdichteten und am Verkehrten festhaltend, wie auch
Botin des Wahren. Dann versorgte dieses (190) freudig die Völker in zahlreichen Gesprächen und
pries zugleich was geschehen und was nie geschehen ist: Es wäre ein Aeneas gekommen, der von
57
trojanischem Blut abstammte und die schöne Dido würde sich für würdig halten, sich mit diesem
Mann zu verbinden. Nun würden sie es sich den Winter über durch Verschwendung gut gehen
lassen, uneingedenk ihrer Königreiche, gefangen von hässlicher Begierde. Diese Dinge verteilte die
hässliche Göttin Fama weit und breit in die Münder der Männer. Sofort schwenkte ihr Lauf zum König
Iarbas, entflammte durch die Worte sein Gemüt und mehrte seinen Zorn. Dieser Spross der Nymphe
Garamantis, die von Hammon geraubt wurde, hatte in seinem weiten Königreich einhundert
gewaltige Tempel des Jupiter aufgestellt, (200) einhundert Altäre und ihm ein ewiges Feuer geweiht,
als ewige Wachdienste der Götter, und der Tempelboden war reich an Blut von Kleinvieh und die
Schwellen blühten voller verschiedener Blumengewinde. Dieser soll angeblich wahnsinnig und durch
das bittere Gerücht entflammt vor den Altären, mitten in der göttlichen Wirkkraft der Götter, mit
zurückgelehnten Händen Jupiter demütig um vieles gebeten haben: „Allmächtiger Jupiter, dem nun
der Volksstamm Mauretaniens, nachdem er auf bunten Lagern gespeist hat, die Ehrungen des
Bacchus spendet, erblickst du das? Oder fürchten wir dich umsonst, Schöpfer, wenn du die Blitze
schleuderst, die blinden Feuer in den Wolken unsere Gemüter (210) erschrecken und sich mit
nichtigem Grollen mischen? Diejenige Frau, die umherirrend in meinem Reich gegen Geld eine kleine
Stadt gegründet hat, der ich einen Küstenstreifen zum durchpflügen gewährt, der ich die
Pachtbedingungen überreicht habe, wies eine Heirat mit mir zurück, empfang aber den Herr Aeneas
in ihrem Reich. Und nun bemächtigt sich jener zweite Paris mit der halbstarken Begleitung, seiner
Beute, sein Kinn und das triefende Haar in einen Turban gehüllt. Ich hingegen trage Gaben in deine
Tempel und pflege dein wertloses Ansehen.“
Der Allmächtige (220) hörte den Mann, der mit derartigen Worten betete und die Altäre berührte,
wandte seine Augen zu den königlichen Stadtmauern und zu den Liebenden, die ihren besseren Ruf
vergaßen. Dann sprach er wie folgt Merkur an und vertraute ihm folgendes an: „Nun denn, geh los,
mein Sohn, rufe die Westwinde und gleite mit deinen Flügeln zum Fürst der Dardaner herab, der sich
im tyrischen Karthago aufhält und nicht mehr die ihm durch sein Schicksal gewährten Städte
beachtet, sprich ihn an und überbringe ihm meine Worte durch die schnellen Lüfte. Nicht hat seine
äußerst schöne Mutter ihn mir derart versprochen, und ihn deshalb zweimal vor den Waffen der
Griechen beschützt. Sondern er würde das herrschaftsträchtige und im Krieg brüllende (230) Italien
regieren und seinen Volksstamm vom erhabenen Blut des Teucer fortsetzen und den ganzen Erdkreis
seinen Gesetzen unterwerfen. Wenn ihn kein Funken Ruhm der so großen Taten entflammt, und er
selbst aufgrund seines eigenen Ruhms nicht die Strapaze in Angriff nimmt, missgönnt dann der Vater
dem Ascanius die römischen Festungen? Was führt er im Schilde? Oder durch welche Hoffnung
verweilt er bei einem feindlichen Volksstamm, ohne an die ausonische Nachkommenschaft oder an
die Fluren Laviniums zu denken? Er soll lossegeln! Dies ist das Wichtigste; dies sei unsere Nachricht.“
58
So sprach er. Merkur bereitete sich darauf vor, dem Befehl des erhabenen Vaters zu gehorchen. Und
zuerst schnallte er die (240) goldenen Flügelschuhe an seine Füße, die ihn mit ihren Flügeln hoch sei
es über das Meer, sei es über das Land mit einem ebenso schnellen Wind trugen. Dann ergriff er den
Stock. Damit rief jener die bleichen Seelen des Orcus hervor, andere schickte er in den trostlosen
Tartarus, er gewährte Schlaf und raubte ihn, und öffnete die Augen aus der Nacht des Todes.
Vertrauend auf jene Route trieb er die Winde an und durchflog die trüben Wolken. Und schon
erkannte er noch fliegend den obersten Teil und die steilen Seiten des harten Atlas, der den Himmel
an seinem Gipfel stützt – des Atlas , dessen pinientragendes Haupt ständig von schwarzen Wolken
umgeben ist und von Wind und Regen gepeitscht wird. (250) Gefallener Schnee bedeckt seine
Schultern. Dann stürzen Flüsse vom Kinn des Alten herab und sein Bart ist steif durch schreckliches
Eis. Hier macht Merkur zum ersten Mal Halt, während er mit gleichmäßigen Flügelschlägen vorwärts
strebte. Von dort stürzte er mit seinem ganzen Körper eilends zu den Wogen – gleich einem Vogel,
der um die Küsten, der um die fischreichen Klippen flog, die sich gleich neben dem Meer befanden.
Nicht anders flog er zwischen den Ländereien und dem Himmel zur sandigen Küste Libyens, und der
Spross des Cyllenegebirges durchtrennte die Winde, während er von seinem Großvater
mütterlicherseits kam. Wie er zum ersten Mal die Hütten mit seinen Flügelschuhen berührte,
erblickte er (260) Aeneas, der Festungen anlegte, und Gebäude erneuerte. Jener besaß ein
funkelndes Schwert aus schimmerndem Jaspis und sein Mantel, der von seinen Schultern herunter
fiel, glänzte durch seine tyrische Purpurfarbe – Geschenke, welche die reiche Dido hergestellt hatte,
und sie hatte das Gewebe des Mantels mit einem dünnen Goldfaden durchwirkt. Sogleich fuhr ihn
Merkur an: „Du platzierst die Fundamente des erhabenen Karthagos, du errichtest die schöne Stadt,
du Weiberknecht? Ach, der du dein Königreich und die so großen Taten vergessen hast! Der
Herrscher über die Götter selbst hat mich dir vom berühmten Olymp heruntergeschickt, der den
Himmel und die Erde nach seinem göttlichen Willen wendet, und (270) er selbst befahl mir, dir diese
Aufträge durch die schnelltragenden Lüfte zu bringen: „Was führst du im Schilde? Oder durch welche
Hoffnung vergeudest du deine Zeit im libyschen Land? Wenn dich kein Funke Ruhm so großer Taten
bewegt und du selbst nicht für deinen eigenen Ruhm eine derartige Mühe in Angriff nimmst, dann
denke an den wachsenden Iulus Ascanius und an die Hoffnung deines Erben, dem die
Königsherrschaft über Italien und die römische Erde gebührt.“ Mit einer derartigen Rede sprach
Merkur, verschwand mitten im Gespräch aus dem Blickfeld des Sterblichen und entschwand den
Augen in die dünne Luft.
Doch Aeneas freilich verstummte, wahnsinnig durch diesen Anblick, (280) seine Haare richteten sich
vor Schreck auf und seine Stimme blieb ihm im Halse stecken. Er brannte darauf zu fliehen und die
süßen Ländereien zu verlassen, bestürzt von einer so großen Ermahnung und des Befehls der Götter.
59
Ach, was soll er tun? Wie soll er es wagen, sich an die verliebte Königin in einer Anrede zu wenden?
Wie soll er beginnen? Und sein schneller Verstand verteilte sich mal hierhin mal dorthin, stürzte in
verschiedene Richtungen und erwog alle Möglichkeiten. Diese Meinung schien dem Schwankenden
am besten: Er rief den Mnestheus, den Sergestus und den starken Serestus, so dass sie
stillschweigend die Flotte bereit machten und die Kameraden an der Küste versammelten, die (290)
Waffen bereiteten und verbargen, welchen Grund es für die neue Lage gab. Inzwischen wollte er es
wagen sich der äußerst gütigen Dido zu nähern, weil sie von nichts wusste und nicht erwartete, dass
eine so große Liebe zerbrochen würde, und er wollte untersuchen, was die beste Zeit wäre um zu
reden und was die rechte Weise für diese Angelegenheiten war. Rasch befolgten alle freudig den
Befehl und führten die befohlenen Dinge aus.
Doch die Königin spürte die List im Voraus (wer könnte einen liebenden Menschen täuschen?), nahm
die kommende Abreise sich fürchtend war, obwohl anfangs alles sicher schien. Dieselbe unfromme
Göttin des Gerüchts berichtete der Verliebten, dass die Klasse bewaffnet würde und man sich auf die
Fahrt vorbereitete. (300) Sie tobte völlig von Sinnen und wutentbrannt raste sie durch die ganze
Stadt, wie eine Bacchantin, die aufgrund der vorbeiziehenden, heiligen Gegenstände erregt ist,
sobald die dreijährigen Orgien sie anstacheln, nachdem man Bacchus vernommen hatte, und der
nächtliche Cithaeron mit Geschrei ruft. Endlich stellt sie Aeneas von sich aus mit diesen Worten zur
Rede: „Du Treuloser hast sogar gehofft, einen so großen Frevel verheimlichen und stillschweigend
mein Land verlassen zu können? Hält dich weder unsere Liebe noch der einst geleistete Treueschwur
noch ich, Dido, die ich im Begriff bin durch einen grausamen Tod zu sterben? Ja, eilst du Grausamer
sogar in der winterlichen Jahreszeit die Flotte in Bewegung zu setzen und (310) mitten in den
Nordstürmen aufs hohe Meer zu segeln? Was? Wenn du nicht zu fremden Fluren und unbekannten
Häusern eilen würdest, und wenn das alte Troja noch stünde, würdest du dann mit der Flotte über
das wogenreiche Meer nach Troja eilen? Flüchtest du etwa vor mir? Ich bitte dich bei diesen Tränen,
bei deiner Rechten (weil ich Unglückliche mir selbst nichts weiter zurückgelassen habe), ich bitte dich
bei unserer Vermählung, bei der erst begonnenen Hochzeitsfeier, wenn ich mich irgendwie um dich
verdient gemacht habe, oder wenn dir irgendetwas an mir süß war, erbarme dich dieses wankenden
Palasts und sofern es irgendeinen Platz für meine Bitten gibt: Lege diese Idee ab. (320) Wegen dir
hassen mich die libyschen Völker, die Tyrannen der Nomaden und die Tyrier sind mir feindlich
gesinnt. Wegen dir Abreisendem ist mein Schamgefühl ausgelöscht und mein einst guter Ruf, durch
den ich als einzige zu den Sternen reichte. Wem lässt du mich Sterbende zurück, Gast (dies ist die
einzige Bezeichnung die von ‚Ehemann‘ noch übrig bleibt)? Was zögere ich? Etwa bis mein Bruder
Pygmalion meine Stadt zerstört, oder mich Gaetulus Iarbas als Gefangene mit sich führt? Wenn ich
wenigstens ein Sprössling von dir vor deiner Flucht empfangen hätte, wenn für mich irgendein
60
kleiner Aeneas im Hof spielen würde, der mich mit seinem Gesicht an dich erinnern würde, dann
käme ich mir (330) freilich nicht gänzlich betrogen und verlassen vor.“ So sprach sie.
Aeneas hielt seine Augen durch die Ermahnungen Jupiters regungslos und unterdrückte unterwürfig
die Sorge tief in seinem Herzen. Endlich antwortete er weniges: „Ich werde niemals leugnen, Königin,
dass du dich mit den zahlreichen Dingen, die du mit Worten aufzählen kannst, um mich verdient
gemacht hast und es wird mich nicht verdrießen, mich an Elissa zu erinnern, solange ich eingedenk
meiner selbst bin und solange der Lebenshauch diese Glieder lenkt. Was die Sachlage betrifft,
möchte ich weniges sagen: Weder habe ich gehofft (bilde dir das nicht ein!) diese Flucht heimlich zu
verbergen, noch habe ich mich jemals als dein Gemahl ausgegeben oder bin für diesen Bund der Ehe
gekommen. (340) Wenn es mein Schicksal zuließe mein Leben nach meinem Ermessen zu führen und
meine Bemühungen von mir aus zu bestimmen, würde ich mich zuerst um die Stadt Troja und die
lieblichen Überbleibsel der Meinigen, der erhabene Palast des Priamus hätte noch bestand, und
würde mit eigener Hand für die Besiegten Pergamum wieder auferstehen lassen. Doch nun befahl
Apollon aus Gryneum zum erhabenen Italien zu eilen, nach Italien zu eilen befahlen auch die
Orakelsprüche aus Lykien. Dies ist meine Liebe, dies ist mein Vaterland. Wenn dich als Phönizierin die
Burgen Karthagos und der Anblick der libyschen Stadt festhalten, wieso (350) missgönnst du es dann
den Trojanern sich endlich auf ausonischer Erde niederzulassen? Auch wir haben ein Recht
ausländische Königreiche zu suchen. Mich ermahnt und erschreckt im Schlaf das empörte Abbild
meines Vaters Anchises, sooft die Nacht mit ihren feuchten Schatten die Erde bedeckt, sooft die
feurigen Sterne aufgehen. Mich erschreckt mein Junge Ascanius und das Unrecht an seinem teuren
Haupt, den ich um das Königreich Hesperiens betrüge und um die schicksalsträchtigen Fluren. Nun
Nun hat sogar der Bote der Götter, der von Jupiter selbst geschickt wurde (ich schwöre es bei deinem
und meinem Haupt) die Weisungen durch die schnellen Lüfte hierher gebracht. Ich selbst habe den
Gott in deutlichem Licht gesehen, als er die Stadt betrat und seine Stimme mit diesen meinen
eigenen Ohren vernommen. (360) Höre auf dich und mich mit Klagen zu erregen. Ich folge nicht aus
eigenem Antrieb nach Italien.“
Die abgewandte Königin betrachtete Aeneas, der solches Sprach, schon lange, während sie ihre
Augen mal hierhin, mal dorthin rollte, irrte mit stillen Blicken über den ganzen Mann und sprach ihn
entflammt so an: „Weder hast du eine Göttin als Mutter noch ist Dardanus dein Ahnvater, du
Treuloser, sondern der vor harten Felsen starrende Kaukasus hat dich geboren und hyrcanische
Tigerinnen haben dich gestillt. Denn wozu soll ich mich verstellen oder mich für größere Schmach
aufheben? Denn seufzte er durch unser Weinen? Wandte er etwa seine Augen zu mir? (370) Brachte
er etwa überwältigt Tränen hervor oder erbarmte sich der Liebenden? Was könnte diese Dinge
überbieten? Schon, ja schon sieht dies weder die äußerst erhabene Iuno noch der Göttervater
61
Jupiter, Sohn des Saturns, mit gleichgültigen Augen. Nirgends ist Treue sicher! Ich habe einen
gestrandeten und armen Mann aufgenommen und ihn töricht in einen Teil meines Königreiches
gesetzt. Ich habe die verlorene Flotte zurückgeführt und seine Kameraden vor dem Tod gerettet (oh
ich eile vor lauter Wut!). Erst bringen der Weissager Apollo, dann die lykischen Orakelsprüche, nun
sogar der Götterbote, von Jupiter selbst geschickt, entsetzliche Befehle durch die Lüfte herbei. Dieser
Mann ist nämlich für die Götter eine Strapaze: Diese Sorge (380) beunruhigt die Ruhigen. Weder
halte ich dich auf, noch widerlege ich das, was du gesagt hast. Gehe, folge den Winden nach Italien,
erstrebe ein Königreich jenseits des Meeres! Ich hoffe freilich, wenn pflichtbewusste Wirkkräfte
irgendetwas vermögen, dass du dir mitten in den Klippen den Tod holst und mich, Dido, oft beim
Namen rufst! Ich werde dir – wenn auch abwesend – in den schwarzen Feuern folgen, und wenn der
Tod meine kalte Seele von den Gliedern getrennt haben wird, werde ich an allen Orten als Schatten
bei dir sein. Du wirst büßen, du Schuft. Ich werde es hören und auch diese Kunde wird mir bis zu den
tiefen Manen dringen!“
Nach diesen Worten brach sie mitten im Gespräch ab, floh traurig vor dem Tag, entzog sich den
Blicken und ging fort, (390) während sie Aeneas verließ, der in seiner Furcht zögerte, aber noch vieles
sagen wollte. Die Dienerinnen nehmen die zusammengebrochenen Glieder Didos auf, tragen sie in
ihr marmoriertes Schlafgemach zurück und legen sie auf das Polster. Doch der pflichtbewusste
Aeneas befolgte dennoch die Befehle der Götter und sah nach seiner Flotte, obwohl er die leidende
Dido durch Zuspruch besänftigen und ihr die Sorgen mit seinen Worten nehmen wollte, während er
viel seufzte und durch die große Liebe verunsichert war. Dann aber strengten sich die Teucrer an und
führten die aufragenden Schiffe an der ganzen Küste zu Wasser. Es schwammen die gefetteten
Schiffe, sie trugen belaubte Ruder und das in ihrer Fluchtbemühung (400) unbehauene Eichenholz
aus den Wäldern. Man erkannte die Auswanderer, wie sie aus der ganzen Stadt stürzten. Es war wie
bei den Ameisen, wenn sie einen gewaltigen Hügel aus Dinkel plündern, weil sie an den Winter
denken, und ihn in ihrem Bau verbergen: Der schwarze Zug marschiert über die Felder und sie
schleppen ihre Beute durch das Gras auf ihrem engen Pfad. Ein Teil treibt die großen Körner, gegen
die er sich mit den Schultern dagegenstemmt, der andere Teil hält die Züge zusammen und die
Verzögerungen im Zaum, der ganze Pfad kocht vor Betriebsamkeit. Wie war dir damals zu Mute,
Dido, als du das erkanntest, oder welche Seufzer hast du von dir gegeben, als du von ganz oben der
Burg weithin (410) sahst, wie es an der Küste von Menschen wimmelte, und als du sahst, wie das
ganze Meer vor deinen Augen mit so lautem Geschrei erfüllt wurde! Du unverschämter Amor, zu
was zwingst du nicht die menschlichen Herzen? Noch einmal wurde Dido gezwungen unter Tränen
einher zulaufen, wieder wurde sie gezwungen es durch Bitten zu versuchen und demütig der Liebe
ihren Verstand unterzuordnen, damit sie, die umsonst sterben würde, nichts unversucht ließ.
62
„Anna, du siehst, dass man sich an der ganzen Küste ringsum vorbereitet: Von allen Seiten kommen
sie zusammen, schon ruft das Segel die Lüfte, und fröhlich haben die Seeleute das Heck der Schiffe
bekränzt. Wenn ich diesen großen Schmerz erwarten konnte, werde ich ihn (420) auch ertragen
können, Schwester. Dieses eine nur, Anna, sollst du dennoch für mich Unglückliche erledigen: Denn
jener treulose Mann hat dich als einzige verehrt, dir vertraute er sogar seine geheimen Gedanken an.
Als einzige hattest du gewusst wie und wann man sich dem Mann am besten näherte. Geh,
Schwester, und sprich den überheblichen Feind demütig an: Ich habe den Griechen nicht in Aulis
geschworen das trojanische Volk zu vernichten, oder ihre Flotte nach Pergamon geschickt. Nicht ich
habe die Asche seines Vaters Anchises oder die Manen wieder aufgewühlt. Warum verweigert er
dann, dass meine Worte in seinen sturen Ohren Gehör finden? Wohin stürzt er? Dieses letzte
Geschenk möge er der unglücklich Verliebten gewähren: (430) Er möge eine leichte Flucht und
tragende Winde erwarten. Ich bitte ihn nicht um die altehrwürdige Ehe, die er verraten, auch nicht,
dass er vom schönen Latium fern bleibt und sein zukünftiges Königreich fallen lässt: Ich erbitte nur
wertlose Zeit, Ruhe und Raum für meine Raserei, bis mich, die ich besiegt bin, mein Schicksal lehren
wird zu leiden. Diese letzte Gunst erbitte ich (erbarme dich meiner Schwester), die ich ihm, wenn er
mir sie erwiese, im Tod reichlich vergelten will.“
Derartiges erbat die Schwester, ein solches Schluchzen brachte die äußerst unglückliche Frau hervor
und sie berichtete ihm. Aber Aeneas wurde durch kein Schluchzen bewegt, war für keine Äußerung
empfänglich, die er hörte. (440) Die Göttersprüche standen dem im Wege und der Gott versperrte
dessen sanften Ohren. Aber es war, wie wenn die Nordstürme der Alpen mit ihrem Wehen mal von
hier mal von dort untereinander wetteifern, eine kräftige Eiche mit ihrem uralten Holz zu entwurzeln.
Es zischt, und das Laub, das am erschütterten Stamm wuchs, bedeckt die Erde. Sie selbst aber haftet
an den Felsen und streckt sich mit ihrer Wurzel so weit in den Tartarus, wie mit ihrem Gipfel in die
Himmelslüfte. Nicht anders wurde der Held Aeneas durch die beharrlichen Äußerungen mal von hier,
mal von dort gestoßen und fühlte deutlich in seinem großen Herzen die Sorgen. Der Verstand blieb
unbewegt, die Tränen rollten vergebens.
(450) Dann aber erbat die unglückliche Dido, die über das Schicksal erschrocken war, den Tod. Sie
ekelte sich davor, das Himmelsgewölbe zu betrachten. Um so mehr führte sie durch, was sie
begonnen hatte, und verließ das Tageslicht, sah, als sie Opfergaben auf die vor Weihrauch
brennenden Altäre gab, (entsetzlich auszusprechen!) wie die heilige Flüssigkeit schwarz wurde und
wie der ausgegossene Wein sich in schmutziges Blut verwandelte. Diese Erscheinung erzählte sie
niemandem, nicht einmal ihrer Schwester. Darüber hinaus befand sich in ihrem Palast ein marmorner
Schrein ihres verstorbenen Gatten, der mit wundersamer Ehrung von ihr verehrt wurde, und mit
schneeweißer Wolle und festlichem Laub umwunden war. (460) Von hier schien es ihr, die Stimme
63
und die Worte ihres rufenden Mannes zu vernehmen, wenn die Dunkelheit die Erde bedeckte, und
dass der Uhu oft als einziger von den Wipfeln ein Totenlied klagte und die langen Rufe in ein
Jammern hinzog. Außerdem ließen sie viele Vorhersagen von früheren Sehern durch ihre
schrecklichen Mahnungen erschaudern. Der wilde Aeneas selbst treibt die Rasende im Traum,
ständig scheint es, als ob sie für sich allein zurückgelassen wird, ständig scheint sie unbegleitet eine
lange Straße entlang zu gehen und die Tyrier auf der verlassenen Erde zu suchen, ganz wie der
wahnsinnige Pentheus die Heereszüge der Eumeniden sah und wie sich ihm (470) zwei Sonnen und
zweimal Theben zeigte, oder wie Orest, Agamemnons Sohn über die Bühne getrieben wurde, als er
vor der mit Fackeln und finsteren Schlangen bewaffneten Mutter flüchtete und die unheilvollen
Rachegöttinnen auf der Schwelle saßen.
Sobald sie also die Furien ergriffen hatte und von ihrem Schmerz besiegt war, entschied sie sich zu
sterben, bestimmte mit sich selbst den Zeitpunkt und die Art und Weise, wandte sich mit folgenden
Worten an ihre traurige Schwester und verbarg ihren Entschluss mit ihrem Gesicht und täuschte
Hoffnung vor: Ich habe einen Weg gefunden (dank du deiner Schwester!), der mir Aeneas zurückgibt,
oder mich Verliebte von ihm löst. (480) Es gibt einen weit entfernten Ort Äthiopiens, gleich neben
dem Ende des Ozeans und der brennenden Sonne, wo der äußerst erhabene Atlas die Himmelsachse
auf seiner Schulter wendet, die mit brennenden Sternen versehen ist. Von dort wurde mir eine
Priesterin des massylischen Stammes gezeigt, eine Wächterin des Tempels Hesperiens, sowie die
Speisen für den Drachen, die sie ihm reichte. Sie bewahrte heilige Äste an einem Baum, während sie
feuchten Honig und schlafbringenden Mohn verstreute. Diese versprach, dass sie durch ihre
Zaubersprüche diejenigen Gemüter erlösen würde, welche sie erlösen wollte, aber anderen
beschwerliche Sorgen einjagte, sie würde das Wasser der Flüsse stillstehen lassen und die Sterne
rückwärts drehen, sowie die (490) nächtlichen Totengeister bewegen. Du wirst sehen, wie die Erde
unter deinen Füßen kracht, und wie von den Bergen die Bergeschen heruntersteigen. Ich rufe die
Götter und dich, teure Schwester, als Zeugen an, sowie dein süßes Haupt, dass ich mich nur unwillig
an die magischen Künste heranmache. Errichte du abgeschieden im Inneren des Palastes unter
freiem Himmel einen Scheiterhaufen und schichte darauf die Waffen des Mannes, die er
pflichtvergessen befestigt im Schlafgemach zurückgelassen hatte und alle Rüstungen, sowie das
Hochzeitslager, auf dem ich zugrunde gegangen bin. Es freut mich alle Erinnerungen an den
frevelhaften Mann wegzuschaffen und dies zeigt mir die Priesterin.“ Nachdem sie dies gesprochen
hatte, schwieg sie. Zugleich erblasste ihr Gesicht. (500) Anna glaubte allerdings nicht, dass ihre
Schwester mit den neuen Zauberriten ihren Tod verschleierte, und weder nahm sie mit ihrem
Verstand die so große Raserei wahr, noch befürchtete sie Schlimmeres als beim Tod des Sychaeus.
Also bereitete sie die befohlenen Dinge vor.
64
Die Königin aber suchte den Ort mit Blumengewinden auf und bekränzte ihn mit Laub vom
Totenbaum, nachdem der Scheiterhaufen im Inneren des Palastes unter freiem Himmel mit
gewaltigen Brandfackeln und geschnittenen Steineichen errichtet wurde. Über das Lager legte sie die
Kleider, das zurückgelassene Schwert, sein Abbild – und wusste genau was kommen würde: Ringsum
standen die Altäre und die Priesterin rief aus ihrem Mund, nachdem sie ihr Haar gelöst hatte, (510)
dreimal einhundert Götter an, den Erebus, das Chaos und die dreigestaltige Hecate, sowie die drei
Gesichter der Jungfrau Diana. Sie versprengte auch die Flüssigkeiten die angeblich aus der
Avernusquelle stammten und es wurden kräftige Gräser, die bei Mond mit einer ehernen Sichel
gemäht wurden, gesucht gemeinsam mit der Milch des bösen Giftes. Es wurde auch gesucht, was
einem wachsenden Pferd von der Stirn weggerissen und so der Liebe der Mutter weggenommen
wurde. Dido selbst steht mit Opferschrot in ihren pflichtbewussten Händen gleich neben dem Altar,
einen Fuß hatte sie aus der Schlinge gezogen, sie hatte ihr Gewand entgürtet, und so rief die Frau,
die im Begriff war zu sterben, die Götter und die (520) Sterne, die um ihr Schicksal wussten, als
Zeugen an. Dann betete sie, falls irgendeine göttliche Wirkkraft gab, dass sich um Liebende sorgte,
die nicht in gleichem Maße zurückgeliebt wurden und die gerecht war und nicht vergaß.
Es war Nacht und der sanfte Schlaf ergriff die erschöpften Körper durchweg in den Ländern, die
Wälder und die wilden Meere ruhten, während sich die Sterne mitten in ihrer Kreisbahn befanden,
während der ganze Acker schwieg, das Kleinvieh und die bunten Vögel, welche weithin die klaren
Seen, welche die durch das Dornengestrüpp rauhen Ländereien besetzten, ruhten im Schlaf unter der
stillen Nacht. Aber nicht die im Herzen unglückliche Phönizierin! – weder löste sie sich jemals im
Schlaf, noch nahm sie mit ihren Augen oder mit ihrem Gemüt die Nacht auf. Es kamen die Sorgen
wieder hoch, und die Liebe, die wieder in ihr hochstieg wütete erneut und wallte auf zu einer großen
Zornesbrandung. So hielt sie bis dahin inne und wälzte folgendes für sich in ihrem Herzen hin und
her: „Sieh, was mache ich? Soll ich, über die man lacht, etwa erneut den früheren Freiern auf den
Zahn fühlen, und demütig eine Ehe mit einem der Nomaden erstreben, die ich schon so lange als
Ehemänner verschmäht habe? Soll ich der trojanischen Flotte und den letzten Weisungen der
Teucrer folgen? Weil es etwa denen gefällt, die zuvor durch meine Hilfe unterstützt worden sind und
die Dankbarkeit bei denen hoch steht, die sich an alte Taten erinnern? (540) Oder wer würde mich
allerdings – gesetzt, ich will – auf seinen erhabenen Schiffen empfangen, die man mich hasst? Ach,
weißt du nicht, Verlorene, und fühlst du noch nicht den Meineid des Stammes des Laomedon? Was
dann? Werde ich allein auf meiner Flucht die jubelnden Seemänner begleiten? Oder soll ich etwa von
den Tyrern und der ganzen Schar der Meinen dicht umdrängt los eilen und diejenigen, die ich kaum
aus der Stadt Sidon losgerissen habe, erneut aufs Meer treiben und befehlen, die Segel zu hissen?
Gewiss: Stirb, wie du es verdient hast und nimm dir durch das Schwert den Schmerz! Du, die du von
65
meinen Tränen überwältigt bist, du, Schwester, hast mir Rasenden diese Übel aufgeladen und mich
dem Feind ausgeliefert. (550) Es war mir nicht möglich, mein Leben unverheiratet und ohne Schuld
nach Art der wilden Tiere zu verbringen, oder derartige Sorgen nicht zu berühren. Die Treue, die ich
der Asche des Sychaeus gelobt hatte, wurde nicht bewahrt.“
Solche Klagen stieß jene aus ihrer Brust. Aeneas, der fest entschlossen war abzureisen, genoss im
aufragenden Schiffsheck den Schlaf, da die anstehenden Dinge bereits ordnungsgemäß vorbereitet
waren. Ihm zeigte im Traum sich die Gestalt des wiederkehrenden Gottes mit dem gleichen
Gesichtsausdruck und wieder schien sie ihn auf diese Weise zu ermahnen. Sie ähnelte gänzlich
Merkur: Die Stimme, die Hautfarbe, das blonde Haar und die jugendlich schönen Glieder. (560) Sohn
einer Göttin, kannst du unter diesem Umstand schlafen? Erkennst du nicht welche Gefahren dich
letztlich umgeben, du Wahnsinniger, und hörst du nicht die günstigen Westwinde brausen? Jene
überlegt sich in ihrer Brust eine List und unheilvollen Frevel. Sie ist entschlossen zu sterben und ruft
verschiedene Zorneswallungen hervor. Flüchtest du nicht eilends von hier, solange du noch die
Möglichkeit dazu hast? Gleich wirst du sehen, wie das Meer durch Schiffe aufgewühlt wird und wilde
Fackeln, die strahlen. Bald wirst du sehen, wie die Küste vor lauter Flammen siedet, nachdem dich,
der du zögerst, Aurora in diesen Ländern berührt haben wird. Nun auf, säume nicht länger. Ein
vielgestaltiges und veränderliches Wesen ist die (570) Frau.“ Nachdem er so gesprochen hatte,
mischte er sich unter die finstere Nacht.
Dann aber riss sich Aeneas, durch diesen Traum erschreckt, aus dem Schlaf und hielt seine eilenden
Kameraden in Atem: „Wacht auf, Männer, und setzt euch auf die Ruderbänke! Lasst rasch die Segel
schießen. Seht, ein Gott, der vom hohen Äther geschickt wurde, treibt uns erneut dazu an eilends zu
flüchten und die ganzen Taue durchzuschneiden. Wir folgen dir, Heiliger der Götter, wer auch immer
du bist, und wieder gehorchen wir jubelnd deinem Befehl. Oh mögest du uns gütig helfen, und dafür
sorgen, dass am Himmel die Sterne günstig stehen.“ Das sagte er, dann riss er sein (580)
totbringendes Schwert aus der Scheide und zerschnitt mit gezücktem Schwert die Ankertaue.
Zugleich hatten alle denselben Eifer, schnell ergriffen sie die Taue und stürzten los. Sie verließen die
Küste, das Meer verbarg sich unter der Flotte, angestrengt kräuselten sie die Gischt und fegten die
bläuliche Meeresfläche.
Und schon benetzte zuerst Aurora die Ländereien mit neuem Licht, während sie das safrangelbe
Lager des Tithonus verließ. Sobald die Königin von ihrer Warte aus sah wie das frühe Licht
schimmerte und die Flotte mit gleichgerichteten Segeln vorrückte und sobald sie fühlte, dass die
Küste und der Hafen ohne Ruderer leer standen, schlug sie sich drei-, viermal an ihre schöne Brust,
dann riss sie ihre (590) blonden Haare los und sagte: „Bei Jupiter! Soll dieser Fremdling gehen und
66
auch unser Königreich verspotten? Werden andere nicht die Waffen zücken und ihnen ganz aus der
Stadt folgen und Schiffe aus den Werften plündern? Geht, bringt schnell Brandfackeln, gebt
Wurfgeschosse, treibt die Ruder an! Was rede ich? Oder wo bin ich? Welcher Wahnsinn verändert
meinen Verstand? Unglückliche Dido, berühren dich erst jetzt deine pflichtvergessene Taten? Damals
ziemte es sich, als du ihm das Zepter gabst. Sieh, Schwur und Treue desjenigen, von dem sie sagen,
dass er die Penaten seiner Heimat mit sich trage und sich seinen altersschwachen Mann auf die
Schultern geladen hat! (600) Konnte ich nicht den mir entrissenen Körper zerreißen und in die
Wogen streuen? Konnte ich nicht seine Kameraden mit dem Schwert vernichten, auch nicht Ascanius
selbst und ihn dann auf die Speisetische seines Vaters zum Verzehr legen? Das Schicksal des Kampfes
wäre wahrhaft zweideutig gewesen. Dann wäre es eben so geschehen: Wenn hätte ich gefürchtet,
die ich im Begriff bin zu sterben? Ich hätte Brandfackeln in das Lager getragen und die Marktplätze
mit Flammen erfüllt, ich hätte den Sohn, den Vater samt seiner Sippe ausgelöscht, und mich selbst
dem Brand ausgeliefert. Sonnengott, der du alle Werke der Erde mit deinen Flammenstrahlen
musterst, und du Iuno, Botin und Mitwisserin solcher Sorgen, Hecate, die du nachts an den
Kreuzwegen in allen Städten unter Geheul besungen wirst, (610) und ihr rächenden Furien, und ihr
Götter der sterbenden Elissa, vernehmt diese Dinge und wendet euren göttlichen Willen, den ich
verdient habe, meinen Übeln zu und vernehmt meine Bitten! Falls es unbedingt notwendig ist, dass
der unsägliche Aeneas Hafen und Ländereien erreicht, wenn es so die Göttersprüche des Jupiter
fordern und dies das Ziel bleibt, dann soll er aber vom Krieg und von den Waffen eines kühnen
Volkes gequält, aus seinem Gebiet verbannt und aus der Umarmung des Iulus gerissen um Hilfe
flehen und die unwürdigen Begräbnisse der Seinen sehen. Und nicht soll er sich, wenn er sich den
Bedingungen des ungerechten Friedens unterworfen hat, an seinem Königreich oder am ersehnten
Tageslicht erfreuen, (620) sondern er soll vorzeitig sterben und mitten im Sand unbegraben liegen
bleiben. Dies bitte ich. Diese letzte Äußerung bringe ich mit meinem Blut hervor. Und dann, oh
Tyrier, plagt seine Nachkommen und den ganze zukünftige Volksstamm mit eurem Hass und schenkt
dies meiner Asche. Es soll zwischen Völkern keine Liebe und keine Verträge geben! Entstehe,
unbekannter Rächer aus meinen Gebeinen und verfolge die dardanischen Kolonisten mit Fackel und
Schwert – jetzt und irgendwann einmal, wann immer Kräfte da sein werden. Mögen sich Küste gegen
Küste erheben, Meer gegen Meer und Waffen gegen Waffen, so fluche ich! Mögen sie selbst und ihre
Enkel kämpfen!“
(630) Dieses sprach sie und wandte ihren Geist in alle Richtungen, während sie nach einer
Möglichkeit suchte, ihr selbst das verhasste Lebenslicht so schnell wie möglich zu entreißen. Dann
sprach sie kurz Barce, die Amme des Sychaeus an, denn sie hatte die eigene in ihrer alten Heimat in
Form von schwarzer Asche. „Meine liebe Amme, bring mir meine Schwester Anna hierher. Sag ihr, sie
67
soll sich beeilen ihren Körper mit klarem Flusswasser zu benetzen, und sowohl das Kleinvieh als auch
das Sühneopfer, das ihr gezeigt wurde, mit sich führen. So soll sie kommen und bedecke du deine
Schläfen mit einer frommen Binde! Ich habe im Sinn die Opferungen für Jupiter Stygius zu vollenden,
die ich ordnungsgemäß angefangen habe, den Sorgen ein Ende zu bereiten und den Scheiterhaufen
des (640) Dardanerführers dem Feuer zu übergeben.“
So sprach sie. Jene beschleunigte ihren Schritt mit dem Eifer einer Amme. Doch die unruhige und ob
der gewaltigen Unternehmungen entmenschte Dido wälzte ihre blutunterlaufenden Augen, und mit
Flecken auf ihren zitternden Wangen und blass aufgrund des bevorstehenden Todes stürzte sie ins
Innere ihres Palastes und bestieg wuterfüllt den hohen Scheiterhaufen. Sie entblößte das
Dardanerschwert, ein Geschenk, das sie nicht für diesen Gebrauch erbeten hatte. Hier hielt sie kurz
unter Tränen und im Geiste inne und nachdem sie die trojanischen Kleider und das bekannte Bett
erblickt hatte, (650) legte sie sich darauf und sprach ihre letzten Worte: „Ihr süßen Kleider, solange
es noch Fatum und Gott zugelassen hatten, nehmt diese meine Seele auf und befreit mich von diesen
Sorgen! Ich lebte, und den Kurs, den mir Fortuna zudachte, schlug ich ein und nun wird mein
erhabenes Abbild unter die Erde wandern. Ich errichtete eine hochberühmte Stadt, ich sah meine
Stadtmauern, rächte meinen Mann und ließ meinen mir feindlich gesinnten Bruder büßen, ich
Glückliche, ich allzu Glückliche, wenn nur niemals die dardanischen Schiffe meine Küste berührt
hätten.“ Das sprach sie und nachdem sie ihren Mund auf das Bett presste fügte sie hinzu: „Ich werde
ungerächt sterben, (660) aber sterben will ich. Auf diese Weise – auf diese Weise gefällt es mir in die
Schattenwelt zu gehen! Dieses Feuer soll der grausame Dardaner mit seinen Augen vom hohen Meer
aus wahrnehmen und er soll das böse Omen meines Todes mit sich tragen.“ So redete sie und ihre
Begleiterinnen sahen Dido, wie sie, als sie noch solches sprach, vom Schwerte getroffen
zusammenstürzte. Sie erblickten das vor Blut triefende Schwert sowie ihre befleckten Hände.
Geschrei erhob sich bis zu den hohen Vorhallen. Das Gerücht schwärmte durch die erschütterte
Stadt. Die Häuser hallten wider von dem Seufzen, den Wehklagen und von dem Geheul der Frauen.
Der Himmel hallte wieder von den großen Trauerschlägen, nicht anders, als würde ganz (670)
Karthago oder das alte Tyros einstürzen, nachdem die Feinde eingedrungen waren, und als wälzten
sich tobende Flammen durch die Gebäude der Menschen und der Götter. Die Schwester hörte es
entsetzt und während sie erschreckt das Gesicht mit ihren Nägeln zerkratzte und ihre Brust schlug
stürzte sie mitten durch die Menschen und rief die Sterbende bei ihrem Namen: „War es das,
Schwester? Du versuchtest mich zu betrügen? Dieses hat mir der Scheiterhaufen da beschwert,
dieses die Feuer und die Altäre? Über was soll ich, die ich im Stich gelassen wurde, zuerst klagen?
Hast du etwa deine Begleiterin und Schwester sterbend verschmäht? Hättest du mich zum selben
Schicksal gerufen, dann hätte uns beiden derselbe Schmerz durch das Schwert dieselbe letzte Stunde
68
gebracht. (680) Habe ich sogar durch meine eigenen Hände den Scheiterhaufen errichtet, habe ich
die heimatlichen Götter mit meiner eigenen Stimme gerufen, damit ich von dir, Grausame, die du so
da liegst, getrennt bin? Du hast sowohl dich als auch mich ausgelöscht, dein Volk, die sidonischen
Ahnen und deine Stadt. Gebt mir Wasser, ich werde die Wunden mit klarer Flüssigkeit reinigen, und
wenn noch irgendein letzter Hauch über ihr irrt, lese ich ihn mit einem Kuss auf.“ Nachdem sie so
gesprochen hatte, stieg sie mit großen Schritten auf den Haufen, wärmte ihre noch halbbeseelte
Schwester, die sie umarmte, an ihrer Brust, während sie seufzte und versuchte das finstere Blut mit
ihrem Gewand zu stillen. Dido versuchte die schweren Augenlieder zu öffnen, schaffte es aber wieder
nicht. Die durchbohrte Wunde zischte unter ihrer Brust. (690) Dreimal richtete sie sich angestrengt
auf, indem sie sich vom Bett erhob, dreimal rollte sie auf das Bett zurück und suchte mit ihren
umherirrenden Augen hoch oben am Himmel das Licht und seufzte, nachdem sie es gefunden hatte.
Dann erbarmte sich die allmächtige Iuno der langen Schmerzen und des schwierigen Sterbens und
schickte Iris vom Olymp, welche die trauernde Seele und ihre Verbindung zu den Gliedern lösen
sollte. Da Dido weder durch ihr Schicksal noch eines verschuldeten Todes gestorben war, sondern
verfrüht und plötzlich von Raserei entflammt starb, hatte ihr Proserpina noch nicht das blonde Haar
vom Scheitel abgeschnitten und ihr Haupt dem stygischen Orcus verurteilt. (700) Also flog die
tauende Iris mit safrangelben Schwingen durch den Himmel herab, indem sie tausend verschiedene,
der Sonne entgegen gerichtete Farben mit sich zog, und stellte sich über Didos Haupt. „Ich bringe dir,
wie es mir befohlen wurde, dieses Opfer der Unterwelt dar und befreie dich von diesem Körper.“,
sagte sie und schnitt mit ihrer Rechten Didos Haar ab. Und sogleich wich die ganze Wärme – ihr
Leben entwich in die Winde.
Buch 5
Inzwischen segelte der entschlossene Aeneas mit der Flotte mitten auf seiner Route, durchschnitt im
Norden die finsteren Fluten während er zur Stadt zurückblickte, die bereits durch die Flammen der
unglücklichen Dido erleuchtete. Der Grund, warum man ein so großes Feuer angezündet hatte, blieb
ihm verborgen. Doch beschwerlicher Kummer ob der großen Liebe, die befleckt worden war – und es
war bekannt, was eine rasende Frau vermochte – erfüllten durch das traurige Vorzeichen die
Gemüter der Teucrer. Sobald die Schiffe das offene Meer erreicht hatten und ihnen keine einzige
Insel mehr begegnet war, von allen Seiten Meer, von allen Seiten Himmel war, ragte (10) dem
Aeneas zum Nachteil über seinem Haupt eine schwärzliche Gewitterwolke empor, welche Nacht und
Sturm brachte, und die Flut erzitterte in der Finsternis. Selbst der Steuermann Palinurus rief vom
69
hohen Schiffsheck aus: „Oh, warum nur besetzten so große Wolken den Himmel ringsum? Und was
bereitest du uns, Vater Neptun?“ Als er schließlich so gesprochen hatte, befahl er die Segel zu reffen
und sich in die kräftigen Ruder zu stemmen, er richtete das Segel seitwärts in den Wind und sprach
folgendes: „Mutiger Aeneas, ich würde nicht darauf hoffen unter diesem Himmel Italien zu erreichen,
auch wenn es mir Jupiter, der Urheber des Plans, versprechen möge. Sich abwechselnde Winde
brausen aus der Quere und (20) erheben sich vom finsteren Abend her. Die Luft zieht sich zur Wolke
zusammen. Wir sind ihnen nicht gewachsen, Widerstand zu leisten oder einfach nur zu segeln. Da
nun Fortuna gesiegt hat, wollen wir ihr folgen und wohin sie uns ruft, dorthin wollen wir unsere
Route wenden! Ich glaube, nicht weit entfernt liegt die treue und dir brüderliche Küste des Eryx und
die Häfen Siziliens, wenn ich mich nur ordnungsgemäß daran sowie an die früher beobachteten
Sterne erinnere.“ Dann sagte der pflichtbewusste Aeneas: „Freilich erkenne ich, dass die Winde es
schon lange so verlangen und du vergebens dagegen hältst. Ändere den Weg mit Hilfe der Segel ab.
Soll mir irgendein Land willkommener sein, wohin ich die erschöpften Schiffe eher wünschte zu
schicken, (30) als das Land, das mir Acestes vor den Griechen bewahrt, oder die Gebeine meines
Vaters Anchises in seinem Schoß umschlingt?“ Nachdem diese Worte gesprochen wurden, eilten sie
zu einem Hafen und günstige Westwinde spannten die Segel an. Die Flotte wurde auf einer schnellen
Strömung getragen und endlich erreichten die glücklichen Männer den bekannten Strand.
Doch in der Ferne staunte Acestes von dem aufragenden Gipfel eines Berges über die Ankunft und
lief den verbündeten Schiffen entgegen, wild mit seinen Wurfspießen und mit dem Fell der libyschen
Bärin, den die Mutter vom Flussgott Crinisus in Troja empfing und geboren hatte. Jener, der die alten
Vorfahren nicht vergessen hatte, (40) hieß die Zurückkommenden willkommen, empfing sie glücklich
mit ländlichen Kostbarkeiten und tröstete die erschöpften Männer durch freundschaftlichen
Beistand.
Nachdem später mit dem ersten Sonnenaufgang der helle Tag die Sterne vertrieben hatte, rief
Aeneas die Kameraden von der ganzen Küste zur Versammlung und sprach auf dem Wall eines
Hügels: „Ihr großen Dardaner, Volksstamm vom erhabenen Blut der Götter, ein Jahreskreis vollendet
sich im Lauf der Monate, seit wir die übrigen Gebeine meines göttlichen Vaters bestattet und
Traueraltäre geweiht haben. Und schon ist der Tag da, wenn ich mich nicht täusche, der für mich
immer schmerzlich, (50) immer ehrenvoll sein wird (so wollt ihr Götter es!). Wenn ich ihn als
Vertriebener in den gaetulischen Syrten verbringen würde oder auf dem argolischen Meer und in der
Stadt Mycene ergriffen werden würde, so führte ich dennoch die jährlichen Gebete und die
feierlichen Festzüge der Reihe nach aus, und errichtete für seine Gaben einen Altar. Nun befinden
wir uns sogar freilich nicht ohne Sinn und ohne die Wirkkraft der Götter, wie ich meine, bei der Asche
und den Gebeinen meines besagten Vaters und betreten, die wir hier her gebracht wurden,
70
freundliche Häfen. Also auf, lasst uns alle die fröhlichen Ehrungen feiern: Lasst uns um günstige
Winde bitten und Anchises möge es wollen, dass ich ihm alljährlich dieses Opfer bringe, nachdem ich
meine (60) Stadt errichtet und die Tempel geweiht habe. Acestes, aus Troja entsprungen, soll euch
Rinder, je zwei an der Zahl, in die Schiffe geben. Zieht auch die väterlichen Penaten zu den Speisen
hinzu, sowie diejenigen, die unser Gastfreund Acestes verehrt. Darüber hinaus will ich für die Teucrer
den ersten Wettstreit unserer schnellen Flotte festsetzen, wenn die neunte Morgendämmerung den
gütigen Tag hervorbringen und mit ihren Sonnenstrahlen den Erdkreis eröffnen wird: Wer im Sprint
stark ist und wer kühn ist im Hinblick auf seine Kräfte und mit einem Wurfspieß einherschreitet oder
lieber mit leichten Wurfpfeilen, oder darauf vertraut den Kampf mit einem blutigen Schlagriemen zu
beginnen: (70) Alle sollen dabei sein und als Belohnungen ihre verdienten Palmzweige erwarten.
Schweigt alle andächtig und umgürtet eure Schläfen mit Zweigen.“
Nachdem er so gesprochen hatte, verhüllte er seine mütterlichen Schläfen mit Myrtenzweigen. Dies
tat auch Helymus, dies der altersreife Acestes, dies der Junge Ascanius und die übrige Mannschaft
folgte ihrem Beispiel. Aeneas marschierte mit vielen Tausenden aus der Versammlung zum
Grabhügel, mitten in einer großen Schar, die ihn begleitete. Dort goss er zwei Becher mit
unvermischtem Wein, wie es Brauch war, auf den Boden, indem er das Trankopfer spendete, sowie
zwei Becher mit neuer Milch, zwei mit heiligem Blut, und warf dazu purpurfarbene Blumen und
sprach solches: (80) „Sei gegrüßt, heiliger Vater und nochmals gegrüßt. Seid gegrüßt, ihr vergeblich
geretteten Aschen, Seelen und Schatten meines Vaters. Es war nicht möglich, das italische Gebiet, die
vom Schicksal verheißenen Fluren auch nicht gemeinsam mit dir den ausonischen Thybris
aufzusuchen, wer immer er auch ist.“ Dies hatte er gesagt, als aus dem tiefen Allerheiligsten eine
schlüpfrige, gewaltige Schlange sich sieben mal wand, während sie sieben Krümmungen machte. Sie
umschlang sanft den Grabhügel, glitt über die Altäre und ihr Rücken war mit schwärzlichen Zeichen
gefleckt. Ein Glanz ließ durch goldene Farbe ihre Schuppen aufleuchten, genauso wie wenn ein
Regenbogen tausend verschiedene Farben auf die Wolken wirft, wenn er sich gegenüber der Sonne
befindet. (90) Aeneas erstarrte vor Schreck über die Erscheinung. Letztlich kostete sie von den
Speisen, als sie sich zwischen den Opferschalen und den leichten Bechern hindurch schlängelte,
schlüpfte erneut ohne Schaden anzurichten in den tiefen Grabhügel und verließ die abgefressenen
Altäre. Umso eifriger veranstaltete Aeneas die für den Vater begonnenen Ehrungen und war sich
unsicher, ob er die Schlange für den Genius des Ortes oder für einen Diener seines Vaters halten
sollte. Gemäß alter Sitte schlachtete er je zwei Schafe und ebenso viele Säue, ebenso viele junge
Stiere, die auf dem Rücken schwarzes Fell hatten, er goss wiederholt Wein aus den Opferschalen, rief
die Seele des großen Anchises sowie die vom Acheron zurückgeschickten Totengeistern. (100) Aber
auch die Kameraden brachten fröhlich Gaben, soweit es jeder leisten konnte, sie schmückten die
71
Altäre und schlachteten junge Stiere. Andere stellten der Reihe nach Bronzegefäße auf und auf dem
Gras verstreut legten sie den Bratspießen glühende Kohlen unter und rösteten die Eingeweide.
Es kam der Termin, der bereits erwartet worden war, und die Pferde des Phaeton zogen bereits
durch das heitere Sonnenlicht die neunte Morgenröte am Himmel hoch, die Kunde sowie der Name
des berühmten Acestes setzte die benachbarten Stämme in Bewegung. In einem heiteren
Zusammenlauf erfüllten sie die Gestade, um die Männer des Aeneas zu sehen, und ein Teil war sogar
schon kampfbereit. Zuerst wurden die Siegesprämien vor aller Augen in dem (110) mittleren Kreis
aufgestellt, die heiligen Dreifüße, für die Sieger die grünen Kränze und Palmzweige als Preis, die
Waffen und die in Purpurfarbe getränkten Kleider, sowie silberne und goldene Talente. Die Tube gab
mitten von einem Wall das Signal, woraufhin die Spiele angefangen wurden. Für den ersten
Wettkampf kamen vier, was ihre schweren Ruder anging, gleichstarke Schiffe, die aus der ganzen
Flotte ausgewählt waren. Mnestheus trieb mit schnellem Ruderwerk die schnelle ‚Pristis‘ an – bald
der ‚Italer‘ Mnestheus, von dessen Name der Stamm der Memmer entstehen wird, und Gyas trieb
die aufgrund ihrer gewaltigen Masse, gewaltige ‚Chimaera‘ an: Ein Bauwerk einer ganzen Stadt, ein
Schiff, welches die Dardaner in einer dreifachen Ruderreihe (120) antrieben und in welchem sich in
drei Reihen die Ruder erhoben. Sergestus, von welchem das Sergierhaus seinen Namen hat, fuhr auf
der großen ‚Centaurus‘, sowie Cloanthus auf der bläulichen ‚Scylla‘, wo dein Volksstamm sein Name
her hat, Römer Cluentius. In der Ferne befand sich im Meer gegenüber der schäumenden Küste ein
Fels, der im Wasser versenkt von den aufgewühlten Fluten gepeitscht wurde, sobald die winterlichen
Nordwestwinde die Sterne verbargen. Wenn es windstill war, lag er ruhig da und es erhob sich aus
dem unbewegten Meer ein Feld, eine äußerst willkommene Stelle für sonnenhungrige Taucher. Hier
(130) stellte der Vater Aeneas eine Spitzsäule aus einer grünenden Steineiche als Grenzzeichen für
die Seefahrer auf, durch das sie umzukehren wussten und worum sie die lange Route wenden
mussten. Dann wählten sie durch ein Losverfahren die Startpositionen aus und die Teamführer selbst
leuchten auf den Schiffshecks weithin hervor aufgrund ihres Gold- und Purpurschmucks. Die übrige
Jungmannschaft bekränzte sich mit Papellaub und die nackten Schultern glänzten, nachdem sie in Öl
getränkt waren. Sie setzten sich auf die Ruderbänke und spannten die Arme an den Rudern an.
Gespannt erwarteten sie das Startzeichen, die pochende Furcht und die erweckte Begierde nach
Lobpreisungen verschlangen ihre ausgelassenen Herzen. Und dann, sobald die berühmte Tuba das
Signal gegeben hatte, stürzten alle (140) ohne Verzug von ihren Startpositionen hervor. Das Geschrei
der Seeleute stieß bis zum Himmel. Die durch die angespannten Armen der Ruderer aufgewühlte See
schäumte. Sie durchfurchten gleichmäßig das Meer und die komplette, aufgewühlte
Meeresoberfläche spaltete sich aufgrund der Ruder und der dreizackigen Schiffsschnäbel. Nicht so
sehr durchrasten die Wagen bei einem Wettstreit der Zweigespanne das Feld und stürzten dahin,
72
nachdem sie sich aus den Schranken ergossen hatten. Auch nicht schlugen derart Wagenlenker mit
ihren Wellen schlagenden Zügeln zusammen, nachdem sie die Joche losgelassen hatten und beugten
sich vornüber zum Schlag. Dann hallte der ganze Hain wider aufgrund des Beifalls und dem Lärm der
Männer sowie aufgrund des Eifers der Anhänger und die (150) Lagune wälzte ihre Stimmen hin und
her. Auch die vom Geschrei beschallten Hügel klangen wider.
Gyas entfloh vor den anderen und entglitt vorn auf den Wogen zwischen dem Geräusch der Tuba
und dem Lärm der Männer. Diesem folgte dann Cloanthus – er war besser gestellt, was die Ruder
anging – doch sein träges Schiff aus Pinienholz hielt ihn durch das Eigengewicht auf. Hinter diesen
strebten im gleichen Abstand die Pristis und die Centaurus danach sich gegenseitig zu überholen.
Und bald lag die Pristis vorne, bald wurde sie geschlagen von der gewaltigen Centaurus überholt,
bald eilten sie beide gemeinsam Bug an Bug und die langen Kiele durchfurchten das salzige
Gewässer. Und schon näherten sie sich dem Felsen und erreichten die Spitzsäule, (160) als der
Führende und Sieger Gyas mitten im Strudel den Schiffssteuermann Menoetes mit dieser Äußerung
ansprach: „Wohin fährst du mir nur soweit nach rechts? Wende den Kurs hierher! Halte dich an die
Küste und lass zu, dass das linke Ruder das Riff streift! Mögen andere auf das hohe Meer segeln!“
Das sagte er. Doch der blinde Menoetes, der die Felsen fürchtete, wandte den Bug zu den Wogen des
Meeres. „Wohin fährst du in die andere Richtung?“ , sagte Gyas erneut, „Eile zu den Felsen,
Menoetes!“ Gyas rief ihn wieder und wieder schreiend zurück – und da! – er erblickte hinter seinem
Rücken den drohend nahen Cloanthus – dieser segelte auf dem näheren Kurs. Jener (170) schabte
sich zwischen dem Schiff des Gyas und den rauschenden Felsen den linken, inneren Weg und
überholte plötzlich den Führenden. Nachdem er die Zieldurchfahrt passiert hatte, segelte er auf
sicherem Fahrwasser. Dann aber entbrannte gewaltiger Schmerz in Mark und Bein des Jungen und
seine Wangen waren nicht frei von Tränen. Seine Würde und das Wohlbefinden seiner Kameraden
vergessend, warf er den säumenden Menoetes kopfüber vom hohen Schiffsheck ins Meer. Er selbst
nimmt die Aufgabe des Lenkers am Steuerrad auf sich. Derselbe munterte als Kapitän die Männer auf
und wandte den Kiel zur Küste. Aber sobald der ernste und schon ältere Menoetes endlich aus den
tiefsten Tiefen nur mit Mühe aufgetaucht war, eilte er triefend in einer durchnässten Weste zur (180)
Spitze einer Felswand und setzte sich auf den trockenen Felsen. Über ihn hatten die Teucrer gelacht,
wie er ins Meer gefallen war und schwamm und sie lachten, wie er aus seiner Brust die salzigen
Fluten wieder ausspie. Da entbrannte bei den beiden äußersten Kontrahenten, Sergestus und
Mnestheus, die heitere Hoffnung, den säumenden Gyas zu überholen. Sergestus nahm den Platz vorn
ein und näherte sich dem Felsen, dennoch war er nicht in voller Länge vor dem Schiff, das er
überholen wollte. Zum Teil lag er vorn, teilweise brachte ihn aber die Rivalin ‚Pristis‘ mit ihrem
Schiffsschnabel in Bedrängnis. Doch Mnestheus, der durch die Reihen seiner Kameraden lief,
73
ermahnte sie mitten auf seinem Schiff: „Nun, nun, erhebt euch an den Rudern, ihr Kameraden des
(190) Hector, die ich euch in Troia durch das letzte Losverfahren als Begleiter ausgewählt habe. Nun
gelobt mir jene Kräfte, nun den Mut, wovon ihr bei den gaetulischen Syrten, sowie auf dem Ionischen
Meer und auf den beweglichen Wogen am Kap von Malea Gebrauch gemacht habt. Nicht mehr
erstrebe ich, Mnestheus die Führung, eifere auch nicht mehr danach zu siegen (obwohl…. ach! Aber
es mögen die gewinnen, denen du dies, Neptun, gewährt hast). Möge es uns schämen, dass wir als
letzte zurückgekehrt sind. Gewinnt ihr, Bürger und verhindert Frevel.“ Jene warfen sich im höchsten
Eifer vor: Unter gewaltigen Schlägen erzitterte das eherne Schiff, der Meeresboden wurde unter ihm
weggezogen. Dann erschütterte zahlreiches Keuchen die Glieder sowie die (200) ausgetrockneten
Münder und überall floss der Schweiß in Bächen. Der Zufall selbst brachte den Männern die
gewünschten Ehren: Denn während Sergestus, rasend im Geiste den Bug an der Innenseite näher an
die Felsen herandrängte und eine ungünstige Strecke durchfuhr, blieb der Unglückliche in den ihm
entgegenkommenden Felsen hängen. Die Felsen wurden erschüttert und die Ruder, die sich auf dem
scharfkantigen Riff gegen das Wasser stemmten krachten. Der angeschlagene Bug hing in der Luft. Es
erhoben sich die Seemänner und hielten das Schiff unter lautem Geschrei in seiner Lage. Sie holten
eiserne Brechstangen sowie Ruderstangen mit scharfer Spitze hervor und laßen im Meer die
zerbrochenen Ruder zusammen. (210) Doch der heitere Mnesteus, der durch das Näherkommen
selbst noch eifriger war, eilte im schnellen Zug der Ruder, nachdem er günstige Winde angerufen
hatte, vorwärts eilend aufs Meer und segelte auf offener See zurück. Wie eine Taube, die plötzlich in
ihrer Höhle aufgeschreckt wurde und die ihr Haus sowie ihre Jungen im porösen Lavastein des Nestes
hat, über die Hügel fliegt, wie man sagt, und aufgeschreckt das gewaltige Klatschen ihrer Flügel über
den Wipfeln hören lässt, bald durch die ruhige Luft gleitet und auf der luftigen Bahn segelt ohne dass
sie ihre schnellen Flügel heftig bewegt. So teilte auch Mnesteus, so auch die ‚Pristis‘ selbst bei ihrer
letzten Flucht die Meeresoberfläche, so trägt der eigene Antrieb jenes fliegende Schiff dahin. (220)
Zunächst verließ er Sergestus, der sich am hohen Felsen abmühte, an den seichten Sandbänken
vergebens um Hilfe rief und lernte mit zerbrochenen Rudern zu fahren. Von da aus holte er Gyas und
die Chimaera selbst mit ihrer gewaltigen Masse ein. Sie machte Platz, weil sie ja ihres Kapitäns
beraubt war. Und schon war als einziger am Ziel selbst nur noch Cloanthus übrig, den Mnesteus
erstrebte und angestrengt mit allergrößter Kraft bedrängte. Dann aber verdoppelte sich das Geschrei
und alle stachelten den Verfolger mit ihrem Eifer an. Der Himmel hallte durch das Getöse wider. Die
einen sind entrüstet, wenn sie ihren eigenen Ruhm und die erworbene Ehre (230) nicht halten
können, und wollen ihr Leben für das Lob einsetzen. Die anderen ernährt der Erfolg. Sie sind mächtig,
weil sie sich selbst so sehen. Und zufällig hätten sie mit den auf gleicher Höhe liegenden
Schiffsschnäbeln die Belohnungen empfangen, wenn nicht Cloanthus, während er beide Handflächen
zum Meer hin ausstreckte, Gebete hervorgebracht und die Götter in einem Gelübde angerufen hätte:
74
„Götter, denen euch die Herrschaft über das Meer zu eigen ist, auf deren Gewässer ich segle, ich
Glücklicher möchte für euch an dieser Küste einen schimmernd weißen Stier vor die Altäre stellen,
um meine Gelübde zu erfüllen. Die Eingeweide werde ich in die salzigen Fluten werfen und klare
Weine ausgießen.“ So sprach er und unter den tiefsten Fluten hörte ihn der ganze Reigen von (240)
Nereiden und Phorcus, sowie die Meerjungfrau Panopea. Und der Vater Portunus selbst trieb den
Fahrenden mit seiner großen Hand an. Er entfloh schneller dahin zur Erde als jener Pfeil und der
geflügelte Südwind und barg sich im tiefen Hafen. Dann erklärte der Sohn des Anchises, nachdem er
nach altem Brauch alle zusammengerufen hatte, Cloanthus mit der lauten Stimme eines Ausrufers
zum Sieger und umhüllte dessen Schläfen mit grünem Lorbeer. Er gewährte, dass sie als Geschenke je
drei Jungstiere wählten und dass Wein und ein großes Talent an Silber in die Schiffe trugen. (250) Für
die Schiffsführer selbst fügte er zusätzliche Ehrungen hinzu: Für den Sieger ein golddurchwirkter
Mantel, um welchen ringsum eine breite, purpurne Meliboea mit doppeltem Mäander lief. In den
Mantel war der königliche Junge eingewebt, der im belaubten Idagebirge eifrig die schnellen Hirsche
mit dem Wurfspieß im Lauf ermüdete, einem keuchenden Mann gleich, den der erhabene Adler,
Jupiters Waffenträger, mit seinen hakigen Krallen vom Idagebirge raubte. Die hochbetagten Wachen
streckten ihre Handflächen vergebens zu den Sternen aus, es tobt das Gebell der Hunde gen Himmel.
Aber demjenigen, der dann durch seine Tugend den zweiten Platz gemacht hatte, schenkte er einen
durch leichte Haken und einem dreifachen Goldfaden verbundenen (260) Brustpanzer, den er selbst
als Sieger beim reißenden Fluss Simois unterhalb des erhabenen Troja dem Demoleus abgezogen
hatte: Ein Schmuckstück für den Mann und gleichzeitig Schutz im Krieg. Mit Mühe und angestrengt
trugen seine Diener jenen vielfältigen Brustpanzer, Phegeus und Sagaris auf den Schultern herbei.
Doch einst hatte ihn Demoleus an und trieb die fliehenden Trojaner vor sich her. Zwei eherne Kessel
machte er zur dritten Gabe, sowie aus Silber gefertigte Schalen, die mit Reliefs verziert waren. Und
schon gingen alle, die so sehr beschenkt worden waren, durch ihre Gaben stolz einher und ihre
Schläfen waren mit purpurfarbenen Binden geschmückt. (270) Da trieb plötzlich Sergestus vom
wilden Felsen her kommend, von dem er sich kaum und nur mit hoher Kunstfertigkeit losreisen
konnte, durch die verlorenen Ruder und mit nur einer Ruderreihe geschwächt, das verlachte und
ehrenlose Schiff an die Küste. Wie oft eine Schlange am Straßendamm erfasst wurde, über die ein
bronzebeschlagenes Rad seitlich gerollt ist oder die ein unwilliger Reisender nach einem Hieb mit
einem Stein halbtot und verstümmelt zurückgelassen hat. Fliehend formt sich dann mit ihrem Körper
vergeblich eine lange Krümmung. An einem Ende ist sie wild, glüht in ihren Augen und steil richtet sie
den zischenden Hals auf. Das andere Ende, lahm durch die Wunde, hält sie zurück, als sie sich mit
ihren Knöcheln festschlingen und sich in ihre Glieder einrollen will: (280) Mit einem solchen
Ruderwerk versuchte sich das träge Schiff zu bewegen. Dennoch setzte es die Segel und näherte sich
dem Hafen mit vollen Segeln. Aeneas überreichte Sergestus die versprochene Gabe, glücklich
75
darüber, dass jener das Schiff bewahrt und die Kameraden zurückgeführt hatte. Ihm wird eine Sklavin
gewährt, die sich in den Werken der Minerva auskannte und von kretischer Abstammung war: Sie
hieß Pholoe und trug Zwillinge unter ihrer Brust.
Nach diesem Wettstreit zog der pflichtbewusste Aeneas zu einem Wiesenfeld, welches von allen
Seiten Wälder auf kurvigen Hügeln umgaben und mitten im Tal befand sich das Rund eines Theaters.
Dorthin begab sich der Held mit vielen tausend Männern mitten hinein und setzte sich auf eine (290)
Tribüne. Hier lud er diejenigen Gemüter, die sich vielleicht im Sprint messen wollten, ein, spornte sie
durch Preise an und setzt Belohnungen aus. Von überall her kamen die Teucrer und darunter
gemischt die Sicaner. Als erste kamen Nisus und Euryalus: Euryalus, auffallend durch seine schöne
Gestalt, die aufgrund seiner Jugend noch frisch war, und Nisus aus treuer Liebe zu dem Jungen.
Diesen folgte darauf der königliche Diores, vom ausgezeichneten Stamm des Priamus. Dem folgte
zugleich Salius und Patron, von denen der eine ein Acarnane, der andere von arcadischem Blut des
tegäischen Stammes war. (300) Dann folgten zwei junge Männer aus Trinacris: Helymus und
Panopes, die mit Wäldern vertraut waren – sie kamen als Begleiter des älteren Acestes. Darüber
hinaus folgten noch viele andere, deren Namen die Überlieferung im Dunkeln hält. Dann sprach
Aeneas, der sich mitten unter ihnen befand, dieses: „Vernehmt diese Dinge mit euren Gemütern und
richtet darauf eure fröhlichen Sinne: Niemand aus dieser eurer Zahl wird mir unbeschenkt von hier
fortgehen. Je zwei kretische Wurfspieße werde ich geben, die durch ihr poliertes Metall funkeln,
sowie eine mit Silber ziselierte Doppelaxt. Für alle wird hier diese eine Belohnung sein. Drei
zusätzliche Belohnungen sollen die ersten drei empfangen und ihr Haupt wird mit einem goldgelben
Ölzweig umflochten. (310) Der Erstplatzierte soll als Sieger ein durch Pferdeschmuck auffallendes
Pferd erhalten. Der Zweitplatzierte soll einen amazonischen Köcher, voller thrakischer Pfeile, den
ringsum ein Gürtel aus breitem Gold umfasst und den eine Gewandspange mit einem feinen
Edelstein zusammenhält. Der Drittplatzierte möge mit diesem argolischen Helm zufrieden abziehen.“
Nachdem diese Dinge gesagt wurden, nahmen sie ihre Startplätze ein und als plötzlich das Startsignal
vernommen wurde, verließen sie die Startschwelle und legten die Rennstrecke schleunig zurück. Die
Losgelassenen waren einer Sturmwolke ähnlich. Schon fassten sie das Ziel ins Auge. Als erster zieht
Nisus davon und springt in weitem Abstand vor den anderen Körpern hervor, schneller als die Winde
oder der geflügelte Blitz. (320) Als nächster – wenn auch in großem Abstand, aber dennoch als
Nächster – folgte ihm Salius. Darauf folgte ihm dann nach einer Lücke als dritter Euryalus. Und auf
Euryalus folgte Helymus. Hinter diesem eilte dann – sieh her! – Diores. Er lag schon Ferse an Ferse
und neigte sich zu der Schulter des Euryalus. Und falls noch ein paar Meter frei sein würden, könnte
er vielleicht vorbeiziehen, als Erster entgleiten und den unsicheren Gegner zurücklassen. Und schon
wollten die erschöpften Männer am Ende der Sprintstrecke hinter der Zielschwelle ankommen, als
76
plötzlich der unglückliche Nisus auf glattem Blut ausrutschte, da es hier zufällig, nachdem Jungstiere
geschlachtet wurden, (330) auf den Boden floss und ihn über dem grünen Gras nass gemacht hatte.
Hier hielt der junge Mann, der bereits als Sieger jubelte, seine strauchelnden Schritte nicht mehr auf
dem Boden, wenn er auch fest auftrat, sondern er fiel vornüber in eben diesen unsauberen Unrat
und in das heilige Blut. Dennoch hat er nicht Euryalus, auch nicht die Liebe zu ihm vergessen: Denn er
stellte sich dem Salius in den Weg, als er sich über der glatten Stelle erhob. Jener allerdings stürzte
rückwärts und fiel in den dichten Sand. Es sprang Euryalus hervor und nahm als Sieger durch das
Geschenk seines Freundes den ersten Platz ein und flog förmlich durch Beifall und Jubel. Danach lief
Helymus im Ziel ein sowie der jetzt dritte Sieger Diores. (340) Hier erfüllte Salius die ganze Tribüne
des gewaltigen Zuschauerbereichs vor dem Angesicht der vorne sitzenden Väter mit lautem Geschrei
und forderte, dass ihm die durch eine List geraubte Ehre zurückgegeben würde. Die Gunst sowie
seine hübschen Tränen schützten Euryalus, der eine größere Männlichkeit ausstrahlte, die mit einem
schönen Körper einherging. Es half auch, dass Diores mit lauter Stimme für Euryalus sprach, der zwar
einen Palmzweig gewonnen hatte, aber vergebens für den dritten und letzten Palmzweig gekommen
wäre, wenn man Salius den ersten Platz zurückgeben würde. Dann sagte der Vater Aeneas: „Eure
Geschenke bleiben euch sicher, ihre Jungen, und niemand rüttelt an der Reihenfolge der Sieger. (350)
Es sei mir gestattet, den unglücklichen Zufall eines unschuldigen Freundes zu bedauern.“ So sprach er
und überreichte dem Salius das gewaltige Fell eines gaetulischen Löwen, welches durch seine
zottigen Haare ein hohes Gewicht besaß und an welchem noch die goldenen Krallen hingen. Da sagte
Nisus: „Wenn die Belohnungen für die Besiegten so groß sind und du Mitleid mit den
Niedergestürzten hast, welche mir würdigen Gaben wirst du dann mir, Nisus, geben, der ich zum Lob
den Kranz des Erstplatzierten verdient hätte, wenn mich nicht das gleiche feindliche Schicksal
heimgesucht hätte, wie den Salius?“ Und sowie er dies gesprochen hatte, zeigte er sein Gesicht und
seine Glieder, die durch den nassen Unrat beschmutzt waren. Der äußerst gütige Vater lachte ihn an
und befahl, dass ein Rundschild gebracht wurde: Ein Kunstwerk des Didymaon, das von den Danaern
vom heiligen Pfosten des (360) Neptuntempels weggerissen wurde. Dies schenkte er dem
hervorragenden jungen Mann als vortreffliches Geschenk. Später, nachdem sie den Sprint beendet
hatten und er die Schenkungen durchgeführt hatte, sagte er: „Nun, falls jemandem Tapferkeit und
Mut in der Brust zugegen ist, möge er herkommen und seine Arme mit umwundenen Handflächen
heben.“ So sprach er und setzte eine zweifache Ehrung für den Ringkampf an: Für den Sieger einen
Jungstier, der mit Gold und Binden verhüllt war, ein Schwert und einen ausgezeichneten Helm als
Trostmittel für den Besiegten. Keine Verzögerung! Sofort reckte Dares mit seinen gewaltigen Kräften
seinen Kopf empor und erhob sich unter lautem Gemurmel der Männer. (370) Er war es als einziger
gewohnt gegen Paris zu kämpfen und bei demselben Hügel, wo der äußerst erhabene Hector im
Grabe ruhte, hatte er den siegesgewohnten Butes, der immer wieder von sich sagte, dass er aus
77
Bebrykien, vom Stamm des Amycus stammte, samt dessen gewaltigen Körper niedergeschmettert
und den Sterbenden längs auf dem gelbroten Sand hingestreckt. Der so beschaffene Dares hob sein
Haupt hoch zum ersten Kampf, zeigte seine breiten Schultern, prahlte, indem er abwechselnd seine
Arme vorstreckte und machte Schattenboxen. Für ihn wurde ein anderer als Gegner gesucht. Und
niemand aus dem so großen Zug wagte es, an den Mann heranzutreten und den Händen den
Schlagriemen anzuziehen. (380) Er war also entschlossen und im Glauben, dass alle auf den
Siegespreis verzichten würden, stellte er sich vor den Füßen des Aeneas auf, zögerte nicht lang,
berührte dann mit seiner Linken das Horn des Stiers und sprach so: „Sohn einer Göttin, wenn es
niemand wagt, sich dem Kampf anzuvertrauen, wie lange sollen wir dann herum stehen? Wie lange
ziemt es sich, mich noch hinzuhalten? Ich fordere dazu auf, dass ich die Gaben wegführen darf.“
Zugleich lärmten alle Dardaner mit ihren Stimmen und forderten auf, dass dem Mann die
versprochenen Gaben gewährt wurden.
Jetzt wies der ernste Acestes mit diesen Worten Entellus zurecht, da er sich neben ihm auf das
grünende Polster aus Gras gesetzt hatte: „Entellus, einst der tapferste aller Helden – anscheinend
vergebens – (390) lässt du es etwa so geduldig zu, dass nach keinem ausgetragenen Wettstreit so
große Gaben mitgenommen werden? Wo ist nun für uns jener Gott Eryx, an den man sich vergebens
als Lehrmeister erinnert? Wo ist der Ruhm, der sich über ganz Sizilien ausbreitete und jene geraubte
Rüstung, die in deinem Hause hängt?“ Darauf erwiderte Entellus: „Weder weicht meine Sehnsucht
nach Lob, noch weicht mein Ruhm, von Furcht vertrieben. Doch mein eisiges Blut ist nämlich durch
das hemmende Greisenalter matt, es sind starr die erschöpften Kräfte in meinem Körper. Wenn mir
die Jugend noch zu eigen wäre, die ich einst hatte, und auf diese vertrauend der Bösewicht da jubelt,
wenn ich jetzt diese Jugend hätte, (400) käme ich freilich nicht von dem Siegespreis angelockt oder
aufgrund des schönen Stiers, auch würde ich nicht wegen den Gaben zögern.“ Nachdem er letztlich
so gesprochen hatte, warf er zwei Schlagriemen von gewaltigem Gewicht in die Mitte, in denen der
feurige Eryx für gewöhnlich seine Hand in die Faustkämpfe trug und seine Arme in hartes Leder
spannte. Die Gemüter staunten: Es starrten sieben gewaltige Leder von so großen Stieren durch
eingenähtes Blei und Eisen. Allen voran staunte auch Dares und sträubte sich lange. Der mutige Sohn
des Anchises, Aeneas, wandte das Gewicht und selbst die gewaltigen Windungen der Seile hin und
her. Dann brachte der Alte solche Worte aus seiner Brust hervor: (410) „Was wäre, wenn jemand die
Schlagriemen und die Waffen des Hercules selbst gesehen hätte, sowie den finsteren Kampf an eben
dieser Küste? Diese führte Eryx, dein Bruder, einst als Waffen mit sich (du siehst sie noch von Blut
befleckt und mit Gehirn vermischt), mit diesen stellte er sich dem großen Alciden gegenüber, an sie
war ich selbst gewöhnt, solange mir noch besseres Blut Kräfte verlieh und noch nicht das neidische
Greisenalter meine beiden Schläfen grau werden ließ. Aber wenn der Trojaner Dares diese unsere
78
Waffen verweigert, und dies der pflichtbewusste Aeneas verlangt, und es der Urheber des
Vorschlags, Acestes, gutheißt, wollen wir einen fairen Kampf abhalten. Dir gebe ich das Leder des
Eryx – (420) befreie dich von der Furcht! – und du zieh‘ die trojanischen Kampfriemen aus.“ Nachdem
er dies gesprochen hatte, warf er den doppelten Mantel von seinen Schultern und er entkleidete die
kräftigen Glieder seines Körpers, seine großen Knochen und seine Oberarme und stellt sich gewaltig
mitten in den Sand. Dann hob der Spross des Anchises, der Vater Aeneas, die gleichschweren
Schlagriemen empor und umschlang die Handflächen der beiden mit gleicher Rüstung. Sofort
standen beide aufrecht auf den Zehen und streckten unerschrocken ihre Arme zu den oben
befindlichen Lüften. Sie nahmen ihre steil aufgerichteten Köpfe weit von den Schlägen zurück, es
mischte sich Faust mit Faust und sie reizten einander zum Kampf. (430) Jener Dares war besser im
Bezug auf die Bewegung seiner Füße und er vertraute auf seine Jugend, Entellus war kräftig durch
seine Glieder und durch seine Körpermasse. Aber die müden Knie des Zitternden wankten und der
erschöpfte Atem schüttelte die mächtigen Glieder. Die Männer verteilten untereinander vergebens
viele Wunden, gaben immer wieder viele Schläge in die Wölbung der Körperseite und brachten aus
ihrer Brust wüste Geräusche hervor. Die Hand irrte häufig zu den Ohren und zur Schläfe; die Kiefer
krachten unter harten Schlägen. Da stand der schwere Entellus und ohne sich viel zu bewegen wich
er nur durch das Drehen seines Körpers und durch seine wachsamen Augen den Schlägen aus. Dares
irrte über diese und über jene offene Stelle zum Körper, irrte nach der Kampfeskunst über den
ganzen Platz, wie jemand, der eine emporragende Stadt mit gewaltigen Steinmauern bekämpft (440)
oder unter Waffen eine Bergfestung umzingelt und bedrängte ihn erfolglos in verschiedenen
Anläufen. Der sich erhebende Entellus streckte ihm seine Rechte entgegen und hob sie hoch empor,
Dares aber sah den von oben kommenden Schlag rasch voraus und wich mit seinem schnellen Körper
entgleitend aus. Entellus vergeudete seine Kräfte gegen den Wind und schwer fiel er von sich aus mit
seinem großen Gewicht heftig zu Boden, wie manchmal eine unterhöhlte Fichte entweder auf dem
Berg Erymanthus niederfällt, oder im großen Idagebirge, wenn sie entwurzelt ist. (450) Die Teucrer
und die sizilianische Jungmannschaft erhoben sich voller Eifer. Geschrei drang zum Himmel und als
erster lief Acestes herbei, der Mitleid hatte und seinen gleichaltrigen Freund vom Boden aufhob.
Doch der Held Entellus, der wegen des Falls weder zögerte noch erschreckt war, ging noch eifriger in
den Kampf. Sein Zorn schürte seine Kraft. Ferner entflammten das Schamgefühl und seine eigene
Tapferkeit, der er sich bewusst war, seine Kräfte und er trieb den fliehenden Dares heftig über die
ganze Ebene. Bald verdoppelte er mit seiner Rechten die Schläge, bald mit der Linken. Kein Aufschub,
keine Ruhe! Wie Regenwolken mit viel Hagel gegen die Dächer prasseln, so schlug und trieb mit
beiden Händen der Held Entellus (460) zahlreich und mit dicht aufeinanderfolgenden Schlägen den
Dares.
79
Dann ließ es der Vater Aeneas nicht mehr zu, dass die Zorneswallungen so weiter gingen und Entellus
in seinem bitteren Gemüt weiterhin so wütete, sondern er bereitete dem Kampf ein Ende, entriss
den erschöpften Dares unter beruhigenden Worten und sprach folgendes: „Du Unglücklicher,
welcher so große Wahnsinn hat Besitz von deinem Herzen ergriffen? Spürst du nicht die fremden
Kräfte und das veränderte göttliche Wirken? Weiche dem Gott!“ So sprach er und löste den Kampf
mit seiner Stimme auf. Aber die treuen Kameraden führten jenen, der sich auf erschöpften Knien
dahinschleppte, seinen Kopf nach beiden Seiten hin warf, dickes Blut (470) aus dem Mund spuckte
und dessen Zähne mit Blut vermischt waren zu den Schiffen. Nachdem die Männer von Aeneas
gerufen wurden, nahmen sie jeweils einen Helm und ein Schwert entgegen, den Palmzweig sowie
den Stier ließen sie Entellus. Jetzt sagte der Sieger, der übrig blieb, mit stolzem Gemüt auch aufgrund
des Stieres: „Sohn der Göttin und ihr, Teucrer, erkennt diese beiden Dinge: Sowohl welche Kräfte
auch mir im noch jugendlichen Körper zu Eigen waren und vor welchem Tod ihr Dares errettet habt.“
So sprach er und stand vor dem Gesicht des ihm gegenüber befindlichen Jungstiers, der als
Siegespreis für den Kampf dastand und schwang (480) steil die harten Kampfriemen, nachdem er mit
der Rechten ausgeholt hatte, mitten in dessen Gehörn. Er schlug den Schädel in das aufgebrochene
Gehirn. Der Stier wurde niedergeworfen und fiel zitternd tot zu Boden. Jener, der über dem Rind
stand, stieß solche Worte aus seiner Brust hervor: „Diese bessere Seele zahle ich dir, Eryx, anstelle
des Todes von Dares. Hier stelle ich als Sieger die Kampfriemen und Kampfkunst zurück.“
Unverzüglich lud Aeneas diejenigen zum Wettstreit mit den schnellen Pfeilen ein, die zufällig wollten
und nannte Siegesprämien. Mit seiner gewaltigen Hand richtete er den Mast des Schiffes des
Serestus auf und nachdem er das Tau hinübergeworfen hatte auch eine geflügelte Taube, wohin sie
den Pfeil schießen sollten. Sie hing vom hohen Mast. (490) Die Männer kamen zusammen und ein
eherner Helm nahm die herab geworfenen Lose auf. Der erste Versuch ging unter Applaus allen
voran an Hippocoon, Sohn des Hyrtacus. Es folgte ihm gerade Mnestheus der Sieger in der
Seeschlacht – Mnestheus, der mit einem grünen Ölbaumzweig umkränzt war. Der dritte war
Eurytion, dein Bruder, oh teuerster Pandarus, der du, weil es dir einst befohlen wurde, das Bündnis
zu brechen, als erste den Pfeil mitten in die Achiver geschleudert hast. Als letzter, mit seinem Los tief
unten im Helm, siedelte sich Acestes an, er wagte es und versuchte mit seiner eigenen Hand am
Wettkampf der jungen Männer teilzunehmen. (500) Dann krümmte ein jeder Mann mit aller Kraft die
gebogenen Bogen vor sich und holte die Pfeile aus den Köchern. Als erster durchschnitt mit
zischender Bogensehne über den Himmel fliegend der Pfeil des jungen Hippocoon die geflügelten
Lüfte. Er kam an und bohrte sich vorn in den Mastbaum. Der Mast erzitterte und der erschreckte
Vogel zuckte mit seinen Flügeln. Alle polterten mit gewaltigem Beifall. Dann blieb der eifrige
Mnestheus mit gespanntem Bogen stehen, während er nach oben zielte, und hielt zugleich die Augen
80
und den Pfeil auf das Ziel. Aber der bejammernswerte Mann (510) vermochte nicht den Vogel mit
seinem Pfeil zu berühren. Er zerriss die Knoten und die Fessel aus Leinen, an welchen die Taube, am
Fuß gefesselt, vom hohen Mast herabhing. Jene, die in die Winde floh, flüchtete in eine schwarze
Wolke. Dann rief Eurytion schnell seinen Bruder in einem Gebet an, nachdem der Bogen schon lange
breit war und er den gespannten Pfeil hielt. Schon traf er die Taube unter der schwarzen Wolke, die
er bereits am freien Himmel beobachtet hatte und die froh mit ihren Flügeln schlug. Sie fiel tot zu
Boden, ließ ihr Leben zwischen den himmlischen Sternen zurück und brachte, nachdem sie
herabgefallen war, den in ihr steckenden Pfeil zurück.
Nachdem der Siegespreis also verloren war, blieb als einziger Acestes übrig, (520) der dennoch
seinen Pfeil in die himmlischen Lüfte spannte, während er als Vater seine Kunstfertigkeit zeigte und
den klingenden Bogen vor sich streckte. Hier zeigte sich plötzlich ihren Augen ein Wunder, das von
großer Bedeutung sein sollte. Dies lehrte später der gewaltige Ausgang und erst spät prophezeiten
die Schrecken erregenden Seher ihre Weissagungen. Denn während der Pfeil durch die klaren
Wolken flog, fing er Feuer, er bezeichnete seine Flugbahn mit den Flammen und nachdem er sich
erschöpft hatte, entschwand er in die dünnen Winde, wie oftmals fliegende Sterne, die sich von ihrer
Position gelöst haben, den Himmel durcheilen und einen Schweif hinter sich herführen. (530) Die
Siziler und die Teucrer hielten mit ihren erstaunten Gemütern inne, und beteten zu den Göttern.
Auch Aeneas lehnte das sehr große Vorzeichen nicht ab, sondern umarmte den heiteren Acestes,
überhäufte ihn mit großen Geschenken und sprach solches: „Nimm, Vater, denn der große König des
Olymp wollte dich als Auserwählter unter derartigen Vorzeichen zu solchen Ehrungen führen. Du
wirst dieses Geschenk des alten Anchises selbst erhalten, ein mit Reliefs verzierter Mischkrug, den
einst der Thraker Cisseus meinem Vater Anchises im Rahmen eines großen Geschenks als Erinnerung
an ihn und als Pfand seiner Liebe mitgegeben hatte.“ Nachdem er so gesprochen hatte, umgürtete er
Acestes‘ Schläfen mit grünem Lorbeer (540) und nannte ihn allen voran als Sieger. Der gute Eurytion
missgönnte ihm seine vorgezogene Ehrung nicht, obwohl er als einziger den Vogel vom hohen
Himmel geholt hatte. Als nächster schritt derjenige zu den Siegesgaben, der die Fessel zerrissen
hatte, als letzter derjenige, der mit dem Pfeil den Mast, an dem der Vogel hing, getroffen hatte.
Doch der Vater Aeneas rief, als der Wettkampf noch nicht ganz vorbei war, den Wächter und
Begleiter des noch nicht erwachsenen Iulus zu sich –den Sohn des Epytus und sprach so in sein treues
Ohr: „Geh nun los und sag Ascanius, dass wenn er schon seine knabenhafte Schar bereit und bei sich
hat und die Laufbahn der Pferde zuweist, dann soll er seinem Großvater zu Ehren die Schwadron
(550) mitführen und sich in Waffen zeigen.“ So sprach er. Er selbst befahl, dass das ganze Volk, das
sich in die Mitte ergossen hatte, in den großen Kreis zurückwich und dass das Feld leer stünde. Die
Jungen ritten in die Mitte und in gleicher Weise glänzten sie vor dem Antlitz der Väter auf den
81
gezügelten Pferden. Die ganze Jugend Siziliens und Trojas bewunderte und bejubelte die Reiter. Allen
wurde nach der Tradition ein Kranz mit geschorenem Laub auf das Haar gedrückt. Sie trugen je zwei
Lanzen aus Holz vom Kornelkirschbaum, die eine eiserne Spitze hatten, ein Teil trug auf den
Schultern geglättete Köcher. Ganz oben an der Brust trugen sie am Hals einen biegsamen Ring aus
gewundenem Gold. (560) Drei Reiterschwadronen an der Zahl und drei Führer streiften umher.
Zweimal sechs Jungen folgen jeweils ihrem Führer und glänzen im geteilten Zug, mit jeweils einem
Vorgesetzten auf Augenhöhe. Eine Kampfreihe der jungen Männer, die der kleine Priamus jubelnd
führte, der den Namen seines Großvaters geerbt hatte: Dein berühmter Sohn, Polites, derjenige,
welcher das Italervolk vermehren wird. Diesen trug ein thrakisches, zweifarbiges Pferd, das weiß
gefleckt war, während es weiße Merkmale am vordersten Huf und steil aufragend seine weiße Stirn
zeigte. Der andere Junge war Atys, von welchem die latinischen Atier ihr Geschlecht herleiten, der
kleine Atys, der von Iulus geschätzte Junge. (570) Als letzter und allen voran als schönster ritt Iulus
auf einem sidonischen Pferd, das ihm die aufrichtige Dido als Erinnerung an sie und als das Pfand
ihrer Liebe gegeben hatte. Die übrige Jungmannschaft wurde von sizilischen Pferden, des schon
älteren Acestes getragen.
Die Dardaner nahmen die Ängstlichen mit Beifall auf und freuten sich, während sie jene betrachteten
und sie erkannten in ihnen das Antlitz ihrer Vorfahren. Nachdem die fröhlichen Zuschauer die ganze
Versammlung sowie die Augen der Ihren auf den Pferden gemustert hatten, gab der Sohn des Epytus
für die Startklaren unter Geschrei weithin das Zeichen und ließ sich mit seiner Peitsche hören. (580)
Jene ritten in gleichem Verhältnis auseinander und nachdem sie in drei Zügen getrennt waren, lösten
sie den Reigen auf. Nachdem sie erneut gerufen wurden, machten sie kehrt und erhoben die
feindlichen Waffen gegeneinander. Dann begannen andere Läufe und Gegenläufe, die in Abständen
entgegen gerichtet waren. Sie behinderten sich gegenseitig Kreis um Kreis ziehend und richteten das
Abbild eines Kampfes unter Waffen an. Und bald waren die Rücken bei der Flucht entblößt, bald
wandten sie die feindlichen Lanzenspitzen, bald eilten sie ebenbürtig einher, nachdem sie Frieden
geschlossen hatten. Wie einst hoch oben auf der Insel Kreta das Labyrinth einen Weg, der mit
finsteren Wänden zusammengefügt war, sowie eine zweideutige List aufwies, die aus (590) tausend
Wegen bestand, wo der unmerkliche und unumkehrbare Irrweg die Wegzeichen zunichte machte:
Genauso verwickelten die Söhne der Teucrer ihre Spuren im selben Irrlauf und verknüpften Flucht
und Gefecht mit dem Spiel. Sie glichen Delphinen, die, während sie durch die nassen Meere
schwammen, das karpatische vom libyschen Meer trennten. Diesen Brauch des Pferdelaufs und diese
Wettbewerbe wiederholte als erster Ascanius, als er die Stadt Alba Longa mit Mauern umgab, und
lehrte die früheren Latiner sie zu feiern, so, wie er sie als Junge selbst gefeiert hatte, so wie sie mit
ihm die trojanische Jungmannschaft gefeiert hatte. Die (600) Einwohner Albas lehrten wiederum ihre
82
Nachkommen. Von da an nahm sie die erhabenste Stadt Rom an und bewahrte die Ehrungen der
Ahnen. Nun werden die Jungen ‚Troja‘ genannt und ihr Zug der ‚trojanische‘. Bis hierher wurde der
Wettstreit zu Ehren des heiligen Vaters gefeiert.
Von da an veränderte sich das Schicksal zum ersten Mal und brach die Treue. Als die Männer dem
Grabhügel des Anchises zu Ehren die Feierlichkeiten mit den verschiedenen Spielen abhielten,
schickte Iuno, die Tochter des Saturns, Iris vom Himmel zur trojanischen Flotte und hauchte ihr
günstige Winde zu. Viele Dinge bedachte sie, denn sie hatte den alten Schmerz noch nicht
überwunden. Iris, die sich beeilte lief über einen tausendfarbigen Regenbogen auf ihrem schnellen
Pfad für (610) keinen sichtbar und als Jungfrau getarnt nach unten. Sie erblickte einen gewaltigen
Zusammenlauf und musterte die Gestade. Sie sah verlassene Häfen und die zurückgelassene Flotte.
Doch in der Ferne beweinten die getrennten Trojanerinnen allein für sich den Verlust des Anchises
und alle blickten weinend auf das tiefe Meer. Alle hatten die gleiche Klage: „Oh, so viele Fluten, ein
so großes Meer bleibt den Erschöpften noch!“ Sie baten um eine Stadt, sie waren es leid die
Strapazen des Meeres zu ertragen. Also begab sie sich mitten unter sie – sie war nicht unerfahren,
wenn es darum ging, jemandem Schaden zuzufügen – und legte Gestalt und Kleidung einer Göttin ab.
(620) Sie wird zu Beroe, der hochbetagten Gattin des tmarischen Doryclus, der einst einen Stamm,
einen Namen und Söhne hatte, und begab sich so mitten unter die Mütter der Dardaner. „Oh wir
Elende, die uns die griechische Schar nicht in den Tod unter den Mauern unserer Heimat geführt hat!
Oh unglücklicher Stamm, für welches Verderben spart dich Fortuna noch auf? Es ist schon der siebte
Sommer seit dem Untergang Trojas, seit wir über die Meere, über alle Ländereien, durch so viele
ungastlichen Steinwüsten vorbei und durch so viele Gegenden auf unserer Fahrt geeilt sind, während
wir über das große Meer nach Italien folgten, das immer wieder vor uns flüchtet und wir von den
Wellen hin und her gewälzt wurden. (630) Hier ist das Gebiet des Bruders Eryx und hier ist der
Gastfreund Acestes: Wer hindert uns, Mauern aufzustellen und den Bürgern eine Stadt zu geben? Oh
Heimat und Penaten, die ihr vergebens aus Feindes Hand gerissen wurdet, werden nun etwa keine
Stadtmauern mehr die ‚Mauern Trojas‘ genannt? Werde ich nirgends wieder die Ströme Hectors, den
Xanthus sowie den Simois, sehen? Also los, verbrennt mit mir die unheilvollen Schiffe! Denn mir
erschien im Traum das Abbild der Seherin Cassandra, das mir brennende Fackeln gab: ‚Sucht hier
nach Troja! Hier ist eine Wohnstätte für euch.‘ sagte sie. ‚Schon ist es Zeit, die Sache durchzuführen.
Es gibt bei so großen Vorzeichen keinen Aufschub! Siehe die vier Altäre (640) für Neptun! Der Gott
selbst unterstützt euch mit Fackeln und mit Mut.‘“
Während Iris dieses sprach, ergriff sie als erste energisch das feindliche Feuer. Nachdem sie ihre
rechte Hand weit erhoben hatte, schwang sie diese angestrengt und warf. Die Gemüter der
Trojanerinnen waren erregt und ihre Herzen waren verblüfft. Jetzt sagte eine von ihnen, Pyrgo,
83
welche die größte und die königliche Amme von so vielen Priamussöhnen war: „Das ist vor euch nicht
Beroe, dies ist nicht die Frau aus Troja, Mütter, nicht die Gattin des Doryclus, erkennt die Zeichen
ihrer göttlichen Würde und ihre brennenden Augen, welcher Geist sie beseelt, welche Gesichtszüge
und welcher stimmliche Klang oder welche Gangart sie hat, die da einher geht. (650) Ich selbst habe
sie, nachdem sie weggegangen war, krank zurückgelassen, während sie sich darüber entrüstete, dass
sie als einzige von derartigen Gaben ausgeschlossen sei und Anchises nicht die verdienten Ehrungen
darbringen konnte.“ Dies sprach sie. Doch anfangs blickten die zwischen der unglücklichen Liebe zu
dem gegenwärtigen Land und dem vom Schicksal verheißenen Königreich schwankenden Mütter
noch unentschieden und mit böswilligen Augen zu den Schiffen, als sich plötzlich die Göttin mit
gleichmäßigen Flügelschlägen gen Himmel erhob und auf ihrer Flucht einen gewaltigen Regenbogen
unter den Wolken durchflog. Dann aber (660) schrien die durch diese Wunder erstaunten und von
Raserei getriebenen Frauen, rissen das Feuer aus dem Inneren der Herde, ein Teil plünderte die
Altäre, warfen Laub, Sträucher und Fackeln. Volcanus wütete zügellos über die Ruderbänke, die
Ruder und die bunten Schiffshecks aus Tannenholz hinweg.
Die Botschaft über die angezündeten Schiffe brachte Eumelus zu dem Grabhügel des Anchises und zu
den Sitzreihen des Theaters und die Männer sahen selbst die finstere Asche, die sich zu einer Wolke
ballte. Und als erster eilte Ascanius, der eben noch heiter den Pferdelauf anführte, ebenso eifrig auf
seinem Pferd zu dem bestürzten Lager. Seine Lehrmeister, die außer Atem waren, konnten ihn nicht
zurückhalten. (670) „Was ist das da für eine neue Raserei? Wohin jetzt – wohin strebt ihr“, sagte er,
„ach ihr unglücklichen Bürgerinnen? Ihr verbrennt nicht den Feind oder das feindlich gesinnte Lager
der Argiver, sondern eure Hoffnung! Seht, ich bin euer Ascanius!“ Er warf den unnützen Helm, mit
dem er im Spiel, als er ihn trug, einen Scheinkrieg anrichtete, vor ihre Füße. Gleichzeitig eilten Aeneas
sowie der Zug der Teucrer herbei. Doch jene Frauen flohen in ihrer verschiedenartigen Furcht weit
und breit über die Küste in alle Richtungen und eilten verstohlen in die Wälder und wenn möglich in
Felshöhlen. Es verdrießte sie ihre Unternehmung und das Tageslicht. Die umgestimmten Frauen
erkannten die Ihren und Iuno war aus ihren Herzen ausgestoßen. (680) Doch deshalb legten die
Flammen und Brände ihre ungezähmten Kräfte nicht ab. Unter dem nassen Hartholz lebte das Werg,
welches trägen Rauch spie, träger Dunst fraß sich in die Schiffe und das Unheil durchzog die ganze
Flotte. Auch die Kräfte der Helden sowie das Löschwasser halfen nichts. Dann riss der
pflichtbewusste Aeneas seinen Umhang von den Schultern, rief die Götter um Hilfe an und streckte
seine Handflächen aus: „Allmächtiger Jupiter, wenn du noch nicht den Trojanern gegenüber allesamt
voller Hass bist, wenn irgendein altehrwürdiges Pflichtgefühl die menschlichen Strapazen beachtet,
dann lass den Brand (690) nun die Flotte verlassen, Vater, und entreiße den dürftigen Besitz der
84
Teucrer dem Tod. Oder schicke, was noch übrig bleibt, mit einem feindlichen Blitz in den Tod, wenn
ich es verdiene, und richte uns mit deiner Rechten zugrunde.“
Kaum hatte er dies von sich gegeben, als plötzlich ein finsterer Sturm entfesselt mit einem Platzregen
wütete und die Ländereien sowie die Felder durch die heftigen Donnerschläge erzitterten. Vom
ganzen Himmel stürzte der stürmische Regen, der tiefschwarz durch das Wasser und die Südwinde
war. Von oben her wurden die Schiffe vom Regen erfüllt und das halbverbrannte Holz wurde triefend
nass, solange bis die ganze Hitze gelöscht und alle Schiffe bis auf vier vor dem Unheil bewahrt waren.
(700) Doch der Vater Aeneas wälzte, aufgrund des bitteren Schicksalsschlages erschüttert, gewaltige
Sorgen in seinem Gemüt bald hierhin, bald dorthin und wog ab, ob er sich etwa auf den sizlischen
Fluren niederlassen sollte, die Weisungen der Götter vergessend, oder zügig die Küsten Italiens
ansteuern sollte. Dann antwortete der alte, hervorragende Nautes, den als einzigen die Göttin
Minerva mit viel Kunstfertigkeit ausstattete: Teils kündigte er an, um welchen großen Zorn der
Götter es sich handelte, teils was die Ordnung der Göttersprüche forderte. Dieser also sprach Aeneas
mit folgenden Worten tröstend an: „Sohn einer Göttin, wohin uns die Göttersprüche ziehen und
zurückziehen, dahin wollen wir folgen! (710) Was es auch immer sein wird, jedes Schicksal ist durch
Ertragen zu überwinden. Du hast den Dardaner Acestes, von göttlichem Stamm: Nimm ihn als
Verbündeten in deinen Plänen und verbinde dich mit dem Willigen! Übergib ihm diejenigen Männer
und Frauen, die aufgrund der verlorenen Schiffe zu viel sind und die des großen Unternehmens und
deiner Bestimmungen überdrüssig sind. Die hochbetagten, alten Männer sowie die vom Meer
erschöpften Mütter und was auch immer bei dir krankes und gefahrenscheues ist, wähle es und lass
die Erschöpften auf dieser Erde eine Stadt haben. Sie werden die Stadt, wenn der Name erlaubt wird,
Acesta nennen.“
Durch derartige Worte seines alten Freundes entbrannt, wurde er (720) dann aber im Hinblick auf die
ganzen Sorgen im Geist auseinandergezogen. Die finstere Nacht hielt, nachdem sie mit ihrem
Zweigespann hinaufgefahren war, das Himmelsgewölbe besetzt. Nun erschien die herabgeglittene
Gestalt seines Vaters Anchises, wie sie plötzlich folgende Worte hervorbrachte: „Mein Sohn, der du
mir einst teurer warst, als mein Leben, solange ich noch ein Leben hatte, Sohn, du durch Trojas
Schicksal geplagter, ich komme hierher auf Jupiters Befehl, der das Feuer von der Flotte trieb und
vom hohen Himmel endlich Mitleid hat. Befolge den Rat, den dir jetzt der vortreffliche, alte Nautes
gibt: (730) Bringe ausgewählte junge Männer mit äußerst tapferen Herzen hinüber nach Italien. In
Latium gibt es für dich ein hartgesottenes und im Hinblick auf seine Lebensweise raues Volk, das du
bekämpfen musst. Gehe dennoch vorher zu den unterirdischen Wohnstätten des Dis und strebe
über den Tiefen des Avernus ein Treffen mit mir an, Sohn. Denn mich besitzt nicht der ruchlose
Tartarus und die traurigen Schatten, sondern ich bewohne die süßen Versammlungen der
85
Pflichtbewussten sowie das Elysium. Hierhin wird dich die keusche Sibylle für viel Blut von schwarzen
Schafen führen. Dann wirst du dein ganzes Volk kennen lernen und lernen, welche Stadt dir gewährt
werden wird. Nun lebe wohl. Die feuchte Nacht wendet über die Mitte ihrer Kreisbahn und der wilde
Morgen hat mich mit seinen schnaubenden Pferden angeweht.“ (740) So sprach er und flüchtete wie
der Rauch in die dünnen Lüfte. Aeneas sagte: „Wohin stürzt du anschließend? Wohin eilst du? Vor
wem flüchtest du? Oder wer hält dich von unserer Umarmung ab?“ Während er dies sprach, fachte
er das schwache Feuer und die Asche an und verehrte demütig den trojanischen Lar, das Heiligtum
der altehrwürdigen Vesta mit frommem Dinkel und reichlich Weihrauch. Sofort holte er seine
Kameraden und als ersten Acestes herbei, belehrte sie über Jupiters Befehl, über die Vorschriften
seines teuren Vaters und darüber, welcher Entschluss nun in seinem Gemüt feststand. Es gab keinen
Aufschub für Beratungen. Acestes verweigerte sich den Befehlen nicht. (750) Sie überschrieben die
älteren Frauen der Stadt und setzten diejenigen des Volkes, die wollten und nicht nach großem Ruhm
strebten, ab. Sie erneuerten die Ruderbänke und ersetzten das von den Flammen halbverzehrte
Hartholz in den Schiffen, sie glichen die Ruder und die Taue an. Die Männer waren nur noch wenige
an der Zahl doch im Krieg waren sie die lebendige Virtus. Inzwischen bezeichnete Aeneas die Umrisse
der Stadt mit einem Pflug und man loste die Wohnungen aus. Er befahl, das dies Ilium und jene
Gebiete Troja sein sollten. Der Trojaner Acestes freute sich über seine Königsherrschaft, bestimmte
das Forum und nachdem er die Ältesten zusammengerufen hatte, stellte er Gesetze auf. Dann wurde
das den Sternen benachbarte Heiligtum auf dem Gipfel des Eryx für die idalische Venus (760)
gegründet und für das Grab des Anchises wurde ein Priester sowie weitum ein heiliger Hain
hinzugefügt.
Und schon hatte das ganze Volk neun Tage lang gespeist. An den Altären wurden die Ehrungen
abgehalten. Günstige Winde glätteten die Meeresoberfläche und erneut rief häufig der Südwind, der
die Männer anwehte, auf das hohe Meer hinaus. An der kurvigen Küste entstand ein gewaltiges
Schluchzen. Während sich die Menschen gegenseitig im Arm hielten verweilten sie eine Nacht und
einen Tag. Nun wollten selbst die Mütter und diejenigen, denen das Antlitz des Meeres rau und
schon das Wort allein unerträglich schien, mitgehen und die ganze Strapaze der Flucht erdulden.
(770) Diese tröstete der gütige Aeneas mit freundschaftlichen Worten und vertraute sie unter Tränen
seinem Verwandten Acestes an. Anschließend befahl er, dass drei Kälber für den Gott Eryx, ein
Lamm für die Sturmgötter geschlachtet, und dass der Reihe nach die Taue gelöst wurden. Er selbst
stand fern auf dem Bug – sein Haupt mit Blättern eines geschorenen Ölbaumzweiges umwunden –
und hielt eine Opferschale. Er warf Eingeweide in die Salzflut und vergoss klaren Wein. Im Wettstreit
eilten die Kameraden aufs Meer und fegten mit ihren Rudern die Meeresoberfläche. Der sich
erhebende Wind folgte vom Heck aus den Fahrenden.
86
Doch inzwischen (780) sprach die von Sorgen geplagte Venus Neptun an und brachte derartige
Klagen aus ihrer Brust hervor: „Der schwerwiegende Zorn der Iuno sowie ihre unersättliche Rachgier
zwingen mich, Neptun, mich auf all die Bitten einzulassen. Weder ein langer Tag noch irgendein
Pflichtgefühl besänftigen sie, nicht einmal durch Jupiters Befehl und seine Schicksalssprüche
gebrochen ruht sie. Es ist nicht genug, dass die Stadt mitten aus dem Volk der Phryger durch
unsäglichen Hass zerstört wurde auch nicht, dass die Überreste Trojas die ganze Strafe erdulden
mussten. Sie verfolgt selbst noch die Asche und die Gebeine der zerstörten Stadt! Sie allein möge die
Gründe für die so große Raserei kennen. Du selbst bist mir ein Zeuge, (790) wie sie neulich in den
libyschen Gewässern plötzlich eine große Masse in Bewegung gesetzt hat: Sie hat das ganze Meer mit
dem Himmel vermischt, vergebens vertrauend auf die Stürme des Aeolus: Denn dies wagte sie in
deinem Königreich! Sieh, sie verbrannte sogar die Schiffe, nachdem sie die trojanischen Mütter auf
den Pfad des Verbrechens getrieben hatte und zwang die Männer dazu ihre Kameraden der fremden
Erde zu überlassen, weil sie ihre Flotte verloren hatten. Als letztes soll erlaubt sein – so bitte ich dich
– dir die sicheren Segeln auf den Wogen anzuvertrauen und dass sie den laurentischen Thybris
erreichen, sofern ich dich um Dinge bitte, die ihnen zugestanden werden, sofern die Parzen ihnen
diese Stadt gewähren.“
Dann brachte der Sohn des Saturns, Bändiger des tiefen Meeres diese Worte hervor: (800) „Es
entspricht völlig dem göttlichen Recht, Cyntherea, dass du dich meinem Königreich anvertraust,
woher du stammst. Auch habe ich es verdient. Oft habe ich die Rasereien und die so große Wut des
Himmels und des Meeres unterdrückt. Und mir war auf Erden dein Aeneas nicht weniger wichtig,
dafür rufe ich den Xanthus und den Simois als Zeugen an. Als Achilles, indem er die atemlosen
Scharen der Trojaner verfolgte die Heereszüge an die Mauern trieb, und viele tausende dem Tod
übergab, als die leichengefüllten Ströme seufzten, Xanthus keinen Weg mehr finden und nicht mehr
ins Meer fließen konnte, habe ich damals Aeneas, der mit dem tapferen Peleussohn
zusammengetroffen und ihm weder an Göttergunst noch an Kräften ebenbürtig war,(810) in einer
Wolke eingehüllt entrissen, obwohl ich wünschte, die mit meinen eigenen Händen errichteten
Mauern des meineidigen Trojas von Grund auf zu vernichten. Auch jetzt bin ich derselben
Einstellung, vertreibe deine Furcht. Aeneas wird in die sicheren Häfen des Avernus einlaufen, die du
dir wünschst. Nur einer wird es sein, den du, weil er verloren, im Meeresstrudel suchen wirst. Ein
Leben wird man anstelle von vielen Leben gewähren.“
Sobald er das nun heitere Gemüt der Göttin mit diesen Worten beruhigt hatte, verband der Schöpfer
seine Pferde mit Gold, gab das schäumende Zaumzeug hinzu und ließ mit seinen Händen den wilden
Pferden die ganzen Zügel schießen. Leicht flog er mit seinem bläulichen Wagen über die oberste
Meeresflut. (820) Die Wogen senkten sich, unter dem donnernden Himmelsgewölbe glättete sich die
87
Meeresoberfläche mit ihren Wassern, es flohen am weiten Himmel die Regenwolken. Dann
erschienen die verschiedene Gestalten seiner Begleiter: gewaltige Meerungeheuer, auch der alte
Reigen des Glaucus, der Sohn der Ino Palaemon, die schnellen Tritonen sowie das ganze Heer des
Phorcus. Auf der linken Seite sind Thetis, Melite und die Jungfrau Panopea, Nisaee, Spio, Thalia sowie
Cymodoce.
Jetzt stellten schmeichelhafte Freuden das angespannte Gemüt des Vaters Aeneas abwechselnd auf
die Probe. Er befahl, dass rasch alle Mäste emporgerichtet werden und dass die Rahen für die Segel
angespannt werden. (830) Alle segelten gemeinsam mit halben Wind und lösten gleichzeitig bald
links, bald rechts den faltigen Bausch des Segels. Gemeinsam wandten sie die steilen Segelstangen in
verschiedene Richtungen. Die Flotte eilte durch für sie günstige Winde dahin. Als erster, allen voran
führte Palinurus den dichten Konvoi an. Den anderen wurde befohlen in seine Richtung zu eilen. Und
schon hatte die feuchte Nacht ungefähr den mittleren Punkt ihrer Himmelsbahn erreicht, die Glieder
lockerten sich in sanfter Ruhe, unter den Rudern lagen die Seemänner verstreut über den harten
Sitzbänken, als der leichte Schlaf von den himmlischen Sternen herabglitt, sich seinen Weg durch die
finstere Luft bahnte und die Schatten vertrieb. (840) Zu dir, Palinurus, eilte er. Dir Unschuldigem
brachte er traurige Träume. Der Traumgott setzte sich auf das hohe Heck und dem Phorbas ähnlich
brachte er aus seinem Mund diese Worte hervor: „Sohn des Iasius, Palinurus, die Wogen selbst
tragen die Flotte, es wehen gleichmäßige Winde, die Stunde wird der Ruhe gewährt. Lege dein Haupt
nieder und entziehe deine müden Augen der Arbeit. Ich selbst werde ein Weilchen für dich deine
Aufgabe übernehmen.“ Diesem antwortete Palinurus, der kaum seine Augen erhob: „Befiehlst du
etwa, dass ich die Miene des sanften Salzmeeres und die ruhigen Fluten plötzlich nicht mehr kenne,
dass ich diesem Ungeheuer vertraue? (850) Soll ich Aeneas (was nämlich?) den täuschenden Winden
anvertrauen, der ich so oft durch eine Täuschung des heiteren Himmels betrogen wurde? Solche
Worte sagte er am Steuerruder festhaltend. So verharrte er und niemals ließ er es los. Die Augen
hielt er zu den Sternen gerichtet. Sieh, der Gott schüttelte einen Zweig, der vor lauter Lethetau
feucht war und durch die Kraft des Styx einschläfernd wirkte, über beide Schläfen des Palinurus und
erlöste die schwankenden Augen des zögernden Mannes. Kaum hatte die plötzliche Ruhe die ersten
Glieder gelockert, da beugte sich der Gott über ihn und warf ihn mit einem losgerissenen Teil des
Schiffshecks und mit dem Steuerrad in die klaren Wellen. (860) Der kopfüberfallende Mann rief oft,
aber vergebens nach seinen Kameraden. Der Traumgott brach fliegend mit seinen Schwingen in die
dünnen Lüfte auf. Die Flotte segelte nicht anders auf ihrem sicheren Weg über das Meer und gemäß
den Versprechen des Vaters Neptun wurde sie ohne Schrecken vom Wasser getragen. Und schon
kam sie auf ihrer Fahrt zu den Felsen der Sirenen, die einst schwierig und weiß durch die Gebeine von
vielen Menschen waren (nun rauschten die Felsen dumpf und weither durch die stetige Salzflut), als
88
Aeneas fühlte, dass die Flotte auf dem Meer umhertrieb, nachdem sie ihren Steuermann verloren
hatte. Er selbst lenkte das Schiff auf den nächtlichen Wogen, während er viel seufzte, und im Geiste
war er erschüttert über das Schicksal seines Freundes. (870) „Oh Palinurus, der du dem Himmel und
dem heiteren Meer allzu sehr vertraut hast, wirst nackt an einem fremden Strand liegen.“
Buch 6
So sprach er unter Tränen, ließ die Zügel für die Flotte schießen und endlich landeten sie an der
euböischen Küste von Cumae. Die Schiffe wandten ihren Bug dem Meer zu. Dann befestigte der
Anker mit seinem festhaltenden Haken nach und nach die Schiffe und die rundlichen Schiffshecks
säumten die Küste. Die Schar der jungen Männer springt begehrend an die Küste Hesperiens. Ein Teil
suchte nach in den Adern der Feuersteine verborgenen Feuerfunken, ein anderer Teil stürzte sich in
die dichten Behausungen der wilden Tiere, die Wälder, und zeigt den anderen aufgefundene Flüsse.
Aber der pflichtbewusste Aeneas eilte zu den Berggipfeln, welchen der erhabene Apollo (10) vorsteht
und fern in die Abgeschiedenheit, zur gewaltigen Höhle der Furcht erregenden Sibylle, welcher der
Orakelgott Delius einen großen Verstand und großen Geist einhaucht und die Zukunft eröffnet.
Schon näherten sie sich den Hainen der Trivia sowie den goldenen Dächern. Daedalus, so geht die
Sage, der vor dem minoischen Königreich floh, wagte es sich mit geflügelten Schwingen dem Himmel
anzuvertrauen, flog auf ungewohnter Route zu den eisigen Bären und kam schließlich sanft auf der
chalkidischen Berghöhe zum Stehen. In diesen Ländereien gelandet weihte er zuerst dir, Phoebus,
sein geflügeltes Ruderwerk und errichtete dir eine gewaltige Tempelanlange. (20) Auf den Türen ist
der Tod, der Androgeus ereilte, zu sehen. Dann waren die Cecropiden zu sehen, (die Armen!) denen
befohlen wurde als Strafe jedes Jahr sieben Kindesleiber zu opfern. Dort stand die Urne, nachdem
die Lose gezogen waren. Auf der anderen Seite lag entsprechend die Insel Kreta, die sich aus dem
Meer erhob. Hier war die grausame Liebe zum Stier dargestellt, sowie die heimlich untergeschobene
Pasiphae, der Zwittersprössling, der zweigestaltige Nachkomme Minotaurus, als Denkmäler der
unsäglichen Liebeslust, hier jenes Haus und die dazugehörige Strapaze sowie der unentrinnbare
Irrgarten. Doch Daedalus selbst erbarmte sich der großen Liebe der Königstochter und löste die List
und die Irrwege des Hauses auf, indem er seine orientierungslosen Schritte mit einem Faden lenkte.
(30) Auch du, Ikarus, hättest in dem so großen Werk einen Platz, wenn es der Schmerz zugelassen
hätte. Zweimal versuchte er, dein Unglück in Gold zu prägen, zweimal fielen dem Vater die Hände
herab. Ja, sie hätten mit ihren Augen unverzüglich alle Darstellungen durchstreift, wenn nicht bereits
der vorausgeschickte Achates gemeinsam mit der Priesterin des Phoebus und der Trivia, Deiphobe,
Tochter des Glaucus zur Stelle gewesen wäre. Die Priesterin sagte dem König folgendes: „Es ist nicht
89
die Zeit, die Darstellungen zu betrachten. Jetzt wäre es vordringlich aus einer unversehrten Herde
sieben junge Stiere zu schlachten und ebenso viele gemäß dem Brauch ausgewählte Schafe.“ (40)
Nachdem sie mit solchen Worten Aeneas angesprochen hatte (und die Männer säumten nicht, die
befohlenen Opfer zu leisten) rief die Priesterin die Teucrer in die erhabene Tempelanlage.
Eine Seite des euböischen Felsens war zu einer gewaltigen Höhle herausgehauen, wo hundert breite
Eingänge hineinführten, hundert Mündungen, woraus ebenso viele Stimmen drangen, Antworten der
Sibylle. Man hatte die Schwelle erreicht, als die Jungfrau sprach: „Es ist Zeit, die Göttersprüche zu
forden. Der Gott – siehe! Der Gott!“ Der vor den Toren solches sprechenden Seherin verblieb keine
Mimik mehr, keine einzige Gesichtsfarbe, kein Haar verblieb mehr, wie es gekämmt wurde. Sondern
die keuchende Brust und das vor Raserei wilde Herz waren geschwollen. Sie schien größer und klang
(50) nicht mehr sterblich, als sie von der schon näheren Macht des Gottes angeweht wurde. Sie
sagte: „Zögerst du mit Gelübden und Gebeten, Trojaner Aeneas? Zögerst du? Denn vorher tun sich
die großen Schlünde der betäubten Wohnstätte nicht auf.“ Und nachdem sie solches gesagt hatte,
verstummte sie. Den Teucrern lief eisiges Grausen durch ihre harten Gebeine. Der König brachte aus
tiefster Brust diese Gebete hervor: „Phoebus, der du dich immer den beschwerlichen Strapazen der
Trojaner erbarmt hast, der du die dardanischen Waffen des Paris und seine Hand gegen den Körper
des Aeciden gelenkt hast: Ich habe so viele Meere, die große Länder umspülen, unter deiner Führung
befahren, gänzlich die verborgenen Stämme der (60) Massyler bereist und bei den Syrten die
vorgelagerten Fluren. Hoffentlich ist Trojas Schicksal nur bis hier her gefolgt. Es ist ein göttliches
Recht, dass auch ihr das Volk Pergamons verschont, ihr alle Götter und Göttinnen, denen Ilium und
der gewaltige Ruhm der Dardaner im Wege stand. Auch du, oh allerheiligste Seherin, die du über die
kommenden Dinge bescheid weißt, gewähre, dass sich die Teucrer, sowie ihre herumirrenden Götter,
die getriebenen Wirkmächte Trojas in Latium niederlassen können (ich fordere kein Königreich, das
ich gemäß meines Schicksals nicht verdient hätte). Dann will ich dem Phoebus und der Trivia aus
massivem Marmor einen Tempel (70) errichten, sowie Festtage, nach Phoebus benannt, abhalten.
Auch für dich wartet ein großes Heiligtum in meinem Königreich. Hier werde ich deine
Schicksalsverheißungen sowie deine geheimnisvollen Weissagungen, die du meinem Stamm gemacht
hast, ablegen. Und ich werde hierfür auserwählte Männer weihen, du Gütige. Vertraue die
Weissagungen nur nicht den Blättern an, damit sie nicht als ein für die reißenden Winde
durcheinander gebrachtes Spielzeug umherfliegen, sondern prophezeihe sie bitte selbst!“ Damit
endete er. Doch die Seherin schwärmte, die den gewaltigen Phoebus noch nicht ertragen konnte, in
der Höhle umher, um womöglich den großen Gott aus ihrer Brust herauszustoßen. Umso mehr setzte
jener ihrem (80) rasenden Mund hart zu, bezähmte ihr wildes Herz und bändigte sie durch Druck.
Und schon standen einhundert gewaltige Öffnungen der Höhle aus eigenem Antrieb offen und tragen
90
die Antworten der Seherin zu den Ohren der Männer: Oh Aeneas, der du endlich den großen
Gefahren des Meeres ein Ende gemacht hast (doch auf der Erde warten schlimmere auf dich!) – die
Dardaner werden zu den Königreichen Laviniums kommen (entlasse diese Sorge aus deiner Brust),
doch sie werden wollen, nie dort angekommen zu sein. Ich erkenne Kriege, schreckliche Kriege, und
den Fluss Thybris, der vor lauter Blut schäumt. Dir werden weder der Simoisstrom, noch der Xanthus
noch das dorische Lager fehlen. Und schon ist der zweite Achilles in Latium geboren, (90) auch er ist
ein Sprössling einer Göttin. Auch wird die den Teucrern hinzugegebene Iuno nirgendwo fehlen,
wenn du demütig und in der Not alle möglichen Stämme und Städte der Italer um Beistand bittest!
Erneut wird eine Gattin der Grund für das so große Übel für die Teucrer sein, erneut ein Gast und
eine fremde Hochzeit. Weiche nicht den Übeln aus, sondern gehe ihnen recht kühn entgegen, so, wie
es dein Glück zulässt. Der erste Weg zur Hoffnung (was du am wenigstens vermutest) öffnet sich dir
von einer griechischen Stadt aus.“
Mit solchen Worten prophezeite die Sibylle von Cumae schreckliche Unklarheiten, (100) während sie
Wahres mit Verborgenem vermischte: und hallte in der Höhle wieder. Apollon schüttelte der
Rasenden die Zügel und wandte ihr den Stachel unter die Brust. Sobald die Raserei wich und sich die
rasenden Gesichtszüge beruhigten, begann der Held Aeneas zu sprechen: „Nicht eine einzige, neue
oder unvermutete Erscheinung einer Strapaze, oh Jungfrau, erhebt sich mir. Ich habe bereits alle
vorweggenommen und schon zuvor in meinem Geiste für mich zu Ende geführt. Um eines bitte ich
dich: Da ja hier angeblich der Eingang des Königs der Unterwelt sowie der schattenreiche Sumpf ist,
wo sich der Acheron ergießt, möge es möglich sein in das Blickfeld und vor das Antlitz meines lieben
Vaters zu treten. Du mögest mir den Weg zeigen und mir die heiligen Eingänge öffnen. (110) Jenen
habe ich auf diesen Schultern durch die Flammen und durch die eintausend dicht aufeinander
folgenden Pfeilen gerettet und habe ihn mitten aus Feindes Hand befreit. Er ertrug als Begleiter
meine Reise, mit mir alle Meere sowie alle Drohungen des Meeres und des Himmels, schwach und
doch weit über seine Kräfte und dem Los seines Alters hinaus. Ja, derselbe gab mir auch bittend den
Auftrag, dass ich dich demütig bitten und zu deiner Stätte gehen sollte. Ich bitte dich, Gütige,
erbarme dich des Sohnes und des Vaters (du kannst nämlich alles und Hecate hat dich nicht umsonst
dem Avernerhain vorangestellt), wenn es Orpheus vermochte, die Totengeister seiner Gattin zu
forden, indem er auf seine (120) thrakische Zither und auf ihr treues Spiel vertraute, wenn Pollux
seinen Bruder durch seinen eigenen Tod loskaufen konnte und so oft den Weg hin und zurückging.
Wozu soll ich Theseus, wozu den großen Hercules erwähnen? Auch ich stamme vom äußerst
erhabenen Jupiter ab.“
Mit solchen Worten bat er sie und berührte die Altäre, als die Seherin so zu sprechen begann: „Du
Spross vom Blut der Götter, Trojaner, Sohn des Anchises, leicht ist der Abstieg in die Unterwelt: Die
91
Pforte zum finsteren Dis steht Tag und Nacht offen. Aber den Schritt zurückzuwenden und zu den
Lüften der Oberwelt hinaufzusteigen – dies ist eine Arbeit, dies ist eine Strapaze! Nur wenige
konnten das – nur diejenigen, die der gerechte Jupiter liebte, oder welche, die ihre eifrige Tugend zur
Oberwelt erhob; Göttersöhne! Wälder besetzten die gesamte mittlere Region und der Cocytus
umgibt sie in finsterer Wölbung fließend. Wenn aber das Verlangen des Geistes so groß ist, wenn die
Begierde so groß ist, zweimal den stygischen See zu befahren, zweimal den schwarzen Tartarus zu
sehen und wenn es dir gefällt, dich einer wahnsinnigen Strapaze hinzugeben, vernimm, was zuvor
erledigt werden muss! Es verbirgt sich an einem schattigen Baum ein Zweig, der samt seinem Laub
und dem geschmeidigen Holz golden ist. Man nannte ihn der Iuno, Göttin der Unterwelt, heilig.
Diesen schützt der ganze Hain und ihn umschließen die Schatten in den düsteren Talkesseln. (140)
Doch nicht eher wird es gewährt, ins Innere der Erde hinabzusteigen, bevor nicht jemand den
goldbelaubten Zweig vom Baum gepflückt hat. Die schöne Proserpina hat bestimmt, dass dieses
Geschenk ihr gebracht wird. Nachdem der erste Zweig abgerissen wurde, wird ein zweiter golden
nachwachsen und der Zweig wird aus gleichem Metall blühen. Halte also nach oben hin mit deinen
Augen Ausschau und pflücke ihn, wenn du ihn gefunden hast, wie es der Brauch verlangt mit der
Hand: Denn von sich aus willig wird er leicht deinem Ziehen folgen, sofern dich die Göttersprüche
rufen. Ansonsten könntest du ihn mit keinen Kräften überlisten, auch nicht mit dem harten Schwert
abreißen. Übrigens liegt für dich der leblose Körper eines Freundes darunter (150) (ach, das weißt du
noch gar nicht!) und befleckt die ganze Flotte mit seiner Leiche, während du meine Beschlüsse
erbittest und auf meiner Schwelle stehst. Bringe ihn erst in seine Wohnstätte zurück und birg ihn in
ein Grab. Führe schwarze Schafe herbei. Diese sollen das erste Sühneopfer sein. So wirst du endlich
die stygischen Haine und das für Lebende unbegehbare Königreich erblicken.“ Dies sagte sie und
verstummte, nachdem sie ihre Lippen zusammengepresst hatte.
Aeneas, der die Höhle verließ, schritt mit gesenktem Blick und traurigem Antlitz einher und
beschäftigte sich im Geiste mit dem dunklen Ereignissen. Ihn begleitete der treue Achates und
marschierte mit gleichen Sorgen. (160) Untereinander reihten sie im bunten Gespräch viele
Gedanken aneinander: Welchen toten Kameraden die Seherin nannte, welchen Körper man
beerdigen müsse. Und sobald sie an den trockenen Sandstrand kamen, sahen sie Misenus, der von
einem unwürdigen Tod vernichtet wurde – Misenus, der Aeolide, woran gemessen kein zweiter
hervorragender darin war, mit der Tuba die Männer anzutreiben und mit dem Spiel den Krieg zu
entflammen. Dieser war ein Begleiter des großen Hectors. In Hectors Gefolge ging er den Kämpfen
sowohl durch das Signalhorn als auch durch die Lanze auffallend entgegen. Nachdem der Sieger
Achilles Hector des Lebens beraubt hatte, tat sich der äußerst tapfere Held Misenus dem Dardaner
Aeneas (170) als Bundesgenossen hinzu und folgte damit keinem schlechteren Los. Aber dann,
92
während er – der Wahnsinnige! – zufällig durch eine hohle Muschel das Meer erklingen ließ, rief er
durch sein Spielen die Götter zu einem Wettstreit auf und der eifersüchtige Triton tauchte den Mann,
den er gefangen genommen hatte, zwischen den Felsen in die schäumenden Wogen, wenn man das
glauben darf. Also lärmten ringsum alle mit großem Geschrei, vor allem der pflichtbewusste Aeneas.
Dann führten alle weinend, eilends und ohne Verzug die Befehle der Sibylle aus. Sie wetteiferten
einen Scheiterhaufen aus Bäumen zusammenzutragen und ihn bis zum Himmel aufzutürmen. Man
geht in den alten Wald, zu den hohen Stallungen der wilden Tiere. (180) Die Kiefer fielen vornüber,
die vom Beil gefällte Steineiche und die Balken von der Esche krachten. Man schnitt das gespaltene
Hartholz. Die Männer rollten gewaltige Steineschen von den Bergen einher.
Und Aeneas feuerte die Kameraden als erster bei den derartigen Arbeiten an und umgürtete sich mit
denselben Werkzeugen. Und während er den gewaltigen Wald betrachtete wälzte er selbst diese
Gedanken in seinem traurigen Herzen hin und her: „Wenn sich uns doch jetzt im so großen Hain
jener goldene Ast am Baum zeigen würde! Weil die Seherin über dich alles – ach! – allzu wahr
gesprochen hat, Misenus.“ (190) Kaum hatte er das gesagt, als zufällig ein Taubenpaar vor dem
Antlitz des Mannes fliegend vom Himmel herbeikam und sich auf den grünen Waldboden setzte.
Dann erkannte der äußerst erhabene Held die mütterlichen Vögel und betete heiter: „Möget ihr
meine Führer sein, oh, falls es einen Weg gibt: Lenkt den Kurs durch die Lüfte in den Hain, wo der
reichbelaubte Ast einen Schatten auf den fruchtbaren Boden wirft. Und du, göttliche Mutter, stehe
mir bei der unsicheren Angelegenheit bei!“ Nachdem er so gesprochen hatte, blieb er stehen,
während er beobachtete, welche Zeichen die Tauben gaben und wohin sie zu ziehen drängten. Jene
drangen fressend nur soweit vor, (200) wie die Folgenden sie mit ihrer Sehschärfe wahrnehmen
konnten. Sobald sie dann zu den übelstinkenden Schluchten des Avernus gekommen waren, erhoben
sich die beiden Vögel in die klare Luft und nachdem sie durch die Lüfte geglitten waren, ließen sie
sich auf ihren gewünschten Ruheplätzen oben am Baum nieder, von wo das Buntfarbige des Goldes
zwischen den Ästen im Tageslicht strahlte. Wie für gewöhnlich in den Wäldern die Mistel bei
winterlicher Kälte mit neuem Laub grünt, die der Baum nicht von sich aus gesät hat, und welche die
runden Baumstämme mit der safrangelben Frucht umgibt. So beschaffen war die Gestalt des
blühenden Goldes an der schattigen Steineiche, so rauschten die dünnen Metallblättchen im sanften
Wind. (210) Sofort riss ihn Aeneas an sich und brach gierig den zähen Ast ab. Er trug ihn in die
Wohnstätte der Seherin Sybille. Um nichts weniger beweinten unterdessen die Teucrer an der Küste
Misenus und erwiesen der undankbaren Asche die letzte Ehre. Zuerst errichtete sie ihm einen
Scheiterhaufen mit reichlich Kienholz und gesägtem Hartholz, bedeckten für ihn seinen Leib mit
dunklem Laub und stellten vorn Trauerzypressen auf. Oben schmückten sie den Scheiterhaufen mit
funkelnden Waffen. Ein Teil machte die warmen Flüssigkeiten und die auf den Flammen siedenden
93
Bronzetöpfe bereit, sie wuschen den Leichnam des erstarrten Mannes und salbten ihn. (220) Sie
seufzten. Danach legten sie die beweinten Glieder zurück auf das Totenbett und warfen darüber
purpurne Tücher, die üblichen Totenschleier. Der andere Teil schulterte die gewaltige Totenbahre,
ein trauriger Dienst, und abgewandt hielten sie nach väterlichem Brauch die Fackeln an den Haufen.
Zusammengetragen verbrannten Gaben aus Weihrauch sowie Speisen mit Olivenöl, aus Mischkrügen
gegossen. Nachdem die Asche in sich zusammengefallen war und sich das Feuer beruhigt hatte,
wuschen sie die Reste und die sich vollsaugende Asche mit Wein. Nachdem er die Knochen
zusammengelesen hatte, barg sie Corynaeus in einem ehernen Weinkrug. Derselbe verteilte um
seine Kameraden dreimal klares Wasser, (230) indem er sie mit feinem Tau benetzte, sowie mit
einem Zweig eines fruchtbaren Olivenbaums berührte. Er entsühnte die Männer und sprach den
letzten Gruß. Aber der pflichtbewusste Aeneas errichtete dem verstorbenen Mann ein Grabmal von
gewaltiger Masse und legte an den Fuße des in die Lüfte ragenden Hügels, der nun nach jenem
‚Misenus‘ genannt wird, und durch die Jahrhunderte den ewigwährenden Namen behält, seine
Waffen, ein Ruder und eine Tuba.
Nachdem das Begräbnis ausgeführt worden war, verfolgte man rasch die Vorgaben der Sibylle. Es gab
eine tiefe Höhle, gewaltig durch ihren weiten Schlund, schroff, sie war von einem schwarzen See und
durch die Finsternis der Wälder geschützt, über der die Vögel nicht mit einem einzigen Flügelschlag
ihre Bahn (240) ziehen konnten: Eine solche Ausdünstung, welche sie aus ihrer dunklen Schlucht
ausströmte, reichte bis zum Himmelsgewölbe. Deshalb nannten die Griechen den Ort Aornus. Hier
stellte die Priesterin zum ersten Mal vier junge Stiere mit schwarzem Rücken auf und goss Wein auf
deren Stirn. Und als sie ganz oben, mitten zwischen den Hörnern die Borsten ausriss, warf sie sie ins
heilige Feuer als erstes Opfer. Mit ihrer Stimme rief sie Hecate, Bezwingerin der Ober- und der
Unterwelt. Andere setzten den Tieren von unten das Opfermesser an die Kehle und nahmen mit den
Opferschalen das warme Blut auf. (250) Aeneas selbst schlachtete ein Schaf mit schwarzer Wolle für
die Mutter der Eumeniden und für die große Schwester, für dich Proserpina, eine ertraglose Kuh.
Dann errichtete er für den stygischen König nächtliche Altäre und warf das unzerteilte Fleisch der
Stiere ins Feuer. Auf die brennenden Eingeweide goss er dickflüssiges Öl. Sieh aber, unter der
Schwelle der ersten Sonne und vor der ersten Morgendämmerung dröhnte unter ihren Füßen der
Boden und die bewaldeten Bergrücken begannen sich zu bewegen. Die Hunde schienen durch die
Schatten zu heulen, als die Göttin ankam. „Fern, bleibt fern, ihr Uneingeweihten“, schrie die Seherin,
„entfernt euch aus dem ganzen Hain.“ (260) Du beschreite den Weg und reiß‘ das Schwert aus der
Scheide: Nun ist Mut von Nöten, Aeneas, nun ein gefestigtes Gemüt.“ Während sie nur dies rasend
gesprochen hatte, stürzte sie sich in die offene Höhle. Aeneas zog mit seiner Führerin sicheren
Schrittes gleich.
94
Götter, die ihr den Oberbefehl über alle Seelen habt, und ihr ruhigen Schatten, Chaos und
Phlegethon, ihr in der Nacht weit und breit schweigende Ländereien, es sei mir erlaubt, Gehörtes
auszusprechen; es sei euer göttlicher Wille die in der tiefen Erde und in der Finsternis verborgenen
Ereignisse darzulegen.
Sie gehen unter der einsamen Nacht der Finsternis durch die Schatten, durch den leeren Palast der
Unterwelt und durch das leere Königreich: (270) Genauso ist bei schwachem Mondschein im
böswilligen Zwielicht der Weg in den Wäldern, sobald Jupiter den Himmel in einem Schatten
verborgen und die finstere Nacht den Dingen ihre Farbe geraubt hat. Vor dem Vorhof selbst und in
den ersten Schluchten des Orcus hatten die Göttin der Trauer und die Gewissensqualen ihre
Lagerstätten, und es wohnten dort die bleichen Krankheiten sowie das traurige Greisenalter; auch
die Furcht, der übelratenden Hunger und die verderbliche Armut: schrecklich anzusehende
Gestalten, der Tod und der Pein. Dann auch der Blutsverwandte des Todes, der Schlaf, und die
schlechten Freuden des Geistes; an der gegenüberliegenden Schwelle der todbringende Krieg. (280)
Da auch die eisernen Schlafgemächer der Eumeniden und die wahnsinnige Zwietracht, die ihr
Schlangenhaar mit blutigen Binden umflochten hatte. In der Mitte breitete eine schattige Ulme ihre
Zweige und bejahrten Äste aus, gewaltig: Allgemein sagt man, säßen auf ihr die eitlen Träume und sie
hingen unter allen Blättern herab. Darüber hinaus gab es viele Ungeheuer von verschiedener Gestalt:
An den Türflügeln hausten die Zentauren, und die zweigestaltigen Scyllae, der Briareus mit seinen
einhundert Händen, sowie die lernäische Schlange, die ungeheuerlich zischte, die mit Flammen
bewaffnete Chimaera, die Gorgonen, die Harpyien und die Gestalt eines Schattens mit drei Körpern.
(290) Hier ergriff der zitternde Aeneas aufgrund plötzlicher Furcht hastig sein Schwert und hielt die
gezogene Schneide den auf ihn zukommenden Gestalten entgegen, und wenn ihn nicht seine kundige
Führerin ermahnt hätte, dass die schemenhaften Lebewesen nur mit dem hohlen Trugbild einer
Gestalt umherflogen, hätte er sich auf sie gestürzt und vergebens mit dem Schwert die Schatten
zerschlagen.
Von hier verlief der Weg, der zu den Wassern des tartarischen Acheron führte. Hier wogt vom
Schlamm getrübt und mit einem gewaltigen Schlund sein Strudel und stieß den ganzen Sand in den
Cocytusstrom. Als schrecklicher Fährmann behütet Charon, voll von fürchterlichem Schmutz, diese
Gewässer und die Flüsse. Sein reichlich (300) graues Haar lag ihm ungepflegt am Kinn. Seine Augen
standen in Flammen, und sein schmutziger Umhang hing von den Schultern geknotet herab. Er selbst
trieb das Boot mit der Ruderstange flussaufwärts, bediente die Segel und transportierte auf dem
rostfarbenen Kahn die Leichen hinauf. Er war schon älter, doch dem Gott war noch ein rüstiges und
frisches Alter zu eigen. Hierhin eilte die ganze Menge, die zu den Ufern geströmt war: Gestandene
Frauen und Männer, Leichen mutiger Helden nach Vollendung ihres Lebens, aber auch Jungen und
95
unverheiratete Mädchen sowie junge Männer, die vor dem Antlitz ihrer Eltern auf Scheiterhaufen
gelegt wurden: So zahlreich, wie im Wald beim ersten Frost des Herbstes die Blätter (310) herab
gleiten und fallen oder wie die Vögel im Schwarm vom hohen Meer aufs Land fliegen, sobald sie die
kalte Jahreszeit über das Meer in die Flucht schlägt und sie zu sonnigen Ländern schickt. Sie standen
da, baten darum, als Erste hinüberfahren zu dürfen und streckten die Hände aus Liebe zum
jenseitigen Ufer aus. Der finstere Seemann aber nahm bald diese, bald jene auf, hielt die anderen
jedoch, die er weithin vertrieb, vom Strand fern. Aeneas, der über den Aufruhr bestürzt war,
wunderte sich freilich und sagte: „Sprich, oh Jungfrau, was will der Zusammenlauf am Fluss? Was
erstreben die Seelen? Oder anhand welcher Unterscheidung verlassen (320) diese die Ufer wieder
und jene fegen mit den Rudern die klaren Wassern?“ Die hochbetagte Priesterin antwortete ihm kurz
folgendermaßen: „Sohn des Anchises, ganz gewisser Spross der Götter, du siehst die silbrigen Wasser
des Cocytus und den stygischen See, bei dessen Wirkkraft die Götter fürchten einen Meineid zu
schwören. Diese ganze Menge, die du erkennst, ist mittellos und unbegraben: Jener Fährmann ist
Charon. Und diejenigen, die das Wasser trägt, sind begraben. Es ist nicht gestattet jemanden über
die Ufer und über die dumpf rauschenden Fluten zu fahren, ehe die Gebeine in ihrer Grabstätte
ruhen. Einhundert Jahre irren und schwirren sie um diese Ufer. (330) Dann endlich haben sie die
Erlaubnis und besuchen erneut den ersehnten See.“ Der Sohn des Anchises machte Halt und blieb
stehen, während er vieles bedachte, und hatte in seinem Gemüt Mitleid mit deren ungerechtem
Schicksal. Dort erkannte er die traurigen und die Totenehre missenden Männer Leucraspis und den
Anführer der lycäischen Flotte, Orontes, die, als sie gemeinsam mit ihm von Troja aus über die
stürmische See gefahren waren, der Südwind vernichtete, indem er die Schiffe und die Männer in das
Wasser gewälzt hatte.
Sieh, da kam der Steuermann Palinurus, der jüngst auf lybischer Route, während er die Sterne
beobachtete, vom Heck fiel und mitten in die Fluten stürzte. (340) Sobald er diesen traurigen Mann
kaum in den vielen Schatten erkannt hatte, sprach er ihn zuerst so an: „Welcher der Götter hat dich,
Palinurus, uns entrissen und mitten unter die Meeresoberfläche getaucht? Sage es mir! Denn Apollo,
der mir zuvor nie trügerisch begegnet war, hat bei dieser einen Antwort meinen Geist verspottet, der
prophezeite, dass du über das Meer und zu den ausonischen Gebieten unversehrt kommen würdest.
Siehe, sind diese Versprechen etwa ehrlich?“ Jener aber antwortete: „Weder hat dich das Orakel des
Phoebus getäuscht, du Führer, Sohn des Anchises, noch hat mich ein Gott in das Meer getaucht.
Denn ich hing an dem zufällig mit großer Gewalt losgerissenem Steuerrad, (350) dem ich als Wächter
zugeteilt wurde, lenkte den Kurs und habe es dann stürzend mit mir gezogen. Ich schwöre bei den
stürmischen Meeren, dass mich um meine Person keine so große Furcht ergriffen hatte, als darum,
dass dein Schiff, seines Gerätes beraubt und nachdem es seinen Steuermann abgeschüttelt hatte, so
96
großen, sich erhebenden Wellen nicht standhalten könnte. Der ungestüme Südwind hat mich im
Wasser drei stürmische Nächte lang über die gewaltige Meeresoberfläche gezogen. Mit Mühe habe
ich am vierten Tag Italien ganz oben von einem Wellenkamm aus erblickt. Nach und nach schwamm
ich an Land. Schon wollte ich mich in Sicherheit bringen, wenn nicht ein blutrünstiges Volk mich, den
durch die nasse Kleidung beschwerten Mann, der mit seinen Nägeln und Händen den rauhen Gipfel
des Berges (360) festhalten wollte, mit dem Schwert bestürmt und unwissend Beute vermutet hätte.
Nun besitzt mich die Meeresflut und die Winde wälzen mich an der Küste. Worum ich dich beim
angenehmen Tageslicht des Himmels, bei den Lüften, bei deinem Vater, bei der Hoffnung des
heranwachsenden Iulus bitte: Entreiße mich diesen Übeln, unbesiegter Held. Oder wirf mir Erde auf
den Leichnam, denn du vermagst es und suche die Häfen von Velia erneut auf. Oder, wenn es
irgendeine Möglichkeit gibt, wenn dir deine göttliche Mutter irgendeinen Weg aufzeigt (denn ich
glaube freilich nicht, dass du es ohne das Wirken der Götter unternimmst so große Flüsse und den
stygischen See zu befahren), (370) reiche mir unglücklichem Mann deine Rechte und nimm mich mit
dir über die Wogen, so dass ich wenigstens im Tod in angenehmen Wohngegenden Ruhe finden
kann.“ Solches hatte er gesprochen, als die Seherin ihm solches antwortete: „Woher, Palinurus,
kommt dir dieses so unheilvolle Verlangen? Du willst unbegraben die stygischen Wasser und den
ernsten Strom der Eumeniden erblicken oder willst unaufgefordert zum Ufer gehen? Höre auf,
darauf zu hoffen, die Göttersprüche durch Beten umstimmen zu können, sondern halte meine Worte
als Trostmittel für den harten Schicksalsschlag im Gedächtnis. Denn deine Gebeine werden
Nachbarvölker sühnen, weit und breit durch die Städte von himmlischen Wunderzeichen getrieben
(380) und sie werden dir einen Grabhügel errichten. Dort werden sie Opfer darbringen und der Ort
wird den ewigen Namen ‚Palinurus‘ erhalten.“ Nach diesen Worten waren die Sorgen verscheucht
und der Schmerz war eine Weile aus dem traurigen Herzen vertrieben. Er freute sich über den
Beinamen des Landes.
Also fuhren sie mit dem begonnenen Marsch fort und näherten sich dem Fluss. Der Seemann, der sie
dann schon vom stygischen Wasser aus gesehen hatte, wie sie durch den ruhigen Wald liefen und
ihren Schritt dem Ufer zuwandten, ging sie zuerst auf diese Weise an und schalt sie überdies: „Wer
auch immer du bist, du ziehst als Bewaffneter zu meinen Flüssen, sag nun: Wozu kommst du her,
bleib schon von dort stehen! (390) Dies ist der Ort der Schatten, des Schlafes und der
schlafbringenden Nacht: Es ist ein heiliges Verbot lebende Körper mit dem stygischen Schiff zu
transportieren. Weder habe ich mich gefreut, den kommenden Alciden auf dem See zu empfangen,
noch Theseus sowie Pirithous, obwohl sie Göttersöhne und im Hinblick auf ihre Kräfte unbesiegbar
waren. Jener hat mit seiner eigenen Hand den Wächter des Tartarus in Fesseln geschlagen und ihn
zitternd vom Thron des Königs selbst weggezogen. Die anderen haben mich mit Bitten bestürmt, dass
97
sie die Herrin des Dis aus ihrem Schlafgemach entführen dürfen.“ Darauf erwiderte die amphrysische
Seherin knapp: „Hier liegt keine derartige Täuschung vor (rege dich nicht auf), (400) auch bringen die
Waffen keine Gewalt. Mag auch der gewaltige Torhüter in der Höhle ewig den toten Schatten Angst
einjagen, mag auch die keusche Proserpina den Eingang für den Onkel schützen. Der Trojer Aeneas,
ausgezeichnet durch sein Pflichtgefühl und seine Waffenfertigkeit, steigt zu seinem Vater, zu den
tiefsten Schatten des Erebus hinab. Wenn dich kein Abbild eines so großen Pflichtgefühls bewegt (sie
deckte den Zweig auf, den sie mit dem Tuch verdeckt hatte), dann aber erkenne diesen Zweig an.“
Nach der Zorneswallung beruhigte sich Charons Gemüt. Auf diese Worte sagte sie nichts mehr.
Während er das verehrungswürdige Geschenk des schicksalsträchtigen Zweiges bewunderte, das er
nach langer Zeit sah, (410) wendete er das schwärzliche Schiffsheck und näherte sich dem Ufer. Dann
vertrieb er die anderen Seelen, die über dem Bergrücken zerstreut saßen und machte die Sitzreihen
frei. Dann nahm er den außerordentlichen Aeneas an Bord auf. Unter dessen Gewicht ächzte der
zerbrechliche Kahn und voller Risse nahm er viel Sumpfwasser auf. Endlich setzte er die Seherin und
den Mann über dem Fluss unversehrt in unförmigem Schlamm und dunkelgrünem Schilfgras ab.
Der gewaltige Cerberus durchschallte dieses Königreich mit seinem aus drei Rachen kommenden
Bellen, während er gewaltig vorn in der Höhle ruhte. Während die Seherin sah, wie sich ihm am Hals
die Schlangen aufrichteten, warf sie ihm einen (420) betäubenden Bissen mit Honig und vergifteten
Früchten hin. Jener ergriff ihn hastig, indem er in rasendem Hunger seine drei Kehlen ausstreckte,
entspannte seinen riesigen Rücken und auf dem Boden liegend erstreckte er sich gewaltig in der
ganzen Höhle. Aeneas nahm den Zugang ein, nachdem der Wächter betäubt war, und entkam dem
Ufer des Wassers ohne Wiederkehr.
Sogleich vernahm man Stimmen und ein gewaltiges Schreien, sowie weinende Kinderseelen, die an
der vordersten Schwelle ihres süßen Lebens außen vor gelassen und von der Mutterbrust gerafft
wurden und die ein schwarzer Tag geraubt und durch einen bitteren Tod unter die Erde gebracht
hatte. (430) Gleich neben diesen befanden sich die aufgrund einer falschen Anklage zum Tode
Verurteilten. Doch diese Ruhestätten wurden nicht ohne Los und ohne Richter zugeteilt. Minos, der
Vorsitzende des Gerichtshofs bewegt die Urne. Er beruft den Rat der Toten ein und erforscht die
Lebensläufe sowie die Anklagepunkte. Die nächsten Gegenden besaßen die Betrübten, die sich
unschuldig durch eigene Hand den Tod bereiteten, denen das Tageslicht verhasst war und die ihre
Seelen verschmähten. Wie gern würden sie jetzt an der erhabenen Luft sowohl die Armut als auch
die harten Strapazen ertragen! Das göttliche Recht steht ihnen im Wege, der traurige und herzlose
Sumpf des Gewässers band sie an den Ort und der Styx schloss sie in neunfacher Windung ein. (440)
Nicht weit von hier zeigten sich in allen Richtungen weisend die trauernden Felder. So nennt man sie
namentlich. Hier verbargen schmale Pfade diejenigen, welche die beschwerliche Liebe in
98
grauenhaftem Siechtum aufgefressen hatte und ringsum bedeckte sie ein Wald von Myrten. Die
Sorgen verließen sie noch nicht einmal im Tod. An diesen Orten erkannte er Phaedra, Procris und die
traurige Eriphyle, welche ihre blutigen Wunden zeigte, die ihr der Sohn zugefügt. Er erkannte Euadne
und Pasiphae. Diese begleitete Laedamia sowie der einst junge Mann Caeneus, der jetzt eine Frau
war, vom Schicksal wieder in seine alte Gestalt zurückverwandelt. (450) Unter diesen irrte die
Phönizerin Dido, die erst jüngst an ihrer Wunde gestorben war, im großen Wald umher. Sobald der
trojanische Held neben ihr gestanden und die dunkle Frauengestalt durch die Schatten erkannt hatte,
wie jemand den Mond am Monatsanfang durch den Nebel aufgehen sieht, oder glaubt, ihn gesehen
zu haben, ließ er seinen Tränen freien Lauf und sprach sie in süßer Liebe an: „Unglückliche Dido, war
die Botschaft also wahr, die mir zu Ohren gekommen war, dass du dich durch das Schwert getötet
hast und in den Tod gegangen bist? Oh weh, war ich dir ein Grund des Todes? Ich schwöre bei den
Sternen, bei den Göttern, und wenn es irgendeine Treue unter der tiefen Erde gibt: (460) Gegen
meinen Willen, Königin, bin ich von deiner Küste gewichen! Doch mich trieben die Befehle der Götter
mit ihrer Befehlsgewalt, die mich jetzt zwingen durch diese Schatten, durch die rauen Gegenden im
Schmutz und durch die tiefe Nacht zu ziehen. Ich konnte nicht glauben, dir so großen Schmerz durch
meine Abreise zu bereiten. Bleib stehen und entziehe dich nicht meinem Anblick. Vor wem fliehst
du? Dies ist das letzte Mal, wo ich dich von meinem Schicksal her ansprechen kann.“ Mit derartigen
Worten versuchte Aeneas die zornentbrannte und finster blickende Frau zu besänftigen, ihr Gemüt
und ihre Tränen zu rühren. Jene hielt ihre Augen abgewandt gen Boden gerichtet und nachdem er
mit dem Sprechen angefangen hatte, bewegte sie ihr Gesicht nicht mehr, als wenn sie harter Stein
oder marpesischer Marmor wäre. Endlich riss sie sich zusammen und floh feindlich gesinnt in den
schattenspendenden Hain zurück, wo ihr vorheriger Mann, Sychaeus ähnliche Sorgen hatte und ihre
Liebe erwiderte. Aeneas, der nicht weniger aufgrund des ungerechten Schicksalsschlages erschüttert
war, blickte ihr lange unter Tränen nach und bemitleidete sie.
Dann setzte er den vorgegebenen Weg fort. Schon waren sie bei den letzten Fluren, dem einsamen
Ort, den die Kriegshelden zahlreich bewohnten. Hier kam ihm Tydeus entgegen, hier der im Hinblick
auf seine Waffenkunst ruhmreiche (480) Parthenopaeus, sowie das Abbild des blassen Adrastes. Hier
waren die bei den Menschen oberhalb viel beweinten und durch den Krieg herrenlosen Dardaniden,
über die Aeneas, der sie alle in einer langen Reihe erkannte, seufzte: Glaucus, Medon, Thersilochus,
die drei Söhne des Antenor, sowie der Priester der Ceres, Polyboetes, sogar Idaeus, der noch immer
den Wagen und die Waffen festhielt. Ringsum umgaben ihn die Seelen, zahlreich zur Rechten sowie
zur Linken und es genügte ihnen nicht, ihn nur einmal gesehen zu haben. Sie wollen ganz und gar
verweilen, zu ihm gehen und die Gründe seines Kommens erfahren. Die vornehmen Männer der
Griechen aber und die Phalangen des Agamemnon liefen in gewaltiger Furcht unruhig hin und her,
99
(490) sobald sie den Mann und die funkelnden Waffen durch die Schatten gesehen hatten. Ein Teil
wandte sich zur Flucht, wie sie einst zu den Schiffen geeilt sind, ein anderer Teil erhob seine dünne
Stimme: Doch das erhobene Geschrei erstarb in ihren aufgesperrten Mündern.
Und hier sah er den Priamussohn Deiphobus, der am ganzen Körper zerfleischt war, auch sein
Gesicht war zerfetzt, sein Gesicht und beide Hände, seine Schläfen waren verwüstet, da man ihm die
Ohren abgeschnitten hatte, und seine Nase war in einer unehrenhaften Wunde verstümmelt. Nur mit
Mühe hatte Aeneas den zitternden und die unheilvollen Wunden zudeckenden Mann erkannt. Er
sprach ihn von sich aus mit seiner vertrauten Stimme an: (500) „Waffenbeherrscher Deiphobus, Sohn
vom erhabenen Blut des Teucer, wer wünschte, dich so grausam zu strafen? Wem war so viel Macht
über dich möglich? Mir kam in der letzten Nacht das Gerücht zu Ohren, dass du aufgrund des wüsten
Mordes der Pelasger erschöpft auf dem Haufen der zusammengeschütteten Leichen niedergesunken
seiest. Dann habe ich selbst einen leeren Grabhügel an der Küste von Rhoeteum errichtet und
dreimal mit lauter Stimme deine Totengeister gerufen. Dein Name und deine Waffen behüten den
Ort. Dich, mein Freund, konnte ich nicht erblicken und, als ich die Heimat verließ, begraben.“ Darauf
antwortete der Priamussohn: „Nichts, ach! bist du mir schuldig geblieben, mein Freund. (510) Du
hast für mich Deiphobus, alles getan, auch für das Totenreich. Doch mich haben mein Schicksal und
das tödliche Verbrechen der Spartanerin in dieses Unglück gestürzt. Denn du weißt, wie wir die letzte
Nacht in falscher Freude verbrachten und es ist allzu notwendig, sich daran zu erinnern! Als das
verhängnisvolle Pferd mit einem Sprung auf das steil aufragende Pergamum kam und in seinem
Bauch gefüllt bewaffnete Fußsoldaten mit sich nach oben brachte, täuschte jene einen Reigen vor
und führte Phrygierinnen in jubelnden Orgien umher. Sie selbst hielt mittendrin ein gewaltiges Feuer
und rief ganz oben von der Burg die Griechen. (520) Dann besaß mich, der ich von den Sorgen
erschöpft und durch den Schlaf beschwert war, das unglückbringende Schlafgemach, die süße und
tiefe Ruhe drückte mich aufs Bett nieder, dem angenehmen Tod sehr ähnlich. Unterdessen entfernte
die ausgezeichnete Gattin alle Waffen aus dem Haus – sie hatte das treue Schwert unter meinem
Kopf weggezogen. Sie rief Menelaus ins Haus und öffnete ihm die Tür. Natürlich hoffte sie, dass dies
ein großes Geschenk an ihren Liebhaber wäre und dass so der alte Ruf über ihre schlechten Taten
ausgelöscht werden konnte. Was zögere ich? Sie brachen ins Schlafgemach ein, als Begleiter kam der
Anstifter der Verbrechen hinzu: Der Enkel des Aeolus, Odysseus. Götter, (530) vergeltet den Griechen
solche Taten, wenn ich die Strafen aus einem pflichtbewussten Mund fordere! Aber los, sage mir
wiederum, welcher Zufall dich als Lebender hierher verschlagen hat? Kommst du von Irrfahrten des
Meeres getrieben oder durch eine Weisung der Götter? Oder welches Schicksal plagt dich, dass du zu
den finsteren Gebäuden ohne Sonne, zu den trüben Gegenden kommst?“
100
Nach diesem wechselseitigen Gespräch hatte Aurora bereits mit ihrem rosigen Viergespann die Mitte
der Himmelsachse auf ihrer Himmelsbahn überschritten. Und vielleicht hätte sie die ganze Zeit, die
ihnen gewährt wurde, mit derartigen Dingen verstreichen lassen, doch die Begleiterin Sibylle
ermahnte ihn und sprach ihn kurz an: „Die Nacht bricht herein, Aeneas. Wir vergeuden die Stunden
mit Weinen. (540) Hier ist die Stelle, wo sich der Weg in zwei Richtungen spaltet: Die rechte ist es, die
zu den Mauern des großen Dis führt; dort liegt für uns der Weg zum Elysium. Doch die linke Richtung
quält die Schlechten mit Strafen und schickt sie in den gottlosen Tartarus.“ Darauf erwiederte
Deiphobus: „Tobe nicht, große Seherin! Ich will fortgehen, werde die Schar ausfüllen und in die
Schatten zurückkehren. Gehe, gehe fort, unser Stolz! Mache von besseren Göttersprüchen
Gebrauch!“ Nur so viel sprach er, und während er sprach machte er kehrt.
Plötzlich blickte sich Aeneas um und sah unter einer Felswand zu seiner Linken eine breite Burg, die
mit einer dreifachen Schutzmauer umgeben war und (550) die ein reißender Fluss mit heißen
Flammen umgab: Der Unterweltsfluss Phlegethon, der dröhnende Felsen hin und her wendete. Vorn
befand sich eine gewaltiges Tor, sowie Säulen aus massivem Stahl, so dass sie keine einzige
Manneskraft, nicht einmal die Himmelsbewohner selbst im Krieg zerstören konnten. Dort stand ein
eiserner Turm, der bis in den Himmel reichte und während dort Tisiphone mit einem blutigen Mantel
bekleidet nie schlafend saß, beobachtete sie die Vorhalle, sowie die Nächte und die Tage. Von hier
waren die Klagen zu hören und es hallten die wilden Schläge wieder, dann das Zischen eines
Schwertes und herumgezerrte Ketten. Aeneas blieb stehen und vernahm zutiefst erschreckt den
Lärm. (560) „Verbrechen welcher Art sind das, oh Jungfrau? Sprich! Oder mit welchen Strafen
werden hier die Seelen bedrängt? Welch so großes Wehklagen dringt zum Himmel?“ Dann begann
die Seherin so zu sprechen: „Berühmter Anführer der Teucrer, es ist ein göttliches Verbot, dass
jemand reinen Gewissens die verbrecherische Pforte betritt. Doch als mir Hecate die Leitung über
den Avernerhain übertragen hatte, hatte sie mich über die Strafen der Götter belehrt und mich durch
alle geführt. Der cnosische Rhadamanthus besitzt dieses äußerst hartherzige Königreich, züchtigt die
Schuldigen, hört von den listigen Plänen und zwingt Verbrechen zu gestehen, über die sich jemand
bei den Menschen in der Oberwelt aufgrund eines wertlosen Diebstahls gefreut hat, wobei derjenige
das Sühneopfer auf seinen späten Tod verschoben hat. (570) Daraufhin schlägt die mit einer Peitsche
umgürtete Tisiphone die Schuldigen und verspottet sie. Während sie ihnen mit der Linken finstere
Schlangen hinstreckt, ruft sie die wilde Schar ihrer Schwestern. Dann endlich öffneten sich ächzend
die heiligen Torflügel mit ihren schauerlich quietschenden Türangeln. Erkennst du die Wächterin, wie
sie in der Vorhalle sitzt? Erkennst du die Gestalt, welche den Eingang bewacht? Noch wilder hat die
gewaltige Hydra mit fünfzig schwarzen Rachen im Inneren ihren Sitz. Dann breitet sich zweifach der
Tartarus selbst aus: Er erstreckt sich jäh soweit tief in das Schattenreich, wie der Blick zum in den
101
Himmel ragenden Olymp reicht. (580) Hier wälzt sich das altehrwürdige Geschlecht der Erde, das
Titanenvolk, vom Blitz niedergeworfen im tiefen Grund. Hier habe ich auch die beiden Aloiden –
gewaltige Körper – gesehen, die sich daran gemacht hatten mit ihren bloßen Händen den großen
Himmel einzureißen und Jupiter aus dem oben befindlichen Königreich herabzustoßen. Ich sah auch
Salmoneus, der grausam bestraft wurde, während er die Blitze des Jupiters und das Grollen des
Olymps nachahmte. Dieser fuhr auf einem Viergespann, als er heftig die Fackel durch die Völker der
Griechen und jubelnd durch die Stadt mitten in Elis schwang. Er forderte immer wieder für sich
göttliche Ehren. (590) Ein Tor, wer die Gewitterwolken und den unnachahmlichen Blitz durch Erz und
durch den Hufschlag der hornfüßigen Pferden nachahmen will. Doch der allmächtige Vater
schleuderte zwischen dichten Wolken sein Wurfgeschoss: Er verwendete keine Fackeln oder das
rauchende Licht eines Kienholzbrandes, sondern schleuderte ihn steil in einen gewaltigen Strudel.
Auch Tityos, der Pflegesohn der alles gebärenden Erde, war zu erkennen, der sich mit seinem Körper
über neun Morgen Land erstreckte, sowie der gewaltige Geier mit seinem einwärts gekrümmten
Schnabel, der dessen unsterbliche Leber anpickte, die zur Strafe ergiebigen Eingeweide aufriss und
für sein Mahl in der tiefen (600) Brust des Mannes wohnte. Auch den nachgewachsenen Eingeweiden
wurde keine Ruhe gewährt. Wozu soll ich die Lapithen Ixion und Pirithous erwähnen? Über diesen
hängt drohend ein schwarzer Granit der jeden Moment im Begriff ist auf sie niederzufallen, einem
fallenden Stein ähnlich. Es leuchten die goldenen Gestelle für erhöhte, festliche Polster, Gastmähler
von königlichem Luxus, die vor ihrem Antlitz zubereitet sind. Gleich nebenan liegt die größte der
Furien zu Tisch und hält sie mit ihren Händen davon ab die Gänge zu berühren. Sie richtet eine Fackel
auf während sie sich erhebt und dröhnt mit ihrer Stimme. Hier sind diejenigen, denen zu Lebzeiten
ihre Brüder verhasst waren, oder wer den Vater geschlagen, einen Schutzbefohlenen über den Tisch
gezogen hatte, (610) oder diejenigen, die allein auf ihrem erlangtem Reichtum lagen und ihren
Angehörigen keinen Teil überließen (das ist die größte Menge), und auch die, die wegen Ehebruch
ermordet wurden, und diejenigen, die in gottlose Kriege folgten und die, welche nicht fürchteten,
Treue und Glauben ihres Hausherren zu betrügen. Eingeschlossen erwarten sie ihre Strafe. Bitte
nicht darum, unterrichtet zu werden, welche Strafe, oder welches Los oder welches Schicksal die
Männer ins Verderben stürzte. Andere wälzen einen riesigen Fels. An den Speichen der Räder hängen
wieder andere auseinandergezogen. Der unglückliche Theseus sitzt hier und wird auf ewig hier
sitzen, der äußerst unglückliche Phlegyas ermahnt alle und beschwört sie mit lauter Stimme durch
die Schatten: (620) „Lernt Gerechtigkeit, die ihr ermahnt seid, und lernt, die Götter nicht zu
verachten.“ Für Gold hat dieser Mann sein Vaterland verkauft und einen Gewaltherrscher
eingesetzt. Für einen gewissen Preis hat er Gesetze in Kraft und außer Kraft treten lassen. Der andere
Mann fiel in das Schlafgemach seiner Tochter ein und hatte mit ihr verbotenen Verkehr. Alle wagten
eine riesige Freveltat und rissen das Gewagte voll an sich. Selbst wenn ich einhundert Zungen und
102
Münder hätte, sowie eine eiserne Stimme, könnte ich nicht die ganzen Arten der Verbrechen
zusammenfassen oder die ganzen Namen der Strafen durchgehen.“
Nachdem die hochbetagte Priesterin des Phoebus diese Worte gesprochen hatte, fügte sie ferner
hinzu: „Aber nun auf: Mach dich auf den Weg und vollbringe die Aufgabe, die du auf dich genommen
hast. (630) Beschleunigen wir unseren Schritt!“, sagte sie, „Ich erblicke die in den Schmelzöfen
geschmiedeten Mauern der Zyklopen und vorne in der Wölbung die Tore, wo uns die Vorschriften
befehlen diese Gaben niederzulegen.“ So hatte sie gesprochen. Im Gleichschritt schritten sie durch
die Schatten der Wege, legten eilig die Strecke dorthin zurück und näherten sich den Torflügeln.
Aeneas nahm den Eingang in Beschlag und benetzte seinen Körper mit frischem Wasser. Den Zweig
befestigte er vorne an der Tür.
Nachdem diese Dinge endlich vollbracht waren, und der Göttin ein Geschenk dargebracht war,
gingen sie hinunter zu den fröhlichen Orten und zu den angenehmen Auen der glücklichen Haine und
zu den seligen Wohnsitzen. (640) Hier schmückte der Himmel die Felder reichlicher und er schmückte
sie mit purpurfarbenem Licht; die Felder kannten ihre eigene Sonne und ihre eigenen Sterne. Ein Teil
der Glückseligen übte die Muskeln auf grasbewachsenen Übungsplätzen, spielerisch kämpften sie
und rangen auf dem rotgelben Sand. Ein anderer Teil stampfte mit den Füßen die Reigentänze und
sprach Gedichte. Und der thrakische Priester begleitete sie im Rhythmus mit den sieben
unterschiedlichen Klängen der Leier, schon schlug er sie mit den Fingern, schon mit einem
elfenbeinernen Plektron. Hier ist das alte Geschlecht des Teucers, seine äußerst schönen
Nachkommen, mutige Helden, geboren in besseren Zeiten: (650) Ilus, Assaracus und Dardanus, der
Gründer Trojas. Aeneas bewunderte die Waffen in der Ferne sowie die nun unnützen Streitwägen
der Männer. In der Erde standen hineingetrieben die Lanzen und weit und breit über den Feldern
weiteten die losgebundenen Pferde. Die Vorliebe für Streitwagen und Waffen, die ihnen zu Lebzeiten
zu Eigen war, die Fürsorge der strahlenden Pferde zu fressen, folgte ihnen auch noch jetzt, wo sie
bestattet waren. Sieh, Aeneas erblickte noch weitere zu seiner Rechten und zu seiner Linken, wie sich
sie über das Gras verteilt nährten, während sie im Reigen einen heiteren Lobgesang sangen, mitten
im Hain, der nach Lorbeer duftete. Von oberhalb wälzte sich der wasserreiche Strom des Eridanus
durch den Wald. Hier befand sich die Schar, derjenigen, die im Kampf um ihre Heimat den Wunden
erlegen waren, derer, die zu Lebzeiten keuschen Priester, die pflichtbewusste Seher waren, deren
Worte dem Phoebus würdig waren. All diejenigen, die das Leben durch ihre Kunstfertigkeit verfeinert
hatten und die durch einen Verdienst andere dazu brachten, an sie zu denken. All diesen Toten
umgab eine schneeweiße Binde die Schläfen. Sibylle sprach diejenigen, die sich um sie scharten und
allen voran Musaeus, folgendermaßen an (denn die zahlreiche Menge hatte Musaeus als Mittelpunkt
und blickte zu ihm aufgrund seiner hohen Schultern auf): „Sagt mir, ihr glückliche Seelen, und du,
103
bester Seher, (670) in welcher Region, an welchem Ort ist Anchises zu finden? Seinetwillen sind wir
gekommen und haben den großen Strom des Erebus überquert.“ Und wenige Helden antworteten
ihr folgendermaßen: „Niemand hat einen bestimmten Aufenthaltsort. Wir wohnen in schattigen
Hainen, an den Böschungen der Ufer und siedeln auf den frischen Wiesen an den Bächen. Aber ihr,
überwindet diesen Bergrücken, wenn das Verlangen in eurem Herzen so stark ist, und ich will euch
schon auf den leicht gangbaren Seitenweg führen.“ Das sagte er, ging vor ihnen her und zeigte ihnen
von oben die glänzenden Felder. Anschließend verließen sie die höchsten Gipfel.
Aber der Vater Anchises musterte tief in einem grünenden Talkessel (680) eingeschlossene Seelen,
die im Begriff waren, zum Licht der Oberwelt zu gehen, er musterte sie eifrig. Er musterte zufällig die
ganze Schar der Seinen: Die teuren Enkel, die Bestimmungen und das Schicksal der Männer, ihre
Sitten und ihre Tapferkeit. Dieser, sobald er vorne den durchs Gras ziehenden Aeneas sah, streckte
eifrig seine beiden Handflächen aus, und es entwich ihm, nachdem sich Tränen über seine Wangen
ergossen hatten, diese Äußerung aus seinem Mund: „Endlich bist du gekommen! Hat dein vom Vater
erwartetes Pflichtgefühl die beschwerliche Reise überlistet? Wird es gewährt, dein Antlitz zu
erblicken, Sohn, deine bekannte Stimme zu hören und darauf zu antworten? (690) So stellte ich es
mir freilich immer wieder vor, rechnete damit, während ich die Tage zählte, dass es geschehen würde
und meine Sorge hat mich nicht getäuscht. Durch welche Länder und über wie große Meere bist du
gefahren, der ich dich hier empfange! In wie vielen Gefahrensituationen wurdest du hin und her
geworfen, Sohn! Wie sehr hatte ich Angst, dass dir das Königreich in Libyen schaden könnte!“ Aeneas
aber entgegnete: „Deines, Vater, dein ernstes Abbild, das mir des Öfteren erschien, hat mich
veranlasst, zu dieser Schwelle zu ziehen. Die Flotte steht im Tyrrhenischen Meer, lass uns – ja, lass
uns einander die Hand geben, Vater, und entziehe dich nicht meiner Umarmung.“ Als er so sprach
benetzte er gleichzeitig sein Gesicht mit reichlich Tränen. (700) Dreimal versuchte er dort, seine
Arme um den Hals des Vaters zu legen. Dreimal floh das vergeblich umfasste Abbild vor den Händen
zurück, den leichten Winden oder einem geflügeltem Traum sehr ähnlich.
Inzwischen sah Aeneas im entlegenen Tal einen abgesonderten Hain und die rauschenden Sträucher
der Wälder, sowie den Lethestrom, der vor friedlichen Wohnhäusern floss. Um diesen flogen
unzählige Stämme und Völker. Und wie auf den Wiesen die Bienen im heiteren Sommer sich auf die
bunten Blüten setzen und sich rings um die weißen Lilien verstreuen, so lärmte durch Rauschen das
ganze Feld. (710) Bei dem plötzlichen Anblick erschauderte Aeneas und fragte unwissend nach den
Gründen, was das dort für ein Fluss sei und welche Männer in einer so großen Schar die Ufer
erfüllten. Darauf antwortete der Vater Anchises: „Seelen, denen von ihrem Fatum her in der
Oberwelt ein Körper bestimmt ist, trinken bei den Wogen des Lethe-Flusses von der
sorgenvertreibenden Flüssigkeit und lange Vergessenheit. Ich wünsche freilich schon lange, dir von
104
diesen zu berichten, sie dir von Angesicht zu Angesicht zu zeigen und dir diese Nachkommenschaft
der Meinen aufzuzählen, damit du dich umso mehr mit mir über das gefundene Italien freust.“
„Oh Vater, muss man etwa glauben, dass von hier irgendwelche (720) erhabene Seelen zum Himmel
schreiten und wieder in träge Körper zurückkehren? Was ist das für eine so unheilvolle Begierde nach
Tageslicht für die unglücklichen Seelen?“
„Ich will es dir freilich sagen, Sohn, und werde dich nicht auf die Folter spannen.“ Anchises begann
zu sprechen und tat ihm der Reihe nach alle Einzelheiten kund: „Im Anfang ernährt ein innerer Hauch
den Himmel sowie die Länder, die Meere, die leuchtende Kugel des Mondes sowie die titanischen
Sterne. Der Geist, wenn er sich in die Glieder erströmt hat, setzt die so große Masse in Bewegung
und vermischt sich mit dem großen Körper. Daher stammt die Gattung der Menschen, des Viehs, die
Leben der Vögel und die Ungeheuer, die das Meer unter seiner marmornen Oberfläche hervorbringt.
(730) Ihnen ist eine feurige Stärke zu Eigen und ein himmlischer Ursprung in ihren Samen, insofern
sie keine schädlichen Körper hemmen und sie die irdenen Gelenke sowie die sterbenden Glieder
entkräften. Daher fühlen sie Furcht und Verlangen, Schmerz und Freude und können eingeschlossen
in der Finsternis und im dunklen Kerker das Tageslicht nicht wahrnehmen. Ja, auch als sie an ihrem
letzten Tag das Leben verlassen hatte, sind aus den unglücklichen Seelen dennoch nicht das ganze
Übel, auch nicht alle körperliche Krankheiten gewichen und es ist notwendig, dass sich viele über
lange Zeit auf wundersamer Weise innerlich zusammengewachsene Dinge einprägen. Also werden
sie mit Strafen gequält und tun (740) Buße für alte Übel. Einige erstrecken sich aufgehängt in die
seelenlosen Winden, den anderen wäscht man unter einem tiefen Strudel das Verbrechen aus, mit
dem sie befleckt sind, oder man brennt es ihnen im Feuer aus: Ein jeder von uns erduldet seine
eigenen Strafen. Darauf werden wir ins weite Elysium geschickt und bewohnen, die wir nur wenige
sind, die glücklichen Fluren, solange bis der lange Tag, nachdem der Kreis der Zeit vollendet wurde,
das in uns verwachsene Unheil entfernt hat, und einen reinen, himmlischen Sinn zurückgelassen hat,
sowie das Feuer der reinen Himmelsluft. All diese ruft der Gott in einer großen Schar, sobald sie das
Rad der Zeit tausend Jahre lang gedreht haben, zum Lethe-Strom, (750) damit sie natürlich ohne
Erinnerung an die Oberwelt erneut das Himmelsgewölbe besuchen und anfangen in Körper
zurückkehren zu wollen.“
Das hatte Anchises gesprochen und als er mit seinem Sohn und gemeinsam mit Sibylle
zusammengekommen war, zog er sie in die Mitte und in die rauschende Menge. Er selbst besetzte
eine Anhöhe, von wo aus er alle entgegenkommenden Männer in langer Reihe erkennen und das
Gesicht der Kommenden erforschen konnte. Dann sagte er: „Nun, wohlan, ich will dir darlegen,
welcher Ruhm der dardanischen Nachkommenschaft folgt, welche Enkel vom italischen Geschlecht
105
dich erwarten werden sowie die glänzenden Seelen, die in unserem Namen kommen werden und ich
werde dich über dein Schicksal belehren. (760) Jener junge Mann, du siehst ihn, der sich auf die
saubere Lanze stützt, hat das Los zu einer Gegend, die dem Licht am nächsten ist. Er, wird als erster,
mit italischem Blut vermischt, zu den himmlischen Lüften emporsteigen. Er heißt Silvius, ein
albanischer Name, dein letztgeborener Nachkomme, den dir hochbetagtem Mann spät deine Gattin
Lavinia in den Wäldern als König großzieht, als Vater von Königen. Von ihm ausgehend wird unsere
Gattung in Alba Longa herrschen. Jener Nachbar ist Procas, der Stolz des trojanischen Stammes, und
hier Capys, Numitor und derjenige, der durch seinen Namen an dich erinnert: Silvius Aeneas, der auf
gleicher Weise sowohl durch Pflichtgefühl als auch durch seine Waffenmächtigkeit (770)
herausragend ist, wenn einst das zu regierende Alba annehmen wird. Was für junge Männer! Welch
große Kräfte zeigen sie vor, schau hin, sie tragen ihre Schläfen, die von der Bürgerkrone aus
Eichenlaub beschattet werden! Diese werden dir Nomentum, Gabii und sie Stadt Fidena errichten,
die anderen die collatinische Burg auf den Bergen, sowie Pometii, das Castrum Inui, Bola sowie die
Stadt Cora. Dies werden dann bekannte Namen sein, heute sind das nur Ländereien ohne Namen. Ja,
und dem Großvater als Begleiter wird sich der Sohn des Mars, Romulus, hinzugesellen, den die
Mutter Ilia vom Blut der Assaracus aufziehen wird. Siehst du denn, wie ein doppelter Helmbusch an
seinem Scheitel steht (780) und ihn der Göttervater selbst mit seinem eigenen Ehrenabzeichen
kennzeichnet? Sieh, mein Sohn, unter seinen Auspizien wird jene berühmte Stadt Rom den
Herrschaftsbereich mit der Erde, die Gesinnung mit dem Olymp gleichsetzen. Die Stadt wird sich als
einzige mit sieben Burgen entlang der Stadtmauer umgeben, glücklich durch die Nachkommenschaft
von Helden: Es war, wie wenn die Mutter Berecyntia auf ihrem Wagen mit einer Mauerkrone durch
die phrygischen Städte fährt, glücklich, weil sie einen Gott geboren hatte, während sie ihre
einhundert Enkel umarmte, alle Himmelsbewohner, die alle in den oberen Höhen wohnten. Lenke
deine beiden Augen nun hierhin, erblicke diesen Volksstamm und deine Römer! Hier wird Caesar und
die ganze (790) Nachkommenschaft des Iulus unter die große Himmelsachse treten. Dies ist der
Mann, dies ist er, bei dem du noch öfter hören wirst, dass er dir versprochen wird: Augustus Caesar,
Sohn eines Gottes, der erneut in Latium ein goldenes Zeitalter begründen wird, auf den Fluren, wo
einst Saturnus geherrscht hatte, und er wird über das Volk der Garamanter und Inder das
Herrschaftsgebiet ausdehnen. Dieses Land liegt außerhalb unseres Gestirns, außerhalb der Bahnen
des Jahres und der Sonne, wo der himmelstragende Atlas die angebundene Himmelsachse samt den
brennenden Sternen auf seiner Schulter wendet. Im Hinblick auf dessen Ankunft erschrecken jetzt
bereits die Königreiche am kaspischen Meer durch die Prophezeiungen der Götter, auch das ganze
maeotische Land (800) und die siebenarmigen, rastlose Mündungsläufe des Nils werden von
Entsetzen erfüllt. Fürwahr hat nicht einmal der Alcide so viel Land bereist, mag er auch die Hirschkuh
mit ihren erzbeschlagenen Hufen durchbohrt haben, die Haine des Erymanthus befriedet und Lerna
106
durch seinen Bogen zum Zittern gebracht haben. Auch nicht Liber, der als Sieger mit Zügeln aus der
Weinranke sein Gespann lenkte, während er die Tiger von dem aufragenden Gipfel des Nysa trieb.
Und zögern wir noch immer unsere Tugend durch Taten auszudehnen, oder hält uns die Furcht
davon ab auf Ausoniens Land Halt zu machen? Wer ist aber jener Mann in der Ferne, auffallend
durch die Zweige des Olivenbaums, und der Opfergaben trägt? Ich erkenne das Haar und das
ergraute Kinn (810) des römischen Königs, der die Stadt zuerst auf der Basis von Gesetzen gründen
wird, der aus dem kleinen Cures und aus einem armen Land in ein großes Reich geschickt wurde.
Diesem wird darauf Tullus folgen, der die friedliche Zeit seiner Heimat bricht und die erstarrten
Männer in den Krieg führen und die Heereszüge, welche die Triumphe schon nicht mehr gewohnt
sein werden, bewegen wird. Diesem folgt gleich nebenan der recht prahlerische Ancus, der sich nun
auch schon allzu sehr über die Volksgunst freut. Willst du auch die tarquinischen Könige und die
stolze Seele des Rächers Brutus sehen, sowie die empfangenen Rutenbündel? Dieser wird als erster
die Befehlsgewalt eines Konsuls, sowie die wilden Beile empfangen, und als Vater wird er seine
Söhne, die neue Kriege anrühren, für seine schöne Heimat zur Strafe rufen – der Unglückliche, wie
die Nachwelt auch immer diese Taten beurteilen wird! Es wird die Liebe zum Vaterland siegen, sowie
die gewaltige Begierde nach Ruhm. Ja, erblicke in der Ferne die Decii, die Drusi, und den wilden
Torquatus mit seinem Beil, sowie Camillus, der die Feldzeichen zurück bringt. Jene allerdings, die du
in den gleichen Rüstungen glänzen siehst, sind nun und solange sie von der Nacht bedrängt werden
einträchtige Seelen: Oh welch große Kriege wird es zwischen ihnen geben, wenn sie das Licht des
Lebens berühren wird, welche Schlachten und welches Blutbad werden sie anrichten! Der
Schwiegervater, (830) der von den alpinen Bergen und von der Burg des Monoecus herabsteigen
wird und der Schwiegersohn, der mit dem feindlichen Osten in Formation stehen wird! Ihr Jungen,
gewöhnt nicht eure Gemüter an so große Kriege und wendet nicht eure kräftigen Stärken gegen das
Herz des Vaterlandes! Du zuerst, du verschone es, der du dein Geschlecht vom Olymp ableitest, wirf
die Waffen aus der Hand, mein Blut! Jener wird, nachdem er über Korinth gesiegt haben wird, als
Sieger seinen Wagen zum hohen Kapitol lenken, ausgezeichnet durch die von ihm geschlagenen
Achiver. Jener wird Argus, sowie das von Agamemmnon regierte Mykene von Grund auf zerstören,
sowie den Aeciden selbst, Nachkomme des waffenmächtigen Achilles, (840) als Rächer der Ahnen
Trojas und des entweihten Tempels der Minerva. Wer sollte dich, großer Cato oder dich Cossus
verschweigen? Wer sollte das Geschlecht des Gracchus oder die beiden Scipionen, zwei Glanzstücke
im Krieg, die Niederlage Libyens, den trotz seines geringen Vermögens mächtigen Fabricius, oder dich
Serranus, der du die Furchen besäest, verschweigen? Wohin reißt ihr mich müden Mann noch,
Fabier? Du bist jener Maximus, der einzige, der uns durch sein Zögern den Staat rettet. Andere
werden auf weicherer Art und Weise atmende Bronzestatuen aus dem Stein hauen (das glaube ich
jedenfalls), sie werden lebende Gesichtszüge aus Marmor bilden, oder sie werden sich vor dem
107
Gericht besser artikulieren, oder werden die Himmelsbahn mit dem Stab (850) beschreiben, sowie
das aufgehende Gestirn benennen: Du sollst durch deine Befehlsgewalt Völker regieren, Römer, und
daran denken (dies werden deine Kunstfertigkeiten sein), dass du dem Frieden Sitten gibst.
Verschone die Unterwürfigen und bekämpfe die Überheblichen!“
So sprach der Vater Anchises und fügte Folgendes den Staunenden hinzu: „Schau, wie Marcellus sich
durch seine reiche Kriegsbeute auszeichnend einherschreitet, und als Sieger alle Männer überragt.
Dieser wird als Ritter das römische Staatswesen in einer großen verwirrenden Unruhe wieder auf die
Beine stellen, er wird die Phönizer vernichten sowie auch den widerspenstigen Gallier, und die dritte
erbeutete Rüstung wird er dem Vater Quirinus als Weihgeschenk aufhängen.“ Und nun fragte Aeneas
(denn er sah einen ausgezeichneten jungen Mann mit einer einzigartigen Gestalt und glänzenden
Waffen einherlaufen, doch zu wenig seine festlich geschmückte Stirn und Augen, weil er den Kopf
gesenkt hatte): „Vater, wer ist jener Mann, der so den Einherschreitenden begleitet? Ist es sein Sohn
oder ein anderer der Enkel aus der großen Nachkommenschaft? Was für ein Lärm der Begleiter
ringsum! Welch imposante Gestalt! Doch die schwarze Nacht umhüllt sein Haupt mit einem finsteren
Schatten.“ Darauf begann der Vater Anchises, nachdem er in Tränen ausgebrochen war, zu
antworten: „Oh Sohn, frage nicht nach dem gewaltigen Jammer der Deinen. Die Göttersprüche
zeigen ihn nur der Erde, (870) lassen darüber hinaus aber kein Verweilen zu. Die römische
Nachkommenschaft schien euch zu mächtig, ihr Götter, wenn ihr dieses Geschenk zu Eigen gewesen
wäre! Welch großes Seufzen der Helden wird jenes Feld zur großes Stadt des Mars treiben! Und
welche Verluste wirst du sehen, Tiberinus, wenn du an einem frisch errichteten Grabhügel
vorbeigleiten wirst. Kein anderer Junge aus dem trojanischen Stamm wird die latinischen Ahnen so
sehr in der Hoffnung erheben, und niemals wird die römische Erde so sehr durch irgendeinen Sohn
prahlen. Ach, Pflichtgefühl, ach, altehrwürdiges Vertrauen, ach, du im Krieg unbesiegte Rechte!
Niemand wäre jenem bewaffneten Mann ungestraft (880) entgegen geeilt, sei es, dass dieser zu Fuß
gegen den Feind ziehen, sei es, dass er dem schäumenden Pferd mit den Sporen in die Seite stechen
würde. Ach, Junge, du, mit dem man Mitleid haben muss, wenn du nur irgendwie dein raues
Schicksal durchbrichst! Du wirst Marcellus sein. Gebt Lilien mit vollen Händen, ich will purpurfarbene
Blumen verstreuen und die Seele meines Enkels wenigstens mit diesen Gaben überhäufen und dieses
vergebliche Geschenk leisten.“ So schweiften sie weit und breit in den weiten Feldern der Luft umher
und musterten alles. Nachdem Anchises seinen Sohn durch die einzelnen Gegenden geführt, und sein
Gemüt mit der Liebe zu den zukünftigen Ruhmestaten entzündet hatte, (890) erzählte er darauf dem
Held von den Kriegen, die anschließend zu führen waren, belehrte ihn über die laurentischen Völker
sowie über die Stadt des Latinus und auf welche Weise er vor jeder Strapaze fliehen oder sie ertragen
konnte: „Da gab es zwei Pforten des Schlafes, von denen die eine angeblich aus Horn ist, in welcher
108
den echten Schatten ein leichter Ausgang gewährt wird, die andere ist aus strahlend weißem
Elfenbein gefertigt und glänzend, doch die Manen schicken dort falsche Traumbilder zum Himmel.“
Nachdem diese Worte gesprochen wurden, folgte Anchises sodann dem Sohn gemeinsam mit Sibylle
dorthin und schickte sie aus der elfenbeinernen Pforte.
Aeneas legte eilends den Weg zu den Schiffen zurück und sah seine Kameraden wieder. (900) Dann
fuhr er geradewegs zum Hafen von Caieta. Man warf den Anker vom Bug herab. Die Schiffe lagen an
der Küste.
Buch 7
Auch du Caieta, Amme des Aeneas, hast unseren Küsten sterbend ewigen Ruhm verliehen. Nun
bewahrt deine Ehre diese Stätte und der Name bezeichnet im großen Hesperien dein Grab, wenn das
keine Ehre ist! Doch als die Bestattung ordnungsgemäß verrichtet war, der Hügel des Grabes
zusammengetragen war und nachdem sich das hohe Meer beruhigt hatte, segelte der fromme
Aeneas weiter und verließ den Hafen. Die Lüfte wehten sie bis in die Nacht an und auch der strahlend
weiße Mond verneinte ihnen nicht die Fahrt. Es strahlte das Meer unter glitzerndem Licht. Man
streifte die (10) nahe Küste des Landes von Circe, wo die Tochter des Sonnengottes die reichen,
unzugänglichen Haine durch ihren ununterbrochenen Gesang erklingen lässt und in den erhabenen
Räumen im nächtlichen Licht duftendes Zedernholz verbrennt, während sie mit dem helltönenden
Kamm durch feines Gewebe streicht. Von hier aus waren die Klagen und die Zorneswallungen der
Löwen zu hören, die sich gegen ihre Fesseln sträubten und in der späten Nacht brüllten. Die
borstigen Eber sowie die Bären wüteten in den Ställen und Gestalten von großen Wölfen heulten,
welche die grimmige Göttin Circe von deren Menschengestalt aus durch starke Kräuter (20) mit dem
Gesicht und mit dem Fell von wilden Tieren bedeckt hatte. Damit die pflichtbewussten Trojaner nicht
derartige Ungeheuer erdulden mussten, wenn sie zu dem Hafen gerieten und sich gar nicht erst der
unheilvollen Küste näherten, erfüllte Neptun die Segel mit günstigen Winden, gewährte ihnen die
Flucht und fuhr sie an den brandenden Untiefen vorbei.
Und schon errötete das Meer durch die Sonnenstrahlen und die hellpurpurne Aurora glänzte vom
hohen Himmel her mit ihrem rosafarbenen Zweigespann, als sich die Winde legten und die ganze Flut
plötzlich zum Stillstand kam. Die Ruder kämpften mit der zähen Wasseroberfläche. Und hier (30)
erblickte Aeneas vom Meer aus einen gewaltigen Hain. Zwischen diesem brach der Fluss Tiberinus,
der aufgrund des vielen Sandes goldgelb war, mit seiner reizenden Strömung und mit reißenden
Wellenkämmen ins Meer. Oberhalb und ringsum liebkosten bunte Vögel, die mit den Ufern und dem
109
Flussbett vertraut waren, die Lüfte mit ihrem Gesang und flogen im Hain umher. Aeneas befahl
seinen Kameraden zu wenden und die Vorderschiffe dem Land zuzuwenden. Fröhlich fuhr er in die
schattige Flussmündung ein.
Nun also, Erato, will ich darlegen, welche Könige, welche Zeiten und welcher Zustand im alten Latium
herrschten, als zum ersten Mal ein fremdes Heer seine Flotte an die Gestade Ausoniens trieb. (40)
Und ich will mir den Anfang des ersten Kampfes zurück ins Gedächtnis rufen. Du Göttin, du ermahne
den Dichter. Ich will schreckliche Kriege nennen, ich will Schlachten nennen und Könige, die von
ihrem Mut ins Grab getrieben wurden, auch das tyrrhenische Heer und das ganze Hesperien, das
unter Waffen zusammengekommen war. Eine größere Abfolge von Ereignissen entsteht mir, ich
setze ein größeres Werk in Bewegung. Der schon ältere König Latinus regierte die Fluren und die
friedlichen Städte in einem langwährenden Frieden. Dieser ist angeblich der Sohn des Faunus und der
laurentinischen Nymphe Marica. Picus ist der Vater des Faunus und Picus nennt wiederum dich,
Saturnus, seinen Vater. Du bist der entfernteste Urheber der Blutsreihe. Er hatte gemäß seines
Schicksals kein Göttersohn und überhaupt kein (50) einziger, starker Nachkomme. Der einzige wurde
ihm geraubt als dessen Jugend gerade begann. Die einzige Tochter wachte über den Palast und den
so großen Wohnsitz; sie war schon reif für einen Mann und im Hinblick auf ihre vollendeten
Lebensjahre heiratsfähig. Viele Männer erstrebten sie im großen Latium, ja, in ganz Ausonien! Es
begehrte sie allen voran der äußerst schöne Turnus, mächtig durch seine Ahnen und Urahnen, und
die königliche Gemahlin eilte sich mit erstaunlichem Eifer, mit ihm als Schwiegersohn verbunden zu
werden. Doch die Vorzeichen der Götter standen mit verschiedenen Schrecken im Weg. In der Mitte
des Palastes befand sich ein Lorbeerbaum, im erhabenen Inneren, (60) heilig im Hinblick auf sein
Laub, der über viele Jahre hinweg mit Ehrfurcht gehütet wurde. Der Vater Latinus hatte ihn
gefunden, als er die ersten Befestigungsanlagen gründete und man sagt, dass er ihn selbst dem
Phoebus geweiht hatte und den laurentinischen Siedlern des Baumes wegen ihren Namen gegeben
hatte. Auf dessen höchsten Wipfel setzten sich die Bienen, die dichtgedrängt (wundersam zu sagen)
mit einem gewaltigen Summen durch den klaren Äther flogen. Nachdem sie die Beine untereinander
geschlungen hatten, hing plötzlich ein Schwarm vom grünenden Ast herab. Sofort sagte der Seher:
„Ich erkenne, dass ein auswärtiger Held ankommt und dass ein Heer aus derselben (70) Gegend in
dieselbe Richtung zieht und ganz oben auf der Burg herrscht.“
Ferner sah man die Jungfrau Lavinia, während sie die Altäre an den heiligen Brandfackeln anzündete
und gleich neben ihrem Vater stand, wie sie (entsetzlich!) mit ihren langen Haaren Feuer fing und die
krachende Flamme den ganzen Haarschmuck verbrannte. Sie war mit ihrem königlichen Haar und mit
der durch Edelsteine auffallenden Krone entflammt. Dann wurde die rauchende Frau scheinbar in
goldgelbes Licht gehüllt und sie verbreitete das Feuer im ganzen Palast. Dies aber war, so wurde es
110
gesagt, Furcht erregend und wundersam zu beobachten: Denn Lavinia werde einmal in Bezug auf
ihren Ruhm und ihr Schicksal berühmt sein, (80) doch sie würde dem Volk einen großen Krieg
ankündigen.
Doch der König, der aufgrund der Wunderzeichen besorgt war, wandte sich an das Orakel des
Faunus, seines schicksalverkündenden Vaters, und fragte die Haine unter der hohen Albunea um Rat,
die als größte Quelle der Haine mit heiligem Quellwasser rauscht und im Schatten wilden Brodem
verströmt. Von hier aus erbaten die italischen Stämme und das ganze oenotrische Land im Zweifel
eine Antwort. Wenn der Priester die Weihgaben hierher brachte und sich in der stillen Nacht auf die
ausgebreiteten Felle der geschlachteten Schafe legte und um Träume bat, sah er viele auf
wundersamer Weise fliegende Traumbilder, (90) er hörte verschiedene Stimmen, erfreute sich am
Gespräch mit den Göttern und sprach im tiefen Avernus Acheron an. Hier schlachtete damals auch
der Vater Latinus selbst, weil er eine Antwort erbat, ordnungsgemäß einhundert wolltragende
Schafe. Nachdem er sich auf deren Fell gebettet hatte und auf der ausgebreiteten Wolle lag,
antwortete ihm plötzlich eine Stimme aus dem hohen Hain kommend: „Strebe nicht danach, deine
Tochter durch eine latinischen Ehe zu vermählen, oh mein Nachkomme, und vertraue nicht auf die
arrangierte Hochzeit! Es werden auswärtige Schwiegersöhne kommen, die mit ihrem Blut unseren
Namen zu den Sternen tragen. Von deren Stamm werden deine Enkel erkennen, (100) dass sich alles
unter ihren Füßen windet und gelenkt wird, was die Sonne erblickt, wenn sie von einem zum anderen
Ozean wandert.“ Latinus selbst verschwieg diese Antworten des Vaters Faunus sowie die in der
stillen Nacht gewährten Ermahnungen nicht, sondern Fama, die weithin umherflog, trug die Dinge in
allen ausonischen Städten umher, als die trojanische Mannschaft die Flotte am grasbewachsenen
Hang des Ufers befestigte.
Aeneas, die ranghöchsten Anführer und der schöne Iulus legten ihre Körper unter den Zweigen eines
hohen Baumes nieder, fingen mit ihrer Mahlzeit an, legten Fladen aus Dinkel über dem Gras verteilt
unter ihre (110) Speisen (so mahnte sie Jupiter) und häuften auf den Fladenboden Feldfrüchte.
Nachdem jetzt zufällig das andere verbraucht war, so dass der Mangel an Speisen den Biss auf das
knappe Brot trieb und dazu veranlasste die Scheiben der schicksalsträchtigen Backware mit der Hand
und mit ihren kühnen Kiefern zu entehren, auch nicht die weiten Viertelstücke zu schonen. „Ach,
verzehren wir sogar unseren Tischersatz?“, sagte Iulus, mehr nicht und das nur im Scherz. Nachdem
diese Äußerung vernommen war, bereitete sie als erste der Strapazen Ende. Der Vater schnappte sie
gleich vom Mund des Sprechenden auf und aufgrund des göttlichen Wirkens verblüfft, ließ er Iulus
schweigen. (120) Sofort sagte er selbst: „Sei gegrüßt Erde, die ich durch mein Schicksal verdiene und
ihr, oh ihr treuen Penaten Trojas: Hier ist meine Wohnstätte. Hier ist meine Heimat! Denn mein Vater
111
Anchises hat mir derartige Geheimnisse der Göttersprüche hinterlassen (ich wiederhole sie jetzt):
‚Wenn dich, der du zu fremden Gestaden gefahren sein wirst, der Hunger dazu zwingen wird, die
Tische zu verzehren, nachdem die Speisen bereits verzehrt sein werden, dann sollst du dich daran
erinnern, wenn auch erschöpft, einen Wohnsitz zu erwarten, dort mit eigener Hand erste Häuser zu
bauen und sie mit einem Wall zu umgeben.‘ Damit war dieser Hunger gemeint, dies blieb uns als
letzte Prüfung, als Grenze des Verderbens. (130) Darum los: Lasst uns frohgestimmt bei
Morgendämmerung in Erfahrung bringen, welche Gegenden das sind, welche Menschen sie
bewohnen, wo sich die Stadt des Stammes befindet und lasst uns vom Hafen her in verschiedene
Richtungen eilen! Nun spendet aus den Opferschalen für Jupiter, ruft in euren Gebeten den Vater
Anchises an und stellt den Wein zurück auf die Tische!“
Nachdem er dann so gesprochen hatte, umwickelte er seine Schläfen mit einem belaubten Zweig
und betete zu dem Genius des Ortes, zur Mutter Erde, die erste der Götter, zu den Nymphen und den
bis jetzt unbekannten Flüssen, dann rief er die Nacht sowie die aufgehenden Sternzeichen der Nacht
an, Jupiter des Idagebirges, und gemäß der Reihenfolge die phrygische Mutter (140) sowie seine
beiden leiblichen Eltern, im Himmel und in der Unterwelt. Jetzt ließ es der allmächtige Vater dreimal
vom hohen Himmel her laut donnern. Er zeigte vom Himmel aus eine durch Lichtstrahlen und Gold
leuchtende Wolke, die er selbst in seiner Hand schüttelte. Jetzt verbreitete sich plötzlich im
trojanischen Heer das Gerücht, dass der Tag gekommen sei, an welchem sie die versprochene Stadt
gründen würden. Wetteifernd wiederholten sie das Mahl, stellten ob des großartigen Vorzeichens
Krüge auf und bekränzten den Wein. Als der folgende Tag hereingebrochen war und mit seiner
Leuchte die Länder erhellte, (150) erkundeten die Männer in verschiedenen Richtungen die Stadt,
das Gebiet und die Küsten des Volkes. Diese stehenden Gewässer gehören zur Quelle des Numicus,
dieser Fluss ist der Tiber und hier wohnten die tapferen Latiner. Dann befahl der Spross des Anchises,
dass einhundert Bittsteller, die aus jedem Stand ausgewählt worden und alle mit den Zweigen der
Pallas verhüllt waren, zu der erhabenen Stadt des Königs zu gehen, dem Held Geschenke zu bringen
und Frieden für die Trojaner zu erbitten. Es gab keinen Verzug, sie hasteten, wie man es ihnen
befohlen hatte, und eilten mit rasenden Schritten. Er selbst bestimmte die Stadtmauer mit einem
niedrigen Graben, ließ den Ort bebauen und umgab die ersten Wohnhäuser an der Küste in der Art
von Lagern mit Zinnen und einem Wall. (160) Und schon hatten die jungen Männer den Weg
zurückgelegt und erkannten die Türme und die steil aufragenden Häuser der Latiner; und sie
näherten sich der Mauer. Vor der Stadt übten sich die Knaben und die Jungend in ihrer jungendlichen
Blüte auf den Pferden und sie bändigten im Staub die Streitwagen. Entweder spannten sie energisch
die Bögen oder warfen die zähen Wurfspieße mit ihren Oberarmen. Sie forderten einander im Lauf
oder im Schlag heraus. Als ein Bote zu Pferd zu den Ohren des hochbetagten Königs vorausgeeilt war,
112
berichtete er ihm, dass gewaltige Helden in unbekannter Kleidung gelandet seien. Jener befahl, dass
sie ins Innere seines Palastes gerufen würden und setzte sich mittig auf einen alten Thron.
(170) Der Palast war erhaben, gewaltig, stolz stand er auf seinen einhundert Säulen, ganz oben in der
Stadt, Herrschaftssitz des Picus von Laurentum, Schauder erregend durch seine Wälder und der
Frömmigkeit gegenüber den Ahnen. Hier das Zepter zu empfangen und die ersten Rutenbündel zu
erheben, war den Königen ein glückliches Vorzeichen. Dieser Tempel war für sie die Kurie. Diese
Stätte verwendeten sie für das Opfermahl. Hier waren es die Ahnen gewohnt sich an den langen
Tischen niederzulassen, nachdem der Widder geschlachtet worden war. Ja, es standen sogar aus
altem Zedernholz die Abbilder der alten Ahnen der Reihe nach dort: Italus und der Vater Sabinus, der
Weinpflanzer, der auch als Bild die gebogene Sense behütete. (180) Der alte Saturnus und das Abbild
des zweigesichtigen Ianus standen in der Vorhalle, auch andere Könige der Urzeit und Männer, die
beim Kampf für das Vaterland Kriegswunden erlitten haben. Ferner befanden sich an den heiligen
Pfosten viele Waffen, erbeutete Streitwagen hingen herab, gebogene Beile, Helmbüsche, die man auf
dem Haupt trug und da waren riesige Türschlösser, Wurfspieße, Rundschilder sowie herausgerissene
Schiffsschnäbel. Latinus selbst saß mit dem Krummstab des Quirinus und mit einem kleinen
Prachtkleid aufgeschürzt da, führte in der linken Hand einen kleinen rundlichen Schild namens Picus,
der Pferdebändiger, den die Gattin Circe, nachdem sie von Begierde ergriffen war, mit einer (190)
goldenen Rute geschlagen und durch Zaubermittel in einen Vogel verwandelt hatte und letztlich mit
bunten Farben seine Flügel benetzte.
Latinus, der in einem solchen Göttertempel auf dem väterlichen Thron saß, rief die Teucrer zu sich in
den Palast. Und zuerst sprach er aus seinem sanften Mund folgende Worte zu den Eintretenden:
„Sprecht, ihr Dardaner (wir kennen nämlich sowohl eure Stadt als auch euer Geschlecht genau und
haben davon gehört, dass ihr den Kurs auf dem Meer hierher lenkt), was erstrebt ihr? Welcher Grund
oder welcher Mangel treibt eure Schiffe über so viele blaue Untiefen zur ausonischen Küste? Sei es
dass ihr durch eine Irrfahrt oder durch Stürme hier her getrieben wurdet, (200) wie sie zahlreich die
Seemänner auf dem hohen Meer ertragen, ihr habt die Ufer des Flusses betreten und euch im Hafen
niedergelassen, flüchtet nicht vor der Gastfreundschaft. Ihr wisst genau, dass die Latiner das Volk des
Saturnus sind und nicht aufgrund von Zwang oder Gesetzen gerecht, sondern aus eigenem Antrieb
heraus, während sie sich an das Benehmen ihres alten Gottes halten. Und ich erinnere mich freilich
(die Kunde ist aufgrund ihres Alters recht unbekannt), dass die alten Auruncer folgendes erzählen:
Dardanus sei in diesen Gebieten geboren worden und zu den idäischen Städten Phrygiens sowie bis
zum thrakischen Samos durchgedrungen, das heute angeblich Samothracia heißt. Von dort war er
vom tyrrhenischen Siedlungsgebiet der Stadt Corythus aufgebrochen und empfing (210) nun auf dem
113
Thron den goldenen Königspalast des gestirnten Himmels und vergrößerte die Zahl der Götter durch
Altäre.“
Das sprach Latinus und Ilioneus antwortete auf seine Worte folgendermaßen: „König,
hervorragender Sohn des Faunus, uns, die wir nicht von Sturmfluten getrieben wurden, zwang kein
finsterer Sturm dazu uns euren Ländereien zu näheren. Auch täuschte uns weder das Gestirn noch
die Küste in der Richtung des Weges. Auf Beschluss begeben wir uns entschlossenen Mutes zu dieser
Stadt, die wir aus unserem Königreich vertrieben wurden, das größte, das einst die Sonne vom
äußersten Himmel her kommend erblickte. Von dem Vater Jupiter nehmen wir unseren Anfang, die
dardanische Mannschaft (220) erfreut sich an ihrem Ahn Jupiter, der König selbst stammt vom
höchsten Stamm des Jupiter. Der Trojaner Aeneas schickte uns zu deiner Schwelle. Welch großer
Sturm ergoss sich im grimmigen Mykene und marschierte durch die idäischen Felder, auf denen die
beiden Welten Europa und Asien umgetrieben wurden und gemäß den Göttersprüchen
zusammenstießen, hörte jeder, auch wenn ihn die hinterste Erde durch den sich ergießenden Ozean
trennt, auch wenn ihn die ausgedehnte, heiße Zone in der Mitte der vier anderen Zonen trennt. Seit
jener Sintflut sind wir über so viele, weite Meere gefahren und erbeten für die väterlichen Götter ein
kleines Siedlungsgebiet, einen (230) harmlosen Küstenstreifen sowie Wasser und Luft, die für alle da
sind. Wir werden für euer Königreich nicht schmählich sein, ihr werdet keine unbedeutende Ehre
erhalten, der Ruhm einer so großen Tat wird nicht schwinden und es wird die Ausonier nicht reuen,
Troja in ihren Schoß aufgenommen zu haben. Ich schwöre es beim Schicksal des Aeneas und bei
meiner mächtigen Rechten, sei es, dass einer in der Treue, sei es, dass einer im Krieg und mit den
Waffen erfahren ist. Viele Völker und viele Stämme strebten danach und wollten sich mit uns
verbünden (Verachte nicht, dass wir von uns aus feierliche Binden in den Händen voran- und
bittende Worte vortragen haben). Doch uns haben Göttersprüche (240) durch ihre Befehle dazu
getrieben, eure Ländereien aufzusuchen. Von hier entsprang Dardanus, hierher verlangt uns Apollo
zurück und drängt uns mit gewaltigen Befehlen zum tyrrhenischen Tiber und zu den heiligen Wassern
der Quelle Numicus. Er gibt dir ferner kleine Gaben eines früheren Vermögens, nämlich die aus dem
brennenden Troja geretteten Überreste: Mit diesem Goldbecher spendete der Vater Anchises das
Trankopfer bei den Altären, dies war die Bürde des Priamus als er nach Brauch den
zusammengerufenen Völkern Gesetze gab: Das Zepter, der heilige Turban, sein Gewand – das Werk
von Trojanerinnen.“
Nach solchen Worten des Ilioneus hielt Latinus (250) bei der Betrachtung das Antlitz gesenkt und
verharrte damit unbeweglich auf dem Boden, während er seine angespannten Augen rollte. Weder
bewegte den König das mit Purpur durchwirkte Gewand noch das Zepter des Priamus so sehr, wie
114
sehr er bei der Ehe und Hochzeit seiner Tochter verweilte und den Orakelspruch des altehrwürdigen
Faunus in seinem Gemüt bedachte: Eben dieser Schwiegersohn werde angekündigt, der gemäß
seines Schicksals von einem auswärtigen Siedlungsgebiet aufgebrochen sei und unter günstigen
Auspizien werde er in das Königreich gerufen, ihm werde eine durch Tugend ausgezeichnete
Nachkommenschaft zu Eigen sein, eine Nachkommenschaft, die durch ihre Stärken die ganze Welt
besetzen würde. Endlich sagte er fröhlich: „Die Götter mögen mein Vorhaben und (260) ihre eigene
Vorzeichen begünstigen! Es wird dir gewährt, Trojaner, was du wünschst. Und die Geschenke
verschmähe ich nicht. Nicht wird euch unter mir, König Latinus, die Fruchtbarkeit eines reichen
Ackers oder der Reichtum Trojas fehlen. Aeneas selbst soll nur kommen, wenn der Wunsch nach uns
so groß ist, wenn er sich eilt, mit uns in Gastfreundschaft verbunden und Genosse genannt zu
werden, und sein Gesicht soll nicht vor den Freunden erschaudern. Ein Teil des Friedens wird es mir
sein, die Rechte des Adeligen berührt zu haben. Berichtet ihr nun hingegen eurem König meine
Aufträge: Ich habe eine Tochter, die ich nach den Prophezeiungen aus dem väterlichen Tempel nicht
mit einem Mann meines Stammes verheiraten darf. Auch die meisten (270) Vorzeichen am Himmel
lassen das nicht zu. Schwiegersöhne würden von auswärtigen Küsten herbeikommen, dies würde
Latium bevorstehen, prophezeiten sie, Schwiegersöhne, die durch ihr Blut unseren Namen bis zu den
Sternen erhöben. Eben diesen Fürsten fordern die Göttersprüche, das glaube ich und sofern mein
Geist irgendetwas Wahres preist, wünsche ich ihn herbei.“
Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, wählte der Vater Latinus aus der ganzen Schar Pferde
aus (es standen dreihundert stattliche Pferde in den hohen Ställen). Sofort befahl er, dass allen
Teucrern der Reihe nach Pferde, die mit einem Purpurgewand und bunten Teppichen bedeckt waren,
zugeführt wurden (an ihren Brüsten hingen goldene Halsketten herab und sie kauten mit Gold
bedeckt unter ihren Zähnen schimmerndes Gold), (280) sowie dem abwesenden Aeneas ein Wagen
und zwei unter das Joch gespannte Pferde, die vom Himmel abstammten und durch ihre Nasen Feuer
ausbliesen. Sie waren vom Stamm derjeniger Pferde, welche die listige Circe ohne das Wissen des
Vaters der untergeschobenen Mutter gestohlen und sie zu Bastarden gemacht hat. Mit derartigen
Geschenken und Worten des Latinus kehrten die Männer des Aeneas stolz auf ihren Pferden zurück
und brachten Frieden mit.
Doch sieh! Die grausame Gattin des Jupiters kehrte von der Stadt Argos, die von Inachus gegründet
war, zurück, zog und fuhr durch die Lüfte, sah den glücklichen Aeneas und vom fernen Himmel auch
die dardanische Flotte von Sizilien aus bis nach Pachynus. (290) Sie sah, wie bereits Häuser gebaut
wurden, wie die Männer bereits den Ländereien vertrauten und wie sie die Schiffe verlassen hatten:
Sie stand wie angewurzelt da, erfüllt von heftigem Schmerz. Während sie dann ihren Kopf schüttelte
brachte sie folgende Worte aus ihrer Brust hervor: „Oh, du mir verhasstes Geschlecht und ihr
115
Göttersprüche der Phrygier, die meinen entgegenstehen! Konnten sie etwa auf den sigeischen
Feldern sterben? Konnten sie etwa als Gefangene gefasst werden? Hat etwa das entflammte Troja
die Männer verbrannt? Mitten durch die Schlacht und mitten durch die Feuer haben sie einen
Fluchtweg gefunden. Doch, so glaube ich, liegen meine göttlichen Wirkkräfte endlich erschöpft da,
oder ich bin von Hass gesättigt zur Ruhe gekommen. Ja, ich (300) wagte sogar die aus ihrer Heimat
Vertriebenen feindselig über die Meere zu verfolgen und mich den Fliehenden auf dem ganzen Meer
entgegenzustellen. Die Kräfte des Himmels und des Meeres wurden gegen die Teucrer verbraucht.
Was haben mir die Syrten, oder Scylla, was hat mir die riesige Charybdis genutzt? Sie sind am
gewünschten Flussbett des Tibers untergebracht, des Meeres und meiner unbekümmert. Mars
vermochte das riesige Volk der Lapithen zu verderben, der Schöpfer der Götter selbst gestand das
altehrwürdige Calydon den Zorneswallungen der Diana zu. Welches Verbrechen war so groß, dass es
die Lapithen oder Calydon verdient hatten? Aber ich, große Gattin des Jupiter – nichts ließ ich
unversucht, was ich Unglückliche vermochte, und die ich mich zu jeder Möglichkeit hinwandte (310)
werde ich von Aeneas besiegt. Auch wenn meine göttlichen Wirkkräfte nicht groß genug sind, will ich
gewiss nicht zögern, anzuflehen, was ich finden kann: Wenn ich nicht die Götter umstimmen kann,
werde ich beim Acheron etwas erreichen. Es wird mir nicht gewährt werden die Männer vom
latinischen Königreich abzuhalten, so sei es eben, und die Gattin Lavinia bleibt aufgrund ihres
Schicksals unverändert: doch es ist möglich es in die Länge zu ziehen und den so großen
Unternehmungen Verzögerungen hinzuzufügen, und es ist möglich die Völker beider Könige zu
vernichten. Durch diesen Lohn ihrer Leute sollen Schwiegersohn und Schwiegervater feindlich
zusammentreffen: Du Jungfrau sollst durch Trojaner- und Rutulerblut deine Mitgift erhalten und die
Göttin des Krieges bleibt dir als Brautführerin. Nicht nur die Tochter des (320) Cisseus war mit einer
Hochzeitsfackel schwanger und hat eheliche Feuer geboren. Ja, der Sohn der Venus ist dasselbe: ein
zweiter Paris: Erneut bringt er todbringende Hochzeitsfackeln zum wieder entstehenden Pergamum.“
Nachdem sie diese Worte verlauten ließ, eilte sie Schauder erregend zu Erden. Sie rief die Trauer
bringende Allecto vom Sitz der unheilvollen Göttinnen aus Unterwelt und Finsternis, welcher
finstere Kriege, Zorneswallungen, Hinterhalt und schädliche Anklagen am Herzen liegen. Sogar der
Vater Pluto selbst hasste sie und es hassen die Unterweltschwestern das Scheusal: So viele Gesichter
nimmt sie an, so grimmige Gestalten, finster keimt sie mit so vielen Schlangen. (330) Diese machte
Iuno mit folgenden Worten scharf und sprach solches: „Tu mir diesen speziellen Gefallen, Jungfrau,
die du von der Nacht entsprungen bist, dieses Werk, damit nicht meine Ehre von ihrer Stelle weicht,
oder mein zerbrochener Ruhm und damit sich nicht die Männer des Aeneas um eine Hochzeit bittend
an Latinus wenden, oder das italische Gebiet besetzen können. Du kannst für eine Schlacht
einträchtige Brüder bewaffnen und Geschlechter mit Hass bestürmen, du kannst in Häuser Schläge
116
und Leichenfackeln hineintragen, du hast tausend Namen und tausend Kunstfertigkeiten, um zu
schaden. Rüttle dein fruchtbares Gemüt auf, zerschmettere den geschlossenen Frieden und säe
Beschuldigungen, die zu einem Krieg führen werden. (340) Die Jugend soll Waffen wollen, sie fordern
und gleichzeitig an sich reißen.“
Sodann eilte Allecto, mit dem Gift der Gorgo benetzt, zuerst nach Latium und zum aufragenden
Palast des laurentinischen Fürsten. Sie besetzte das stille Gemach der Amata. Diese brennende Frau
durchkochten Sorgen und Zorneswallungen über die Ankunft der Teucrer und über die Hochzeit des
Turnus. Dieser warf die Göttin aus ihren schwärzlichen Haaren eine Schlange entgegen, bringt sie zu
ihrem Schoß, an ihr innerstes Gemüt, damit sie durch dieses Ungeheuer als Rasende das ganze Haus
in Unordnung brachte. Die Schlange glitt zwischen dem Gewand und der glatten Brust, (350) wälzte
sich ohne Berührung und betrog die Rasende, indem sie ihr ihre Schlangenseele einhauchte. Am Hals
wurde die gewaltige Schlange zu einer goldenen Halskette, sie wurde zu den langen Bändern der
Kopfbinde, umschlang das Haar und irrte schlüpfrig über die Glieder. Und während das erste Übel,
welches durch das feuchte Gift herangeschlichen war, ihre Sinneswahrnehmung angriff und sich das
Feuer an ihren Knochen festhielt, ihre Seele aber noch nicht in ihrer ganzen Brust Feuer gefangen
hat, sprach sie recht ruhig und auf gewohnter Art und Weise von Müttern, während sie viel über ihre
Tochter und über die phrygische Hochzeit weinte: „Teucrischen Exilanten wird gewährt, Lavinia zu
heiraten, (360) oh Vater! Erbarmt es dich nicht meiner Tochter und der Deinen? Erbarmt es dich
nicht der Mutter, die der treulose Mann mit dem ersten Nordwind aufs hohe Meer eilend
zurücklassen wird, nachdem er die Jungfrau weggeführt haben wird, der Räuber? Drang nicht so der
phrygische Hirte in Sparta ein und fuhr die Tochter der Leda, Helena zur Stadt Troja? Was ist mit
deiner heiligen Treue? Was ist mit der altehrwürdigen Verehrung der Deinen, was ist mit der
Rechten, die sooft dem blutsverwandten Turnus gegeben wurde? Wenn für die Latiner ein
Schwiegersohn von einem auswärtigen Stamm erstrebt wird und dies beschlossen ist, wenn dich die
Befehle des Vaters Faunus bedrängen, wird, glaube ich, freilich jedes Land, das frei von unserer
Herrschaft ist, als auswärtiges Land von uns (370) getrennt sein, und so sagen es die Götter. Auch
Turnus hat, wenn man den allerersten Ursprung seiner Familie wiederaufgreift, Inachus und Acrisius
als Ahnen und stammt mitten aus der Stadt Mykene.“
Nachdem diese Worte vergebens gesprochen waren und die kundige Frau sah, wie ihr Latinus nach
wie vor gegenüber stand, das schreckliche Übel der Schlange völlig in ihre Eingeweide geglitten war
und in der ganzen Frau umherirrte, wurde die Unglückliche dann aber von dem gewaltigen Scheusal
aufgejagt, und raste ohne Benehmen, besessen durch die gewaltige Stadt: Sie eilte wie der
manchmal unter einem Schlag gedrehte Kreisel umher, den die Jungen in einem großen Kreis um das
117
leere Atrium treiben, (380) wenn sie sich dem Spiel hingeben – jener eilt von der Peitsche getrieben
in kurvigen Bahnen. Es staunt oberhalb die unkundige und jugendliche Schar, die das sich drehende
Stück Holz bewundert. Die Schläge treiben ihn an. Nicht träger als jener Lauf wurde Amata mitten
durch die Städte und durch die wilden Völker getrieben. Ja sie enteilte sogar in die Wälder, nachdem
sie die göttliche Wirkkraft des Bacchus nachgeahmt hatte und begann einen größeren Frevel; sie fing
damit an, noch mehr zu rasen und versteckte ihre Tochter in den belaubten Bergen, damit sie den
Teucrern das Ehebett entreißen und die Hochzeit verzögern konnte. Immer wieder brüllte sie
„Euhoe, Bacchus“, immer wieder (390) schrie sie „Du bist als einziger meiner Jungfrau würdig. Und
für dich nimmt sie freilich den sanften Bacchusstab, dich umtanzt sie in einem Reigen, für dich nähert
sie ihr heiliges Haar.“ Das Gerücht eilte umher, dass dieselbe Glut alle Mütter, die in ihrer Brust durch
Raserei entflammt waren, zugleich dazu trieb, neue Häuser zu suchen. Siehatten ihre Häuser
verlassen und gaben ihre Hälse und die Haare den Winden preis. Andere hingegen erfüllten die Lüfte
mit zittrigem Geheul und trugen mit Tierfellen umgürtet Lanzen, die mit Weinranke umkleidet
waren. Sie selbst hielt hitzig mitten unter ihnen eine brennende Fackel aus Fichtenholz und sie sang
das Hochzeitslied ihrer Tochter und des Turnus, während sie ihre blutunterlaufenen Augen wendete.
Wild (400) schrie sie plötzlich: „Oh Mütter, hört her, wo ihr auch seid, Latinerinnen: Wenn noch
irgendein Funken Ansehen der unglücklichen Amata in euren pflichtbewussten Gemütern verbleibt,
wenn noch die Sorge um das mütterliche Recht an euch nagt, dann löst die Haarbinden und feiert mit
mir die Orgien.“ So trieb Allecto die Königin inmitten der Wälder und der verlassenen Orte der wilden
Tiere von allen Seiten durch die Stacheln des Bacchus.
Nachdem sie die erste Raserei genug angestachelt zu haben schien sowie den ganzen Plan und das
Geschlecht des Latinus in Verwirrung gebracht zu haben, erhob sich sodann die finstere Göttin
unverzüglich mit ihren schwarzen Schwingen zu den kühnen Stadtmauern des Rutulus, zu der Stadt,
(410) die Danae angeblich für Siedler der Stadt des Acrisonius gegründet hatte. Vom eiligen Südwind
wurde sie getragen. Der Ort wurde einst von den Ahnen Ardea genannt. Auch heute noch bleibt der
große Name Ardea, doch dessen glückliche Zeit ist Vergangenheit. Hier war Turnus in seinem
erhabenen Palast schon mitten im Schlaf bei schwarzer Nacht. Allecto legte ihre finstere Gestalt und
ihre Furienglieder ab, nahm eine altweiberhaften Miene an und pflügt ihre Stirn durch Falten
hässlich. Sie legte graues Haar gemeinsam mit einer Binde an, dann umschlang sie es mit dem Zweig
eines Ölbaums. Sie wurde zu Calybe, einer alten Priesterin der Iuno und ihres Tempels. (420) Und vor
den Augen des jungen Mannes trat sie ihm mit diesen Worten entgegen: „Turnus, duldest du, dass so
viele hervorgebrachte Strapazen fruchtlos waren und auch deine Herrschaft den dardanischen
Siedlern überschrieben wird? Der König verwehrt dir die Hochzeit und die mit Blut erworbene
Mitgift. Er sucht einen auswärtigen Erben für sein Königreich. Geh nun, tritt den undankbaren
118
Gefahren entgehen, du verlachter Mann! Geh, strecke das tyrrhenische Heer nieder, schütze die
Latiner durch Frieden. Die allmächtige Tochter des Saturns selbst hat mir befohlen, dir diese Befehle
öffentlich zu verkünden, wenn du in der sanften Nacht schliefest. Daher auf, bereite (430)
frohgestimmt vor, dass die Jungmannschaft bewaffnet wird und durch die Pforten aufs Feld zieht.
Brenne die phrygischen Anführer, die sich an dem schönen Fluss niedergelassen haben sowie ihre
bemalten Schiffe nieder! Die große Macht der Götter befiehlt es. König Latinus selbst soll sie spüren,
wenn er zugibt, die Hochzeit nicht zu gewähren und sein Versprechen nicht zu halten, und er soll
Turnus endlich im Krieg auf die Probe stellen.“
Jetzt fing der junge Mann, die Seherin verlachend, seinerseits an, ihr folgendes zu erwidern: „Die
Nachricht, dass eine Flotte über die Wasser des Tibers gefahren ist, ist meinen Ohren, wie du glaubst,
nicht entgangen. Aber stelle mir nicht eine so große Furcht dar. Auch die Königin Iuno denkt gewiss
an uns. (440) Aber dich quält ein von der Untätigkeit besiegtes, für die wahren Dinge
unempfängliches Greisenalter, vergebens mit Sorgen und täuscht inmitten der Waffen der Könige die
Seherin mit falscher Furcht. Es ist deine Aufgabe das Abbild der Götter und die Tempel zu schützen.
Die Männer führen Krieg und schließen Frieden, weil es deren Aufgabe ist Kriege zu führen.“
Nach derartigen Worten entbrannte Allecto in Zorn. Dem redenden Mann hingegen besetzte
plötzlich ein Zittern die Glieder, seine Augen erstarrten: Mit so vielen Wasserschlangen zischte die
Furie und offenbarte ihre so große Gestalt. Während sie dann ihre feurigen Augen wendete, stieß sie
den zögernden Mann, der sich bemühte noch mehr zu sagen, (450) zurück und richtete in ihren
Haaren ein Schlangenpaar auf. Sie ließ Schläge hören und fügt folgende Worte aus rasendem Mund
hinzu: „Schau, ich bin von der Untätigkeit besiegt, die mich das für wahre Dinge unempfängliche
Greisenalter inmitten der Waffen der Könige mit falscher Furcht täuscht. Beachte folgendes: Ich
komme vom Wohnsitz der unheilvollen Schwestern (=Furien) und trage in meiner Hand Kriege und
Tod.“ So hatte sie gesprochen, schleuderte dem jungen Mann die Fackel hin und durchbohrte ihn
unter der Brust mit dem mit finsterem Licht rauchenden Kienholz. Jenem unterbrach gewaltige
Furcht den Schlaf und der am ganzen Körper ausgebrochene Schweiß bedeckte seine Gebeine und
seine Glieder. (460) Von Sinnen brüllte er nach Waffen, nach Waffen suchte auf seinem Bett und im
Palast. Es wütete das Verlangen nach einem Schwert, der verbrecherische Wahnsinn des Krieges und
darüber hinaus der Zorn: Ganz wie wenn unter großem Getöse ein Reisigfeuer unter den Bauch eines
siedenden Kessels gelegt wird und die Flüssigkeit durch die Hitze in die Höhe springt. Im Inneren tobt
des Wassers dampfende Masse und hoch wallt der Wasserstrom mit seiner Gischt und nicht mehr
hält sich die Woge: es eilt finsterer Dampf in die Luft. Also kündigte Turnus der ersten
Jungmannschaft einen Marsch zum König Latinus an, da der Friede beschmutzt worden war und
119
befahl ihr, die Waffen gefechtsbereit zu machen, Italien zu schützen und den Feind aus dem Gebiet
zu vertreiben. (470) Er trete beiden Heeren gewachsen an: Den Teucrern und den Latinern. Nachdem
er diese Worte gesprochen und die Götter für seine Gelübde angerufen hatte, spornten sich die
Rutuler im Wetteifer an, zu den Waffen zu schreiten. Diesen bewegt die ausgezeichnete Zierde von
Schönheit und Jugend, diesen die Ahnenkönige und diesen seine Rechte mit ihren berühmten Taten.
Während Turnus die Rutuler mit kühnem Mut erfüllte, stürzte sich Allecto mit ihren stygischen
Schwingen zu den Teucrern. Mit einer neuen List erspähte sie den Hain, wo der schöne Iulus an der
Küste wilde Tiere im Lauf mit Fallen jagte. Hier (480) flößte die unterweltliche Jungfrau seinen
Hunden eine plötzliche Raserei ein und berührte ihre Nasen mit bekanntem Geruch, so dass sie eifrig
nach einem Hirsch jagten. Dies war die erste Ursache für die Strapazen und sie entflammte die
bäuerlichen Gemüter für den Krieg. Es gab einen Hirsch von herausragender Gestalt, gewaltig war er
durch sein Geweih, den, von der Brust seiner latinischen Mutter geraubt, die Jungen und ihr Vater
Tyrrhus ernährt hatten, dem die königlichen Herden gehorchten und weithin die Wache über das
Feld anvertraut war. Die Schwester Silvia schmückte ihn, den sie mit ihrer ganzen Sorgfalt an ihre
Befehle gewöhnt hatte, indem sie das Geweih mit weichen Blumengewinden bedeckte. Sie kämmte
den Hirsch und wusch ihn an einer reinen Quelle. (490) Jener irrte in den Wäldern umher, ihre Hand
duldend und an die Tische seiner Herrin gewöhnt, und begab sich selbst wieder zu den gewohnten
Schwellen nach Hause, obwohl es zu später Nacht war. Diesen in der Ferne umherirrenden Hirsch
beunruhigten die rasenden Hunde des jagenden Iulus, als er zufällig mit der Strömung des Flusses
schwamm ließ und sich am grünenden Ufer die Hitze erträglicher machte. Sogar Ascanius selbst
entflammte im Verlangen nach besonderem Lob und lenkte den Pfeil mit gespanntem Bogen auf ihn.
Auch ein Gott half der irrenden Hand, und getrieben gelangte der Pfeil mit lautem Klang durch den
Bauch und durch die Eingeweide. (500) Doch der Hirsch flüchtete sich verwundet unter das
gewohnte Dach, trat stöhnend in den Stall, blutig erfüllte er mit seinem Wehklagen einem Flehenden
ähnlich das ganze Haus. Die Schwester Silvia, die sich mit den Handflächen auf ihre Oberarme schlug,
rief als erste nach Hilfe, und rief die raubeinigen Bauern zusammen. Jene kamen ahnungslos herbei
(das bittere Übel verbarg sich nämlich in den schweigenden Wäldern): Der einer war bewaffnet mit
einem brennenden Holzscheit, der andere mit einer Keule voller Knoten. Was ein jeder fand, machte
der Zorn für den Suchenden zur Waffe. Tyrrhus rief seine Heereszüge, sobald er zufällig eine Eiche
mit eingetriebenen Spaltkeilen in vier Teile (510) spaltete und schnaubte dabei schrecklich, nachdem
er sein Beil hastig ergriffen hatte.
Doch die wilde Göttin, die zufällig eine günstige Gelegenheit erhalten hatte, um zu schaden, eilte von
ihrer Warte aus zu dem steil aufragenden Dach des Stalls, spielte von ganz oben auf dem Dach das
120
Hirtensignal und ließ ihre unterweltliche Stimme anschwellen, durch die sofort der ganze Hain
erzitterte und die tiefen Wälder erschallten. Es hörte sie weithin der See der Trivia, es hörte sie der
schwefelige Fluss Nar, hell durch sein Wasser, sowie die Quellen des Velinus, und die unruhigen
Mütter drückten ihre Kinder an ihre Brüste. Dann aber liefen zu dem Ton, womit das (520)
unheilvolle Signalhorn das Zeichen gab, die ungezähmten Bauern schnell aus allen Richtungen her
zusammen, nachdem sie hastig ihre Wurfgeschosse ergriffen hatten, und auch die trojanische
Jungmannschaft entströmte dem Ascanius zur Hilfe aus den offenen Lagern. Beide lenkten die
Kampfreihen. Es wurden nicht mehr in einem ländlichen Konflikt harte Lanzen getrieben und vorn in
Feuer gehärtete Speere, sondern sie kämpften mit doppelschneidiger Axt um die Entscheidung und
es versetzte einem weithin die finstere, dichte Menge durch die gezogenen Schwerte in Schrecken.
Die ehernen Waffen leuchteten von der Sonne angestrahlt und reflektierten das Licht unter den
Wolken: Es war so, wie wenn das Meer begann, durch den ersten Wind weiß aufzuschäumen und
sich allmählich erhob, die Wogen höher (530) aufrichtete, und sich dann vom tiefen Grund bis zum
Himmel auftürmte. Jetzt wurde ein junger Mann namens Almo, welcher der größte der Tyrrhussöhne
war, vor der ersten Schlachtreihe von einem rauschenden Pfeil niedergestreckt. Es blieb ihm nämlich
der Pfeil unter der Kehle stecken und schloss den Weg seiner feuchten Stimme und sein zartes Leben
in Blut ein. Viele Körper von Helden fielen ringsum, und auch der alte Galaesus, während er sich für
den Frieden als Mittler angeboten hatte, welcher der einzig äußerst rechtschaffene Mann war und
einst im ausonischen Land der reichste. Er hatte fünf Schafherden, fünf Rinderherden kehrten immer
zurück und mit einhundert Pflügen ließ er die Erde wenden.
(540) Doch während diese Kämpfe unter gleichmäßigem Kriegsglück auf den Feldern geführt wurden,
verließ die mächtige Furie Hesperien, nachdem sie ihr Versprechen eingelöst hatte und sobald sie
den Krieg in Blut getränkt und für Leichen bei den ersten Kämpfen gesorgt hatte. Sie wandte sich
durch die Lüfte des Himmels und sprach als Siegerin mit stolzer Stimme Iuno an: „Sieh, die Zwietracht
wurde für dich in einem finsteren Krieg zustande gebracht. Sage, sie mögen in Freundschaft
zusammenkommen und Bündnisse schließen! Da ich nun einmal die Teucrer mit ausonischem Blut
besprengt habe, will ich diesen auch noch folgendes hinzufügen, wenn mir dein Wille sicher ist: Ich
will durch Gerüchte auch die benachbarten Städte in den Krieg bringen und ich (550) will die
Gemüter mit dem Verlangen wahnsinniger Kriegssucht entflammen, sodass sie von allen Seiten zu
Hilfe kommen mögen. Ich will Waffen über den Feldern zerstreuen!“ Dann antwortete Iuno: „Wir
haben mehr als genug Schrecken und Betrug, die Kriegsgründe stehen, es wird handgemein mit
Waffen gekämpft, und neues Blut benetzt die Waffen, die anfangs der Zufall gegeben hatte. Eine
solche Vermählung und eine solche Hochzeit sollen das ausgezeichnete Geschlecht der Venus und
König Latinus selbst feiern. Der Göttervater, der Beherrscher des höchsten Olymps, will nicht, dass du
121
recht freizügig über den Himmelslüften umherirrst. Weiche von dannen! Ich aber will, wenn es
darüber hinaus noch irgendeinen Verlauf der Strapazen gibt, ihn (560) selbst lenken.“ Solche
Äußerungen gab die Tochter des Saturns von sich. Allecto aber erhob ihre vor lauter Schlangen
zischenden Schwingen und eilte zum Sitz des Cocytus, während sie die oberen, steilen Anhöhen
verließ. Es gibt einen Ort in der Mitte Italiens, am Fuße hoher Berge und sein bekannter Ruf findet an
vielen Küsten Erwähnung: Das Tal des Ampsanctus-Sees. Diesen See bedrängt hier wie dort eine
schwarze Waldseite mit dichtem Laub. In der Mitte gibt ein brausender Sturzbach durch die Felsen
und seinem runden Strudel Lärm von sich. Hier zeigen sich die schreckliche Höhle und das Luftloch
des grimmigen Dis, und ein gewaltiger Abgrund, öffnet beim hervorbrechenden Acheron seine (570)
Verderben bringende Rachen. In ihnen verbarg sich die Furie Erinys – die verhasste Wirkkraft – und
erquickte damit Himmel und Erde.
Um nichts weniger legte die Tochter des Saturns, die Königin der Götter, letzte Hand an den Krieg. Es
stürzte die ganze Schar der Hirten von der Kampfreihe aus in die Stadt. Sie trugen die Gefallenen
zurück: Den Jungen Almo und das Gesicht des entstellten Galaesus. Sie flehten die Götter an und
beschworen Latinus. Turnus war zur Stelle und mitten im Vergehen des Gemetzels und des Feuers
verdoppelte er den Schrecken: Man rufe die Teucrer in den Königspalast, die phrygische
Nachkommenschaft werde beigemischt und er selbst von der Schwelle vertrieben. (580) Dann
versammelten sich die Männer von allen Seiten, deren begeisterte Mütter durch die entlegenen
Hainen für Bacchus Reigentänze aufführten (Amata hieß nämlich aus gutem Grund so), sie liefen
zusammen und ermüdeten den Kriegsgott. Sogleich forderten alle den unsäglichen Krieg entgegen
der Vorzeichen, entgegen der Schicksalssprüche der Götter in Umkehr des göttlichen Willens.
Wetteifernd umstellten sie den Palast des Königs Latinus. Dieser blieb stehen wie ein unbeweglicher
Fels im Meer, wie ein Meeresfelsen unter dem Heranrollen großen Getöses, der sich trotz der vielen
tosenden Wellen ringsum durch seine Masse hält. Vergebens lärmen ringsum Felswände und um die
schäumenden (590) Felsbrocken. Der an seiner Seite angestoßene Seetang ergießt sich in seine
ursprüngliche Position. Sobald sich aber keine Möglichkeit bot, den finsteren Plan zu bewältigen und
die Geschehnisse nach dem Willen der grimmigen Iuno abliefen, sprach der Vater Latinus, nachdem
er vergeblich und vielfach die Götter und die seelenlosen Lüfte als Zeugen angerufen hatte: „Oh, wir
werden durch die Göttersprüche zerbrochen, wir werden von einem Sturm zerschlagen! Ihr selbst
werdet mit eurem fluchbeladenen Blut diese Strafen zahlen, oh ihr Unglücklichen! Auf dich, Turnus –
unsagbar! – wartet eine traurige Hinrichtung. Flehe mit späten Gebeten die Götter an! Denn mir ist
Ruhe verschafft, an der Schwelle des ganzen Hafens werde ich nur eines glücklichen Todes beraubt.“
Mehr hatte er nicht gesprochen, (600) schloss sich in seinem Palast ein und ließ den Dingen ihren
Lauf.
122
Es gab einen Brauch im abendländischen Latium, den gleich anfangs die albanischen Städte als
heiliger Brauch gepflegt hatten, nun verehrt ihn das größte aller Staatswesen, die Stadt Rom, immer
wenn sie den Kriegsgott Mars in die ersten Schlachten bewegt, sei es, dass sie mit ihrer Mannschaft
einen beklagenswerten Angriffskrieg gegen die Geten führen, oder die Hyrcaner oder Araber
angreifen, sei es, dass sie zu den Indern ziehen, Aurora folgen und von den Parthern die Feldzeichen
zurückfordern: Zweifach sind die Tore des Krieges (so nennen sie jene namentlich), heilig aufgrund
der Götterverehrung und aufgrund der Furcht vor dem wilden Kriegsgott Mars. Einhundert eherne
Türriegel verschließen sie, sowie die ewige (610) Kraft des Eisens, und der Wächter Ianus weicht nie
von ihrer Schwelle. Diese Tore öffnet der Konsul selbst, sobald der Kriegsbeschluss für die Väter
feststeht, die knarrenden Türflügel, sich auszeichnend durch das Staatskleid des Quirinus und durch
die gabinische Umgürtung. Er selbst ruft zum Kampf. Ihm folgt dann die übrige Jungmannschaft und
die ehernen Blashorne blasen in dumpf tönender Zustimmung. Durch diesen Brauch bekam damals
auch Latinus befohlen, den Männern des Aeneas den Krieg zu erklären und die finsteren Tore zu
öffnen. Vater Latinus hielt sich von deren Berührung fern, floh abgewandt vor dem hässlichen Dienst
und verbarg sich in finsteren Schatten. (620) Dann glitt Iuno, die Königin der Götter, vom Himmel
herab und bewegte die zögernden Tore mit eigener Hand. Indem sie die Türangel gedreht hatte,
brach die Tochter des Saturns die mit Eisen beschlagenen Pfosten des Krieges auf. Es stand Ausonien
in Aufruhr, das zuvor ruhig und unbeweglich war. Ein Teil bereitete sich darauf vor, zu Fuß über die
Felder zu marschieren, ein anderer Teil raste aufragend und staubig auf hohen Pferden, doch alle
forderten sie Waffen. Ein Teil wischte mit fettem Speck die leichten Rundschilde und die leuchtenden
Lanzenspitzen ab und bearbeitete die Beile an einem Wetzstein. Es erfreute sie die Feldzeichen zu
tragen und den Klang der Trompeten zu hören. Fünf große Städte (630) erneuerten bis dahin ihre
Waffen nachdem sie die Ambosse aufgestellt hatten: das mächtige Atina, das stolze Tibur, Ardea,
Crustumerium und das mit Türmen umkrönte Antemnae. Ein sicherer Helmschutz höhlten sie für den
Kopf aus und bogen Flechtwerke aus Weidenholz für die Schilde. Andere schmiedeten aus zähem
Silber eherne Brustpanzer oder leichte Beinschienen. Hierhin wich die Ehre eines Pflugschars und
einer Sense, hierhin das ganze Verlangen nach einem Pflug. Sie schmolzen die väterlichen Schwerte
in den Schmelzöfen um. Und schon ertönten die Kriegstrompeten, es lief die Losung – das Zeichen
zum Krieg. Hier rafft jemand unruhig den Helm aus seinem Haus, jener zwang die bebenden Pferde
unters Joch, zog das Rundschild sowie den mit drei Golddrähten geflochtenen (640) Brustpanzer an
und umgürtete sich mit dem treuen Schwert.
Öffnet nun den Helikon, Musen, beeinflusst den Gesang darüber, welche Könige zum Krieg
herbeigerufen wurden, welche Kampfreihen wem folgten und die Felder erfüllten, durch welche
123
Kräfte die italische Erde schon damals gütig strotzte und durch welche Waffen sie entbrannte. Ihr
erinnert euch nämlich, Musen, und könnt es erzählen. Zu uns ist kaum ein zartes Gerücht durch die
Luft hindurch geschlüpft.
Als erster schreitet der derbe Mezentius, Verächter der Götter, von der tyrrhenischen Küste
kommend in den Krieg und bewaffnet seine Heereszüge. Direkt neben ihm war sein Sohn Lausus,
woran gemessen kein zweiter schöner war, (650) außer dem Körper des Turnus aus Laurentium.
Lausus, der Pferdebändiger und Bezwinger der wilden Tiere, führte vergebens eintausend ihm
folgende Männer aus der Stadt Agyllina. Er wäre es wert gewesen im Reich seines Vaters glücklicher
zu sein und einen anderen Vater als Mezentius gehabt zu haben.
Hinter diesen Männern zeigte der schöner Aventinus, der Sohn des schönen Hercules, einen
aufgrund eines Palmzweiges auffallenden Wagen, den er durch das Gras fuhr, sowie siegreiche
Pferde. Und auf seinem Rundschild führte er das väterliche Ehrenzeichen: Und eine Hydra, die von
einhundert Schlangen umgeben war. Diesen hat (660) heimlich im Wald, am Hügel Aventinus, die
Priesterin Rhea unter der Zone des Lichtes geboren, nachdem sich die Frau mit einem Gott vereinigt
hatte und nachdem der Sieger aus Tiryns, sobald Geryones ausgelöscht war, die laurentinischen
Fluren erreicht und im tyrrhenischen Fluss die iberischen Rinder gewaschen hatte. Seine Männer
trugen in ihrer Hand Wurfgeschosse und grimmige Lanzen in den Krieg, sie kämpften mit
geschliffenen Dolchen und sabellischem Speer. Aventinus selbst war zu Fuß, während er ein riesiges
Löwenfell schwang; das ungekämmte Fell mit den schrecklichen Borsten und den weißen Zähnen
hatte er sich über den Kopf gezogen und so näherte er sich dem königlichen Palast. Er wirkte
schauderhaft und hatte seine Schultern mit dem herculeischen Umhang umschlungen.
(670) Dann verlassen die Zwillingsbrüder, Catillus und der energische Coras, zwei argivische junge
Männer, die Stadtmauern ihrer Stadt Tibur – sie ist nach ihrem Bruder Tiburtus benannt. Und noch
vor der ersten Kampfreihe stürzten sie sich mitten in die dichten Wurfgeschosse. Es war, wie wenn
zwei Zentauren vom hohen Gipfel eines Berges herabsteigen, während sie den Homole und den
schneeweißen Othrys in schnellem Lauf zurücklassen. Es machte den marschierenden Männern der
gewaltige Wald Platz und das Gebüsch wich ihnen mit lautem Krachen.
Auch der Gründer der Stadt Praeneste war zugegen, von dem das ganze Zeitalter glaubt, er sei von
Volcanus zwischen ländlichem Vieh als König gezeugt und (680) an den Feuerherden gefunden
worden: Caeculus. Diesen begleitete weithin eine bäuerliche Legion: Diejenigen Männer, die das
erhabene Praeneste bewohnten, diejenigen, welche die Fluren der Stadt Gabii, Stadt der Iuno
124
bewohnten, und den eisigen Anio, die aufgrund ihrer Bäche bewässerten hernicischen Felsen, die das
reiche Anagnia ernährte und du, Vater Amasenus. All diesen Männern ertönten weder Waffen noch
Rundschilder oder Wagen. Der größte Teil schleuderte Kugeln aus bläulichem Blei, ein anderer Teil
führte in der Hand zwei Pfeile und hatte rotgelbe Pelzkappen aus Wolfsfell als Bedeckung für den
Kopf. Sie (690) stellten die nackte Sohle des linken Fußes auf den Boden, den anderen Fuß bedeckte
ein frischer Lederstiefel.
Doch Messapus, der Pferdebändiger, Nachkomme des Neptuns, den niemand mit Feuer oder dem
Schwert nach göttlichem Recht niederstrecken darf, rief die schon längst erstarrten Völker und die
nicht mehr an den Krieg gewöhnten Heereszüge plötzlich zu den Waffen und ergriff von neuem sein
Schwert. Dies sind die Schlachtreihen aus Fescennium und Aequi Falisci. Sie besitzen die Burg des
Soracte, die flavinischen Felder, gemeinsam mit dem Berg den See des Ciminus und die Haine von
Capena. Sie schritten in gleichmäßiger Anzahl und priesen den König: Es war, wie wenn sich
manchmal Schwäne zwischen den klaren Wolken (700) von ihrem Weideplatz zurückbegeben und
durch ihre langen Hälse wohlklingende Melodien verlauten lassen: Es ertönte der Strom und der
Sumpf Asiens, der weithin in Bewegung versetzt worden war. Niemand würde glauben, dass die
erzbeschlagenen Schlachtreihen aus einem so großen Haufen erzeugt werden, sondern dass eine
eherne Wolke aus brausenden Vögeln vom hohen Meer aus zur Küste getrieben wird.
Siehe da – Clausus, vom altehrwürdigen Blut der Sabiner, der einen großen Heereszug anführt. Er
selbst ist so gut wie der große Zug. Von ihm ausgehend verbreitet sich nun in ganz Latium der
claudische Tribus und das claudische Geschlecht, nachdem Rom zum Teil den Sabinern gewährt
wurde. (710) Mit ihm gemeinsam marschierte das gewaltiges Gefolge aus der Stadt Amiternum und
die alten Quiriten, eine ganze Mannschaft aus Eretum und aus der oliventragenden Stadt Mutusca.
Und diejenigen, welche die Stadt Nomentum bewohnten, diejenigen, welche die roseischen Länder,
auf dem ausgetrockneten See Velinus gelegen bewohnten, die Felswände des schrecklichen Tetrica,
den Berg Severus, und Casperia, sowie Foruli, und den Fluss Himella, diejenigen, die aus dem Tiber
und dem Fabaris tranken, die das kalte Nursia geschickt hatte, die ortinische Flotte, sowie die
latinischen Völker, welche die Allia – ein unglücklicher Name – trennend durchströmt. Ebenso viele
Fluten wälzte sich auf libyischen Meer, sobald sich der Orion in den winterlichen Wogen verbarg,
(720) oder die dichten Ähren entweder auf den Feldern des Hermus oder auf den rotgelben Fluren
Lyciens von der frühen Sonne geröstet wurden! Die Schilder erklangen und durch den Tritt der Füße
wurde die Erde heftig erschreckt.
125
Hierauf verband ein Mann Agamemnons, Halaesus, Feind der Trojaner, die Pferde mit seinem Wagen
riss für Turnus tausend wilde Völker mit: Diejenigen, die für Bacchus die glücklichen Gebiete am Berg
Massicus mit den Hacken umpflügten und diejenigen, die ihre auruncischen Väter von den hohen
Hügeln geschickt hatten, dicht neben dem sidicinischen Meer, und die, welche Cales verließen, sowie
die Anwohner des seichten Volturnus, und ebenso die derben Saticuler, (730) sowie die Mannschaft
der Oscer. Als Wurfgeschosse haben sie gerundete Wurfspieße, doch es ist Brauch diese an eine
geschmeidige Peitsche anzufügen. Ihre linken Hände bedeckte ein leichter Lederschild, und
handgemein sichelartige Schwerte.
Auch du, Oebalus, wirst in meinem Lied nicht ungenannt bleiben, den angeblich Telon mit der
Nymphe Sebethis gezeugt hatte, als er das Reich der Teleboer, die Insel Capreae, besaß – schon im
fortgeschrittenen Alter. Doch auch der Sohn beschränkte sich nicht auf die väterlichen Fluren und
bedrängte schon damals weithin die sarrastischen Völker mit seiner Macht sowie die Ebene, die der
Fluss Sarnus bewässerte, und diejenigen Völker, die über Rufrae, Batulum und über die Fluren von
Celemna herrschten (740) und diejenigen, auf welche die Stadtmauern des obstreichen Abella
hinabblickten. Nach teutonischem Brauch waren sie es gewohnt Wurfkeulen zu schleudern. Diese
hatten als Kopfbedeckungen von der Korbeiche gerissene Rinde und ihre erzbeschlagenen Schilde
funkelnden, es funkelnde ihr ehernes Schwert.
Und dich hat das gebirgige Nersae in die Schlachten geschickt, Ufens, dich auszeichnend durch
deinen Ruhm und deinen glücklichen Waffen. Dir ist vor allem ein Schrecken erregendes Volk zu
Eigen, das an reichlich Jagd in den Wäldern gewöhnt ist: Die Äquer, die auf harten Erdschollen leben.
Bewaffnet plagen sie das Land, ständig gefällt es ihnen frische Beute mit sich zu schleppen und vom
Geraubten zu leben.
(750) Ja auch der Priester vom Volksstamm der Stadt Marruvium kam und war über seinem Helm mit
Laub und einem glückbringenden Ölbaumzweig geschmückt. Er kam auf Sendung des Königs
Archippus: der äußerst tapfere Umbro. Er war es gewohnt an das Natterngeschlecht und an die
schwer zischenden Wasserschlangen durch seinen Gesang und seine Hand Schlaf zu verteilen. Er
beschwichtigte die Zorneswallungen und linderte nach seiner Kunst den Biss. Doch er vermochte es
nicht, den Stich einer dardanischen Pfeilspitze zu heilen und ihm halfen für die eigene Wunde die
schlafbringenden Gesänge nicht, auch nicht die Kräuter, die in den Marserbergen gesucht wurden.
Dich beweinten der Hain der Angitia, dich der Fucinus-See mit seinen glasklaren Wassern, (760) dich
die anderen klaren Seen.
126
Es marschierte auch der äußerst schöne Nachkomme des Hippolytus im Krieg: Virbius, den seine
Mutter Aricia als ausgezeichneten Mann geschickt hatte. Großgezogen wurde er in den Gebieten
ringsum der feuchten Ufer des Hains der Egeria, wo der fetttriefende und versöhnliche Altar der
Diana steht. Denn die Gerüchte besagen, dass Hippolytus, nachdem er durch die List seiner
Stiefmutter getötet worden war, die Strafen des Vaters mit seinem Blut bezahlt hatte, indem er von
stürmischen Pferden auseinandergezogen wurde, zum Himmelsgestirn und zu den oberen Lüften des
Himmel zurückgekehrt ist: Er sei von Heilkräutern und von seiner Liebe zu Diana zurückgerufen
worden. (770) Dann stieß der allmächtige selbst Vater, der sich darüber entrüstete, dass sich
irgendein Sterblicher von den unterweltlichen Schatten zum Licht des Lebens erhob, den Erfinder
einer solchen Kunst des Heilens mit einem Blitz – ihn, den Spross des Phoebus – in die stygischen
Wasser. Doch die gütige Trivia verbarg Hippolytus in ihrer abgeschiedenen Stätte und schickte ihn zu
den Nymphen und zum Hain der Egeria, wo er allein und unbekannt in den italischen Wäldern die
Zeit verleben konnte und wo er nach einer Namensänderung Virbius sein würde. Daher werden auch
hornfüßige Pferde vom Tempel der Trivia und von ihren geweihten Hainen abgehalten, weil sie an
der Küste den Wagen (780) und den jungen Mann, da sie sich vor Meeresungeheuer fürchteten,
verstreut haben. Nicht weniger trainierte sein Sohn die feurigen Pferde auf der Ebene des Feldes und
stürzte mit seinem Kampfwagen in den Krieg.
Turnus selbst befand sich unter den vorderen Soldaten mit seinem vortrefflichen Körper, während er
seine Waffen hielt und er überragte die anderen um einen ganzen Kopf. Sein hoher Helm mit einem
dreifachen, wallenden Helmbusch trug das Bild einer Chimäre, die aus ihrem Rachen die Feuer des
Ätnas ausblies. Umso mehr brüllte sie, rasend mit ihren düsteren Flammen, je blutiger die Kämpfe
durch das vergeudete Blut wurden. Aber den leichten Rundschild zierte Io (790) golden mit
erhobenen Hörnern, schon mit Borsten dicht bedeckt, schon eine Kuh, eine gewaltige Darstellung,
auch der Bewacher der Jungfrau, Argus, war abgebildet, während der Vater Inachus aus einer
ziselierten Urne einen Strom fließen ließ. Es folgte Turnus eine Wolke von Fußsoldaten und auf den
ganzen Feldern verdichteten sich die Schild tragenden Heereszüge: die argivische Jungmannschaft,
die Mannschaften der Auruncer, die Rutuler und die alten Sicaner, die sacranischen Kampfreihen und
die Labicer mit ihren bunten Schildern. Männer, die deine Waldungen bebauen, Tiberinus, sowie die
heilige Küste des Numicus; welche die rutulischen Hügel mit dem Pflug bearbeiten sowie den
Bergrücken der Circe, Fluren, denen Jupiter Anxurus (800) und Feronia, die sich an ihrem grünenden
Hain erfreut, vorstehen. Wo der finstere Sumpf der Satura liegt und wo der eisige Ufens seinen Weg
durch die tiefen Täler sucht und sich ins Meer ergießt.
127
Oberhalb dieser Heere kam vom Stamm der Volscer die Kriegerin Camilla an, einen Heereszug
bestehend aus Reitern und Scharen führend, die mit mächtiger Bronze gerüstet waren. Sie hat ihre
weiblichen Hände nicht an das Sieb oder an die Körbe der Minerva gewöhnt, sondern als Jungfrau
beschwerliche Schlachten zu erdulden und in ihrem Lauf den Winden zuvorzukommen. Sie könnte
ganz oben über das Gras eines intakten Feldes eilen und die zarten Ähren würden sie im Lauf nicht
verletzen, (810) oder mitten über das Meer rasen, während sie auf der sich auftürmenden Flut
schwebte, und sie würde ihre schnellen Fußsohlen nicht in das Wasser tauchen. Diese bewunderte
die ganze Jugend, die aus den Gebäuden und Feldern ausgeströmt war, sowie die Menge der Mütter
und man blickte der marschierenden nach. Man schaute begierig nach ihr mit erstaunten Gemütern,
wie die königliche Ehre ihre leichten Schultern mit einem Purpurgewand bedeckte, wie eine
Heftnadel in Gold ihr Haar durchflocht, wie sie selbst einen lycischen Köcher führte sowie einen
Hirtenspeer aus Myrte, an dem vorn eine Pfeilspitze befestigt war.
Buch 8
Sobald Turnus für die Laurenter von der Burg aus das Feldzeichen emporgehoben hatte und die
Blashorne mit dumpfem Ton gelärmt hatten, sobald er die energischen Pferde aufgerüttelt und die
Waffen angetrieben hatte waren auf der Stelle die Gemüter aufgewühlt; zugleich schwor ganz Latium
in bebendem Aufruhr den Fahneneid und es wütete die entmenschte Jungmannschaft. Die ersten
Anführer Messapus, Ufens und der Verächter der Götter Mezentius versammelten von allen Seiten
Hilfstruppen und verwüsteten den Bauern die weiten Äcker. Auch Venulus wurde zur Stadt des
großen Diomedes geschickt, (10) um um Hilfe zu bitten und ihn davon zu unterrichten, dass die
Teucrer in Latium Halt gemacht hätten, dass Aeneas mit seiner Flotte gelandet sei und die besiegten
Penaten ins Land trug und dass er behaupten würde, er sei von seinem Schicksal zum König
bestimmt; auch, dass sich viele Stämme mit dem dardanischen Mann verbündeten und sich sein
Name weithin in Latium verbreiten würde. Was er mit seinen Unternehmungen im Schilde führte,
welchen Ausgang des Kampfes er sich wünschte, wenn ihm das Glück hold wäre, das wäre für
Diomedes offenkundiger als es König Turnus oder König Latinus erschien.
Derartige Dinge geschahen überall in Latium. Während der trojanische Held alles sah, schwankte er
aufgrund einer großen Sorgenflut, (20) sein schneller Geist teilte sich bald hierhin bald dorthin auf,
eilte in verschiedene Richtungen und wendete sich durch alle Gedanken, wie das zitternde Licht des
Wassers, sobald es am Kesselrand durch die Sonne oder durch das Bild des strahlenden Mondes
reflektiert wird, weithin alle Orte durchfliegt und sich schon zum Himmel erhebt und zum Getäfel
128
ganz oben an der Decke trifft. Es war Nacht und auf allen Ländern beherrschte der tiefe Schlaf die
erschöpften Lebewesen, die Gattung der Vögel und des Kleinviehs, als sich der Vater Aeneas am Ufer
unter der eiskalten Himmelsachse (30) niederließ, in seinem Gemüt ob des finsteren Krieges bestürzt,
und seinen Gliedern späte Ruhe gewährte. Diesem schien sich der betagte Gott des Ortes, Tiberinus
selbst, aus dem lieblichen Fluss zu erheben, von Pappellaub umkränzt (ihn verhüllte ein dünnes
Leinengewand mit einem bläulichen Umhang und schattiges Schilf bedeckte sein Haar),dann schien
er ihn folgendermaßen anzusprechen und ihm durch diese Worte seine Sorgen abzunehmen: „Oh
Spross vom Stamm der Götter, der du die Stadt Troja aus Feindeshand uns zurückgebracht hast und
das ewige Pergamum hütest, der du auf laurentinischem Boden und auf den latinischen Fluren
erwartet wirst, für dich ist hier ein sicheres Vaterland sowie sichere Penaten (gib nicht auf)! (40)
Erschrecke dich nicht vor den Drohungen des Krieges. Die ganze Unruhe und die Zorneswallungen
sind bei den Göttern gewichen. Und schon wird dir, damit du nicht glaubst, dass der Traum unwahre
Dinge darstellt, eine gewaltige Sau daliegen, die man an den am Ufer befindlichen Steineichen finden
wird. Sie hat eine dreißigköpfige Brut geboren, ruht mit ihrem weißen Fell auf dem Boden und die
weißen Jungen liegen um ihre Zitzen. Hier wird der Ort der Stadt sein, hier die sichere Ruhe von den
Strapazen. Und aufgrund dieses Wunders wird nach Ablauf von dreißig Jahren Ascanius eine Stadt
mit dem berühmten Beinamen ‚Alba‘ gründen. Ich prophezeie nichts Unbekanntes. Nun lehre ich
dich anhand weniger Worte (aufgepasst!) durch welchen Plan du (50) als Sieger bewältigen kannst,
was noch bevorsteht: An diesen Küsten befinden sich die Arcader, ein Stamm der von Pallas seinen
Anfang nahm, die den König Euander als Begleiter haben, seinen Feldzeichen gefolgt sind, einen Ort
ausgewählt und in den Bergen eine Stadt gegründet haben, die Pallanteum heißt, nach dem
Beinamen ihres Ahnherrn Pallas. Diese führen mit dem latinischen Stamm unablässig Krieg. Ziehe
diese als Bundesgenossen heran und schließe einen Vertrag. Ich selbst will dich an den Ufern und
direkt auf dem Fluss führen, so dass du, wenn du gegen den Strom fährst, die Strömung mit den
Rudern überlistest. Wohl an, steh auf, Sohn der Göttin, und wenn die ersten Sterne untergehen, (60)
richte Gebete an Iuno. Überwinde ihren Zorn und ihre Drohungen mit demütigen Gelübden. Mir
wirst du als Sieger die Ehre erweisen. Ich bin derjenige, den du mit seiner vollen Strömung die Ufer
streifen und die fruchtbaren Fluren trennen siehst, ich bin der blaue Thybris, dem Himmel der liebste
Strom. Hier ist mein großes Haus, meine Quelle entspringt emporragenden Städten.“
So sprach er, dann barg sich der Fluss in sein tiefes Wasserbecken und strebte in die Tiefen. Die
Nacht und der Schlaf verließen Aeneas. Er stand auf, das aufgehende Licht der Himmelssonne
erblickend, hielt ordnungsgemäß mit seinen hohlen Handflächen etwas Wasser vom Fluss (70) empor
und ließ derartige Worte gen Himmel verlauten: „Nymphen, laurentinische Nymphen, woher die
Ströme abstammen und du, oh Thybris, Schöpfer, mit deinem heiligen Fluss, nehmt Aeneas an und
129
haltet ihn endlich von den Gefahren fern. Wo dich auch das Wasserbecken in deiner Quellen erfasst,
der du dich meinem Unglück erbarmst, wo du auch als der schönste Strom aus dem Boden trittst,
wirst du immer durch meine Ehrung, immer durch Gaben gefeiert werden, du gehörnter Fluss und
Beherrscher der hesperischen Gewässer. Mögest du nur helfen, deine Wirkmacht näher bekräftigen.“
So sprach er und wählte zwei Doppelruderer von seiner Flotte aus, (80) machte ihnen das Ruderwerk
segelfertig und rüstete gleichzeitig seine Kameraden mit Waffen aus.
Doch sieh da – ein plötzliches und für die Augen erstaunliches Wunder, eine weiße Sau lag
gleichfarbig mit ihrer weißen Brut im Wald und wurde am grünenden Ufer erblickt, welche dir
nämlich der pflichtbewusste Aeneas schlachtet, dir, erhabenste Iuno, indem er ein Opfer darbringt
und mit einer Herde an den Altar tritt. Der Thybris hat in dieser Nacht – wie lang sie ist – seinen
anschwellenden Fluss besänftigt und die stillen Wogen zurückfließend so aufgehalten, dass er über
seine Wasser eine sanfte Oberfläche hinbreitete in der Art eines Teichs oder eines ruhigen Sumpfes,
so dass es für das Ruder keine Anstrengung mehr gab. (90) Also eilten sie auf dem eingeschlagenen
Weg unter günstigem Zuruf. Das bunte Schiff glitt auf den Gewässern. Es wunderten sich auch die
Wogen, es wunderte sich der Hain, der nicht an die weithin strahlenden Schilde der Männer gewöhnt
war, auch nicht daran, dass bemalte Schiffe auf dem Fluss schwammen. Die Männer ermüdeten mit
ihrem Ruder Tag und Nacht und überwandten die großen Mäander, wurden von verschiedenen
Bäumen bedeckt, und schnitten sich auf sanfter Wasseroberfläche durch die grünenden Wälder. Die
feurige Sonne hatte die Mitte ihrer Himmelsbahn erklommen, als sie in der Ferne Stadtmauern, eine
Burg und vereinzelt Hausdächer sahen, die heute die römische Macht bis zum Himmel (100) getürmt
hat, damals besaß die mittelose Siedlung Euander. Sogleich wendeten sie die Vorderschiffe zum Ufer
und näherten sich der Stadt.
Zufällig hielt der arcadische König eine alljährliche Ehrung für den großen Hercules und für die Götter
in einem Hain vor der Stadt ab. Gemeinsam mit ihm gaben sein Sohn, alle Anführer der jungen
Männer und der arme Senat Weihrauch dar; warmes Blut dampfte von den Altären. Sowie sie die
aufragenden Schiffe sahen, wie sie inmitten des schattigen Hains heran glitten und sich die Männer
still in die Ruder stemmten, wurden sie von dem plötzlichen Anblick erschreckt und (110) erhoben
sich alle, nachdem sie die Tische verlassen hatten. Der kühne Pallas verbot ihnen die Opfer zu
unterbrechen und eilte selbst den Neuankömmlingen mit einer hastig ergriffenen Waffe entgegen.
Von einem Hügel in der Ferne sagte er: „Junge Männer, welche Gründe nötigen euch dazu
unbekannte Wege zu prüfen? Wohin zieht ihr? Welches Geschlecht seid ihr? Von welchem Vaterland
kommt ihr? Bringt ihr Krieg oder Frieden her?“ Dann sagte der Vater Aeneas vom hohen Schiffsheck
aus Folgendes und streckte in seiner Hand einen Zweig des friedenbringenden Ölbaums vor: „Du
130
siehst Trojaner und den Latinern feindliche Waffen, die uns Flüchtlinge in einem überheblichen Krieg
gejagt haben. Wir eilen zu Euander. Berichtet ihm das und sagt, dass ausgewählte Führer (120) Trojas
gekommen seien und um ein Waffenbündnis bitten würden.“ Pallas erstarrte vor Schreck, der ob des
so großen Namens erschüttert war. „Geh von Bord“, sagte er, „wer immer du bist und sprich meinen
Vater Angesicht zu Angesicht an. Nähere dich als Gastfreund unseren Penaten.“ Er reichte ihm die
Hand und nachdem er dessen Rechte umschlungen hatte, drückte er sie. Während sie vorrückten
gingen sie zum Hain und verließen den Fluss.
Dann sprach Aeneas den König mit freundlichen Worten an: „Bester Griechensohn, den ich, so wollte
es Fortuna, bitten und mit Binden geschmückte Zweige vorstrecken sollte. Ich bin freilich nicht in
Furcht geraten, weil du der Anführer der Danaer und Arcade bist, (130) auch nicht, weil du ebenso
vom Stamm der beiden Atriden entsprossen bist. Doch mich haben meine Tugend und die heiligen
Orakel der Götter sowie die gemeinsamen Ahnen, dein Ruhm, den du über die Ländereien verteilt
hast, mit dir verbunden und mit ihren Göttersprüchen haben sie mich willig zu dir getrieben.
Dardanus, der erste Ahn und Gründer der trojanischen Stadt und, wie es die Griechen berichten, von
der Atlastochter Elektra geboren, fuhr in das Gebiet der Teucrer. Der äußerst erhabene Atlas, der das
Himmelsgewölbe auf den Schultern trägt, brachte Elektra hervor. Ihr habt Mercur zum Vater, den die
weiße Maia am eisigen Gipfel des Cyllene-Gebirges hervorbrachte. (140) Maia wiederum, wenn wir
etwas von dem Gehörten glauben, hatte Atlas gezeugt, derselbe Atlas, der das Gestirn des Himmels
erhebt. So spaltet sich das Geschlecht von uns beiden aus ein und demselben Blut. Darauf vertrauend
habe ich keine Gesandten, auch keine ersten Erkundungen nach der Regeln der Kunst über dich
bestimmt. Ich lieferte dir mich, mich selbst und mein Haupt aus und kam demütig zu deiner Schwelle.
Das gleiche Geschlecht des Daunus, welches dich in einem grausamen Krieg verfolgt, verfolgt auch
uns. Wenn sie uns vertrieben, stünde nichts mehr im Wege, so glauben sie, freilich ganz Hesperien
völlig zu unterjochen und sowohl das Meer zu besitzen, das oberhalb, als auch das Meer, dass
unterhalb die Küste bespült. (150) Nimm meines entgegen und gib mir dein Vertrauen! Wir haben
tapfere Gemüter im Krieg, wir haben Mut und eine Jungend, die sich in diesen Verhältnissen bewährt
hat.“
Das sagte Aeneas. Euander musterte mit seinem Blick schon längst das Gesicht, die Augen und den
ganzen Körper des Sprechenden. Dann antwortete er ihm auf diese Weise wenige Dinge: „Wie gern
ich dich, Tapferster der Teucrer, empfange und anerkenne! Wie ich mich an die Worte, die Stimme
und an das Gesicht deines erhabenen Vaters Anchises erinnere! Denn ich erinnere mich an Priamus,
Sohn des Laomedon, wie er das Königreich seiner Schwester besuchte, nach Salamis eilte und sofort
das kalte Gebiet Arkadiens aufsuchte. (160) Damals schmückte mir die frühe Jugend meine Wangen
131
mit dem ersten Bart und ich pflegte die teucrischen Anführer zu bewundern. Ich bewunderte den
Sohn des Laomedon selbst. Doch Anchises schritt erhabener als alle anderen einher. Mir brannte der
Sinn in jugendlichem Verlangen den Mann anzusprechen und einander die Hände zu geben. Ich ging
hin und führte ihn begierig an die Stadtmauern von Pheneus. Im Weggehen schenkte er mir einen
hervorragenden Köcher, lycische Pfeile und einen Mantel, der mit Gold durchwirkt war sowie zwei
goldene Zügel, die nun mein Pallas hat. Daher ist zum einen meine Rechte, die ihr erstrebt, bereits
vertraglich mit euch verbunden und (170) zum anderen werde ich euch, sobald das morgige Licht
zum ersten Mal über der Erde zurückkehrt, glücklich über die Hilfe entlassen und euch durch meine
Mittel erfreuen. Inzwischen feiert mit uns voller Inbrunst, weil ihr ja hierher als Freunde gekommen
seid, diese alljährlichen Opfer, die man nach göttlichem Recht nicht verschieben darf, und gewöhnt
euch schon jetzt an die Tafeln eurer Bundesgenossen.“
Sobald er diese Worte gesprochen hatte, befahl er, dass die Speisen und die weggeräumten Becher
zurückgestellt werden, und setze die Männer selbst auf einen mit Gras gepolsterten Sitz. Er empfing
den vorzüglichen Aeneas auf einem Lager mit einem zottigen Löwenfell und lud ihn zu sich an den
Thron aus Ahorn ein. Dann trugen wetteifernd ausgewählte, junge Männer und der Priester der
Altäre (180) geröstete Eingeweide von Stieren herbei, schmückten die Körbchen mit Brotgaben und
warteten mit Wein auf. Es verspeiste Aeneas zusammen mit der trojanischen Jugend den Rücken
eines ganzen Rindes sowie die zum Sühneopfer gehörenden Eingeweide.
Nachdem der Hunger gestillt und die Speiselust unterdrückt war, sprach König Eunander: „Diese
Jahresfeier, dieses ordnungsgemäß durchgeführte Festmahl, dieser Altar einer so großen Wirkkraft
hat uns nicht inhaltloser Aberglaube, unkundig um die altehrwürdigen Götter auferlegt: Von
grimmigen Gefahren gerettet, trojanischer Gast, machen wir uns verdient und erneuern die Ehren.
(190) Nun, erblicke zuerst diesen Felsen, der von der Klippe ragt, wie zersprengt die Gesteinsmassen
sind, wie verlassen die Behausung des Berges dasteht und wie die Felsen eine gewaltige Ruine bilden.
Hier war eine Höhle, die sich tief in den öden Schlupfwinkel zog, welche die finstere Gestalt des
Halbmenschen Cacus besaß – unerreichbar für die Strahlen der Sonne. Stets war die Erde warm von
frischem Blut und an die überheblichen Türflügel waren die Schädel der Männer befestigt und hingen
fahl mit finsterer Jauche herab. Dieses Ungeheuer hatte Volcanus zum Vater. Während er dessen
finstere Feuer aus dem Maul spie bewegte er seine große Masse fort. (200) Auch uns, die wir es uns
wünschten, brachte die Zeit irgendwann einmal Hilfe und die Ankunft eines Gottes. Denn es kam der
größte Rächer, stolz durch den Tod und die Beute des dreigestaltigen Geryones, der Alcide, und trieb
hier gewaltige Stiere. Die Rinder besetzten Tal und Strom. Doch das wilde Gemüt des Diebes Cacus
entwendete vier Stiere mit einem ausgezeichnetem Körper aus ihren Ställen, damit kein Verbrechen
132
oder keine List unversucht und unberührt blieb, und er entwendete ebenso viele Kühe von
herausragender Schönheit. Und nachdem er diese, damit durch die vorwärts gerichteten
Fußabdrücke keine Spur entstand, am (210) Schwanz in seine Höhle geführt hatte und die Spuren in
die entgegengesetzte Richtung zeigten, verhüllte sie der Räuber in seinem schattigen Felsen. Als
unterdessen Hercules die bereits gesättigte Herde aus den Stallungen trieb und sie für den Aufbruch
vorbereitete, muhten die Rinder im Weggehen, erfüllten den ganzen Hain mit ihren Klagen und
verließen die Hügel mit Geschrei. Eine der Kühe antwortete, muhte unten in der öden Höhle und
machte als Bewachte die Hoffnung des Cacus zunichte. Jetzt aber entbrannte dem Alciden die Wut
und der Schmerz durch seinen schwarzen (220) Zorn: Hastig ergriff er mit der Hand die Waffe, ein mit
Knoten beschwertes Hartholz und strebte im Laufschritt zur Anhöhe des in den Himmel ragenden
Berges. Damals schien uns Cacus zum ersten Mal sich zu fürchten und in seinen Augen verwirrt zu
sein. Sogleich flüchtete er schneller als der Eurus und eilte zu seiner Höhle. Die Furcht verlieh seinen
Füßen Flügel. Sobald er sich eingeschlossen hatte, und nachdem die Ketten durchbrochen waren, er
einen gewaltigen Felsen herabstürzen ließ, der zuvor an einer Eisenkette – einem väterlichen
Kunstwerk hing, und er die gestützten Türpfosten mit diesem als Querbalken vermauerte – sieh da! –
da war der Tirynthiner zur Stelle, in seinem Gemüt rasend, und den ganzen Zugang musternd richtete
er seinen Blick hierhin und dorthin, (230) während er mit seinen Zähnen knirschte. Dreimal musterte
er den ganzen Berg des Aventinus, kochend vor Zorn. Dreimal prüfte er vergebens den felsigen
Eingang, dreimal zog er sich erschöpft im Tal zurück. Da stand ein scharfer Kieselstein mit schroffen
Felsen auf allen Seiten, der sich am Rücken der Höhle erhob, äußerst hoch anzusehen. Er war ein
günstiger Platz für Nester von finsteren Vögeln. Diesen, weil er sich vornüber vom Bergrücken zum
Fluss zu seiner Linken neigte, erschütterte Hercules, indem er sich rechts in die Gegenrichtung
stemmte, und lockerte ihn, nachdem er ihn von seinen tiefen Wurzeln losgerissen hatte. Dann stieß
er ihn plötzlich fort. Durch den Stoß tönte der äußerst erhabene Himmel, (240) die Ufer sprangen
auseinander und der Fluss floss erschreckt zurück. Doch die Höhle und der gewaltige, verdeckte
Königssitz des Cacus öffneten sich. Die schattigen Höhlungen standen weit offen, nicht anders, als
wenn sich die Erde durch irgendeine Gewalt spaltet, die unterweltlichen Stätten öffnet, das fahle
Königreich erschließt, das den Göttern verhasst ist, worüber man einen gewaltiger Schlund erkennt,
und die Totengeister ob des hineingelassenen Lichts zittern. Von oben brachte der Alcide den vom
unerwarteten Licht also plötzlich erfassten, im hohlen Stein eingeschlossenen und Ungewöhnliches
brüllenden Cacus in Bedrängnis, (250) zog alle Waffen heran und drohte ihm mit Zweigen und
gewaltigen Steinblöcken. Jener allerdings (entsetzlich!) spie aus seinem Rachen gewaltigen Rauch,
weil es nämlich keine Fluchtmöglichkeit aus der Gefahr mehr gab, und hüllte seine Wohnung in
dichten Nebel, während er den Augen den Blick raubte. Unten in der Höhle ballte er eine rauchende
Nacht zusammen, indem sich das Feuer mit der Finsternis vermischte. Das ertrug der Alcide in
133
seinem Gemüt nicht, warf sich selbst im Kopfsprung durch das Feuer, wo der Rauch am dichtesten
wogte und wo die gewaltige Höhle in finsterem Nebel wallte. Dort (260) ergriff er Cacus, der in der
Finsternis vergebliche Feuer spie, umschlang seinen Kehlkopf und würgte ihn an ihm hängend, bis
jenem die Augen hervortraten und die Kehle blutleer war. Es öffnete sich augenblicklich die finstere
Behausung, nachdem die Türpfosten aufgebrochen worden waren; es zeigten sich die entführten
Rinder sowie die geleugneten Raubzüge dem Himmel und der hässliche Leichnam des Cacus wurde
an den Füßen hervorgezogen. Die Gemüter konnten sich nicht an den schrecklichen Augen, an
seinem Gesicht, an der von Borsten zottigen Brust des Halbtiers und an den im Rachen erloschenen
Feuern sattsehen. Seit diesem Tag werden die Ehrungen gefeiert und frohgestimmt bewahrten die
Nachkommen den Tag. Der erste Urheber war Potitius (270) und das Haus des Pinarius errichtete als
Wächter des Herculeskultes diesen Altar im Hain, der von uns stets der größte genannt werden wird
und stets der größte sein wird. Daher wohlan, ihr jungen Männer, umkränzt im Dienst so großer
Ruhmestaten euer Haar mit Laub, streckt mit eurer Rechten den Becher hin, ruft den gemeinsamen
Gott und schenkt willig Wein.“ So sprach er, als die zweifarbige Pappel ihm das Haar mit einem
Schatten bedeckte, wie damals Hercules, und mit Blättern umschlungen herabhing. Ein heiliger
Becher füllte seine Rechte aus. Sogleich gossen alle frohgestimmt das Trankopfer auf den Tisch und
beteten zu den Göttern. (280) Unterdessen war der Abendstern recht nahe, nachdem der Himmel
untergegangen war. Schon marschierten die Priester und voran Potitius, nach Brauch mit Fellen
umgürtet, und trugen Feuer. Sie nahmen das Mahl wieder auf, brachten willkommene Gaben für den
Nachttisch und häuften geschmückte Schalen auf die Altäre. Dann kamen die Salier zum Gesang um
die brennenden Altäre herbei; an den Schläfen waren sie mit Pappellaub umkränzt. Dies ist der
Reigen der jungen Männer, jener der, der alten, die im Gesang die Verdienste und Taten des Hercules
berichteten: Wie er die ersten Ungeheuer der Stiefmutter mit eigener Hand erwürgend sowie die
doppelten Schlange vernichtet hatte, (290) wie derselbe im Krieg hervorragende Städte
zerschmettert hatte, Troja und Oechalia, wie er tausend harte Mühen unter König Eurystheus durch
die Göttersprüche der ungerechten Iuno vollbracht hatte. Du Unbesiegter hast die zweigliedrigen
Wolkensöhne, nämlich Hylaeus und Pholus mit eigener Hand geschlachtet, du die Ungeheuer der
Insel Kreta und den riesigen Löwen unter dem nemäischen Felsen. Vor dir erzittern die Wasser des
Styx, vor dir der Pförtner des Orcus, der in der blutigen Höhle auf halbverzehrten Knochen ruht.
Keine einzige Gestalt erschreckte dich, nicht einmal Typhoeus selbst, der steil aufragend seine
Waffen hielt. (300) Nicht hat dich die lernäische Schlange mit der Menge ihrer Köpfe rings
angegriffen, ohne dass du einen Plan gehabt hättest. Sei gegrüßt, wahrer Spross des Iupiters, füge
den Göttern Glanz hinzu, und komme günstig zu uns und deinem Kult mit gewogenem Schritt.“
Derartiges priesen sie in ihren Gesängen. Über all das hinaus fügten sie die Höhle des Cacus hinzu
sowie das feuerspeienden Ungeheuer selbst. Es erschallte der ganze Hain durch das Getöse, auch die
134
Hügel hallten wider. Nachdem alle göttliche Riten vollenden worden waren, begaben sich darauf all
zurück zur Stadt. Der König marschierte vom Alter gebeugt und hatte gleich daneben Aeneas als
Begleiter sowie seinen Sohn und während er einher schritt, machte er sich den Weg durch ein buntes
Gespräch leichter. (310) Es bestaunte und ließ seinen leichten Blick über alles um ihn herum
schweifen Aeneas, er wurde von den Örtlichkeiten gefangen genommen und fragte frohgestimmt
nach den einzelnen Überlieferung der früheren Helden und vernahm sie. Dann sagte König Euander,
der Gründer der römischen Burg: „Diese Haine besaßen die eingeborenen Faune und die Nymphen
und ein Heldenvolk aus Baumstämmen und harten Kernholz geboren, die weder eine Sitte noch eine
Kultur hatten. Sie wussten nicht, wie man Stiere an den Wagen spannt, oder wie man Vorräte anlegt,
oder Erworbenes schont. Doch Zweige und die raue Jagd bildete ihre Lebensgrundlage. Als erster
kam vom in den Himmel ragenden Olymp Saturnus herbei, weil er vor den (320) Waffen des Jupiters
floh und nachdem er als Verbannter sein Königreich verloren hatte. Dieses unbelehrbare Geschlecht,
das über die hohen Berge verstreut war, ordnete er und gab ihm Gesetze. Er wollte das Land lieber
Latium nennen, da er sich ja an diesen Küsten sicher verborgen hatte. Golden, wie man von ihnen
sagt, waren die Zeitalter unter jenem König: So herrschte er über die Völker in sanftem Frieden, bis
allmählich ein schlechteres und entfärbtes Zeitalter, sowie die Raserei des Krieges und das Verlangen
nach Besitz nachfolgten. Dann kamen eine ausonische Mannschaft und Sicanervölker und des
Öfteren legte die saturnische Erde ihren Namen ab. (330) Dann kamen Könige und der wilde Thybris
mit seinem gewaltigen Körper, nach diesem Namen nannten wir Italer den Fluss Thybris. Die
ehemalige ‚Albula‘ verlor indessen ihren Namen. Mich, der ich aus der Heimat vertrieben war und die
den äußersten Winkeln des Meeres befuhr setzten die allmächtige Fortuna und das unabwendbare
Fatum an diese Gegenden, und die furchtbaren Ermahnung meiner Mutter, der Nymphe Carmentis,
und der Gott und Urheber Apollon trieben mich hierher.“
Kaum waren diese Worte gesprochen, schritt Euander von hier aus vor und zeigte den Altar und das
Tor, welches die Römer Porta Carmentalis nennen, eine altehrwürdige Ehre der Nymphe Carmentis,
(340) der schicksalsverkündenden Seherin, die als erste die kommenden, erhabenen Aeneaden sowie
das bekannte Pallanteum prophezeite. Darauf zeigte er einen gewaltigen Hain, den der energische
Romulus zu einem Asylum machte, und unter einem eisigen Felsen das Lupercal, das nach
parrhasischem Brauch Pan Lycaeon genannt wird. Ebenfalls zeigte er den Hain des heiligen
Argiletum, rief den Ort als Zeugen an und belehrte Aeneas über den Tod seines Gastfreundes Argus.
Von dort führte er sie zum Sitz der Tarpeia und zum Kapitol, das nun golden ist, einst starrte es vor
wild wachsendem Dornengestrüpp. Schon damals erschreckte die (350) heilige Gottesfrucht des
Ortes die ängstlichen Bauern, schon damals bebten sie vor Wald und Fels. Euander sagte: „Diesen
Hain, diesen Hügel bewohnt ein Gott an dessen belaubtem Gipfel (welcher Gott ist ungewiss). Die
135
Arcader glauben, sie hätten Jupiter selbst gesehen, wenn er oft die schwarze Ägis schüttelte und die
Sturmwolken in Bewegung setzte. Darüber hinaus siehst du diese zwei Festungen mit ihren
zerstörten Stadtmauern, die Überreste und die Zeitzeugen alter Helden. Die eine Burg gründete der
Vater Ianus, die andere Saturnus. Diese hatte den Namen Ianiculum, jene den Namen Saturnia.“
Nachdem sie solches untereinander gesprochen hatten näherten sie sich dem Palast (360) des armen
Euanders. Weit und breit sahen sie Rinder muhen, dort, wo heute das Forum Romanum ist und das
feine Carinae. Sobald man zu dem Königssitz gekommen war, sprach Euander: „Durch diese Tür ist
der Alcide als Sieger eingetreten, dieser Palast nahm ihn auf. Wage es, mein Gastfreund, Reichtum zu
verachten, erweise auch dich des Gottes würdig und komme ohne abweisend gegenüber meinem
bedürftigen Anwesen zu sein.“ So sprach er und führte den großen Aeneas unter das Dach seines
engen Hauses, ließ den sich bettenden auf ausgebreiteten Blättern und dem Fell einer libyschen
Bärin Platz nehmen. Die Nacht brach herein und umschlang die Erde mit ihren schwarzen Schwingen.
(370) Doch die Mutter Venus, die in ihrem Herzen nicht ohne Grund erschrocken und ob der
Drohungen der Laurenter und des beschwerlichen Aufruhrs bewegt war, sprach Volcanus an,
unternahm im goldenen Schlafzimmer ihres Gatten Folgendes und hauchte ihm mit diesen Worten
ihre göttliche Liebe ein: „Als die argolischen Könige im Krieg Pergamum verdienter Maßen zerstörten
und die feindlichen Burgen in Bränden zum Fallen bestimmt waren, habe ich um keine einzige Hilfe
für die Unglücklichen, um keine Waffen deiner Kunst und deiner Mittel gebeten, und wollte nicht,
dass du, mein teuerster Gatte, vergeblich deine Arbeiten ausübst, obwohl ich den Söhnen des
Priamus zahlreiches schuldete, (380) und die beschwerliche Strapaze des Aeneas oft beweint habe.
Nun macht er nach den Weisungen des Jupiters an den Gestaden der Rutuler Halt. Also komme
demütig bittend auf demselben Wege und bitte deine mir heilige Wirkkraft um Waffen – die Mutter
für den Sohn. Dich konnte die Tochter des Nereus, dich mit ihren Tränen die Gattin des Tithonus
umstimmen. Schau, welche Völker im Krieg zusammenkommen, welche Städte ihr Schwert hinter
verschlossenen Toren schärfen, zu meinem und der meinen Untergang.“ So sprach sie und durch ihre
sanfte Umarmung mit ihren schneeweißen Oberarmen heizte die Göttin ihrem zögernden Mann von
beiden Seiten ein. Plötzlich nahm er die gewohnte Liebesglut auf, die bekannte Wärme (390) strömte
in sein Mark und durchlief seine erweichten Glieder, nicht anders als wenn bisweilen bei blitzendem
Donner ein feuriger Riss, der durchgebrochen ist, mit seinem Licht funkelnd durch die Wolken eilt.
Das spürte die Gattin zufrieden über ihre List und um ihre Schönheit wissend. Dann sprach Vater
Volcanus von ewiger Liebe besiegt: „Weshalb holst du Gründe so weit her? Wohin ist dein Vertrauen
zu mir gewichen, Göttin? Wenn damals deine Sorge ähnlich groß gewesen wäre, hätte wir auch
damals die Teucrer nach göttlichem Recht bewaffnen können. Weder der allmächtige Vater noch die
Göttersprüche verbaten es, dass Troja stand und dass es Priamus noch zehn weitere Jahre geben
136
sollte. (400) Und nun, wenn du dich darauf vorbereitest zu kämpfen und dir so der Sinn steht, kann
ich deinen Sorgen alles was meine Kunst hergibt, alles, was aus Eisen oder flüssigem Elektron
entstehen kann, wie sehr es die Feuer und die Blasebälge vermögen, versprechen. Höre auf durch
dein Bitten an deinen Kräften zu zweifeln.“ Nachdem er diese Worte gesprochen hatte, erwiderte er
die gewünschten Umarmungen und strebte für seine Glieder einen sanften Schlaf an, nachdem er in
den Schoß seiner Frau eingedrungen war.
Sobald darauf die erste Ruhe schon mitten im Lauf der fortgetriebenen Nacht den Schlaf vertrieben
hatte, als zuerst eine Frau, der es (410) auferlegt ist, ihr Leben mit dem Sieb und der dünnen Kunst
der Minerva zu ertragen, die Asche und die eingeschlafenen Feuer aufweckt, während sie die Nacht
für ihre Arbeit verwendet und die Dienerinnen bei Feuerschein mit einer langen Aufgabe plagt, damit
sie das keusche Lager ihres Mannes bewahren und die kleinen Kinder großziehen konnte: Nicht
anders und nicht säumiger erhebt sich der Feuerbeherrscher zu jener Zeit vom sanften Lager zur
handwerklichen Arbeit. Dicht neben der sizilianischen Flanke und neben dem aeolischen Liparen
erhebt sich eine steile Insel mit rauchenden Felsen. Unter dieser tönen eine Höhle und die
ausgehöhlten Grotten des Ätna ob der Schmelzöfen der Zyklopen. Es waren die starken Schläge auf
die Ambosse (420) zu hören, sie ließen ein Stöhnen zurückschallen, in den Höhlungen zischte die
glühende Eisenmasse der Chalyber und das Feuer schnaubte aus den Schmelzöfen hervor. Es war das
Haus des Volcanus und die Erde mit dem Namen Volcania. Hierhin stieg damals der Feuerbeherrscher
vom hohen Himmel her ab. In der riesigen Höhle bearbeiteten die Cyclopen das Eisen: Brontes,
Steropes und mit nackten Gliedern Pyragmon. In ihrem Händen hielten sie einen geformten Blitz, der
zum Teil schon geglättet war, wie sie der Schöpfer zahlreich vom ganzen Himmel auf die Erde herab
wirft. Der Rest blieb noch unvollendet. Drei Strahlen des krausen Gewitterregens, drei wasserreiche
Wolken (430) hatten sie hinzugefügt, sowie drei Strahlen des rötlichen Feuers und des geflügelten
Südwinds. Nun mischten sie schreckliche Blitze, Getöse und Furcht dem Werk bei und Zorn unter die
beweglichen Flammen. In einem anderen Bereich arbeiteten sie eifrig an einem Streitwagen des
Mars und an den geflügelten Rädern, durch die jener Helden und Städte antreibt. Eine schreckliche
Ägis und Waffen der erzürnten Pallas, verfeinerten sie wetteifernd mit Schlangenschuppen und Gold
und sie verfeinerten die verknüpften Schlangen sowie Gorgo, in der Brust der Göttin selbst, die
obwohl ihr Hals abgeschnitten war, die Augen rollte. „Räumt alles weg“, sagte Volcanus, „tragt sie
begonnenen Arbeiten weg, (440) ätnäische Zyklopen, und lenkt euren Geist hierher: Es sind Waffen
für einen energischen Mann herzustellen. Nun sind eure Kräfte nötig, nun eure schnellen Hände, nun
eure ganze Lehrmeisterin, die Kunst. Die Sache duldet keinen Aufschub!“ Mehr hatte er nicht
gesprochen, doch all jene strengten sich sogleich an, nachdem sie durch ein Losverfahren die Arbeit
gleichmäßig verteilt hatten. Das Erz floss in Bächen. Das Metall des Goldes und der Wunden
137
verursachende Stahl schmolzen im riesigen Schmelzofen. Sie formten einen gewaltigen Rundschild,
einen gegen alle Waffen der Latiner, [sie fügten siebenmal Rundung auf Rundung.] 1 Andere (450)
saugten mit ihren windigen Blasebälgen die Luft ein und stießen sie wieder aus, andere tauchten das
zischende Erz in das Wasserbecken. Die Höhle stöhnte vor lauter geschlagenen Ambossen. Die
Männer hoben untereinander ihre Arme mit viel Kraft im Takt, und wendeten die Masse mit der
festhaltenden Zange.
Während sich der Vater Volcanus mit diesen Aufgaben an den aeolischen Gestaden beeilte,
scheuchte das gütige Licht und die morgendlichen Gesänge der Vögel unter dem Giebel Euander aus
seinem weichen Bett. Der ältere Mann stand auf, zog die Tunika seinen Gliedern an und wickelte
tyrrhenische Bänder um seine Fußsohlen. Dann befestigte er an der Seite und an den Schultern sein
tegäisches Schwert, während er das Fell eines Panthers, (460) das von seiner linken Schulter
herabhing, zurückschleuderte. Auch die beiden Wachhunde schritten von der hohen Schwelle voran
und begleiteten den Schritt ihres Herrchens. Der Held Euander eilte zur Stätte und zum
abgesonderten Gemach seines Gastes Aeneas und erinnerten sich an die Gespräche und an die
versprochene Gefälligkeit. Um nichts weniger stand Aeneas früh am Morgen auf. Euander begleitete
sein Sohn Pallas, Aeneas begleitete Achates. Nachdem sie zusammengekommen waren, reichten sie
sich die Hand, setzten im mittleren Bereich des Palastes und erfreuten sich am endlich vergönnten
Gespräch. Zuerst sprach der König dieses: (470) „Größter Führer der Teucrer, solange du
wohlbehalten bist, werde ich freilich nie gestehen, dass das Staatswesen Trojas oder das Königreich
besiegt ist. Wir haben gemessen an unserem so großen Namen unbedeutende Streitkräfte als
Kriegshilfe. Hier werden wir vom etruskischen Fluss eingeschlossen, von dort bedrängt uns der
Rutuler und umtost unsere Stadtmauer mit seinen Waffen. Doch ich habe vor, gewaltige Völker und
in ihren Königreichen mächtige Festungen mit dir zu verbinden, die der unvermutete Zufall als
Rettung in Aussicht stellt: Aufgrund deiner fordernden Göttersprüche begibst du dich hierhin. Nicht
weit von hier wird das auf einem alten Felsen gegründete Siedlungsgebiet der Stadt Agylla bewohnt,
wo einst der lydische (480) Stamm, hochberühmt im Krieg, die etruskischen Bergrücken bewohnte.
Der König Mezentius besaß sie darauf, die viele Jahre lang blühte, unter seiner überheblichen
Herrschaft und grausamen Waffen. Wozu soll ich die unsäglichen Morde erwähnen, wozu die wilden
Taten des Tyrannen? Mögen es die Götter ihm und seinem Sohn vergelten! Ja, er hat sogar die toten
Körper mit lebenden verbunden, indem er sie Hand an Hand und Mund an Mund zusammenstellte,
als eine Art der Folter, und so tötete er die vor Eiter und Jauche triefenden Menschen in elender
Umarmung in einem langen Tod. Doch die endlich erschöpften Bürger umzingelten (490) bewaffnet
1
cf. Gottwein (http://www.gottwein.de/Lat/verg/aen08de.php)
138
den unsäglich Rasenden seinen Palast selbst, metzelten seine Verbündeten nieder und warfen
Brandfackeln ans Dach. Jener, der mitten im Blutbad der entkommen war, floh zum Gebiet der
Rutuler und wurde von den Waffen seines Gastfreundes Turnus verteidigt. Also erhob sich ganz
Etrurien in gerechter Raserei und forderte unter Kriegsandrohung den König für dessen Hinrichtung
zurück. Diesen Soldaten, Aeneas, will ich dich als deren Anführer hinzufügen. Denn an der ganzen
Küste lärmen die dicht gedrängten Schiffe und man befiehlt die Zeichen zu geben, doch ein
hochbetagter Vogelschauer hält sie zurück, indem er die Göttersprüche verkündet: „Auch
ausgewählte Jugend Etruriens, (500) die Blüte und die Tugend der alten Helden, die euch der
gerechte Schmerz gegen den Feind marschieren lässt und die euch Mezentius in verdientem Zorn
entflammt hat, kein Italer hat das göttliche Recht ein so großes Volk zu interjochen: Wählt euch
auswärtige Anführer!“ Dann zog sich die etruskische Schlachtreihe auf diesen Hügel zurück,
erschreckt ob der Warnungen der Götter. Tarchon hatte Bittsteller zu mir und die Krone des
Königreiches samt Zepter geschickt, er selbst vertraute mir die Abzeichen an; ich solle in ihr Lager
kommen und hastig nach dem tyrrhenischen Königreich greifen. Doch mir neidet das durch Eiseskälte
träge und durch die Jahre erschöpfte Greisenalter einer Herrschaft und es ist zu spät für meine
Kräfte, um tapfere Taten zu vollbringen. (510) Ich würde meinen Sohn ermutigen, wenn er nicht von
einer sabinischen Mutter abstammte und daher mit dem Volk verwandt ist. Du, dessen Lebensjahren
und Geschlecht das Fatum gewogen ist, den die Wirkkräfte fordern, lasse dich darauf ein, oh
tapferster Anführer der Teucrer und der Italer. Außerdem will ich dir diesen Pallas, als meine
Hoffnung und Trostmittel anheimgeben. Unter dir als Lehrmeister soll er den Kriegsdienst und das
schwere Werk des Mars ertragen, er soll sich daran gewöhnen, deine Heldentaten zu erkennen und
dich schon von seinen ersten Jahren an bewundern. Diesem werde ich zweihundert arcadische Reiter
mitgeben, ausgewählte und erprobte Männer aus der Jungmannschaft. Ebenso viele wird dir Pallas in
seinem Namen geben.“
(520) Kaum hatte er dies gesprochen, hielten Aeneas, Sohn des Anchises und der treue Achates ihre
Blicke gesenkt, während sie viele beschwerliche Dinge in ihrem traurigen Herzen bedachten, wenn
nicht Venus Cytherea vom offenen Himmel ein Zeichen gegeben hätte. Denn unversehens kam vom
Himmel unter Getöse ein zuckender Blitz und alles schien plötzlich niederzustürzen, der tyrrhenische
Klang der Tuba durch den Himmel zu dröhnen. Sie blickten auf, wieder und wieder ertönte ein
gewaltiges Krachen. Sie sahen, wie die Waffen zwischen den Wolken des Himmels in einer heiteren
Gegend rötlich durch das klare Licht glänzten und wenn sie aneinandergeschlagen wurden, ertönten.
(530) Andere staunten in ihrem Gemüt, doch der trojanische Held erkannte das Getöse und die
Versprechen seiner göttlichen Mutter. Dann berichtet er: Aber nicht doch, Gastfreund, suche nicht zu
erfahren, welches Los dieses Wunder mit sich bringt: Ich werde vom Olymp gefordert. Meine
139
göttliche Mutter prophezeite mir, dass sie mir dieses Zeichen schicken wollte, wenn der Krieg
losbrach, und dass sie zur Hilfe Waffen des Volcanus durch die Lüfte werfen wollte. Oh welch große
Blutbädern den unglücklichen Laurentern bevorstehen! Welche Strafen, Turnus, du mir büßen wirst!
Wie viele Schilde und Helme der Männer wirst du unter deinen Wogen wälzen und wie viele starke
Körper, (540) Vater Thybris? Sollen sie die Schlacht fordern und die Verträge brechen.“
Nachdem er diese Worte von sich gegeben hatte, erhob er sich von seinem erhöhten Sitz, erweckte
zuerst die ruhenden Altäre mit ihren herculeischen Feuern, und besuchte den gestrigen Lar sowie die
kleinen Penaten. Ebenso schlachtete Euander ordnungsgemäß auserwählte Schafe, ebenso die
trojanische Jungmannschaft. Später schritt er von hier zu den Schiffen und suchte seine Kameraden
auf, von deren Schar er durch Tugend hervorragende Männer auswählte, die ihn in die Kriege
begleiten sollten. Der übrige Teil eilte vorwärts stürmend aufs Wasser und fuhr lässig flussabwärts,
(550) um Ascanius Meldung zu erbringen über die Sachlage und über seinen Vater. Es wurden den
Teucrern, die zu den tyrrhenischen Fluren eilten, Pferde gegeben. Man führte ein auserwähltes Pferd
zu Aeneas, welches ein rotgelbes Löwenfell ganz bedeckte, das mit seinen goldenen Krallen glänzte.
Die verbreitete Kunde eilte plötzlich durch die kleine Stadt, dass Reiter recht schnell zum Palast des
tyrrhenischen Königs reiten. Die Mütter verdoppelten vor lauter Furcht ihre Gelübde. Näher kam der
Gefahr die Furcht und schon größer schien das Abbild des Kriegsgottes. Dann umschlang der Vater
Euander die Rechte seines gehenden Sohnes, hielt sie fest während er unaufhörlich weinte und
sprach solches: (560) „Oh wenn mir Jupiter die vorübergegangenen Jahre zurückgeben würde, so wie
ich war, als ich die erste Schlachtreihe gleich vor Praeneste niederstreckte, als Sieger Schilderhaufen
angezündet und den König Erulus mit dieser Rechten in den Tartarus geschickt habe, dem als
Heranwachsenden seine Mutter Feronia drei Leben geschenkt hatte (schrecklich zu sagen!), dreimal
musste man gegen ihn die Waffen erheben, dreimal musste man ihn totschlagen. Damals raubte ihm
dennoch diese Rechte alle Leben und beraubte ihn ebenso oft seiner Waffen. Nun wollte ich mich
niemals mehr aus deiner süßen Umarmung losreißen, Sohn, als hätte Mezentius nie (570) diesem
benachbarten Haupt zum Spott so viele grausame Verluste durch sein Schwert vollbracht und die
Stadt so vieler Bürger beraubt. Doch ihr, oh Himmelsbewohner, und du Jupiter, erhabenster Lenker
der Götter, ich bitte euch, erbarmt euch des arcadischen Königs und erhört die väterlichen Gebete!
Wenn mir euer göttlicher Wille, wenn eure Göttersprüche meinen Pallas unversehrt erhalten, wenn
ich ihn lebend wieder sehen und wenn er ihn einem Stück wieder kommen soll, dann bitte ich um
mein Leben und nehme es hin jede erdenkliche Strapaze zu erdulden. Wenn du mir aber, Fortuna,
einen unsäglichen Schicksalsschlag androhst, dann sei es jetzt möglich – jetzt! – dass dieses grausame
Leben vorzeitig endet, (580) solange es noch zweifelhafte Sorgen sind, solange die Befürchtung
zukünftiger Dinge noch ungewiss ist, solange ich dich, lieber Sohn, mein Trost und mein
140
spätgeschenktes Vergnügen, in der Umarmung halte: Auf dass keine schlimmere Meldung meine
Ohren verletzt!“ Diese Worte brachte der Vater beim letzten Abschied hervor. Die Diener trugen den
zusammengebrochenen Mann in das Gebäude.
Schon war die Reiterei so weit aus den offenen Toren geritten, Aeneas sowie der treue Achates unter
den ersten Kriegern, darauf folgten andere vornehme Männer Trojas. Pallas selbst ritt im mittleren
Zug, hervorstechend durch seinen Mantel und seinen bemalten Waffen, wie der Morgenstern, wenn
er von der Woge des Ozeans umspült wird und (590) den Venus vor allen anderen Sternenfeuers
schätzt, sein heiliges Antlitz zum Himmel erhebt und die Finsternis auflöst. Auf den Stadtmauern
standen die ängstlichen Mütter und folgten der staubigen Wolke und den ob der Bronze strahlenden
Scharen mit ihren Augen nach. Jene zogen bewaffnet auf kürzestem Wege durchs Gestrüpp. Geschrei
erhob sich und nachdem sie einen Heereszug gebildet hatten, zerstampfte die Hufe galoppierend das
staubige Feld mit Getöse. Es gab einen gewaltigen Hain in der Nähe des eisigen Stroms von Caere,
weithin heilig durch die Gottesfurcht der Väter. Von allen Seiten schlossen den Hain gewölbte Hügel
ein und umgaben ihn mit schwarzen Tannen. (600) Es gibt das Gerücht, dass die alten Pelasger, die
einst als erste die latinischen Gebiete bewohnten, den Hain Silvanus gewidmet haben, dem Gott der
Fluren und des Viehs: den Hain und einen Festtag. Nicht weit von hier hielten Tarcho und die
Tyrrhener eine durch die Gegenden geschützte Festung, die ganze Legion konnte schon vom
hochragenden Hügel gesehen werden und die Männer zogen über weite Fluren. Hierhin ritten der
Vater Aeneas und die für den Krieg ausgewählte Jugend, und erschöpft kümmerten sie sich um die
Pferde und um ihre eigenen Körper.
Doch da war Venus, die strahlend weiße Göttin mitten in den himmlischen Wolken zur Stelle, Gaben
bringend. (610) Sobald sie im Tal zurückgezogen, aus der Ferne ihren Sohn abgeschieden am lauen
Fluss sah, sprach sie ihn mit solchen Worten an und zeigte sich ihm freiwillig: „Sieh, die
versprochenen, durch die Kunst meines Gatten vollendeten Gaben. Zögere nicht, mein Sohn, bald die
überheblichen Laurenter oder den derben Turnus zum Kampf herauszufordern.“ So sprach sie und
erstrebte die Umarmung ihres Sohnes. Die strahlenden Waffen stellte sie unter eine Eiche
gegenüber. Aeneas, frohgestimmt ob der Gaben seiner Mutter und der so großen Ehre, konnte sich
nicht satt sehen und ließ seinen Blick über die Details schweifen. Er bewunderte und wendete einen
Helm mit (620) schrecklichem Busch und der Flammen spie zwischen Händen und Arme, ein
todbringendes Schwert, einen Brustpanzer starrend vor Bronze, blutrot, gewaltig, wie wenn eine
bläuliche Wolke durch die Strahlen der Sonne entflammt und weithin das Licht reflektiert. Dann
bewunderte er leichte Beinschienen, die aus Elektron und Gold geschmolzen wurden, eine Lanze und
die unbeschreibliche Darstellung auf einem Rundschilde. Dort hatte der Feuerbeherrscher die
141
italischen Ereignisse sowie die Triumphe der Römer dargestellt, der die Seher genau kennt und nicht
unwissend um das kommende Zeitalter war. Dort hat er das ganze Geschlecht der zukünftigen
Nachkommenschaft von Ascanius an sowie die geführten Kriege der Reihe nach dargestellt. (630)
Auch hatte er die Wolfsmutter dargestellt, wie sie sich in der Höhle des grünenden Mars niederließ,
wie die Jungen, die um ihre Zitzen hingen, spielten und wie sie furchtlos an der Mutter saugten, wie
jene ihren runden Hals nach hinten wendete, sie abwechselnd streichelte und mit ihrer Zunge ihre
Körper sanft berührte. Nicht weit von hier hatte Volcanus Rom dargestellt und die Sabinerinnen
hinzugefügt, die ohne jede Sitte aus dem Zuschauerraum geraubt werden, als große Zirkusspiele
veranstaltet werden. Auch, wie sich plötzlich ein neuer Krieg zwischen den Männern des Romulus
sowie des alten Tatius und den strengen Einwohnern von Cures erhebt. Nach diesem Krieg, nachdem
man untereinander den Streit abgelegt hat, standen die (640) bewaffneten Könige vor dem Altar des
Jupiters mit Opferschalen in ihren Händen, und schlossen nach der Opferung einer Sau Verträge.
Nicht weit von dort hatten schnelle Viergespanne Mettus in verschiedene Richtungen zerrissen
(Hättest du doch Wort gehalten, Albaner!) und Tullus raffte die Eingeweide des lügnerischen Mannes
durch den Wald. Die benetzten Dornbüsche tropften vor Blut. Auch befahl Porsenna den
vertriebenen Tarquinius aufzunehmen und brachte Rom durch eine gewaltige Belagerung in
Bedrängnis. Die Männer des Aeneas stürzten für die Freiheit zum Schwert. (650) Man würde auch
den König erblicken, einem sich entrüstenden Mann gleich, einem drohenden Mann gleich, weil
Cocles es wagte, die Brücke abzureißen und Cloelia mit zerrissenen Fesseln über den Fluss zu
schwimmen. Ganz oben stand Manlius, der Wächter der tarpeischen Burg vor dem Tempel und hielt
das aufragende Capitol. Der frische Königspalast starrte ob des neuen Strohdachs, welches Romulus
hatte bauen lassen. Und hier befand sich eine silberne Gans, die in den vergoldeten Säulenhallen
umherflog und prophezeite, dass die Gallier auf der Schwelle standen. Die Galler waren durch das
Gestrüpp gekommen und hielten die Burg, verteidigt von der Finsternis und von dem Geschenk der
schattigen Nacht. Jene haben goldenes Haar und goldene Kleidung, (660) sie leuchten mit ihren
gestreiften Kriegsmänteln. Dann umschlingen sie ihre milchigen Hälse mit Gold, ein jeder schwingt je
zwei alpine Wurfspieße in der Hand; mit langen Schildern sind ihre Körper geschützt. Hier hatte
Volcanus aufspringende Salier und nackte Lupercer, sowie ihre wollenen Mützen und die vom
Himmel fallenden rundlichen Schilde ziseliert. Und sittenreine Mütter führten heiliges Gerät in
weichen Kutschen durch die Stadt. Fern von hier fügte Volcanus sogar die unterweltlichen Wohnsitze
hinzu, die hohen Tore des Dis, die Strafen für die Verbrechen und dich, Catilina, der du von einem
drohenden Felsen herabhängst und vor den Fratzen der Furien zitterst, (670) abgeschieden auch die
Pflichtbewussten und Cato, der ihnen Rechtsnormen gibt. Zwischen diesen verlief weithin das
goldene Abbild des stürmischen Meeres, doch es schäumte mit seiner weißgrauen Flut bläulich.
Ringsum fegten vor Silber leuchtende Delphine in einem Kreis mit ihren Schwänzen die
142
Wasseroberfläche und zerschnitten die Brandung. In der Mitte des Schildes war eine mit Erz
beschlagene Flotte zu erkennen – die Schlacht von Actium – man konnte ganz Leucate brausen
sehen, nachdem die Soldaten zum Kampf aufgestellt waren und wie die Flut durch Gold
hervorleuchtete. Von hier aus hatte Volcanus Augustus Caesar dargestellt, der die Italer samt Väter
und Volk in die Schlacht treibt, samt den Penaten und den erhabenen Göttern und (680) wie er auf
dem hochragenden Schiffsheck steht, dem seine heiteren Schläfen zwei Flammen speien und über
seinem Scheitel sich das väterliche Gestirn zeigt. Auf der anderen Seite war Agrippa, der unter
günstigen Göttern und Winden steil aufragend den Heereszug führte, dem, ein stolzes
Kriegsabzeichen, die Schläfen durch die mit Schiffsschnäbeln verzierte Seekrone leuchten. Dann
folgte Antonius, mit einer barbarischen Streitmacht und verschiedenen Waffen. Als Sieger über die
Völker des Ostens und über das Rote Meer führte er Ägypten, orientalische Männer und das
hinterste Bactra mit sich. Es folgte ihm (Frevel!) seine ägyptische Gattin. Gemeinsam stürzten sie alle
zusammen und das ganze, von den zurückgezogenen Rudern und den dreizackigen Schiffsschnäbeln
(690) aufgewühlte Meer schäumte. Sie streben aufs hohe Meer. Man könnte denken, dass auf dem
Meer die losgerissenen Cycladen schwimmen oder hohe Berge mit anderen Bergen
zusammenrennen: Eine so große Masse von Männern drohte auf den turmhohen Schiffen.
Brandfackeln aus Werg wurden mit der Hand geschleudert, durch Wurfgeschosse fliegendes Eisen.
Die Fluren des Neptun färbten sich ob des neuen Blutes rot. Cleopatra ruft ihre Heereszüge mit dem
väterlichen Sistrum in die Mitte, auch sah sie noch nicht die beiden Schlangen hinter ihr. Ungeheuer
von Göttern aller Art und der Beller Anubis (700) richteten ihre Waffen gegen Neptun, Venus und
gegen Minerva. Es wütete in der Mitte der ziselierte Mars mit seinem Schwert, vom Himmel her die
finsteren Furien und sich freuend schritt Discordia einher mit ihrem zerrissenen Umhang, der mit
blutiger Peitsche Bellona folgt. Während er dies erkannte, spannte von oben her der actische Apollo
den Bogen an. Durch diesen Schrecken wandte sich ganz Ägypten und Indien, ganz Arabien ganz
Sabäa zur Flucht. Cleopatra selbst sah man wie sie den gerufenen Winden die Segel anvertraute und
die lockeren Taue unverzüglich schießen ließ. Der Feuerbeherrscher hatte sie mitten im Blutbad ob
ihres zukünftigen Todes blass (710) dargestellt, wie sie von den Wogen und dem Nordwestwind
getragen wurde. Gegenüber aber hatte er den trauernden Nil mit seinem großen Körper abgebildet,
der seine Mäander und sein ganzes Kleid ausstreckte, während er die Besiegten in seinen bläulichen
Schoß und in seine Flussarme, die voller Schlupfwinkel waren, rief. Doch Caesar, der mit einem
dreifachen Triumph nach Rom gefahren ist, weihte den italischen Göttern ein unsterbliches Gelübde:
Dreihundert äußerst erhabene Tempel über die ganze Stadt verstreut. Vor Freude, Spielen und Beifall
lärmten die Straßen. In allen Tempel gab es einen Reigen von Müttern, an allen Altären. Vor den
Altären bedeckten junge, geschlachtete Stiere die Erde. (720) Augustus selbst, der an der
schneeweißen Schwelle des glänzenden Phoebus sitzt, erkennt die Geschenke der Völker an und
143
befestigt sie an den stolzen Türpfosten. Es schreiten besiegte Völker in einer langen Reihe einher, wie
verschieden sie sind im Hinblick auf ihre Muttersprache, so verschieden sind sie im Hinblick auf ihr
Benehmen, auf ihre Kleider und Waffen. Hier hatte Volcanus den Stamm der Nomaden und die
ungegürteten Afrikaner abgebildet; hier die Leleger, die Carer und die Pfeile tragenden Gelonen
dargestellt. Der Euphrat floss schon mit einer sanfteren Strömung. Hier waren die Moriner zu sehen,
die entferntesten Menschen, der zweihornige Rhein und die wilden Daher, sowie der Araxes, der sich
über eine Brücke entrüstet.
Derartige Dinge bewunderte Aeneas auf dem Rundschild des Volcanus, die Gabe seiner Mutter,
(730) und freute sich über die Darstellung, unkundig der Dinge, während er den Ruhm und das
Schicksal seiner Enkel mit seiner Schulter aufrichtete.
Buch 9
Und während diese Dinge fern in einem anderen Bezirk geschahen, schickte Iuno, die Tochter des
Saturns, Iris vom Himmel zum kühnen Turnus. Damals saß Turnus zufällig in einem geweihten Tal, im
Hain seines Vaters Pilumnus. Zu ihm sprach die Tochter des Thaumas mit ihrem roten Mund so:
„Turnus, was dir, der du es wünschst, niemand der Götter zu versprechen wagte – sieh! – bringt der
ablaufende Tag freiwillig. Aeneas, der die Stadt, seine Kameraden und seine Flotte verlassen hatte,
eilt zu dem Reich des Palatin und zum Sitz des Euander. (10) Das ist nicht genug: Er drang bis zu den
entferntesten Städten der Corythus vor und bewaffnete eine Mannschaft der Lyder und ausgewählte
Landbewohner. Was zögerst du? Nun ist es Zeit Pferde, nun, einen Streitwagen zu verlangen. Säume
nicht länger und reiße das verwirrte Lager an dich!“ So sprach sie, dann erhob sie sich mit gleichen
Schwingen gen Himmel und durchflog auf ihrer Flucht einen gewaltigen Bogen unter den Wolken.
Der junge Mann erkannte sie, erhob seine beiden Handflächen zum Gestirn und warf der Fliehenden
diese Äußerung hinterher: „Iris, Würde des Himmels, wer bringt dich mir auf die Erde herab, die du
durch die Wolken getrieben wurdest? Woher kommt plötzlich dieses klare (20) Wetter? Ich sehe, wie
sich der Himmel in der Mitte auftut und wie die Sterne um den Pol schweifen. Ich folge all diesen so
großen Zeichen, wer du auch immer zu den Waffen rufst.“ Nachdem er so gesprochen hatte, ließ er
sich am Fluss niederfallen und schöpfte ganz oben aus dem Strudel klare Flüssigkeit, während er die
Götter um Vieles bat und er überhäufte den Äther mit seinen Gelübden.
144
Und schon marschierte das ganze Heer über die offenen Felder, mit reichlich Pferden, mit reichlich
bunter Kleidung und Gold. Messapus hielt die vordersten Schlachtreihen zusammen, die hintersten
die jungen Söhne des Tyrrhus, den mittleren Heereszug der Anführer Turnus: (30) Wie wenn der tiefe
Ganges, der sich aus sieben ruhigen Flüssen erhebt, durch die Stille fließt oder der Nil mit seinem
fruchtbaren Fluss auf den Feldern zurückfließt und sich sogleich in seinem Flussbett birgt. Jetzt sahen
die Teucrer aus der Ferne wie sich eine plötzlich entstehende Wolke aus dunklem Staub ballte und
wie sich Finsternis über den Feldern erhob. Als erster schrie von der vorderen Kriegsfestung aus
Caicus: „Welcher Haufen, oh Bürger, wälzt sich da in finsteren Nebel? Bringt schnell die Schwerter,
gebt die Waffen her, steigt auf die Mauern, der Feind ist da, los!“ Unter großem Geschrei brachten
sich die Teucrer durch alle Stadttore in Sicherheit und erfüllten die Mauern. (40) Denn so hatte es der
äußerst kampferprobte Aeneas vorgeschrieben, als er das Lager verlassen hatte: Wenn es in der
Zwischenzeit irgendein Unglück gäbe, sollten sie es nicht wagen eine Schlachtreihe zu bilden oder
den Feldern zu vertrauen. Sie sollten lediglich das Lager und die durch den Erdwall sicheren Mauern
schützen. Wenn daher auch ihr Schamgefühl und ihr Zorn darauf hinwiesen, einen Nahkampf zu
führen, verbarrikadierten sie die Tore und führten die Vorschriften aus. Bewaffnet erwarteten sie in
den hohlen Wachtürmen den Feind.
Turnus, wie er eilends vor dem trägen Heereszug vorangeschritten war, wurde von zwanzig
ausgewählten Reitern begleitet und war unversehens vor der Stadt. Ihn (50) trug ein thrakisches
Pferd mit weißen Flecken. Ihn bedeckte ein goldener Helm mit rotem Busch. „Ob jemand bei mir sein
wird, junge Männer, der ich zuerst gegen den Feind – ? Seht!“, sagte er, und jagte einen Wurfspieß
emporschwingend in die Lüfte: Das war der Ausgangspunkt des Kampfes und Turnus eilte steil
aufragend auf das Feld. Seine Kameraden vernahmen das Geschrei und folgten ihm mit schauerlich
tönendem Lärm. Sie wunderten sich über die trägen Gemüter der Teucrer, dass sie sich nicht auf dem
ebenen Feld zeigten, dass die Helden ihnen keine Waffen entgegensetzten, sondern ihr Lager
pflegten. Der ungestüme Turnus umkreiste vom Pferd aus die Mauern hier und dort und suchte
einen Zugang durch das unwegsame Gelände. Es war, wie wenn ein Wolf, der einem vollen
Schafsstall nachgestellt hat, (60) bei den Hürden brüllt, wenn er die Winde und Regenfälle schon
nach Mitternacht ertragen hat. Die sicheren Schafe blöken unter ihrer Mutter liegend. Jener wütet
im Zorn wild und verbrecherisch gegen die Unerreichbaren. Ihn quält die schon lang erlangte
Fresslust und sein Rachen, der nach Blut dürstet. Nicht anders entflammten dem Rutuler
Zornesausbrüche, der die Mauern und das Lager musterte. Schmerz brannte ihm in seinen harten
Knochen. Nach welchem Plan sollte er den Zutritt wagen? Und welches Vorgehen trieb die
eingeschlossenen Teucrer vom Wall und ließ sie zur Ebene ausströmen? Er überfiel die Flotte, die sich
angebunden an der Seite des Lagers verbarg und (70) von Hügeln und Flusswasser umgeben war, und
145
forderte von seinen jubelnden Kameraden Brandfackeln. Er selbst nahm hitzig eine brennende Fackel
aus Pinienholz in seine Hand. Dann aber strengten sich seine Männer an (es drängte sie die
Anwesenheit des Turnus) und die ganze Jungmannschaft bewaffnete sich mit finsteren Fackeln. Sie
plünderten die Opferherde: Das rauchende Kienholz erzeugte ein pechschwarzes Licht und Volcanus
versprühte daruntergemischte Asche zu den Sternen.
Welcher Gott, oh Musen, wendete so grausame Brandfackeln von den Teucrern ab? Wer vertrieb so
große Brände von den Schiffen? Sagt es mir: Die Tat besitzt altehrwürdige Glaubwürdigkeit, doch der
Ruhm ist ewig. (80) Zu der Zeit als Aeneas zum ersten Mal die Flotte im phyrgischen Idagebirge
bildete und sich vorbereitete aufs hohe Meer zu eilen, hat angeblich die Mutter der Götter, Kybele
den erhabenen Jupiter mit diesen Worten angesprochen: „Gib, Sohn, der Bittenden, was deine liebe
Mutter von dir, nachdem der Olymp bezwungen wurde, fordert. Ein Pinienwald, der von mir über
viele Jahre hinweg geschätzt wurde, ein Hain befand sich auf dem höchsten Berggipfel, wohin sie mir
Opfer brachten, dunkel durch die finsteren Kiefern und den Ahornbäumen. Diese Bäume habe ich
frohgestimmt einem jungen Dardaner gewährt, weil er eine Schiffsflotte baute. Nun beklemmt mich,
die ich besorgt bin, angstvolle Furcht. (90) Löse meine Furcht und lass zu, dass deine Mutter dies
durch ihre Bitten vermag, nämlich dass die Schiffe auf keiner Fahrt und durch keinen Sturmwind
zerschmettert und besiegt werden. Es möge nützlich sein, dass sie meinen Bergen entstammen.“ Der
Sohn erwiderte ihr, der das Gestirn der Welt dreht: „Oh Mutter, wohin rufst du die Göttersprüche?
Oder was erstrebst du für diese Schiffe? Haben etwa Schiffe, die von sterblicher Hand gefertigt sind,
das göttliche Recht unsterblich zu sein? Soll Aeneas sicher unsichere Gefahren durchschiffen?
Welchem Gott ist eine so große Macht erlaubt? Ja, sobald die Fahrt beendet und sie einmal das
ausonische Gebiet und den Hafen erreicht haben, wird es mir gefallen, jedem Schiff, das den Wogen
entkommen sein wird und die (100) Anführer der Dardaner zu den laurentischen Hügeln gefahren
haben wird, die sterbliche Gestalt zu entreißen und die Schiffe zu Göttern des großen Meeres zu
machen, so, wie die Meeresnymphen, Doto und Galatea mit ihrer Brust das schäumende Meer
durcheilen.“ Das sagte er und dies war rechtskräftig beim Fluss Styx seines Bruders; er genehmigte es
bei seinen Ufern, die vor Pech und einem schwarzen Strudel brausten. Durch sein Nicken ließ er den
ganzen Olymp erzittern.
Also war der versprochene Tag gekommen und die Parzen hatten die geschuldete Zeit erfüllt, als das
Unrecht des Turnus Kybele ermahnte, die Brandfackeln von den heiligen Schiffen zu vertreiben. (110)
Nun strahlte zum ersten Mal ein ungewöhnliches Licht den Augen entgegen und es schien eine
gewaltige Wolke vom Osten her den Himmel zu durcheilen und ebenso idäische Reigen. Dann
schallte eine schaudererregende Stimme durch die Lüfte und erfüllte die Heereszüge der Trojaner
146
und der Rutuler: „Schwankt nicht, Teucrer, meine Schiffe zu verteidigen, und bewaffnet nicht eure
Hände! Eher wird es Turnus gewährt werden die Meere auszubrennen als die heiligen Pinien. Und
ihr, geht dahin, ihr Freien, geht dahin, ihr Göttinnen des Meeres! Eure Mutter befiehlt es euch.“ Und
sogleich brach ein jedes Schiff gewaltsam seine Fesseln an den Ufern ab und nach Art der Delphine
strebten sie mit untergetauchten Schiffschnäbeln ins (120) tiefe Meer. Von dort tauchten (ein
erstaunliches Wunder) ebenso viele jungfräuliche Gestalten auf und wurden vom Meer fortgetragen.
Vor Schreck erstarrten die Rutuler in ihren Gemütern, selbst Messapus war bei seinen verwirrten
Pferden zutiefst erschreckt, auch der dumpf tönende Fluss zögerte, und Tiberinus zog sich vom Meer
zurück. Doch dem kühnen Turnus wich die Zuversicht nicht. Von sich aus hob er die Moral durch
folgende Worte und ermunterte seine Männer – von sich aus: „Diese Ungeheuer eilen zu den
Trojanern, Jupiter selbst hat ihnen durch diese ihre gewohnte Hilfe entrissen: Sie (130) erwarten
weder Pfeile noch Brandfackeln der Rutuler. Die Meere sind also für die Teucrer versperrt. Sie haben
keinerlei Hoffnung auf eine Flucht. Der andere Teil ihres Gemeinwesens ist ihnen weggenommen,
dieses Land freilich ist in unseren Händen. So viele tausend italische Stämme sind im Krieg.
Schicksalhafte Antworten der Götter erschrecken mich nicht, wenn die Phryger mit solchen prahlen.
Den Göttersprüchen der Venus ist genüge getan, dass die Trojer die fruchtbaren Fluren Ausoniens
erreicht haben. Demgegenüber stehen mir auch meine eigenen Fata, nämlich das verbrecherische
Volk mit dem Schwerte zu vernichten, nachdem mir meine Gattin geraubt wurde. Nicht nur die
Atriden berührt dieser Schmerz, es ist nicht nur dem Mykene möglich, die Waffen zu ergreifen. (140)
„Aber es ist genug einmal zugrunde gegangen zu sein.“ Es wäre zuvor genug gewesen mit den
Vergehen; wenn sie nur nicht das ganze Frauengeschlecht gänzlich gehasst hätten. Diesen Männern
gibt die Zuversicht ob des Walls in der Mitte, und ob des Hindernisses des Grabens und die Nähe zum
Tod Mut. Doch haben sie nicht die Stadtmauern Trojas, die durch die Hand Neptuns gebaut wurden
in die Flammen sinken sehen? Aber ihr, oh ihr ausgewählten Männer, wer rüstet sich mit dem
Schwerte den Wall zu zerstören und mit mir in das bebende Lager einzudringen? Ich benötige keine
Waffen des Volcanus, auch keine tausend Schiffe gegen die Teucrer. Sollen sie sich doch gänzlich mit
allen (150) Etruskern verbünden! Sie sollen die Finsternis und den unmännlichen Diebstahl des
Palladiums nicht fürchten, nachdem die Wachen der Burg weithin getötet sein werden und wir
werden uns nicht im dunklen Leib eines Pferdes verbergen. Es steht fest, bei Tag die Mauern ganz
unverhohlen mit Feuer zu umgeben. Sie sollen nicht sagen – dafür werde ich sorgen – dass sie es mit
den Danaern und mit einer Pelasgermannschaft zu tun hätten, welche Hector zehn Jahre lang in
Schach hielt. So weit nun, weil ja der bessere Teil des Tages vorbei ist, nutzt was davon übrig ist,
versorgt glücklich über die erzielten Erfolge eure Körper, Männer, und erwartet, dass ein Kampf
vorbereitet wird.“ Inzwischen wurde Messapus der (160) Auftrag erteilt, die Tore mit Wachdienste zu
147
belagern und die Mauern mit Bränden zu umgeben. Es gab vierzehn ausgewählte Rutuler, die als
Soldaten die Mauern bewachen sollten, doch jedem von ihnen folgten je einhundert junge Männer,
mit ihren purpurfarbenen Helmbüschen und funkelnd vor Gold. Sie schwärmten auseinander und
wechselten sich gegenseitig ab. Über das Gras verstreut gaben sie sich dem Wein hin und leerten die
ehernen Mischkrüge völlig. Es leuchteten die Feuer, die Wache verbringt die schlaflose Nacht mit
Spielen.
Dies beobachteten die Trojer oben vom Wall aus und hielten die hohe Festung mit ihren Waffen,
auch (170) prüften sie bebend vor Furcht die Tore, verbanden die Brücken mit den Bollwerken und
trugen Waffen bei sich. Da stand Mnestheus und der eifrige Serestus, welche der Vater Aeneas bei
drohender Gefahr als Leiter der Jungmannschaft und als Anführer des Kriegswesens bestimmt hat.
Die ganze Legion, der die Gefahr zugelost wurde, hielt über die Mauer verteilt Wache und ein jeder
verrichtete seinen Dienst an dem, was er zu schützen hatte. Nisus, der Sohn des Hyrtacus, war der
Wächter über ein Tor und äußerst eifrig im Umgang mit seinen Waffen, den die Jägerin Ida dem
Aeneas als Begleiter geschickt hatte, der schnell mit seinem Wurfspieß und seinen leichten Pfeilen
war. Und gleich nebenan war sein Begleiter, der junge Euryalus, woran gemessen kein zweiter (180)
der Aeneaden schöner war, auch nicht in trojanischer Rüstung. Seine ungeschorenen Wangen
bezeichneten seine frühe Jugend. Diesen war eine gemeinsame Leidenschaft zu Eigen und auf
gleicher Weise stürzten sie in die Kriege. Auch damals verteidigten sie die Tür von einem
gemeinsamen Posten aus. Nisus sagte: „Fügen etwa die Götter unserem Gemüt diesen Eifer hinzu,
Euryalus, oder wird jedem von uns seine unheilvolle Begierde zum Gott? Mein Geist treibt mich
entweder in einen Kampf oder in irgendetwas Großes einzufallen, und er gibt sich nicht mit der
sanften Ruhe zufrieden. Du erkennst, welch große Zuversicht der Dinge die Rutuler hält: Nur
vereinzelt schimmern ihre Feuer, von Schlaf und Wein gelöst haben sie sich (190) niedergelassen,
weithin ruht die Gegend. Vernimm ferner, was ich bedenke, und welche Absicht sich nun in meinem
Gemüt erhebt. Alle –das Volk und die Väter – fordern, dass Aeneas herbeigeholt wird und dass
Männer geschickt werden, die ihm Genaues berichten. Wenn sie versprechen, was ich für dich
fordere (denn mir ist der Ruhm der folgenden Tat genug), scheint es mir möglich, unter jenem Hügel
einen Weg zu den Mauern und zur Stadt Pallanteum zu finden.“ Euryalus erstarrte vor Schreck, heftig
erschüttert von der großen Sehnsucht nach Ruhm und zugleich sprach er seinen hitzigen Freund an:
„Meidest du es also etwa, Nisus, mich dir als Kamerad bei der großen Unternehmung anzuschließen?
(200) Soll ich dich allein in eine so große Gefahr schicken? So hat mich mein Vater Opheltes, der an
Kriege gewohnt war, zwischen dem griechischen Schrecken und den Strapazen Trojas nicht
aufgenommen und erzogen; und so habe ich nicht mit dir über solches gestritten und bin dem
mutigen Aeneas und den schlimmsten Göttersprüchen gefolgt. Er ist hier – mein Mut ist hier, der
148
Verächter des Lichts und einer, der glaubt, dass die Ehre, nach der du strebst, wohl mit deinem Leben
erkauft wird.“ Nisus erwiderte: „Freilich fürchtete ich um dich nicht solches, das wäre auch nicht
recht. Und nicht soll mich Jubelnden der große Jupiter dir auf diese Weise zurückgeben oder wer
auch immer dieses Vorhaben mit gewogenen Augen sieht. (210) Aber wenn mich irgendein Gott oder
ein Schicksalsschlag (von denen du in solcher Not viele siehst) ins Unglück stürzt, möchte ich, dass du
überlebst: Dein junges Alter ist des Lebens würdiger. Es soll jemanden geben, der mich, nachdem ich
von ihm aus dem Kampf gerissen oder für einen Preis gekauft wurde, unter der harten Erde begraben
wird oder wenn irgendein Unglück dies verbieten wird, soll er mir Abwesendem ein Totenopfer
darbringen und mich mit einem Grab zieren. Und ich will deiner unglücklichen Mutter nicht der
Grund eines so großen Schmerzes sein, die es als einzige von den vielen Müttern gewagt hatte, dir,
Junge, zu folgen und sich nicht um die Stadtmauern des erhabenen Acestes gekümmert hat.“
Euryalus aber antwortete: „Du knüpfst vergebens nichtige Gründe aneinander und mein (220)
Entschluss, der sich auch jetzt nicht verändert hat, weicht nicht von der Stelle. Lass uns
beschleunigen!“, sagte er und zugleich weckte er die Wächter auf. Jene rückten nach und lösten sie
mit der Wache ab. Nachdem sie ihren Posten verlassen hatten, schritt Euryalus, Nisus zum Begleiter,
einher und sie suchten den König.
Die übrigen Lebewesen entspannten auf der ganzen Erde verteilt ihre Sorgen im Schlaf und ihre
Gemüter hatten die Strapazen vergessen: Die ersten Anführer der Teucrer, eine ausgewählte
Jungmannschaft, hielten Rat über die wichtigsten Punkte der Herrschaft, nämlich was sie tun sollten,
und wer der Bote für Aeneas sein sollte. Sie standen an lange Lanzen angelehnt, mit Schildern in der
Hand (230) in der Mitte zwischen Lager und Feld. Dann baten sofort Nisus und Euryalus gemeinsam,
dass sie zum Rat zugelassen wurden. Es wäre eine große Sache und eine Verzögerung würde sich
lohnen. Als erster nahm die bebenden Männer Iulus auf und befahl Nisus zu sprechen. Dann sprach
der Sohn des Hyrtacus so: „Hört, oh Aeneaden, gewogenen Gemüts, und beurteilt das, was wir
vorbringen, nicht im Hinblick auf unser Alter. Die Rutuler sind durch Schlaf und Wein gelöst
verstummt. Wir selbst erblickten den Ort in einer List, der an der Weggabelung zugänglich ist, vor
dem Tor, welches dem Meer am nächsten ist. Die Feuer sind unterbrochen und finsterer Rauch (240)
richtet sich zu den Sternen auf. Wenn ihr uns Gelegenheit gebt Aeneas und die Stadt Pallanteum zu
suchen, werdet ihr erkennen, wie er bald mit Beute hier sein wird, nachdem er ein gewaltiges
Blutbad angerichtet wurde. Auch täuscht uns Marschierende der Weg nicht: Wir sahen unten in den
dunklen Tälern bei der ständigen Jagd den ersten Teil der Stadt und wir kennen den ganzen Fluss.“
Nun sagte der aufgrund seiner Lebensjahre angesehene und des Geistes reife Aletes: „Väterliche
Götter, unter deren Macht stets Troja ist, ihr bereitet es also doch nicht vor, die Teucrer gänzlich zu
vernichten, indem ihr einen solchen Mut der jungen Männer und so entschlossene (250) Gemüter
149
hervorgebracht habt.“ Während er so sprach, hielt er die Schultern und die Rechten der beiden und
benetzte sein Gesicht und seinen Mund mit Tränen. „Welche Belohnungen, welche Belohnungen, ihr
Männer, soll ich für würdig halten, dass sie euch für solche Ruhmestaten gezahlt werden? Zuerst
werden euch die Götter und das Bewusstsein eurer Sitten die schönste schenken: Dann wird euch
sogleich der pflichtbewusste Aeneas die übrigen geben und Ascanius, der noch vom hohen Alter
unversehrt ist, wird niemals uneingedenk eines so großen Verdienstes sein.“ Dann nahm Ascanius
das Gespräch auf: „Ja ich, für den das einzige Heil in der Rückführung meines Vaters liegt, beschwöre
euch, Nisus, bei den großen Penaten, bei dem Lar von Assaracus und beim Heiligtum der
ehrwürdigen Vesta: (260) welches Glück und welchen Glauben ich auch immer habe, setze ich in
euren Schoß. Ruft meinen Vater zurück. Gebt ihn mir meinem Blickfeld zurück. Nichts ist traurig,
wenn er erst zurückgeholt ist. Ich werde euch zwei Trinkbecher schenken, die aus Silber vollendet
wurden auch aufgrund ihrer Gravuren rau sind, die mein Vater, nachdem er Arisba besiegt hatte,
genommen hatte und ich gebe euch zwei Dreifüße, zwei große Talente an Gold, sowie einen alten
Mischkessel, welche die sidonische Dido geschenkt hat. Wenn es uns als Sieger aber gelingen würde,
Italien zu erobern, die Macht an uns zu reißen und die Kriegsbeute zu verlosen – du hast gesehen, auf
welchem Pferd Turnus und in welcher Rüstung er (270) golden reiste – will ich eben dieses, seinen
Rundschild und den roten Helmbusch aus der Verlosung nehmen, und dies ist schon jetzt deine
Belohnung, Nisus! Außerdem wird dir mein Vater ein Duzend wohl ausgewählte Ehrenfrauen, sowie
Kriegsgefangene und die Waffen von all diesen schenken; darüber hinaus die Felder, die König
Latinus selbst gehabt hat. Dich aber, der dir mein Alter schon näher kommt, ehrwürdiger Euryalus,
nehme ich schon mit ganzem Herzen als Begleiter auf und umfasse dich für alle Gefahren. Kein Ruhm
wird bei meinen Taten ohne dich erworben werden. Sei es, dass ich Frieden schließen, sei es, dass ich
Kriege führen werde, dir wird die größte Treue bei Taten (280) und Worten gelten.“ Ihm entgegnete
Euryalus: „Kein einziger Tag könnte beweisen, dass ich ihm bei so tapferen Wagnissen unähnlich bin.
Wenn sich nur das Glück nicht zum Unglück wendet! Doch ich bitte dich ferner der ganzen Gaben um
eines: Ich habe eine alte Mutter, sie ist vom Stamm des Priamus. Die Unglückliche, die mich
begleitete, hielt nicht die Erde von Ilium, auch nicht die Stadt des Königs Acestes zurück. Diese
verlasse ich nun unwissend darüber, um welche Gefahr es sich auch immer handelt, und ohne mich
von ihr verabschiedet zu haben (die Nacht und deine Rechte ist mein Zeuge!), weil ich die Tränen
meiner Mutter nicht ertragen könnte. (290) Aber du, tröste die hilflose Frau, und stehe der
Zurückgelassenen bei. Lass zu, dass ich diese Hoffnung in dich setze und ich werde kühner in jede
Gefahr schreiten!“ Erschütterter Herzen ließen die Dardaner die Tränen fließen, allen voran der
schöne Iulus und die Vorstellung der väterlichen Liebe fesselte seinen Geist. Dann sprach er so:
„Gelobe, dass alles deiner gewaltigen Unternehmungen würdig sein wird. Denn deine Mutter wird
mir eine Mutter sein, allein der Name Creusa wird ihr fehlen, doch ihrer derartigen Geburt wird kein
150
geringer Ruhm bleiben. Welcher Zufall auch immer der Tat folgen wird, (300) ich schwöre bei diesem
Haupt, bei dem früher mein Vater zu schwören pflegte: „Was ich dir, wenn du zurückkehren wirst –
unter glücklichen Umständen – verspreche, wird auch deine Mutter und deine Nachkommen
erwarten.“ So sprach er unter Tränen und zog zugleich ein goldenes Schwert von seiner Schulter, das
Lycaon aus Cnossus mit wundersamer Kunstfertigkeit hergestellt und handlich an eine
Schwertscheide aus Elfenbein angepasst hatte. Mnestheus schenkte dem Nisus das erbeutete Fell
eines schrecklichen Löwen, und der treue Aletes tauschte mit ihm seinen Helm. Sofort schritten sie
bewaffnet einher. Diesen dahin Schreitenden (310) folgte die ganze Mannschaft der Adligen unter
Gelübden zu den Toren – jung und alt – auch der schöne Iulus. Und während er früh für sein Alter
Mut und männliche Sorgfalt an den Tag legte, gab er Nisus viele Mitteilungen mit, die er seinem
Vater überbringen sollte. Doch die Winde zerpflückten sie alle und schenkten sie vergebens den
Wolken.
Nachdem sie ausgerückt waren, überwanden sie die Gräben und eilten durch den Schatten der Nacht
zu dem feindlichen Lager, doch zuvor sollten sie für viele Männer den Tod bringen. Weit und breit
sahen sie die durch Schlaf und Wein verstreuten Körper, die an der Küste aufgerichtete Streitwägen,
die Männer zwischen Lederriemen und Rädern und wie da gleichzeitig Waffen und Weinkrüge lagen.
Zuerst sprach der Sohn des Hyrtacus folgendermaßen: (320) „Euryalus, nun ist der Schwur zu wagen,
nun ruft die Sachlage selbst danach. Hier ist der Weg. Du halte Wache und sorge weithin dafür, dass
sich uns keine Mannschaft hinter unserem Rücken erheben kann. Ich werde hier aufräumen und dich
auf einem breiten Weg führen.“ So sprach er, dann verstummte er. Zugleich griff er mit seinem
Schwert den überheblichen Rhamnes an, der zufällig auf hohe Teppiche gebettet aus ganzer Brust
schnarchte. Zugleich war er König und dem Großkönig Turnus der willkommenste Augur, doch auch
mit seinem Amt konnte er das Unheil nicht vertreiben. Gleich nebenan durchbohrte er drei Diener,
die planlos inmitten der Waffen lagen, sowie den (330) Waffenträger des Remus. Und nachdem er
den Wagenlenker zufällig unter den Pferden ergriffen hatte, schnitt er den Männern die
herabhängenden Hälse durch. Dann raubte er selbst dessen Herrn den Kopf und ließ den kopflosen
Körper zurück, aus dem Blut pulsierte. Von finsterem Blut erwärmt trieften die Erde und die Lager.
Aber auch Lamyrus, Lamus und den jungen Mann Serranus durchbohrte er, der in jener Nacht am
meisten gespielt hatte und nun seine Glieder ausstreckte, besiegt vom vielen Bacchus. Er wäre
glücklich gewesen, wenn er jenes Spiel weiter über die Nacht ausgedehnt und bis zum Morgengrauen
durchgespielt hätte. Wie sich ein hungriger Löwe durch volle Schafsställe beißt, während er sie
aufwühlt (340) (dazu rät ihm nämlich sein wahnsinniger Hunger) und das weiche Vieh, das stumm vor
Angst ist, herauszieht, so brüllte Nisus mit seinem blutigen Mund. Und das Blutbad des Euryalus war
nicht geringeren Ausmaßes. Entflammt raste auch er umher und näherte sich mittendrin dem
151
namenlosen und zahlreichen Pöbel, den unwissenden Männern Fadus, Herbesus, Rhoetus und
Abaris. Rhoetus – der wach wurde und alles sah, sich aber hinter einem großen Mischkessel verbarg,
weil er sich fürchtete. Diesem, sowie er sich erhob, bohrte er handgemein das ganze Schwert vorn in
dessen Brust und zog es unter viel Blut wieder heraus. Jener erbrach seine purpurfarbene Seele und
brachte sterbend den getrunkenen (350) Wein hervor, der mit seinem Blut vermischt war. Der
rasende Euryalus drängte heimlich weiter. Und schon zog er zu den Kameraden des Messapus. Er
sah, wie dort das letzte Licht erlosch und die angebundenen Pferde ordnungsgemäß grasten, als
Nisus knapp solches sagte (er spürte nämlich, wie Euryalus vom allzu großen Blutbad und der
Begierde getrieben wurde): Halten wir uns fern, denn das feindliche Tageslicht nähert sich. Wir
haben sie genug büßen lassen, der Weg durch den Feind ist gebahnt.“ Viel aus festem Silber
Hergestelltes der Männer ließen sie zurück: Waffen, Mischkrüge und zugleich schöne Teppiche.
Euryalus sah auch den Brustschmuck und die goldenen (360) Gürtel des Rhamnes mit den Amuletten
zurück, die einst der äußerst reiche Caedicus dem Tiburter Remulus als Gaben geschickt hatte. Und
jener hatte sie, als er starb, seinem Enkel anheim gegeben. Nach seinem Tod rissen sie die Rutuler
durch Krieg und Kampf an sich. Diese raubte Euryalus und befestigte sie vergebens an seinen starken
Schultern. Dann zog er sich den bequemen Helm des Messapus auf, der mit einem Helmbusch
geschmückt war. Sie schritten aus dem Lager und eilten in Sicherheit. Inzwischen schritten die aus
der Stadt Latina vorausgeschickten Reiter einher, während die übrige Legion auf den Feldern
aufgestellt verweilte, und überbrachten dem König Turnus Meldungen – (370) dreihundert Männer,
alle mit einem Schild versehen unter ihrem Anführer Volcens. Und schon näherten sie sich dem Lager
und stiegen zu den Befestigungsmauern hinauf, als sie aus der Ferne die auf einen Weg zu ihrer
Linken abbiegenden Männer Nisus und Euryalus erkannten, der Helm den Euryalus, der nicht mehr
an ihn dachte, im Schatten der dämmernden Nacht verraten hatte und vorn die Lichtstrahlen
reflektierte. Das wurde nicht leichtfertig wahrgenommen. Volcens schrie vom Heereszug her: „Bleibt
stehen, Männer! Welchen Grund des Weges? Wer seid ihr da, die ihr bewaffnet seid? Wohin zieht
ihr?“ Jene erwiderten nichts, sondern beschleunigten ihre Flucht in die Wälder und vertrauten der
Nacht. Die Reiter stellten sich ihnen (380) hier und da bei der bekannten Wegscheide entgegen und
umkränzten den ganzen Zugang mit Wächtern. Der Wald war weithin durch Gestrüpp und finsterer
Steineichen schauderhaft. Von allen Seiten erfüllten ihn dichte Dornsträucher. Vereinzelte Fußwege
leuchteten durch die verborgenen Pfade. Euryalus behinderte die Finsternis, die die Zweige
erzeugten sowie seine schwere Beute und es täuscht ihn die Furcht bei der Richtung der Wege. Nisus
entfernte sich. Schon war er unbedacht den Feinden entkommen, sowie den Orten, die nach dem
Namen Albas die albanischen Gebiete genannt werden (damals besaß König Latinus dort hoch
gelegene Ställe), als er stehen blieb und sich vergebens nach seinem abwesenden Freund umsah.
(390) „Unglücklicher Euryalus, in welcher Gegend habe ich dich zurückgelassen? In welche Richtung
152
soll ich dir folgen?“ Während er den ganzen verschlungenen Weg des trügerischen Waldes noch
einmal überdachte, verfolgte er zugleich seine Fußspuren, die er beobachtete, zurück und irrte im
stillen Gestrüpp umher. Er hörte Pferde, er hörte Lärm und die Signale der folgenden Männer.
Dazwischen dauerte es nicht lang, bis das Geschrei zu seinen Ohren gedrungen war und er Euryalus
sah, den schon die ganze Mannschaft durch den Trug des Ortes und der Nacht in einem plötzlichen,
beunruhigenden Aufruhr überrascht ergriffen hatte, während er zahlreiches für seine Befreiung
versuchte – vergebens. Was sollte Nisus tun? Auf welchem Wege sollte er es wagen den jungen
Mann zu (400) entreißen und mit welchen Waffen? Oder sollte er sich bereit zu sterben mitten in die
Schwerte stürzen und durch die Wunden einen schönen Tod beschleunigen? Sofort schleuderte er
einen Lanzenschaft mit angezogenem Oberarm, während er zum erhabenen Mond aufblickte und so
mit seiner Stimme bat: „Du, Göttin, du helfe als Anwesende bei meiner Strapaze, du Zierde der
Sterne Wächterin über die Haine, Tochter der Latona. Wenn dir mein Vater Hyrtacus jemals für mich
irgendwelche Gaben deinen Altären dargebracht hat, wenn ich irgendwelche Gaben selbst durch
meine Jagd vermehrt habe, sie an das Kuppeldach aufgehängt oder an den heiligen Giebel befestigt
habe, dann lass zu, dass ich diese Schar verwirre und lenke meine Wurfgeschosse durch die Lüfte.“
(410) Das hatte er gesprochen, dann stieß er, indem er sich mit seinem ganzen Körper anstrengte, die
Lanze. Während die Lanze flog, zerschnitt sie die Schatten der Nacht, gelangte in den Rücken des
Sulmon, der ihm gegenüber stand und zerbrach dort. Nachdem sich das Holz gespalten hatte,
durchbohrte die Lanze sein Zwerchfell. Jener wälzte sich, während er warmes Blut aus seiner Brust
spie. Er erstarrte und seine Eingeweide klopften unter langem Röcheln. Die Männer blickten sich in
verschiedenen Richtungen um. Eifriger als dieses – sieh da! – schleuderte Nisus ein anderes
Wurfgeschoss von ganz oben, von seinem Ohr aus. Während die Männer zitterten, flog die Lanze
zischend dem Tagus durch beide Schläfen und nachdem sie das Gehirn durchbohrt hatte, blieb sie
erwärmt dort stecken. (420) Es wütete der schreckliche Volcens, erblickte aber niemals den
Schleuderer des Wurfgeschosses auch nicht, wohin er sich brennend stürzen könnte. „Du wirst mir
unterdessen dennoch für beide mit deinem warmen Blut büßen!“ , sagte er und ging mit gezogenem
Schwert gegen Euryalus. Dann aber schrie Nisus zutiefst erschreckt, wahnsinnig, und konnte sich
nicht weiter in der Finsternis verbergen oder so großen Schmerz ertragen: „Gegen mich – mich! –
ich, der ich es getan habe, bin zur Stelle – gegen mich wendet euer Schwert, oh Rutuler! Alles war
meine List, nichts hat dieser Kerl da gewagt oder vermocht. Ich rufe diesen Himmel und die
mitwissenden Sterne als Zeugen an. (430) Nur hat er seinen unglücklichen Freund allzu sehr geliebt.“
Derartige Worte brachte er hervor, doch das Schwert, das mit Kräften hineingetrieben wurde,
durchbohrte seine Rippen und durchschlug seine Brust. Euryalus wälzte sich im Todeskampf. Über
seine schönen Glieder lief Blut. Sein zusammengefallener Nacken sank auf seine Schultern nieder.
Wie eine purpurne Blume, die von einem Pflug abgemäht wird, sterbend erschlafft, oder die
153
Mohnblumen, nachdem der Hals schlaff geworden ist, ihre Blüte nach unten hängen lassen, wenn sie
zufällig von starkem Regen beschwert werden. Doch Nisus stürzte mitten unter die Männer und
suchte unter ihnen einzig Volcens. Nur mit Volcens hielt er sich auf. (440) Die Feinde, die sich um
Nisus geballt hatten, verjagten ihn handgemein von allen Seiten. Er drängte nicht säumiger weiter
und drehte sein tödliches Schwert, solange bis er es vorn in das Gesicht des schreienden Rutulers
gerammt hatte und sterbend das Leben des Feindes geraubt hat. Dann warf er sich seinerseits
durchbohrt vor auf seinen toten Freund. Dort kam er endlich in sanften Tod zur Ruhe.
Mögen beide selig sein! Wenn meine Gesänge irgendetwas vermögen, wird kein Tag euch jemals aus
dem Gedächtnis der Zeit nehmen, solange das Geschlecht des Aeneas den unverrückbaren Felsen
des Capitols bewohnt und der römische Vater sein Herrschaftsgebiet haben wird.
(450) Die Sieger, welche die Kriegsbeute und die Rüstungen an sich gerissen hatten, trugen den toten
Volcens weinend in das Lager. Nicht geringer ist die Trauer im Lager, nachdem der blutleere Rhamnes
gefunden wurde sowie, dass die vornehmsten Männer in einem einzigen, so großen Blutbad getötet
wurden, auch Serranus und Numa. Es gab einen gewaltigen Zusammenlauf zu ebendiesen Körpern
und zu den halbtoten Männern, zu dem Ort, der vom frischen Blutbad warm war und zu den
schäumenden Bächen voller Blut. Sie erkannten die Kriegsbeute untereinander, nämlich den
strahlenden Helm des Messapus und den unter viel Schweiß zurückgeholten Brustschmuck.
Und schon bestreute die erste Morgenröte die Ländereien mit neuem Licht, während sie das
safrangelbe Lager des (460) Tithonus verließ. Und schon fachte Turnus die Männer zum Kampf an,
nachdem die Sonne ins Lager gedrungen und die Gegenden durch das Licht wieder sichtbar gemacht
worden waren und er sich selbst mit Waffen umgeben hatte: Sie versammelten die ehernen
Kampfreihen in der Schlacht – jeder Anführer seine Leute – und sie schärften ihre Zorneswallung
durch die verschiedenen Gerüchte. Ja, sie befestigen sogar (elend das zu sehen) vorn an den
aufgerichteten Lanzen die Köpfe des Euryalus und des Nisus und folgten ihnen mit viel Geschrei. Die
abgehärteten Männer des Aeneas stellten ihnen ihre Schlachtreihe am linken Ende der
Befestigungsmauern entgegen (denn am rechten Ende wurden sie vom Fluss umgeben). (470) Sie
besetzten die riesigen Gräben und standen trauernd auf den hohen Wehrtürmen. Gleichzeitig
bewegten sie innerlich die vorn an die Lanzen befestigten Gesichter der Männer, welche den Armen
nur allzu bekannt waren und vor finsterer Jauche trieften.
Inzwischen stürzte die geflügelte Botin Fama fliegend in die verängstigte Stadt und gelangte zu den
Ohren der Mutter des Euryalus. Doch sofort verließ die Wärme die Gebeine der Unglücklichen, die
154
Spulhölzer wurden aus ihren Händen geschüttelt und ihr Tagewerk an Wolle rollte zurück. Die
Unglückliche raste heraus und nachdem sie sich mit weibischen Geheul die Haare zerrauft hatte eilte
sie im Laufschritt wahnsinnig zu den Befestigungsmauern und zur Vorhut, dabei dachte sie nicht an
die Männer, an die Gefahren und auch nicht an die (480) Wurfgeschosse. Dann erfüllte sie den
Himmel mit Klagen: „So erblicke ich dich, Euryalus? Konntest du mich etwa allein zurücklassen, meine
späte Ruhe meines Greisenalters, du Grausamer? Wurde der unglücklichen Mutter nicht die
Möglichkeit gegeben, dich ein letztes Mal anzusprechen, den man dich in so große Gefahr geschickt
hat? Ach, du liegst in fremder Erde und bist latinischen Hunden und Vögel als Beute gegeben. Nicht
gab dir deine Mutter bei einem Leichenzug Geleit, noch hat sie deine Augen geschlossen, oder deine
Wunden gewaschen, während sie dich mit einer Decke zudeckte, die sie eilends in den Nächten und
an den Tagen für dich nähte, und nicht habe ich meine Sorgen des Alters am Webstuhl getröstet.
(490) Wohin soll ich dir folgen? Oder welches Land besitzt nun deine Körperteile, deine losgerissenen
Glieder und deinen zerfetzten Leichnam. Dies berichtest du mir über dich, Sohn? Diesem Unglück bin
ich zu Land und zu Meer gefolgt? Trefft mich, wenn es noch irgendeine Treue gibt, werft auf mich alle
Wurfgeschosse, oh Rutuler, mich vernichtet als erste mit dem Schwert! Oder erbarme du dich,
großer Vater der Götter und stoße mit deiner Waffe dieses dir verhasste Haupt in den Tartarus
herab, weil ich mein grausames Leben nicht auf anderer Weise vorzeitig endigen kann.“ Durch dieses
Weinen wurden die Gemüter heftig erschüttert und trauriges Klagen durchlief alle Reihen. Die Kräfte
für die Schlacht erstarrten und waren gebrochen. (500) Während jene die Trauer noch weiter
anfachte, ergriffen sie Idaeus und Actor auf Geheiß des Ilioneus und des heftig weinenden Iulus und
bringen sie zwischen ihren Händen zurück ins Haus.
Doch in der Ferne ließ die Tuba mit klingendem Erz einen schrecklichen Ton ertönen, es folgte Lärm
und der Himmel hallte wieder. Nachdem sie die Formation einer Schildkröte gebildet hatten, eilten
die Volscer gleichmäßig und bereiteten sich vor, die Gräben zu erfüllen und den Wall einzureißen. Ein
Teil suchte einen Zugang zur Festung und die Mauern mit Leitern zu erklimmen, wo die Kampfreihe
weniger dicht war und die Menge den Soldaten von Lücken durchschimmerte. (510) Die Teucrer
schleuderten ihnen jede Art von Waffen entgegen und stießen sie mit harten Ruderstangen hinab.
Sie waren es gewohnt in einem langen Krieg die Mauern zu verteidigen. Auch ließen sie Steine mit
einem Gewicht, das sich für den Angriff eignete, hinunterrollen, wenn sie nur irgendwie die
geschützte Formation durchbrechen konnten, wobei die Soldaten unter der dichten Schildkröte
dennoch mit jeder Situation freudig zurecht kamen. Und schon hielten die Rutuler nicht mehr stand,
denn wo den Teucrern eine riesige Schar drohte, wälzten sie eine gewaltige Gesteinsmasse und
stürzten sie hinunter, welche die Rutuler weithin niederstreckte und sie vom Schutz ihrer Schilde
löste. Die kühnen Rutuler kümmerten sich nicht weiter darum in blindem Kriegsgetümmel zu
155
kämpfen, sondern wetteiferten, die Teucrer mit (520) Geschossen vom Wall zu vertreiben. In anderer
Richtung schüttelte der schrecklich anzusehende Mezentius eine etruskische Kienfackel und warf den
rauchenden Brand. Doch Messapus, der Pferdebändiger, ein Nachkomme des Neptun, riss den Wall
ein und forderte Leitern für die Mauern.
Ihr, oh Caliope, bitte ich, haucht den Dichtenden an und sagt mir, welches Blutbad sich dort damals
durch das Schwert ereignet hat, welche Leichen Turnus hervorgebracht hat, welchen Mann ein jeder
in den Orcus geschickt hat, und stellt mit mir den gewaltigen Krieg bis ins kleinste Detail dar.
(530) Es gab einen von seiner Lage her günstigen Turm, gewaltig von unten aus zu sehen, mit hohen
Türmen, den alle Italer mit äußersten Kräften im Wetteifer erobern und das Werk mit höchster
Gewalt zerstören wollten. Die Trojaner hingegen verteidigten ihn mit Steinen und dicht gedrängt
schleuderten sie durch die gewölbten Fenster Wurfgeschosse nach unten. Turnus warf als erster eine
brennende Fackel und steckte die Seite des Turms in Brand. Das Feuer ergriff, durch den Wind
vervielfacht, die Holzbalken und haftete an den angefressenen Pfosten. Die verwirrten Männer
zitterten im Inneren und wollten vergebens vor ihrem Unglück fliehen. Während sie sich
zusammenballten und sich nach hinten zurückzogen, (540) zu der Seite, die noch nicht vom Unheil
betroffen war, da fiel der Turm durch das ungleiche Gewicht nach vorn und der ganze Himmel hallte
durch das Getöse wieder. Die Halbtoten stürzten zur Erde – samt der gewaltigen Masse des Turms –
und wurden von ihren eigenen Waffen getroffen, an ihren Brüsten vom harten Holz durchbohrt.
Kaum ist dem als einziger Helenor, und auch Lycus entkommen. Von diesen war Helenor der Jüngere,
den die Sklavin Licymnia dem lydischen König heimlich erzogen und ihn mit verbotenen Waffen nach
Troja geschickt hatte, leicht bewaffnet, mit einem bloßen Schwert und unrühmlich mit einem
weißen, leichten Schild. Sobald sich dieser mitten unter tausenden Soldaten des Turnus wiederfand
und sah, dass (550) auf beiden Seiten latinische Schlachtreihen standen – wie ein wildes Tier, welches
dicht von einer Schar Jagender umgeben ist, gegen die Geschosse rast, sich todesmutig hineinwirft
und durch einen Sprung über den Jagdspieß stürzt – nicht anders stürzte dann der junge Mann
todesmutig mitten in den Feind und eilte dorthin, wo er die Waffen am dichtesten wahrnahm. Doch
Lycus, der besser zu Fuß war, floh zwischen Feind und Waffen zur Mauer, im Eifer die hohen Zinnen
mit seiner Hand zu fassen und die Rechten seiner Kameraden zu erreichen. Diesen (560) fuhr Turnus,
der ihn in ebenso schnellem Lauf mit einer Waffe verfolgte, als Sieger mit diesen Worten an: „Hoffst
du etwa, Wahnsinniger, dass du unseren Händen entkommen kannst?“ Zugleich riss er den nun in
der Luft hängenden Mann an sich und riss ihn dann mit einem Großteil der Mauer herunter. Es war,
wie wenn der Waffenträger des Jupiter, der Adler, entweder einen Hasen oder einen Schwan mit
seinem weißen Körper raubte, indem er mit seinen gekrümmten Füßen in die Höhe strebte, oder der
156
Wolf des Mars unter vielem Blöken aus den Ställen ein Lamm raubte. Überall erhob sich Geschrei.
Die rutulischen Soldaten griffen an und füllten die Gräben mit Erde auf, andere warfen brennende
Fackeln zu den Dachgiebeln. Ilioneus streckte (570) Lucetius, der sich dem Tor näherte und eine
Fackel trug, mit einem Felsen, einem gewaltigen Trümmerteil des Berges nieder, Liger den Emathion,
Asilas den Corynaeus. Der eine konnte gut mit seinem Wurfspieß umgehen, der andere mit seinem
Pfeil, der weithin unbemerkt blieb. Caeneus machte Ortygius nieder, Turnus den Sieger Caeneus,
wiederum Turnus Itys und Clonius, sowie Dioxippus, Promolus, sowohl Sagaris als auch den vor den
höchsten Türmen stehenden Idas, und Capys tötete Privernus. Diesen streifte zunächst nur die
leichte Lanze des Themillas, doch jener erhob von Sinnen die Hand zu seiner Wunde, nachdem er den
Schild weggeworfen hatte. Daher bohrte sich ein von der Reiterabteilung herbeigeflogener Pfeil tief
in seine linke Seite. Im Inneren zerriss er die verborgenen (580) Atemwege mit einer tödlichen
Wunde. Da stand in herausragenden Waffen der Sohn des Arcens, bunt mit einem bestickten Mantel
und leuchtend von iberischem Purpur, er war auffallend durch seine Gestalt. Diesen, welcher im Hain
des Mars, am Fluss Symaethius aufgezogen worden war, wo sich der versöhnliche Altar des Palicus
befindet, hatte sein Vater Arcens geschickt. Mezentius selbst trieb das zischende Wurfnetz dreimal
um sein Haupt, nachdem er die Lanzen abgestellt und die Zügel angezogen hatte und spaltete in der
Mitte die Schläfen des vor ihm Stehenden mit dem flüssiggewordenen Blei und breitete den
ausgestreckten Mann weithin im Sand aus.
(590) Damals hatte angeblich zum ersten Mal im Krieg Ascanius den schnellen Pfeil angespannt,
vorher war es es gewohnt, damit flüchtende Tiere zu erschrecken. Angeblich hat er aus eigener Hand
den tapferen Numanus niedergestreckt, der den Beinamen Remulus und jüngst die kleine Schwester
des Turnus zur Frau genommen hatte. Der Erzählung nach marschierte dieser Numanus vor die erste
Schlachtreihe, während er Würdiges und Unwürdiges rief, in seiner Brust war er aufgewühlt ob der
neuen Königswürde und trug sich lauthals zur Schau: „Schämt es euch nicht, erneut von einer
Belagerung und einen Wall umgeben zu sein, Phryger, die ihr schon zweimal ergriffen worden seid,
und schämt es euch nicht, die Mauern eurem Tod vorzustrecken? (600) Seht, die fordern durch den
Krieg unsere Ehen für sich! Welcher Gott, welcher Wahnsinn trieb euch nach Italien? Hier sind nicht
die Atriden, auch nicht Odysseus, der Meister der täuschenden Rede. Als ein von Anfang an
hartgesottenes Geschlecht bringen wir unsere Neugeborene zum ersten Mal zum Fluss und härten
sie in der grimmigen Kälte und in den Wogen ab. Bei der Jagd halten die Jungen Wache und
bestürmen die Wälder, im Spiel lenken sie die Pferde und spannen die Pfeile auf dem Bogen. Und die
bei dieser Arbeit ausdauernde Jugend, die ein geringes Vermögen gewöhnt ist, bändigt entweder die
Erde mit der Hacke oder erschüttert Städte im Krieg. Das ganze Leben macht man vom Schwert oft
Gebrauch, wir ermüden die (610) Rücken der jungen Stiere mit der umgedrehten Lanze. Und auch
157
das träge Greisenalter schwächt nicht die Kräfte des Geistes und verändert unsere Frische. Das graue
Haar drücken wir mit dem Helm nieder, stets beschaffen wir freudig neue Beute und leben vom
Raub. Ihr habt bunte Kleider, safrangelb oder in leuchtendem Purpur, in eurem Herz wohnt die
Trägheit, ihr gebt euch freudig Reigentänzen hin, eure Hemden haben lange Ärmel und euer
Kopfbinden haben Schmuckketten. Oh, ihr seid wahrhaft Phrygierinnen, denn Phryger seid ihr nicht!
Marschiert über den hohen Dindyma, wo euch die Flöte den Klang aus ihren zwei Kammern schenkt,
den ihr gewohnt seid. Euch rufen das Tamburin und die berecyntische Flöte der Mutter vom (620)
Ida-Gebirge. Überlasst die Waffen echten Männern und weicht vom Schwerte.“
Ascanius ertrug den Mann nicht, der solches mit seinen Worten posaunte sowie finstere Dinge sang,
wandte sich ihm zu, spannte seinen Pfeil mit einer Rosshaarsehne an und während er seinen Arme in
die entgegengesetzte Richtung zog, verharrte er, nachdem er zuvor Jupiter mit diesen Gelübden
demütig geben hatte: „Allmächtiger Jupiter, stimme meinen kühnen Unternehmungen zu. Ich selbst
will dir zu deinen Tempeln alljährliche Gaben tragen, vor deine Altäre will ich einen jungen, strahlend
weißen Stier mit goldener Stirn stellen, der mit seiner Mutter in gleicher Weise das Haupt trägt,
schon mit seinen Hörnern angreift, und der den Sand mit seinen Füßen aufwirbelt.“ (630) Der
Schöpfer des Himmels hörte das und ließ es aus einer heiteren Himmelsgegend zur Linken donnern,
ebenso ertönte der tödliche Bogen des Ascanius. Es entfloh schrecklich zischend der zuvor
angespannte Pfeil, flog durch den Kopf des Remulus und durchstieß die gewölbten Schläfen mit der
Eisenspitze. „Geh, und verspotte mit überheblichen Worten die Tugend. Die zweimal eroberten
Phryger geben diese Antwort den Rutulern zurück.“ Nur so viel sprach Ascanius. Die Teucrer folgten
ihm mit Geschrei, lärmten vor Fröhlichkeit und erhoben ihren Mut zu den Sternen.
Damals sah zufällig der gelockte Apollo von der Himmelsgegend aus, von oben her die ausonischen
Schlachtreihen und die Stadt, (640) als er auf einer Wolke saß und er sprach mit diesen Worten den
siegreichen Iulus an: „Du aufgrund deiner neuen Mannhaftigkeit gefeierter Mann, Junge, so geht
man zu den Sternen, du Götterspross, der du Götter hervorbringen sollst. Zurecht werden sich alle
Kriege legen, die unter dem Geschlecht des Assaracus vom Schicksal her kommen werden, auch Troja
wird zu klein für dich sein.“ Sobald er dies gesprochen hatte, begab er sich eilends vom hohen
Himmel und während er die wehenden Lüfte zerteilte, eilte er zu Ascanius. Dann verwandelte er die
Gestalt seines Gesichtes in die, des alten Butes. Dieser war zuvor für den Dardaner Anchises der
Waffenträger und treuer Wächter vor dessen Schwelle. Dann gab ihn der Vater Ascanius zum
Begleiter. Apollo marschierte – (650) in allem dem hochbetagten Mann ähnlich: mit der Stimme, der
Gesichtsfarbe, dem weiße Haar, den grimmig klirrenden Waffen – und mit diesen Worten sprach er
den leidenschaftlich brennenden Iulus an: „Es sei genug, Sohn des Aeneas, dass Numanus durch
158
deinen Pfeil ohne Schaden für dich den Tod fand. Diesen ersten Ruhm gesteht dir der große Apollo zu
und neidet dir ihn nicht, den du mit gleichen Waffen erworben hast. Doch spare im Krieg weiteres
aus, Junge.“ So sprach Apollo, verließ mitten im Sprechen den menschlichen Blick und entschwand in
der Ferne aus den Augen in die dünne Luft. Die vornehmen (660) Dardaner erkannten den Gott sowie
die göttlichen Waffen und nahmen bei Apollos Flucht den klingenden Köcher wahr. Also hielten sie
den kampfbegierigen Ascanius aufgrund diesen Worten und dem Wirken des Phoebus vom
Kampfgeschehen fern, sie selbst rückten erneut in die Schlacht und schickten ihre Leben in die offene
Gefahr. Es erhob sich Geschrei an allen Mauern quer durch das Bollwerk, energisch spannten sie den
Bogen an und schleuderten die Schwungriemen. Der ganze Boden wurde mit Pfeilen bestreut, dann
gaben die Schilde und die gewölbten Helme Lärm von sich, wenn sie wo angestoßen wurden; ein
rauer Kampf erhob sich. Ebenso stark peitscht der Platzregen den Erdboden, der unter dem
Sternzeichen der regenreichen Böcklein vom Westen her kommt, mit so zahlreichem Hagel stürzen
die Wolken (670) gegen die Gewässer, wenn der wilde Jupiter den regenreichen Sturm in die
Südwinde schleudert und am Himmel das gewölbte Gewölk aufbrechen lässt.
Pandarus und Bitias, Sprösslinge des idaeischen Alcanor, welche die Waldnymphe Iaera im Hain des
Jupiter großgezogen hatte. Die jungen Männer glichen den väterlichen Tannen und den Bergen. Das
Tor, welches ihnen durch den Befehl des Anführers anvertraut war, öffneten sie vertrauend auf ihre
Waffen; von sich aus luden sie den Feind in die Festung. Sie selbst standen im Inneren zur Rechten
und zur Linken anstelle der Türme, mit einem Schwert waren sie bewaffnet und auf ihren hohen
Köpfen mit funkelnden Helmbüschen, genau so, wie sich zwei um klare Flüsse in die Luft ragenden
Eichen, (680) sei es an den Ufern des Padus, sei es in der Nähe des lieblichen Athesis, ihre vollen
Baumkronen zum Himmel erheben und ihre erhabenen Wipfel wanken lassen. Sobald die Rutuler
sahen, dass sie offen standen, fielen sie in die Zugänge ein. Sogleich wandten sich Quercens, der in
seiner Rüstung schöne Aquiculus, der hitzköpfige Tmarus sowie der kriegerische Haemon mit ihren
ganzen Heereszügen zur Flucht oder ließen ihr Leben noch an der Schwelle des Tores. Dann wuchs
noch mehr der Zorn in den unverträglichen Gemütern. Und schon ballten sich die Trojaner an
derselben Stelle, nachdem sie sich versammelt hatten (690) und wagten es, Mann gegen Mann zu
kämpfen und weiter vorzurücken.
Ein Bote berichtete seinem Anführer Turnus, der in einer anderen Gegend tobte und Männer mit
Entsetzen erfüllte, dass der Feind ob des neuen Blutes wütete und offenstehende Tore gewährte.
Dieser brach sein Vorhaben ab und stürzte von gewaltigem Zorn angetrieben zur dardanischen Pforte
und zu den überheblichen Brüdern. Zuerst streckte er Antiphates nieder (dieser hielt sich nämlich an
vorderster Stelle auf), indem er einen Wurfspieß auf ihn schleuderte. Antiphates war der uneheliche
159
Sohn einer thebanischen Mutter und des erhabenen Sarpedon. Die italische Lanze flog durch die
dünne Luft und nachdem sie in den Magen hineingeschlagen war, bohrte sie sich tief in die (700)
Brust. Die Höhlung der finsteren Wunde brachte eine schäumende Woge Blut hervor und das Eisen
erwärmte sich in der durchbohrten Lunge. Dann streckte er mit seiner Hand Merops und Erymas
nieder, dann Aphidnus, dann den in seinen Augen brennenden und vor Zorn brüllenden Bitias nieder,
aber nicht mit dem Wurfspieß (denn jener hätte nicht dem Wurfspieß sein Leben abgegeben),
sondern laut zischend flog eine geschleuderte Phalerica, wie ein Blitz bewegt, der weder zwei
Stierfelle noch ein zuverlässiger Brustpanzer mit doppelter Reihe an Schuppen und aus Gold
Widerstand leisten. Die gewaltigen Glieder des Bitias fallen zusammen und stürzen nieder, die Erde
lässt ein Seufzen verlauten und der gewaltige Rundschild ertönte über dem Leichnam. (710) Ein
solcher steinerner Pfeiler fiel manchmal an der euboischen Küste von Baiae herab, den man, zuvor
mit einer großen Masse gebaut, ins Meer warf. So stürzt jener vornüber und sinkt völlig nieder,
nachdem er auf das Gewässer aufgeschlagen ist. Das Meer vermischt sich und es erhebt sich
schwarzer Meeresgrund. Dann erzittert durch das Getöse die hochragende Insel Prochyta, sowie das
harte Lager, die Insel Inarime, durch die Befehle des Jupiters dem Typhoeus auferlegt.
Jetzt fügte der waffenmächtige Mars den latinischen Männern Mut hinzu und spornte sie in ihren
Gemütern heftig an. Auf die Teucrer ließ er die Dämonen der Flucht und der finsteren Furcht. (720)
Von allen Seiten kamen die Latiner zusammen, weil ihnen die Möglichkeit des Kampfes gegeben war
und weil der Krieger und Gott in ihr Herz kam. Pandarus schwang das Tor mit viel Kraft zu, indem er
es in der Angel drehte und stemmte sich mit seinen breiten Schultern dagegen, sobald er seinen
Bruder mit hingestrecktem Körper erkannte und auf welcher Seite nun das Glück stand und welches
Schicksal die Sache lenkte. Viele von seinen Kameraden ließ er aus der Festung ausgeschlossen im
beschwerlichen Kampf zurück. Doch andere Männer schloss er mit sich ein und nahm
hineinrennende Soldaten auf – der Wahnsinnige – weil er mitten in der Schar nicht den Rutulerkönig
sah, wie er ins Lager stürzte und er ihn von sich aus in der Stadt einschloss, (730) wie ein gewaltiger
Tiger inmitten trägem Kleinvieh. Sofort leuchtete neues Licht in seinen Augen hervor und die Waffen
tönten schrecklich; es erzitterte am Scheitel der blutrote Helmbusch und mit seinem Rundschild
erzeugt er funkelnde Blitze. Die plötzlich aufgewühlten Aeneaden erkannten die verhasste Gestalt
und die riesigen Glieder. Dann schoss der Hüne Pandarus hervor und zornentbrannt ob des Todes
seines Bruders sprach er: „Dies ist nicht der zur Mitgift der Amata gehörige Königspalast, auch
umschließt dich Turnus nicht die Stadt Ardea mitten in väterlichen Stadtmauern. Du siehst ein
feindliches Lager; es gibt keine Möglichkeit, um von hier hinauszugehen.“ (740) Diesem lächelte
Turnus ruhigen Gemüts zu: „Fang an, wenn irgendeine Mannhaftigkeit in deinem Gemüt steckt und
kämpfe Mann gegen Mann. Du wirst dem Priamus sogar erzählen, dass du hier einen zweiten Achilles
160
gefunden hast.“ Das hatte er gesagt. Pandarus schleuderte angestrengt und mit größter Kraft eine
Lanze, die noch unbearbeitet, knotig und mit frischer Baumrinde umgeben war. Nur die Lüfte
nahmen sie auf. Die Tochter des Saturn, Iuno, lenkte die kommende, Wunden verursachende Waffe
ab: Die Lanze wurde in das Tor gestoßen. „Dieser Waffe aber wirst du, Trojaner, nicht entkommen,
weil sie meine Rechte mit Kraft führt, ein besserer Mann ist nämlich der, der die Waffe schuf, und
der, der die Wunde verursachen wird.“ So sprach er, und erhob sich hoch zur Spitze seines
erhabenen Schwertes: (750) Er teilte inmitten der Stirn mit seinem Schwert die beiden Schläfen,
sowie die keuschen Wangen mit einer entsetzlichen Wunde. Es erhob sich Getöse. Die Erde wurde
durch das gewaltige Gewicht des Pandarus erschüttert. Sterbend warf Pandarus seine
zusammengefallenen Glieder und seine Waffen, die mit Blut von seinem Gehirn bespritzt waren, zu
Boden. Ihm hing sein Kopf zu gleichen Teilen links und rechts von beiden Schultern herunter.
Nachdem sie sich umgewandt hatten, flohen die Trojaner in bebender Furcht in alle Richtungen. Und
falls dem Sieger sofort der Gedanke in den Sinn gekommen wäre, die Riegel mit eigener Hand
aufzubrechen und seine Kameraden durch die Tore zu lassen, wäre jener Tag sowohl für den Krieg als
auch für das trojanische Geschlecht der letzte gewesen. (760) Doch die Raserei und die wahnsinnige
Begierde nach Blut veranlassten den entbrannten Mann zu anderen Taten. Zuerst empfing er Phaerlis
und Gyges, indem er ihm die Sehnen an den Kniekehlen durchtrennt hatte, dann schleuderte er
hastig ergriffene Lanzen den fliehenden Männern in den Rücken. Iuno half seinen Kräften und seinem
Mut. Ihnen fügte er Halys als Begleiter hinzu und Phegeus, nachdem er seinen leichten Schild
durchbohrt hatte, anschließend die unwissenden Männer, die sich auf den Mauern befanden und
kämpften: Alcander, Halius, Noemon sowie Prytanis. Lynceus, der ihm entgegen zog und seine
Kameraden rief, (770) ergriff er angestrengt mit schwingendem Schwert von einem Hügel rechts.
Durch einen einzigen direkten Schlag lag ihm sein zu Boden geworfenes Haupt samt Helm fern
darnieder. Dann machte er den Schlächter der wilden Tiere, Amycus nieder, an welchem gemessen
kein anderer erfahrener war, die Waffen mit der Hand zu salben und das Eisen mit Gift zu rüsten,
dann machte er Clytius, den Sohn des Aeolus nieder, sowie Cretheus, den Musen ein Freund,
Cretheus, den Begleiter der Musen, dem seine Gedichte und die Kithara stets am Herzen lagen sowie
mit den Saiten Rhythmen anzustimmen. Stets besang er die Pferde und Waffen sowie die Kämpfe der
Männer.
Endlich versammelten sich die teucrischen Anführer, nachdem sie von dem Blutbad der Ihren gehört
hatten: Mnestheus und der energische Serestus. (780) Sie sahen die umherirrenden Kameraden und
den ins Lager aufgenommenen Feind. Mnestheus sagte: „Wohin soll ich letztlich fliehen? Wohin zieht
ihr? Welche andere Festung, welche andere Stadt habt ihr überdies? Soll ein einziger Mensch, oh ihr
161
Bürger, der auch von euren Wällen von allen Seiten umgeben ist, ein so großes Blutbad überall in der
Stadt straflos vollbracht haben? Soll er straflos so viele Adlige der jungen Männer in den Orcus
geschickt haben? Erbarmt ihr euch nicht eures unglücklichen Vaterlandes, der altehrwürdigen Götter
und des großen Aeneas, ihr Säumigen, und schämt ihr euch nicht?“ Durch derartige Worte
entflammt, stärkten sie sich und stellen sich in einem dichten Heereszug auf. Turnus versuchte
allmählich aus dem Kampf zu weichen, (790) zum Fluss zu streben und zu dem Teil, der vom Fluss
umgeben war. Energischer als dieser stürzten die Teucrer mit lautem Geschrei auf ihn und ballten
sich zu einer Schar, wie eine Menge, wenn sie einen wilden Löwen mit feindlichen Waffen bedrängt.
Jener hingegen war erschreckt, wild, und blickte wild. Er ging zurück. Weder ließ es sein Zorn noch
seine Tugend zu, zu fliehen, auch er konnte nicht (auch wenn er dies freilich wünschte) ob der
Waffen und Männer dagegen ziehen. Nicht anders lenkte er seinen unbeschleunigten Schritt zögernd
zurück und sein Verstand wogte vor Zorn. Ja, sogar zweimal fiel er damals noch mitten in den Feind
ein, (800) zweimal wandte er sich bei seiner Flucht durch die Mauern den verwirrten Scharen zu.
Doch die ganze Mannschaft kam aus dem Lager eilig gegen den einen Mann zusammen, auch wagte
es Iuno, die Tochter des Saturn, nicht, Turnus gegen sie Kräfte zu verleihen, denn Jupiter hatte vom
Himmel die himmlische Iris hinab geschickt, die für seine Schwester keine angenehmen Befehle
brachte, wenn Turnus nicht aus den erhabenen Stadtmauern der Teucrer wich. Also konnte der junge
Mann weder nur mit seinem Rundschild noch mit seiner Rechten Widerstand leisten. Und so wurde
er von allen Seiten mit Wurfgeschossen beschossen und überschüttet. Es lärmte in einem
zusammenhängenden Geklirr um seine gewölbten Schläfen der Helm und das harte Erz spaltete sich
durch die Steine. (810) Sein Kamm war zerschlagen. Auch reichte die Krümmung dem Kopf aufgrund
der Schläge nicht aus. Die Trojaner verdoppelten die Würfe ihrer Lanzen, auch der Tod bringende
Mnestheus selbst. Dann floss Turnus am ganzen Körper der Schweiß und bildete einen
pechschwarzen Fluss (er hatte keine Möglichkeit mehr frei zu atmen). Erschöpftes Gekeuche
erschütterte seine müden Glieder. Dann endlich rettete er sich durch einen Sprung vor allen Waffen
in den Fluss. Jener nahm den Springenden in seinem gelbroten Strudel auf, trug ihn in seinen sanften
Wogen hinaus und gab den glücklichen Mann seinen Kameraden zurück, nachdem er ihm das Blut
abgewaschen hatte.
Buch 10
Unterdessen wurde das Haus des allmächtigen Olymp geöffnet und der Vater der Götter und König
der Menschen rief zu einer Ratsversammlung auf den himmlischen Wohnsitz, von wo aus er steil
162
aufragend alle Länder, das Lager der Dardaner und die latinischen Völker erblickte. Alle ließen sich im
doppelt geöffneten Palast nieder und er selbst sprach: „Erhabene Himmelsbewohner, weshalb ist
euch die Meinung wieder umgeschlagen, warum kämpft ihr nur mit euren feindseligen Gemütern?
Ich habe es abgelehnt, dass Italien im Krieg gegen die Teucrer zusammenläuft. Welche Zwietracht
richtet sich gegen mein Verbot? Welche Furcht riet diesen (10) oder jenen dazu, die Waffen zu
ergreifen und das Schwert zu reizen? Es wird eine Zeit kommen, die richtig für einen Kampf sein wird
(verhindert das nicht!), wenn das wilde Karthago der römischen Festung einmal großes Verderben
bereitet und über die offenstehenden Alpen anrückt. Dann wird es erlaubt sein, voll Hass zu
kämpfen und Beute an sich zu reißen. Nun lasst ab und schließt frohgemut einen angenehmen
Vertrag.“ Dies sagte Jupiter mit wenigen Worten.
Nicht so wenig antwortete darauf die goldene Venus: „Oh Vater, oh du ewige Macht der Menschen
und der Dinge (denn was gäbe es sonst, was ich nun anflehen könnte?), (20) erkennst du wie die
Rutuler spotten, wie Turnus mitten unter ihnen auffallend mit seinen Pferden eilt und stürmisch
unter günstigem Kriegsglück dahin stürmt? Nicht mehr schützen die verschlossenen Mauern die
Teucrer. Sogar innerhalb der Tore vermengen sie die Schlachten sowie auf den Wällen der Mauern
selbst und überfluten die Gräben mit Blut. Aeneas fehlt unwissend. Lässt du es etwa niemals zu, dass
die Trojaner von der Belagerung befreit werden? Wieder droht ein Feind den Mauern des
entstehenden Trojas und auch ein zweites Heer und wieder erhebt sich gegen die Teucrer Diomedes
vom aetolischen Arpi her. Ich glaube freilich, mir stehen noch Wunden bevor (30) und als dein Spross
verzögere ich es nur von den Waffen eines Sterblichen bekämpft zu werden. Falls die Trojaner ohne
deinen Frieden und gegen deinen göttlichen Willen nach Italien geeilt sind, sollen sie für ihre
Verfehlungen büßen und durch keine Hilfe sollst du ihnen helfen. Wenn sie aber so vielen Orakeln
gefolgt sind, die ihnen die Götter und die Manen gaben, weshalb kann nun irgendjemand deine
Befehle umwenden oder neue Göttersprüche begründen? Wozu soll ich die verbrannte Flotte an der
Küste des Eryx wieder erwähnen, wozu den König der Stürme und die rasenden Winde, die aus
Aeolien angefacht wurden oder Iris, die aus den Wolken getrieben wurde? Nun (40) wühlt Iuno sogar
die Totengeister auf (dieser Stand der Welt blieb bisher unangetastet) und schickt zur Oberwelt
plötzlich Allecto, die mitten durch die italischen Städte raste. Mir geht es nicht um die Herrschaft der
Trojaner. Ich habe auf sie gehofft, solange die Chance bestand. Mögen diejenigen gewinnen, die du
lieber gewinnen lassen willst. Wenn es für die Teucrer keine Gegend gibt, die ihnen deine hartherzige
Gattin gewähren wird, beschwöre ich dich bei der rauchenden Zerstörung des vernichteten Troja: Es
möge erlaubt sein Ascanius unversehrt aus dem Kampf zu entlassen, es möge erlaubt sein, dass er als
mein Enkel überlebt. Aeneas soll fürwahr auf fremden Gewässern hin und her geworfen werden und
dem Weg folgen, den der Zufall auch immer gewähren wird. (50) Ascanius aber will ich schützen und
163
beschwerlichen Kämpfen entziehen. Da gibt es Amathus, da gibt es für mich die hochragende Stadt
Paphus sowie Cythera, sowie mein Heim in Idalien. Nachdem er die Rüstung abgelegt hat, soll er hier
unrühmlich sein Leben verbringen. Du sollst befehlen, dass Karthago mit großer Macht Ausonien in
Bedrängnis bringt. Nichts wird von da an den tyrischen Städten im Wege stehen. Was hat es
geholfen, dem Verderben des Krieges zu entrinnen und mitten durch die argolischen Feuer geflohen
zu sein, so viele Gefahren des Meeres und der weiten Erde durchlitten zu haben, während die
Teucrer Latium und das wiederentstehende Pergamum suchten? Wäre es nicht besser gewesen, sie
hätten sich auf der äußersten Asche ihrer Heimat niedergelassen (60) und auf dem Boden, wo Troja
stand? Gib den Unglücklichen die Flüsse Xanthus und Simois zurück, ich bitte dich, und wälze für die
Teucrer – gewähre es, Vater – die trojanischen Schicksalsschläge wieder zurück.“
Dann sprach die Königin Iuno, von heftiger Wut getrieben: „Was zwingst du mich, meine erhabene
Stille zu brechen und meinen verhüllten Schmerz durch Worte preiszugeben? Hat irgendjemand der
Menschen und der Götter Aeneas dazu genötigt Kriege zu folgen oder dem latinischen König als
Feind zu begegnen? Von Göttersprüchen getrieben (so sei es) ist er nach Italien geeilt, angetrieben
von den Rasereien der Kassandra. Habe ich ihn etwa ermuntert, das Lager zu verlassen oder sein
Leben den Winden anzuvertrauen? (70) Oder etwa einem Knaben das Oberkommando, oder die
Festungsmauern anzuvertrauen? Oder den tyrrhenische Eid oder die friedliche Stämme
aufzuwiegeln? Welcher Gott, welche hartherzige Macht von mir hat ihn in den Schaden getrieben?
Wo ist hier Iuno oder die von den Wolken geschickte Iris? Es ist also unwürdig, dass die Italer das neu
entstehende Troja mit Flammen umgeben und dass Turnus sich auf seiner heimatlichen Erde
niederlässt, der doch Pilumnus zum Großvater und die Göttin Venilia zur Mutter hat: Warum bringen
die Trojaner mit finsterer Fackel den Latinern Gewalt, unterjochen fremden Fluren und entwenden
ihnen die Beute? Warum wählen sie ihre Schwiegerväter und entführen die Verlobten aus ihren
Schößen, (80) erbitten mit ihrer Hand Frieden und heften vorn an ihre Schiffe Waffen? Du kannst
Aeneas den Händen der Griechen entziehen, anstelle des Mannes Nebel und seelenlose Winde
vorspannen und du kannst die Flotte in ebenso viele Nymphen verwandeln: Dagegen ist es ein Frevel,
dass ich den Rutulern etwas geholfen habe? ‚Aeneas fehlt unwissend‘ – und er soll unwissend fehlen!
Du hast Paphus und Idalien, du hast das hochragende Insel Cythera: Wozu berührst du eine für
Kriege hochgerüstete Stadt und raue Herzen? Versuche ich etwa, dir das schwankende Gemeinwesen
Phryrgiens völlig zu zerstören? Bin ich es oder er, der die unglücklichen Trojaner den Achivern (90)
entgegenstellte? Welchen Grund gab es, dass sich Europa und Asien in Waffen erhoben und durch
einen Raub Friedensverträge lösten? Bezwang unter meiner Führung der dardanische Ehebrecher
Sparta, oder habe ich Waffen gereicht oder durch Amor den Krieg am Laufen gehalten? Damals hatte
164
es sich geziemt für deine Männer Furcht zu empfinden: Nun erhebst du dich spät mit ungerechten
Klagen und führst vergeblichen Zank in deinem Mund.“
Derartiges sprach Iuno und alle Himmelsbewohner lärmten in unterschiedlicher Zustimmung, ganz
wie die ersten Luftzüge dumpf tönen, wenn sie sich im Wald verfangen haben und dunkles Murmeln
verbreiten, welches den Seeleuten kommende Winde meldet. (100) Dann sagte der allmächtige
Vater, dem die oberste Gewalt über die Welt zu Eigen ist (Da er sprach verstummte der erhabene
Götterpalast, die Erde wurde in ihrem Grund erschüttert und der steil aufsteigende Äther schwieg.
Damals legten sich die Westwinde und das Meer glättete seine sanfte Wasseroberfläche): „Vernehmt
also mit eurem Geist diese meine Worte und prägt sie euch ein! Da es nun einmal nicht möglich ist,
dass die Ausonier durch einen Vertrag mit den Teucrern verbunden werden, und auch eure
Zwietracht kein Ende nimmt: Welches Glück einem jeden beschieden ist, welche Hoffnung sich ein
jeder ausmalt – Trojer oder Rutuler – werde ich unterschiedslos hinnehmen, sei es, dass das Lager
aufgrund der Göttersprüche der Italer in einer Belagerung gehalten wird, (110) sei es, aufgrund der
finsteren Warnungen Trojas nach der üblen Irrfahrt. Auch befreie ich die Rutuler nicht. Einem jeden
wird sein Beginnen Strapaze und Glück bringen. Der König Jupiter ist allen gleich. Die Göttersprüche
werden ihren Weg finden.“ Bei den Flüssen seines stygischen Bruders Pluto, bei den vor Pech und
finsteren Strudeln brausenden Ufern nickte er und ließ den ganzen Olymp durch dieses Nicken
erzittern. Hier endete er mit seiner Rede. Dann erhob sich Jupiter von dem goldenen Thron, den die
Himmelsbewohner in ihrer Mitte zur Schwelle führten.
Inzwischen drängten die Rutuler um alle Tore, die Männer im Blutbad niederzustrecken und die
Festungsmauern mit Flammen zu umgeben. (120) Doch die Legion der Aeneaden war hinter den
Wällen belagert und es bestand kein Funke Hoffnung auf Flucht. Die Unglücklichen standen
vergeblich in den hohen Türmen und mit einem weitmaschigen Kranz umgaben Asius, der Sohn des
Imbrasus, Thymoetes, der Sohn des Hicetaon, zwei Assaracer und der ältere Thymbris mit Castor als
erste Reihe die Mauern. Diese begleiteten die beiden Brüder des Sarpedon: sowohl Clarus als auch
Thaemon, die aus dem hohen Lykien kamen. Es brachte, mit seinem ganzen Körper angestrengt,
einen gewaltigen Felsen – kein geringer Teil eines Berges – Acmon aus Lyrnesus, nicht
unbedeutender als sein Vater Clytius oder sein Bruder Menestheus. (130) Diese verteidigten das
Lager wetteifernd mit Wurfspießen, jene mit Felsbrocken. Sie schleuderten Brandfackeln und
befestigten die Pfeile an der Sehne. Sieh! Er selbst war mitten unter ihnen, der äußerst berechtigte
Schützling der Venus, der dardanische Junge, sein Haupt, ehrbar enthüllt, funkelte wie ein Edelstein,
der das gelbgoldene Gold teilt und entweder Zierde für den Hals oder für das Haupt ist, oder wie das
nach den Regeln der Kunst in Buchsbaumholz oder in das Holz einer oricischen Terebinthe
165
eingeschlossene Elfenbein. Diesem nahm sein milchiger Nacken die herabhängenden Haare auf,
während sie unten ein Kreis mit geschmeidigem Gold zusammenhielt. Auch dich haben die mutigen
Stämme gesehen, Ismarus, (140) wie du Wunden verursachende Waffen hingelenkt und Pfeile mit
Gift gerüstet hast, du Adliger aus dem maeonischen Haus, wo Männer fruchtbare Fluren bearbeiten
und sie der Fluss goldführende Fluss Pactolus bewässert. Auch Mnestheus war zugegen, welchen der
frühere Ruhm des vom Wall der Mauern vertriebenen Turnus stolz erhob, und auch Capys: Von ihm
ausgehend bezieht die campanische Stadt Capua ihren Namen.
Jene Männer hatten untereinander Kämpfe des harten Krieges ausgetragen: Mitten in der Nacht
durchfurchte Aeneas das Meer. Denn sowie er von Euander kommend das etruskische Lager
betreten hatte, zum König getreten war und ihm seinen Namen und sein Geschlecht genannt hatte,
(150) was er erstrebte und was er selbst vorbrachte, ihn belehrt hatte, welche Waffen sich Mezentius
verschaffte und über das gewalttätige Gemüt des Turnus, ihn ermahnt hatte, welche Zuversicht es
für das Geschick der Menschen gab und Bitten unter seine Worte gemischt hatte, gab es kein Zögern
mehr: Tarchon verband mit ihm seine Streitkräfte und besiegelte einen Vertrag. Dann bestieg der
vom Fatum freie lydische Stamm die Flotte, auf Geheiß der Götter zusammengebracht von einem
auswärtigen Anführer. Das Schiff des Aeneas segelte voran und an seinem Schiffsschnabel waren
phrygische Löwen angebunden. Es ragte über das Ida-Gebirge hinaus, den flüchtenden Teucrern war
es äußerst willkommen. Hier saß der erhabene Aeneas und bedachte für sich die verschiedenen (160)
Ereignisse des Krieges. Pallas, der dicht an seiner linken Seite weilte, fragte bald nach den Sternen,
dem Wegweiser der schattigen Nacht, bald, welche Ereignisse Aeneas auf dem Land und auf dem
Meer erlebt hatte.
Öffnet nun den Helicon, Göttinnen, und treibt den Gesang an, welche Mannschaft inzwischen den
Aeneas von der tuskischen Küste aus begleitet, die Schiffe bewaffnet und auf das Meer fährt.
Der Anführer Massicus durchpflügt das Meer mit der erzbeschlagenen ‚Tigris‘, unter dem eine
Mannschaft von eintausend jungen Männern stand, welche die Stadtmauern Clusium und die Stadt
Cosae verlassen hatten. Sie hatten als Waffen Pfeile, sowie leichte Köcher an ihren Schultern und
todbringende Bögen. (170) Mit Massicus war auch der grimmige Abas: Diesem leuchtete sein ganzer
Heereszug mit auffallenden Waffen und mit einer goldbeschlagenen Apollostatue leuchtete sein
Schiff. Ihm hatte die Mutterstadt Populonia sechshundert kriegserfahrene, junge Männer gewährt,
die aufgrund ihrer unerschöpflichen Bodenschätzen an Stahl edle Insel Ilva aber gewährte ihm
dreihundert Männer. Der dritte Mann war Asilas, der Mittler zwischen Menschen und Götter, dem
die Eingeweide des Kleinviehs, dem das Gestirn des Himmels gehorchte, sowie die Zungen der Vögel
166
und die Feuer der ahnenden Blitze. Er riss eintausend dichtgedrängte Soldaten in Formation mit sich,
ausgerüstet mit Schauder erregenden Lanzen. Die Stadt Pisa befiehlt ihnen zu gehorchen, die ihren
Ursprung am Fluss Alpheus hat, (180) eine Stadt auf etruskischem Boden. Es folgte der äußerst
schöne Astyr, Astyr, der seinem Pferd vertraute, mit seinen schillernden Waffen. Dreihundert
Soldaten gaben die hinzu (allen ist der eine Sinn zu folgen zuteil), die aus der Stadt Caere kamen, die
auf den minionischen Fluren wohnten, sowie das alte Pyrgi und das stürmische Graviscae.
Ich freilich will dich nicht übergehen, Cunarus, tapferster Führer der Ligurer im Krieg und auch dich
nicht Cupavus, von nur wenigen Männern begleitet, von dessen Scheitel sich Schwanenfedern
erheben (das ist dein Vergehen, Amor), als Zeichen der väterlichen Gestalt. Denn man sagt, dass
Cycnus in Trauer um seinen geliebten Phaethon war, während er (190) zwischen Papellaub und dem
Schatten der Schwestern sang und sich durch die Muse über die traurige Liebe hinwegtröstete, habe
er das graue Greisenalter mit seinem weichen Flaum auf sich gezogen, als er die Erde verließ und mit
seiner Stimme zu den Sternen folgte. Sein Sohn, der mit seiner Flotte gleichaltrige Scharen begleitet
hatte, bewegte mit Ruderkraft den gewaltigen ‚Centaurus‘ vorwärts. Er setzte dem Meer hart zu,
drohte den Wogen steil aufragend mit einem gewaltigen Felsen und durchfurchte das tiefe Meer mit
seinem langen Kiel.
Jener Orcus setzte seinen Heereszug sogar von den heimatlichen Küsten her in Bewegung, der Sohn
der schicksalsverkündenden Manto und des etruskischen Flusses, (200) der dir die Stadtmauern und
den Namen seiner Mutter gegeben hat, Stadt Mantua. Mantua, reich an Ahnen, doch nicht allen ist
ein und derselbe Stamm zu Eigen: Jene Stadt hat drei Stämme, je vier Volksgruppen unter jedem
Stamm. Die Stadt selbst ist für diese Gruppen das Haupt, ihre Kräfte aus etruskischem Blut. Auch von
dieser Stadt bewaffnete Mezentius gegen sich fünfhundert Soldaten. Diese führte der mit bläulichem
Schilf verhüllte Minicius, Sohn des Benacus, in angriffsbereitem Schiff auf das Meer. Es fuhr der
ernste Aulestes und sich erhebend ließ er mit einhundert Rudern die Flut peitschen. Die Wasser
schäumten ob der gestreiften Oberfläche. Diesen fuhr das gewaltige Schiff ‚Triton‘ und (210)
erschreckte mit seiner bläulichen Muschel das Meer. Diesem zeigte die Vorderseite bis zur zottigen
Brust einen Menschen, wenn es schwamm, der Bauch hörte als Walfisch auf, und unter der
halbwilden Brust tönte die schäumende Woge.
So viele auserwählte Vornehmen fuhren auf dreimal zehn Schiffen als Unterstützung für Troja und
durchfurchten mit ihren erzbeschlagenen Schiffen die Salzflächen.
167
Und schon war der Tag vom Himmel gewichen und die gütige, in ihrem Wagen nächtlich
umherschweifende Phoebe rollte mitten auf den Olymp zu. Aeneas saß selbst dort, lenkte das
Steuerruder und bediente die Segel (die Sorge gewährte nämlich seinen Gliedern keine Ruhe). Und
jenem (220) kam mitten auf der Strecke ein Reigen, siehe!, seiner Begleiterinnen entgegen: Die
Nymphen, für welche die gütige Cybele befohlen hatte, dass sie die Wirkmacht des Meeres
innehaben und Nymphen aus Schiffen verwandelt sein sollten, schwammen synchron und
durchfurchten die Flut, so zahlreich, wie sie früher mit ihrem erzbeschlagenen Bug an den Gestaden
standen. Sie erkannten schon aus der Ferne ihren König und umgaben ihn mit ihrem Reigen. Von
diesen hielt diejenige, die äußerst gelehrt war zu sprechen, Cymodocea, und hinten folgte, mit ihrer
rechten Hand das Heck, sie selbst ragte mit ihrem Rücken aus dem Wasser und mit ihrer Linken
ruderte sie unterhalb der stillen Wogen. Dann sprach sie den unwissenden Mann so an: „Bist du etwa
wach, Götterspross Aeneas? Wach auf und lasse für die Segeln die Taue schießen! (230) Wir sind es,
die Pinien aus dem heiligen Gipfel des Ida-Gebirges. Nun sind wir, deine Flotte, Meeresnymphen.
Sobald uns eilig der treulose Rutuler mit seinem Schwert und Feuer in Bedrängnis brachte,
durchbrachen wir unwillig deine Taue und suchten dich auf dem ganzen Meer. Unsere Mutter, die
sich uns erbarmte, gab uns neu diese Gestalt und gewährte, dass wir Göttinnen sind und unser Leben
unter den Meereswogen verbringen. Dein Junge Ascanius hingegen wird hinter der Mauer und den
schaudererregenden Gräben inmitten der Geschosse und den kriegerischen Latinern gehalten. Schon
besetzen arcadische Reiter gemeinsam mit tapferen Etruskern die befohlenen Gebiete. Diesen die
mittleren Schwadronen entgegenzustellen, (240) damit sie nicht die Lager verbinden können, ist für
Turnus beschlossene Sache. Wohlan stehe auf und befehle zuerst, dass bei kommender
Morgendämmerung die Kameraden zu den Waffen gerufen werden. Nimm den unbesiegbaren
Rundschild, den dir Volcanus selbst gegeben und die Seiten mit Gold umrandet hat. Der morgige Tag
wird, falls du meine Worte nicht für ungültig hältst, gewaltige Leichenhaufen rutulischen Blutes
sehen.“ Das hatte sie gesprochen und im Weggehen trieb sie mit ihrer Rechten das hohe Schiff auf
allzu bekannter Weise an. Das Schiff eilte durch die Wogen schneller als ein Wurfspieß und als ein
Pfeil, welcher der Schnelligkeit der Winde gleichkam. Hierauf beschleunigten andere Nymphen die
Fahrt. Der unwissende (250) Trojer selbst, Sohn des Anchises, staunte, dennoch stärkte er seinen
Mut durch dieses Wunder. Dann betete er kurz, als er das Himmelsgewölbe anblickte: „Gütige
Mutter der Götter, Idaea, der die Stadt Dindyma am Herzen liegt, sowie die turmbewehrten Städte
und die Löwen des Zweigespanns an ihren Zügeln, du bist mir jetzt der Anführer des Kampfes, du
mögest das Vorzeichen ordnungsgemäß zu einem guten Ausgang führen und mit gewogenem Schritt
den Phrygern nahen, Göttin.“ Nur so viel sprach Aeneas und unterdessen eilte schon der
wiederkehrende Tag herbei mit seinem frühen Licht und hatte die Nacht vertrieben. Zuerst
168
verkündete er den Kameraden, dass sie den Zeichen folgen, ihre Gemüter für die Waffen bereit
machen und sich für den Kampf rüsten mögen.
(260) Schon hat er die Teucrer im Blickfeld und sein Lager, wie er emporragend auf dem Heck stand,
als er dann mit seiner Linken den leuchtenden Schild erhob. Die Dardaner erhoben von den Mauern
Geschrei, das bis zu den Sternen drang, die zugefügte Hoffnung erweckte die Zorneswallungen und
sie warfen Wurfgeschosse mit ihren Händen, wie die Kraniche am Fluss Strymon unter den
schwarzen Wolken ihre Zeichen geben, mit Lärm den Äther durchfliegen und vor dem Sturm unter
glücklichem Geschrei fliehen. Doch König Turnus und den ausonischen Anführern schien dies
wundersam, bis sie hinter sich die zur Küste gewandten Schiffshecks sahen und wie das ganze Meer
mit seinen Flotten landete. (270) Es leuchtete die Helmspitze von Aeneas‘ Haupt und vom Scheitel
seines Helmbusches her stieß er Flammen hervor. Gewaltige Feuer versprühte die goldene
Krümmung seines Schildes. Es war nicht anders, als wenn manchmal in einer klaren Nacht blutrote
Kometen unheilvoll leuchten, oder wenn der glühende Sirius aufgeht, während er Durst und
Krankheiten über die erschöpften Menschen bringt und mit seinem ungünstigen Licht den Himmel
verdüstert.
Dennoch wich dem kühnen Turnus die Zuversicht nicht, an die Küste zu eilen und die Ankömmlinge
vom Land zu vertreiben. Von sich aus hob er die Moral mit diesen Worten und ermunterte: „Was ihr
euch mit Gelübden gewünscht habt, ist da: Die Aeneaden mit eurer Rechten zu zerschmettern. (280)
Mars selbst ist für die Männer in ihren Händen zugegen. Nun soll ein jeder an seine Frau und an sein
Heim denken, nun soll sich jeder seine großen Taten wieder in Erinnerung rufen, die Ruhmestaten
der Väter. Lasst uns ihnen überdies in Richtung Meer entgegenlaufen, solange sie unruhig sind und
den von Bord gehenden Männern die ersten Schritte noch unsicher sind. Den Kühnen hilft Fortuna!“
Dies sagte er und überlegte für sich, welche seiner Männer er gegen die Ankömmlinge führte und
welchen er die besetzten Mauern anvertrauen konnte.
Inzwischen setzte Aeneas seine Kameraden von den hohen Schiffen über die Stege an Land. Viele
beobachteten den Rücklauf des ebbenden Meeres und vertrauten sich mit einem Sprung dem
seichten Wasser an, (290) andere ruderten an Land. Tarchon spähte über die Küste, wo er keine
Untiefe erwartete und keine Welle gebrochen zurückrauschte, sondern wo das Meer ungehindert
mit zunehmender Brandung heran glitt. Sofort wandte er hierhin den Bug und bat seine Kameraden:
„Nun, oh ausgewählte Mannschaft, legt euch in die kräftigen Ruder. Erhebt sie, tragt die Schiffe auf
dem Wasser dahin, spaltet mit den Schiffsschnäbeln diese feindliche Erde, der Kiel selbst soll sich
eine Furche ziehen. Ich lehne es nicht ab, dass das Schiff in einem derartigen Standort zerbricht,
169
wenn das Land einmal an uns gerissen wurde.“ Nachdem Tarchon solches gesprochen hatte, erhoben
sich die Kameraden an den Rudern und fuhren die (300) schäumenden Schiffe zu den latinischen
Fluren, bis die Schiffsschnäbel den trockenen Sand erreicht haben und alle Schiffe unbeschädigt fest
saßen. Aber nicht dein Schiff, Tarchon: Denn es wurde auf eine Untiefe geschlagen. Und als es auf
beiden Seiten emporgehalten lange an der ungünstigen Sandbank hing und die Flut ermüdete, löste
es sich, und ließ die Männer mitten in die Brandung fallen, welche die Trümmer der Ruder und die
wogenden Ruderbänke behinderten und zugleich zog ihnen die zurückgleitende Welle die Füße
zurück.
Auch Turnus hielt keine säumige Pause zurück, sondern eifrig rafft er die ganze Schlachtreihe gegen
die Teucrer und stellte sie ihnen an der Küste entgegen. (310) Die Zeichen zum Angriff ertönten. Als
erster fiel Aeneas in die bäuerlichen Scharen ein, ein gutes Vorzeichen für den Kampf, und nachdem
er Theros getötet hatte, der als größter der Männer von sich aus Aeneas angegriffen hatte, streckte
er die Latiner nieder. Diesem durchbohrte er mit seinem goldenen Schwert durch seinen Brustpanzer
und sein Schuppenhemd hindurch seine ungeschützte Seite. Dann traf er Lichas, den man aus seiner
schon getöteten Mutter herausgeschnitten hatte und der dir, Phoebus, geweiht war. Weshalb war es
ihm als kleinen Jungen möglich, dem Unglück des Schwertes zu entkommen? Nicht weit von hier
schickte er den raubeinigen Cisseus und den riesigen Gyas die ganze Heereszüge mit der Keule
niederstreckten, in den Tod. Nichts half jenen die Waffen des Hercules, (320) auch nicht die kräftige
Mannschaft sowie der Vater Melampus, immerfort der Begleiter des Alciden solange die Erde noch
harte Arbeiten bot. Siehe, Pharo, während er vergebliche Worte im Munde führte: Während Aeneas
den Wurfspieß schleuderte blieb dieser in seinem schreienden Mund stecken. Auch du, Cydon,
während du Unglücklicher dem Clytius folgst, deiner neuen Freude, dem der erste blonde Bart an
den Wangen wächst, warst von einer dardanischen Rechten niedergestreckt, der Liebe
unbekümmert, welche dir immer den jungen Männern galt. Bemitleidenswert würdest du daliegen,
wenn nicht die dichtgedrängte Schar deiner Brüder entgegengekommen wäre, die Nachkommen des
Phorcus: sieben an der Zahl, sieben Wurfgeschosse (330) schleuderten sie. Teilweise prallten sie
vergeblich am Helm und am Rundschild des Aeneas ab, teilweise lenkte die gütige Venus diejenigen
ab, die seinen Körper streiften. Aeneas sprach den treuen Achates an: „Liefere mir Wurfgeschosse,
kein einziger Pfeil wird diese Rechte umsonst gegen die Rutuler schleudern, die bereits in den
Körpern der Griechen auf den ilischen Feldern steckten.“ Dann ergriff er eine große Lanze und warf
sie: Jene durchschlug im Flug den ehernen Rundschild des Maeon und durchbrach gleichzeitig den
Brustpanzer samt der Brust. Diesem kam sein Bruder Alcanor zur Hilfe: Er stützte den
zusammenbrechenden Bruder mit seiner Rechten. Nachdem sein Oberarm durchbohrt war, eilte die
geschleuderte Waffe (340) weiter und bewahrte blutbefleckt ihren Lauf. Der rechte Arm hing
170
sterbend an den Sehnen von der Schulter herab. Dann griff Numitor, nachdem er die Lanze vom
Körper seines Bruder hastig ergriffen hatte, Aeneas an: Aber es war nicht erlaubt, dass die Lanze
auch entgegen gerichtet traf, und so berührte sie den Oberschenkel des erhabenen Achates nur
flüchtig.
Jetzt kam aus Cures der treue Clausus an – vertrauend auf seinen jugendlichen Körper – und bohrte
aus der Ferne eine harte Lanze in Dryops, die ihn unter dem Kinn schwer traf und zugleich die
Stimme und den Atem des Sprechenden nahm, nachdem seine Kehle durchbohrt war. Jener
hingegen stürzte mit der Stirn zur Erde und erbrach aus seinem Mund dickes Blut. (350) Auch drei
Thraker, aus dem uralten boreischen Stamm und drei, die der Vater Idas und die Heimat Ismara
schickte, streckte er in verschiedenen Vorfällen nieder. Es lief Halaesus und die Mannschaft der
Aurunker herbei, es kam auch der Nachkomme des Neptun zur Hilfe: der mit seinen Pferden
auffallende Messapus. Nun strebten diese, nun jene danach, den Gegner zu vertreiben. Es wurde auf
der Schwelle Ausoniens selbst gekämpft, ganz wie die unharmonischen Winde im großen Äther
Kämpfe aufnehmen mit gleichen Gemütern und Kräften. Untereinander weicht niemand, nicht
weichen die Wolken, nicht das Meer. Lange ist der Kampf der Winde unentschieden: Alle stehen sich
fest entschlossen gegenüber. (360) In gleicher Weise liefen die trojanischen Schlachtreihen und die
latinischen zum Kampf zusammen. Fuß hing an Fuß, dicht stand Mann an Mann.
Doch in einer anderen Richtung, wo ein Sturzbach rollende Felsbrocken und zerstörte Bäume weithin
an seinen Ufern hervorbrachte, sah Pallas, wie die arcadischen Schlachtreihen zu Fuß eilten – was sie
nicht gewohnt waren und wie sie vor den leicht folgenden Latinern flohen, da ihnen die raue
Beschaffenheit des Ortes dazu riet, die Pferde aufzugeben. Nun entflammte er mit einer Bitte und
mit bitteren Worte ihre Tugend, das Einzige, was in der misslichen Lage übrig blieb: „Wohin flieht ihr,
Kameraden? Bei euch und euren tapferen Taten, (370) beim Namen unseres Führers Euander, bei
den gewonnenen Kriegen und meiner Hoffnung, die nun ähnlichen Ruhm wie der meines Vaters
verfolgt, vertraut nicht euren Füßen! Ihr müsst euch mit dem Schwert einen Weg durch den Feind
brechen. Wo jene Schar der Männer am dichtesten herandringt, da fordert euch euer Anführer Pallas
sowie die erhabene Heimat zurück. Keine göttlichen Mächte bedrängen uns, als Sterbliche werden
wir von einem sterblichen Feind bedrängt. Wir haben ebenso viel Mut wie Tapferkeit. Seht, das Meer
umschließt uns mit einem großen Wasserwall, eine Fluchtmöglichkeit an Land gibt es nicht mehr:
Sollen wir zum Meer oder nach Troja eilen?“ Dies sagte er, und stürzte mitten in den dichten Feind.
(380) Zuerst kam ihm von schlechten Fata herbeigeführt, Lagus entgegen. Diesen durchbohrte er mit
einer geschleuderten Lanze, wo das Rückgrat die Rippen teilte, während jener einen Felsen von
171
großem Gewicht losriss, und zog die feststeckende Lanze aus den Knochen. Darüber hinaus ergriff ihn
auch Hisbo nicht, während er es freilich wünschte. Denn Pallas empfing zuvor den ob des grausamen
Todes seines Kameraden unvorsichtig eilenden Mann, während jener wütend war, und Pallas stieß
ihm sein Schwert tief in seine bebende Lunge. Dann griff er Sthenius an und Anchemolus, vom
altehrwürdigen Geschlecht des Rhoetus, der es gewagt hatte, das Schlafgemach seiner Stiefmutter zu
beflecken. (390) Auch ihr, Brüder, fielt auf den rutulischen Fluren, Larides und Thymber,
Zwillingsbrüder des Daucus, für die Euren nicht zu unterscheiden, ein willkommener Irrtum für eure
Eltern. Doch nun gab euch Pallas beschwerliche Unterscheidungsmarkmale: Denn dir Thymber
schnitt das Schwert des Euander den Kopf ab. Und dich, Larides suchte dein abgehauener rechter
Arm, die halbtoten Finger zuckten und wollten das Schwert wieder ergreifen. Die Arcader, die
aufgrund Pallas‘ Mahnung entflammt waren und die hochberühmten Taten des Mannes
betrachteten, rüstete der Schmerz vermischt mit Scham gegen die Feinde.
Dann (400) durchbohrte Pallas den mit seinem Zweigespann an ihm vorbei fliehenden Rhoetus.
Dieser Zeitraum und nur so viel Aufschub hatte Ilus. Denn auf Ilus hatte er aus der Ferne eine starke
Lanze gelenkt, die Rhoetus in der Mitte abfing, vor dir, bester Teuthras, Bruder des Tyres fliehend.
Nachdem er vom Streitwagen gerollt war, fiel er halbtot mit seinen Fersen auf die Fluren der Rutuler.
Und wie im Sommer, wenn sich die Winde nach Wunsch erheben, der Hirte die zerstreuten Feuer in
den Wälder entfacht und nachdem diese plötzlich die Mitte des Waldes ergriffen haben, sich eine
Schrecken erregende Feuerbrunst über die weiten Felder ausdehnt. Der Hirte schaut von oben als
Sieger sitzend auf die jubelnden Flammen. (410) Nicht anders kam die ganze Tugend der Kameraden
in einen Punkt zusammen und half dir, Pallas. Doch der im Krieg energische Halaesus zog den
Feinden entgegen und barg sich hinter seinem Schild. Dieser schlachtete Ladon, Pheres, Demodocus
und dem Strymonius riss er mit seinem strahlenden Schwert den rechten Arm ab, den er zum
Wurfspieß erhoben hatte. Mit einem Stein traf er das Gesicht des Thoas und verteilte die
Knochensplitter, die mit blutigem Hirn vermischt waren. Während er die Göttersprüche prophezeite,
hatte der Vater Halaesus in den Wäldern verborgen. Sobald der ältere Mann im Tod die grauen
Augen geschlossen hatte, legten die Parzen ihre Hand auf den Mann und weihten die Waffen des
(420) Euander. Pallas griff nun Halaesus wie folgt an, doch zuvor hatte er gebetet: „Gewähre nun,
Vater Thybris, der Lanzenspitze, die ich mit dem Geschoss schleudere, Glück und einen Weg durch
die Brust des hartgesottenen Halaesus. Diese Waffe und die Beute des Mannes wir deine Eiche
besitzen.“ Der Gott hat dieses Gebet gehört. Während Halaesus Imaon deckte, gewährte der
Unglückliche der arcadischen Lanze seine ungeschützte Brust.
Doch Lausus, als gewaltiger Kraft des Krieges, ließ nicht zu, dass der ganze Heereszug durch den Tod
des Mannes erschreckt war. Als erstes tötete er den entgegengestellten Abas, Knoten und
172
Verzögerung des Kampfes. Die arcadische Nachkommenschaft wurde niedergestreckt, die Etrusker
wurden niedergemacht (430) und ihr, oh Teucrer, von den Griechen verschont gebliebene Männer.
Die Heereszüge stießen mit gleichwertigen Anführern und gleichen Kräften zusammen. Die äußersten
Kampfreihen verdichteten sich und die Menschenmenge ließ nicht zu, dass Wurfgeschosse oder
Hände bewegt wurden. Von dort drohte und drängte Pallas, von da drängte Lausus entgegen,
zwischen ihnen gab es keinen großen Altersunterschied, beide waren herausragend von ihrer Gestalt,
doch ihnen hatte Fortuna die Rückkehr in die jeweilige Heimat versagt. Der Lenker des großen Olymp
hat es dennoch nicht zugelassen, dass sie gegenseitig im Kampf zusammenstießen. Bald wartete auf
jene das jeweils eigene Fatum unter einem größeren Feind.
Inzwischen ermahnte die gütige Schwester (440) den Turnus, Lausus abzulösen, der darauf mit
einem schnellen Wagen den Heereszug in seiner Mitte teilte. Sobald er seine Kameraden sah, sagte
er: „Es ist Zeit vom Kampf abzulassen. Ich eile allein gegen Pallas. Pallas ist mir allein bestimmt. Ich
wünschte, sein Vater selbst wäre als Zuschauer dabei.“ Dies sprach er und seine Kameraden wichen
wie befohlen von der Ebene. Doch beim Abzug der Rutuler bewunderte der junge Mann den stolzen
Befehl, staunte vor Turnus, und ließ seine Augen über den gewaltigen Körper schweifen. Er musterte
aus der Ferne alles an ihm mit grimmigem Blick und mit derartigen Worten entgegnete er den
Worten des Tyrannen: „Entweder werde ich nun für die geraubte, üppige Rüstung gelobt werden
(450) oder für einen außerordentlichen Tod. Mein Vater ist beidem Los gewogen. Lass die
Drohungen!“ Nachdem er das erwidert hatte, schritt er mitten in die Ebene vor. Eisiges Blut lief den
Arcadern in ihrer Brust zusammen. Turnus sprang von seinem Zweigespann herunter, rüstete seine
Füße, um Mann gegen Mann kämpfen zu können. Wie ein Löwe, wenn er von einer hochgelegenen
Höhle aus sieht, wie in der Ferne auf den Feldern ein Stier steht, der auf einen Kampf sinnt,
herbeieilt, ganz so war das Bild des herbeirennenden Turnus. Sobald Pallas glaubte, dass Turnus für
eine geschleuderte Lanze erreichbar wäre, wagte er es zuerst loszugehen, sofern ihm irgendein Zufall
ob des ungleichen Kräfteverhältnisses half, und sprach wie folgt zum großen Himmel: (460) „Bei der
Gastfreundschaft meines Vaters und der bei seinen Tischen, als die du als Ankömmling getreten bist,
dich bitte ich, Hercules, helfe mir bei meinem gewaltigen Vorhaben. Er möge erkennen, wie ich ihm
halbtoten Mann seine blutige Rüstung raube und die sterbenden Augen des Turnus sollen mich als
Sieger ertragen.“ Der Sohn des Amphitruo hörte den jungen Mann, unterdrückte tief in seinem
Herzen ein Seufzen und brauch Tränen hervor, vergeblich. Dann sprach der Vater Jupiter seinen Sohn
mit freundlichen Worten an: „Für jeden steht ein Todestag fest. Allen ist eine kurze und unersetzliche
Lebenszeit zu Eigen. Aber den Ruhm durch Ruhmestaten zu mehren, das ist das Werk der Tugend.
Unter den hohen Mauern Trojas (470) fielen so viele Göttersöhne, ja es fiel gemeinsam mit ihnen
Sarpedon, mein Sprössling. Auch seine eigene Göttersprüche rufen Turnus und er ist an die Grenzen
173
seiner ihm verliehenen Lebenszeit angelangt.“ So sprach er und lenkte seine Augen wieder von den
Fluren der Rutuler weg.
Doch Pallas schleuderte mit großen Kräften die Lanze und riss das glänzende Schwert aus der hohlen
Scheide. Während jene flog, geriet sie dorthin, wo sich der Schulterschutz ganz oben erhob und
nachdem sie sich den Weg durch den Rand des Schildes gebahnt hatte, streifte sie endlich auch den
großen Körper des Turnus. Jetzt schleuderte Turnus lange schwingend ein Hartholz (480) gegen
Pallas, an dessen Spitze eine scharfe Schneide befestigt war und sprach so: „Schau her, ob mein
Wurfgeschoss durchdringender ist.“ So hatte er gesprochen. Ach ja, er durchschlug mit schwingender
Spitze den Rundschild – so viele Eisenschichten, so viele Bronzeschichten, den ein Stierfell so viele
Male umgab – mit seinem Wurf in der Mitte, sowie den verzögernden Brustpanzer und bohrte die
Lanze in die gewaltige Brust des Pallas. Jener riss hastig das warme Wurfgeschoss aus seiner Wunde,
vergeblich: Gemeinsam folgten auf ein und demselben Weg sein Blut und sein Leben. Er stürzte über
seiner Wunde zusammen (darüber klirrte seine Rüstung) und sterbend biss er in die feindliche Erde.
(490) Während sich Turnus über ihn stellte, sagte er: „Arcader, erinnert euch an diese meine Worte
und berichtet sie Euander: Wie er es verdient hat, schicke ich ihm Pallas zurück. Ich schenke ihm jede
Ehrung für das Grab, jeden Trost der Bestattung schenke ich. Die Gastfreundschaft zu Aeneas wird
ihm allerdings teuer sein.“ Und nachdem er solches gesagt hatte, drückte er mit seinem linken Fuß
den Toten nieder, während er den Gürtel des Pallas mit seinem gewaltigen Gewicht ergriff, worauf
der Frevel gedruckt war: Während einer einzigen Hochzeitsnacht eine hässlich getötete Mannschaft
junger Männer und blutige Schlafzimmer, die Clonus, der Sohn des Eurytus, mit viel Gold ziseliert
hatte. (500) Aufgrund dieser Beute jubelte nun Turnus und freute sich, nachdem er sie an sich
gerissen hatte. Der Menschenverstand ist unwissend um die Göttersprüche und Geschicke die
kommen werden und weiß nicht Maß zu halten, wenn er durch günstige Situationen emporgehoben
wird! Für den großen Turnus wird die Zeit kommen, wenn er wünschte, er hätte Pallas unversehrt
gelassen und wenn er sowohl diese Beute als auch den Tag hassen wird. Doch seine zahlreichen
Kameraden trugen Pallas, den sie auf einen Schild gelegt hatten, unter vielem Seufzen und Tränen
zurück. Oh Schmerz und zugleich große Zierde, der du zum Vater zurückkehren wirst. Dieser erste
Tag hat dich dem Krieg anheim gegeben, derselbe Tag nimmt dich ihm wieder weg, obwohl du
dennoch gewaltige Haufen toter Rutuler hinterlässt.
(510) Nicht mehr nur das Gerücht des so großen Übels, sondern ein zuverlässiger Zeuge eilte zu
Aeneas und berichtete, dass seine Männer so gut wie tot waren; es sei Zeit den fliehenden Teucrern
zur Hilfe zu eilen. Alles, was im nahe war, mähte Aeneas mit seinem Schwert, mit seinem Eisen
schaffte er sich durch den breiten Heereszug einen Pfad, dich, Turnus, suchend, der du aufgrund des
174
neuen Mordes überheblich warst. Pallas und Euander sind in seinen Augen, auch die Tische, an die er
zum ersten Mal als Ankömmling getreten war, auch die Handschläge. Jetzt riss er vier Söhne mit sich,
die Sulmo gezeugt hatte, ebenso viele, die Ufens großgezogen hatte, allesamt lebend, die er den
Schatten als Totenopfer opfern und die Flammen des Scheiterhaufens mit (520) Gefangenenblut
begießen wollte. Darauf spannte er aus der Ferne um Magus zu töten seine feindliche Lanze an:
Jener wandte eine List an, die zitternde Lanze hingegen flog über ihn hinweg. Während er die Knie
des Aeneas umschlang, sprach er demütig solches: „Bei den väterlichen Manen und bei der Hoffnung
des sich erhebenden Iulus bitte ich dich: Verschone diese Seele für Vater und Sohn. Wir haben ein
erhabenes Haus. Tief im Inneren liegen vergrabene Talente von ziseliertem Silber, ich habe Gewichte
aus Gold, bearbeitet und unbearbeitet. Nicht hier wird sich der Sieg der Teucrer ereignen, und eine
einzige verschonte Seele wird keinen so großen Unterschied bewirken.“ (530) So sprach er. Diesem
erwiderte Aeneas folgendes: „Die vielen Talente an Silber und an Gold spare dir für deine Söhne.
Diesen Kriegshandel hat Turnus bereits in dem Moment beendet, als er Pallas getötet hat. So
empfinden es die Manen meines Vaters Anchises, so empfindet es Iulus.“ Nachdem er so gesprochen
hatte, nahm er Magus‘ Helm mit der Linken und als er den Hals des Bittenden zurückgebogen hatte,
stieg er ihm das Schwert bis zum Griff hinein. Nicht weit von hier befand sich Haemonides, Priester
des Phoebus und der Trivia, dem heilige Kopfbinden die Schläfen umgaben, während er mit seiner
Kleidung gänzlich strahlte und mit seinem hervorragenden Weiß. (540) Nachdem er mit ihm
zusammengetroffen war, trieb er ihn über das Feld und nachdem der Priester niedergefallen war,
stand Aeneas über ihm, opferte ihn und bedeckte ihn mit seinem riesigen Schatten. Nachdem er die
Waffen zusammengelesen hatte, brachte sie Serestus dir, König Gradivus, als Siegeszeichen zurück.
Caeculus, der Sohn vom Stamm des Volcanus, und Umbro, der aus den Marserbergen kam, stellten
die Schlachtreihe wieder auf. Gegen sie wütete Aeneas: Er hatte den linken Arm des Anxurs mit
seinem Schwert und das ganze Rund des Schildes mit dem Eisen niedergeworfen (Anxur hatte
irgendetwas Großes gesagt und geglaubt, dass in seinem Wort Kraft steckte. Vielleicht trug er seinen
Mut auch bis zum Himmel und hatte sich graues Haar und noch viele Lebensjahre versprochen.) (550)
Dem eifrig kämpfenden Aeneas trat hingegen der übermütige Tarquitus mit glänzenden Waffen
entgegen, den die im Wald wohnenden Nymphe Dryope dem Faunus geboren hatte. Jener heftete,
nachdem er die Lanze zunächst zurückgeführt hatte, den Brustpanzer und die gewaltige Last des
Rundschilds zusammen. Dann warf er den Kopf des vergebens flehenden Mannes, der noch vieles
sagen wollte, zur Erde und während er den noch warmen Körperrumpf vorrollte, sagte er darüber
hinaus aus feindlicher Brust Folgendes: „Da liegst du nun, du, vor dem man Furcht haben muss.
Deine äußerst gütige Mutter birgt dich nicht in der Erde und beschwert auch nicht deine Glieder mit
einem heimatlichem Grab: Du wirst für die Raubvögel zurückgelassen oder dich wird eine (560) Woge
175
dahin tragen, nachdem du in einem Strudel versenkt wurdest, und die gefräßigen Fische werden
deine Wunden lecken.“ Unverzüglich verfolgte er dann Antaeus und Lucas, die vordersten
Gefolgsmänner des Turnus, den starken Numa sowie den feurigen Camers, Sohn des mutigen
Volcens, der von den Landbesitzern Ausoniens der reichste an Äckern war und in der schweigsamen
Stadt Amyclae herrschte. So wie Aegeaon, der angeblich einhundert Arme und einhundert Hände
hatte, dem Feuer durch seine fünfzig Münder aus den Brüsten brannte, mit seinen so vielen
Rundschilden lärmte, mit denen er sich gegen die Blitze des Jupiter wehrte, und ebenso viele
Schwerter zog: So tobte Aeneas auf der ganzen Ebene als Sieger, (570) sobald einmal sein Dolch
warm geworden ist. Ja sieh, er eilt frontal gegen die Pferde des Viergespanns des Niphaeus! Aber
sowie jene ihn fern marschieren und Finsteres brüllen sahen, wendeten sie aus Furcht und während
sie zurück galoppierten, schleuderten sie ihren Führer ab und rissen den Wagen zur Küste.
Inzwischen begab sich Lucagus, Sohn des Liger, mit einem weißen Zweigespann mitten in die Schar.
Doch während der Bruder die Pferde mit den Zügeln lenkte, schwang Lucagus eifrig sein gezücktes
Schwert. Aeneas ertrug den so großen Eifer der tobenden Männer nicht. Er stürzte sich auf sie und
erschien gewaltig mit einer ihnen entgegen gerichteten Lanze. (580) Zu ihm sagte Liger: „Du siehst
hier nicht die Pferde des Diomedes, auch nicht den Streitwagen des Achilles, oder die Felder
Phrygiens: Nun wird diesen Ländern das Ende des Krieges und deines Lebens gewährt.“ Derartige
Worte des Ligerus flogen weithin wahnsinnig umher. Doch der trojanische Held erwiderte darauf
nichts, denn er schleuderte seine Lanze gegen die Feinde. Sobald Lucagus für die Schläge vornüber
gebeugt hing und mit seiner Waffe die Pferde ermahnte, während er den linken Fuß vorgestreckt
hatte und sich für den Kampf bereit machte, flog die Lanze durch den untersten Rand seines
glänzenden Rundschilds, dann durchbohrte sie ihn links an seinem Unterleib. (590) Der aus dem
Wagen geschleuderte Mann rollte sterbend zu Boden. Diesen sprach der pflichtbewusste Aeneas mit
bitteren Worten an: „Lucagus, keine träge Flucht der Pferde hat deinen Wagen verraten, auch haben
sie keine inhaltlosen Schatten vom Feind in die Flucht geschlagen: Du hast selbst, vom Wagen
springend, das Gespann verlassen.“ Nachdem er diese Worte so gesprochen hatte, riss er das
Zweigespann an sich. Der unglückliche Bruder streckte seine trägen Handflächen aus, als er vom
gleichen Streitwagen gefallen war. „Bei dir und bei den Eltern, die dich als solchen Mann geboren
haben, Mann, Trojaner, lass diese Seele in Frieden und erbarme dich dem Flehenden!“ Dem mehrere
Dinge Bittenden erwiderte Aeneas: „Solche (600) Worte bringst du erst jetzt hervor. Stirb und
verlasse als Bruder nicht den Bruder.“ Dann öffnete er ihm mit dem Dolch die Brust, der
Schlupfwinkel des Lebens. Solche Leichen brachte der dardanische Anführer überall auf den Feldern
hervor, indem er wie ein brausendes Gewässer oder wie ein finsterer Wirbelwind wütete. Endlich
brachen Ascanius und die vergeblich belagerte Jungmannschaft aus und verließen das Lager.
176
Inzwischen sprach Jupiter von sich aus Iuno an: „Oh du, die du mir Schwester bist und zugleich meine
äußerst liebe Gattin, wie du glaubtest, unterstützt Venus die trojanischen Streitkräfte (deine
Meinung täuscht dich nicht). Nicht ist den Männern die (610) Rechte im Krieg lebhaft, noch ist ihr
Mut in der Gefahr wild und ausdauernd.“ Diesem antwortete Iuno bescheiden: „Weshalb, oh
schönster Gatte, beunruhigst du deine zerrüttete Gattin, die deine strengen Worte fürchtet? Wenn
noch deine Liebe zu mir so stark wäre, wie sie einst war und noch sein sollte, würdest du mir dies
nämlich nicht verwehren, Allmächtiger, dass ich freilich Turnus dem Kampfgeschehen entziehen und
dass ich ihn für seinen Vater Daunus unversehrt bewahren kann. Nun besteht die Möglichkeit, dass
er zugrunde geht und den Teucrern mit seinem pflichtbewussten Blut büßt. Doch jener leitet seinen
Namen von unserem Ursprung her ab, Pilumnus ist ihm der Ahn im vierten Glied, und mit seiner
freigebigen Hand hat er (620) oft deine Tempel mit vielen Gaben beschwert.“ Ihr sagte der König des
himmlischen Olymp kurz dieses: „Wenn ein Aufschub des gegenwärtigen Todes und wenn Zeit für
den fallenden jungen Mann erbeten wird und du einsiehst, dass ich dies so festsetze, dann raub‘
Turnus in einer Flucht und entreiße ihn den drohenden Fata. Ich habe die Zeit, dir soweit gewogen zu
sein. Wenn sich aber unter diesen Bitten irgendein Verlangen nach einem größeren Zugeständnis
verbirgt, und du glaubst den ganzen Krieg bewegen oder verändern zu können, hast du deine Freude
an einer wertlosen Hoffnung.“ Und Iuno fragte, während sie dabei weinte: „Was wäre, wenn du, was
du mit deiner Stimme abschlägst, mit deinem Herzen gewährest und dieses Leben dem Turnus sicher
erhalten bliebe? (630) Nun wartet auf den Unschuldigen ein schweres Ende, wenn mich nicht alles
täuscht. Soll mich doch eher falsche Furcht verspotten, und du sollst, der du es kannst, dein
Unternehmen zum Besseren wenden.“
Sobald sie diese Worte von sich gab, stürzte sie sich vornüber vom hohen Himmel durch die Lüfte,
während sie mit einer Wolke umgürtet einen Sturm vor sich hertrieb. Sie eilte zur trojanischen
Schlachtreihe und zum laurentinischen Lager. Dann bildete die Göttin aus einer hohlen Wolke einen
dünnen, kraftlosen Schatten in der Gestalt des Aeneas (ein Wunder, das erstaunlich anzusehen war)
mit dardanischen Waffen, sie bildete den Rundschild nach, den Helmbusch des göttlichen Hauptes,
schenkte der Gestalt inhaltlose Worte, (640) schenkte ihr Laute ohne Verstand, ahmte den Schritt
des gehenden Mannes nach. Man sagt, dass solche Gestalten nach dem Tod umherfliegen, oder die
Träume, die unsere betäubten Sinne täuschen. Doch das Abbild des Aeneas sprang frohgemut vor
den ersten Kampfreihen auf, verspottete den Mann mit seinen Waffen und reizte ihn mit Worten.
Diesem setzte Turnus hart zu und schleuderte handgemein seine zischende Lanze auf ihn. Nachdem
das Trugbild sich zur Flucht gewandt hat, lenkt es seinen Schritt um. Als dann aber Turnus glaubte,
dass ihm der abgewandte Aeneas entwich, und der stürmische Mann im Geist leere Hoffnung
177
schöpfte, sagte er: „Wozu flüchtest du, Aeneas? Verlasse nicht das vereinbarte Hochzeitslager. (650)
Mit diesem rechten Arm wird dir die Erde gewährt, die du überall auf dem Meer gesucht hast.“
Derartiges schreiend folgte er ihm und schwang seinen gezogenen Dolch. Er sah nicht, dass die
Winde seine Freude davon trugen.
Zufällig stand ein Schiff angebunden an den Vorsprung eines emporragenden Felses mit offen
zugänglichen Leitern und herabgelassener Brücke, mit dem der König Osinius von den clusinischen
Gestaden hergefahren ist. Hierher stürzte sich das rastlose Trugbild des fliehenden Aeneas in
Schlupfwinkel, nicht säumiger setzte ihm Turnus zu, überwindet Hindernisse und springt über die
hohe Brücke. Kaum hatte er den Bug berührt, durchbricht die Tochter des Saturn das Tau und riss das
(660) losgerissene Schiff über das zurückgeströmte Meer. Dann suchte das leichte Trugbild nicht
mehr weiter Schlupfwinkel auf, sondern vermischte sich mit einer schwarzen Wolke, während es
nach oben flog, während der echte Aeneas allerdings jenen abwesenden Turnus in die Schlacht
forderte. Viele ihm entgegen kommenden Körper der Männer schickte er in den Tod, während
unterdessen ein Wirbel Turnus mitten auf dem Meer davontrug. Der Dinge unkundig und für seine
Rettung undankbar blickte er zurück. Er streckte seine beiden Hände mit dieser Äußerung zu den
Sternen: „Allmächtiger Vater, glaubtest du etwa, ich sei so eines schweren Verbrechens würdig?
(670) Wohin werde ich getragen? Woher brach ich auf? Welche Flucht bringt mich zurück – und als
welchen Mann? Werde ich wieder die laurentischen Mauern und das Lager sehen? Was ist mit jener
Schar an Helden, die mir und meinen Waffen gefolgt sind, die ich (Frevel!) alle in ihrem unsäglichen
Tod zurücklasse und nun flüchten sehe? Und vernehme ich das Seufzen der fallenden Männer? Was
mache ich? Oder welche Erde kann sich nun tief genug für mich spalten? Habt ihr vielmehr Mitleid,
oh ihr Winde! Tragt das Schiff gegen Felswände oder Klippen (ich, Turnus, flehe euch willig an)
schleudert mich zu den Sandbänken in den wilden Wogen, wohin mir weder die Rutuler noch das
mitwissende Gerücht folgen können.“ (680) Während er dieses sprach schwankte er im Geist bald
hierhin, bald dorthin, ob er sich aufgrund der so großen Schande wahnsinnig in sein Schwert stürzen
und es blutig durch seine Rippen wieder heraus treiben sollte, oder ob er sich mitten in die Fluten
werfen und schwimmend an die kurvige Küste eilen, und sich wieder zu den Waffen der Teucrer
zurückbegeben sollte? Dreimal versuchte er beide Vorgehensweisen, dreimal hielt ihm die äußerst
erhabene Iuno ab und drängte den jungen Mann zurück, den sie im Geiste bemitleidete. Das Schiff
glitt auf günstiger Flut und Brandung dahin, während es das hohe Meer teilte und wurde zur alten
Stadt des Vaters Daunus getragen.
Doch aufgrund der Ermahnungen des Jupiter (690) rückte der eifrige Mezentius unterdessen in den
Kampf und fiel in die jubelnden Teucrer. Es liefen die tyrrhenischen Schlachtreihen zusammen und
178
setzten mit all ihrem Hass einem einzigen Mann mit zahlreichen Wurfgeschossen zu. Aeneas
hingegen (wie ein Felsen, der auf das weite Meer hinaustragt, den Rasereien der Winde
entgegensteht und dem Meer ausgeliefert ist, welcher die ganze Gewalt und die Drohungen des
Himmels und des Meeres erträgt, während er selbst unbeweglich bleibt) streckte den Sprössling des
Dolichaon, Hebrus, zu Boden, mit diesem Latagus und den fliehenden Palmus. Doch Latagus überfiel
er mit einem Felsen, nämlich mit einem gewaltigen Bruchstück eines Berges, das er ihm ins Gesicht
und seine Vorderseite des Körpers warf. Nachdem er ihm die Kniekehlen (700) zerhauen hatte, ließ
er Palmus sich träge wälzen. Die Rüstung schenkte er Lausus, um sie um die Schultern zu tragen und
den Helmbusch am Scheitel zu befestigen. Ebenso machte er den Phrygier Euanthes nieder und
Mimas, der gleichaltrige Begleiter des Paris nieder, den eines Nachts Theano dem Vater Amycus
geboren hatte – und [gleichzeitig] bei Fackelschein die schwangere Königin Hecuba den Paris. Paris
ruht nun in der heimatlichen Stadt im Grabe. Unerkannt hält nun Mimas die laurentische Küste
besetzt. Und ganz wie jener Eber durch die Bisse der Hunde von den hohen Bergen hinabgetrieben
wurde, den der mit fichten bewachsene Vesulus über viele Jahre hin verteidigt hatte, und er sich an
vielen schilfbewachsenen Sümpfen im laurentischen Wald (710) näherte. Nachdem er zwischen die
Jagdnetze gekommen ist, leistete er Widerstand, brüllte wild und erbebte mit seinen Schultern.
Niemand hatte die Tapferkeit ihm zu zürnen oder näher heranzugehen, sondern sie setzten ihm mit
Wurfspießen und Geschrei aus sicherer Entfernung zu. Jener allerdings blickte furchtlos in alle
Richtungen und zähneknirschend schlug er die Lanzen von seinem Rücken ab. Nicht anders hatte kein
einziger von denjenigen, die Mezentius gerecht zürnten, den Mut, mit gezogenem Schwert
herbeizueilen und aus der Ferne reizten sie ihn mit Geschossen und wüstem Geschrei.
Acron war aus den altehrwürdigen Gebieten des Corythus gekommen, (720) ein Grieche, der als
Flüchtling die geplante Hochzeitsfeier verlassen hatte. Sobald Mezentius diesen sah, wie er in der
Ferne den Heereszug in dessen Mitten aufmischte, purpurfarben mit seinen Federn und mit seinem
Purpurgewand seiner versprochenen Frau, einem ungesättigten Löwen gleichend in einem hohen
Stall, den er oft durchwandert (dies rät ihm nämlich der wahnsinnige Hunger), und wenn er zufällig
eine flüchtige Ziege erblickt hat, oder einen Hirsch der sich zu seinem Geweih erhebt, freut er sich,
während er seinen Rachen weit aufsperrt, seine Mähne aufrichtet und mit den Zähnen in den
Eingeweiden stecken bleibt, auf seinem Opfer liegend. Er badet sein gieriges Gesicht im hässlichen
Blut: Genauso stürzte der feurige Mezentius in die dichten Feindesreihen. (730) Der unglückliche
Acron wurde niedergehauen, schlug sterbend mit seinen Fersen auf die finstere Erde und er
befleckte die zerbrochenen Waffen mit seinem Blut. Doch Mezentius erachtete den fliehenden
Orodes nicht für würdig, ihn niederzustrecken, auch nicht ihm durch einen geworfenen Speer eine
für jenen nicht sichtbare Wunde zuzufügen. Er trat dem Mann gegenüber, trat ihm entgegen, nicht
179
durch List überlegen, sondern aufgrund seiner starken Waffen. Dann stütze er sich mit seinem Fuß,
den er auf den herab geworfenen Mann gestellt hatte und mit seiner Lanze: „Hier liegt der erhabene
Orodes, Männer, ein nicht zu verachtender Teil des Krieges.“ Seine Kameraden schrien laut und
folgten mit einem glücklichen Lobesgesang. Orodes allerdings sagte sterbend: „Wer auch immer du
bist, ich werde gerächt werden, (740) Sieger, und du wirst dich nicht lange freuen. Auch auf dich
schauen gleichartige Fata und bald wirst du auf der gleichen Erde liegen.“ Diesem antwortete
Mezentius lächelnd und zugleich zornerfüllt: „Stirb jetzt. Nach mir aber mag der Vater der Götter und
der König der Menschen aufpassen.“ Während er dies sagte, zog er den Speer aus dem Körper.
Jenem drückten beschwerliche Ruhe und eiserner Schlaf auf die Lieder. Seine Augen schlossen sich
zur ewigen Nacht.
Caedicus tötete Alcathous, Sacrator den Hydaspes, Rapo den Partenius und den äußerst kräftigen
Orses, Messapus den Clonius, den Erichaetes, Sohn des Lycaeon, (750) den einen darniederliegend,
nachdem er von seinem zügellosen Pferd zu Boden gefallen war, den anderen zu Fuß. Zu Fuß war
auch der Lycier Agis vorgerückt, doch Valerus warf ihn mit seiner ererbten Tapferkeit nieder. Doch
den Thronius warf Salius nieder und Salius seinerseits wurde durch eine List von Nealces getötet: Mit
einem Wurfspieß und einem weithin unbemerkten Pfeil.
Schon glich der ernste Mars Trauer und Leichen für beide Seiten wechselseitig an. In gleicher Weise
fielen und eilten sie, gleichsam als Sieger und Besiegte, weder die einen kannten Flucht noch die
anderen. Die Götter beklagten im Palast des Jupiter, dass es für die Menschen auf beiden Seiten
inhaltlosen Zorn und so viele Strapazen gab. (760) Von dort schaute Venus, von dort gegenüber
schaute Iuno, die Tochter des Saturn. Und mitten unter den Tausenden wütete die blasse Tisiphone.
Doch Mezentius freilich stieß eine gewaltige Lanze und schritt stürmisch auf das Feld. Wie der große
Orion, wenn er sich zu Fuß durch den größten Sumpf, mitten im Reich des Nereus, seinen Weg bahnt
und mit seiner Schulter aus dem Wasser ragt oder während er auf den höchsten Bergen eine alte
Bergesche holt, auf dem Boden schreitet und sein Haupt zwischen den Wolken birgt – so beschaffen
eilt Mezentius in riesiger Rüstung. Aeneas, der ihn in einem langen Heereszug beobachtete, schickte
sich an, ihm (770) gegenüberzutreten. Jene blieb unerschrocken, während er auf den mutigen Feind
wartete, und stand da mit seiner Masse. Mit seinen Augen maß er den Zwischenraum ab, der für
einen Lanzenwurf ausreichend wäre und sagte: „Meine Rechte, die mir ein Gott ist und den Pfeil, den
ich hier als Wurfgeschoss schwinge, mögen mir nun helfen! Ich verspreche, nachdem ich die Rüstung
vom Körper des Räubers geraubt habe, ziehe ich sie dir selbst an, Lausus, als Siegeszeichen über
Aeneas.“ Das sagte er, dann schleuderte er handgemein die zischende Lanze. Doch während jene
180
flog, prallte sie vom Rundschild ab und bohrte sich in der Ferne in den hervorragenden Antor, mitten
in seine Seite und Eingeweide; Antor, der Begleiter des Hercules, der von Argos geschickt wurde, bei
(780) Euander verharrte und sich in einer italischen Stadt niedergelassen hatte. Der Unglückliche
wurde durch eine fremde Wunde niedergestreckt, er erblickte den Himmel und sterbend erinnerte er
sich an das liebliche Argos. Dann schleuderte der fromme Aeneas eine Lanze. Jene flog durch das
gewölbte Rund des Schildes aus dreifacher Bronze, durch die Schichten aus Leinen, durchflog das mit
drei Stierhäuten bedeckte Werk und saß schließlich im tiefen Unterleib fest, aber die Kraft ging ihr
schon aus. Rasch zog Aeneas sein Schwert aus der Scheide, nachdem er frohgestimmt das Blut des
tyrrhenischen Mannes gesehen hatte und setzte dem bebenden Mann heißblütig zu. Lausus seufzte
schwer aus Liebe zu seinem teuren Vater, (790) sobald er Mezentius sah und Tränen rollten über sein
Gesicht. – hier werde ich nicht das Schicksal des beschwerlichen Todes, nicht deine vorzüglichen
Taten, wenn überhaupt irgendeine Nachwelt dem so großen Werk Glauben schenken wird, und
freilich nicht dich, erwähnenswerter Junge, verschweigen – Während Mezentius seinen Schritt
zurücklenkte, unbrauchbar, wich er gehemmt und zog die feindliche Lanze mit sich, die im Schild
steckte. Der junge Sohn eilte hervor und mischte sich unter die Waffen. Und schon ging er von unten
an den Dolch des Aeneas, der seinen rechten Arm erhob und einen Schlag ausführte und er hielt im
stand indem er ihn behinderte. Seine Kameraden folgten ihm mit großem Geschrei, (800) solange bis
der Vater des Sohnes von einem leichten Schild geschützt abziehen konnte; sie schleuderten Pfeile
und verwirrten den Feind handgemein mit Geschossen. Aeneas wütete und hielt sich bedeckt. Und
wie manchmal bei strömendem Hagel die Wolken niederstürzen und jeder Pflanzer von den Feldern
geflohen ist, und jeder Bauer, und sich der Reisende in einem sicheren Zufluchtsort an den Ufern
eines Flusses verbirgt, oder in einer hohen Wölbung eines Felsens, solange es auf die Ländereien
regnet, damit sie, wenn die Sonne wieder scheint, ihr Tagewerk bearbeiten können. Genau so wurde
Aeneas von allen Seiten mit Waffen überschüttet, leistete der Kriegswolke Widerstand, solange bis
sie sich ganz ausgetobt hatte, (810) und fuhr Lausus an und drohte ihm: „Wohin eilst du,
Todgeweihter, und wagst zu große Dinge für deine Kräfte? Dein Pflichtgefühl täuscht dich,
Unbesonnener.“ Jener Wahnsinnige war nicht weniger übermütig und die wilden Zorneswallungen
erhoben sich dem dardanischen Führer nun höher: die Parzen laßen für Lausus die letzten
Lebensfäden auf. Denn Aeneas stieß sein kräftiges Schwert mitten in den jungen Mann und barg es
gänzlich in ihm. Auch den leichten Schild durchstieß die Schneide, die leichte Panzerung des
drohenden Mannes, sowie das Hemd, dass die Mutter aus geschmeidigen Goldfäden gewebt hatte
und die Schneide erfüllte seinen Schoß mit Blut. Dann (820) wich das betrübte Leben durch die Lüfte
zu den Manen und verließ seinen Körper.
Doch sobald der Sohn des Anchises die Mine des Sterbenden sah sowie das Gesicht, auf wundersame
Weise erblassend, seufzte er, während er sich heftig erbarmte, streckte seine Rechte aus und das
181
Abbild der Liebe zu seinem Vater kam ihm in den Sinn. Was soll dir nun der pflichtbewusste Aeneas
für diese Ruhmestaten geben, du beklagenswerter Junge, was soll er dir Würdiges für dein so großes
Talent geben? Behalte deine Waffen, an denen du dich erfreut hast! Ich schicke dich den Manen
deiner Eltern und ihrer Asche zurück, wenn dir das Sorgen macht. Damit wirst du dich Unglücklicher
allerdings über deinen elenden Tod hinwegtrösten: (830) Du fällst durch die Rechte des großen
Aeneas.“ Überdies fuhr er noch die zögernden Kameraden des Lausus an, hob ihn von der Erde auf,
der an seinem ordnungsgemäß gekämmten Haar mit Blut besudelt war.
Unterdessen trocknete sein Vater Mezentius bei dem Wasser des Flusses Tiber seine Wunden mit
klarer Flüssigkeit und entspannte seinen Körper am Stamm eines ihm zugeneigten Baumes. Fern hing
sein erzbeschlagener Helm an den Zweigen und seine schwere Rüstung ruhte auf einer Wiese.
Ringsum standen auserwählte junge Männer. Während er selbst erschöpft keuchte, lehnte er seinen
Hals an. Sein herunterhängender Bart floss ihm bis zur Brust. Vieles fragte er über Lausus, oft
schickte er welche zurück, (840) die ihn zurückrufen sollten und die Befehle des unglücklichen Vaters
überbringen sollten. Doch die Kameraden trugen weinend den toten Lausus auf dem Schild herbei –
den gewaltigen, besiegten Mann mit seiner gewaltigen Wunde. Der Übles ahnende Geist des
Mezentius erkannte schon fern das Seufzen. Er entstellte sein graues Haar mit viel Dreck, streckte
seine beiden Handflächen zum Himmel aus und hing sich an die Leiche des Lausus. Hielt mich ein so
großer Lebenswille umschlungen, mein Sohn, dass ich es geduldet habe, dass du dich, den ich
gezeugt habe, an meiner statt einer feindlichen Rechten genähert hast? Werde ich als Vater durch
diese deine Wunden gerettet und lebe durch deinen Tod? Ach, nun letztlich wurde mir
Unglücklichem ein (850) unglückbringender Untergang bereitet, nun eine tiefe Wunde! Ich auch
habe, mein Sohn, deinen Namen mit einem Verbrechen beschmutzt: Ob meiner Missgunst wurde ich
vom Thron und dem väterlichen Herrschaftsanspruch vertrieben. Ich hatte meiner Heimat und dem
Hass der Meinen Sühne geschuldet: Ich hätte ihnen selbst meine schuldige Seele durch alle
erdenklichen Todesarten gegeben! Nun lebe und verlasse bis jetzt noch nicht die Menschen oder das
Licht. Doch ich will sie verlassen.“ Während er dies zugleich sagte, erhob er sich auf seinem kranken
Oberschenkel und obwohl seine Kraft durch die tiefe Wunde gehemmt war, befahl er, nicht gestürzt,
dass sein Pferd gebracht wurde. Dieses war ihm eine Zierde, dieses war ihm ein Trostmittel, dieses
zog aus allen Kriegen als Sieger. (860) Er sprach sein trauerndes Ross an und begann mit solchen
Worten zu reden: „Rhaebus, lange, wenn für den Menschen überhaupt eine Sache lang ist, haben wir
gelebt. Entweder wirst du heute als Sieger jene Beute und das Haupt des blutdurstigen Aeneas
zurückbringen und gemeinsam mit mir der Rächer des Schmerzes über Lausus sein, oder aber, falls
keine Kraft eine Gelegenheit dazu eröffnet, ebenso sterben. Ich glaube nämlich nicht, Tapferster,
dass du teucrische Herren und fremde Befehle zu erdulden für würdig erachten wirst.“ So sprach er,
182
und nachdem er auf dem Rücken des Pferdes aufgenommen wurde, setzte er seine gewohnten
Glieder zurecht und beschwerte beide Hände mit spitzen Wurfspießen, während sein Haupt ehern
glänzte und er mit seinem Helmbusch aus Rosshaar struppig war. (870) So galoppierte er rasend in
die mittleren Feindesreihen. In seinem einen Herzen wogte gewaltige Scham mit wahnsinniger
Trauer. Und nun rief er Aeneas dreimal mit lauter Stimme. Aeneas erkannte ihn freilich und
frohgestimmt betete er: „So möge jener Göttervater machen, so der erhabene Apollo, dass wir es zu
Ende bringen.“ Nur soviel sagte er und ging ihm mit der feindlichen Lanze entgegen. Mezentius aber
erwiderte: „Was erschreckst du mich, nachdem du mir meinen Sohn geraubt hast, du äußerst
grimmiger Mensch? Dies war die einzige Möglichkeit, wie du mich hättest zugrunde richten können:
(880) Weder erschaudern wir vor dem Tod noch verschonen wir irgendeinen der Götter. Höre auf,
denn ich komme bereit zu sterben und zuvor trage ich noch diese Geschenke für dich.“ Das sagte er,
dann schleuderte er ein Wurfgeschoss gegen den Feind. Dann richtete er auf ihn ein Pfeil nach dem
anderen, und tummelte sich in einer gewaltigen Kreisbewegung, doch das goldene Schild des Aeneas
hielt stand. Dreimal ritt er links herum um den dastehenden Aeneas, während er mit seiner Hand
Wurfgeschosse warf, dreimal ließ der trojanische Held den an seinen erzbeschlagenen Schild
gehefteten Wald aus Speeren umherschweifen. Sobald ihn dann Widerwillen erfasste, den Kampf so
in die Länge gezogen zu haben und so viele Pfeile aus dem Schild zu reißen, und als das
Zusammentreffen durch den ungleichen Kampf in Bedrängnis geriet, (890) brach er endlich aus der
Umkreisung, während er im Geiste vieles bedachte, und schleuderte eine Lanze zwischen die
gewölbten Schläfen des Kriegsrosses. Das Pferd erhob sich emporgerichtet und schlug mit seinen
Hufen die Lüfte. Das Pferd selbst folgte dem abgeworfenen Reiter von oben her, umschlang ihn und
fiel kopfüber mit ausgerenkter Schulter auf ihn. Mit ihrem Geschrei entflammten die Trojaner und
die Latiner den Himmel. Aeneas eilte herbei, riss sein Schwert aus der Schiede und sagte darüber
hinaus: „Wo ist nun der eifriger Mezentius und jene ungestüme Kraft seines Gemüts?“ Ihm erwiderte
der tyrrhenische Held, so wie er zu den Lüften hinaufschaute, den Himmel genoss und wieder zu
Verstand kam: (900) „Du bitterer Feind, wozu scheltest du mich und drohst mir den Tod an? Es gibt
keinen Frevel in meinem Tod, nicht so bin ich in die Schlachten gekommen, Mein Lausus hat mir mit
dir nicht solche Verträge geschlossen! Dieses eine bitte ich, wenn es für besiegte Feinde irgendeine
Nachsicht gibt: Lasse es zu, dass mein Körper mit Erde bedeckt wird. Ich weiß, dass ich vom bitteren
Hass der Meinen umstellt bin: Wehre bitte diese Raserei ab und lasse mich ein Gefährte meines
Sohnes in dessen Grab sein.“ Dies sprach er, empfing wohlwissend das Schwert an seiner Kehle und
goss mit dem auf die Rüstung strömenden Blut sein Leben aus.
183
Buch 11
Während sich Aurora unterdessen erhob, verließ sie den Ozean: Aeneas, obwohl seine Sorgen dazu
drängten, sich für die zu bestattenden Kameraden Zeit zu nehmen und sein Verstand durch den
Verlust verwirrt war, erfüllte zunächst beim Morgengrauen als Sieger die Gelübde, die er den Göttern
gegeben hatte. Er stellte auf den Grabhügel eine gewaltige Eiche, nachdem ihr auf allen Seiten ihre
Zweige abgehauen waren und befestigte an ihr die glänzende Rüstung, die Beute des Anführers
Mezentius, dir, großer Kriegsgott, als Siegeszeichen. Er fügte den vor Blut triefenden Helmbusch
hinzu, die zerbrochenen Waffen des Mannes, und den an zwölf Stellen getroffenen (10) und
durchbohrten Brustpanzer. Den Rundschild aus Bronze befestigte er unten zu Mezentius‘ Linken und
das Schwert mit dem Griff aus Elfenbein hing er an seinem Hals auf. Dann begann er (denn die ganze
Menge der Anführer verhüllte ihn dichtgedrängt) wie folgt die jubelnden Menschen zu ermahnen:
„Das Schwierigste ist vollbracht, Männer. Soll die ganze Furcht vor dem, was noch zu tun ist, fern
sein. Dies ist die Beute und der von einem überheblichen König geraubte, erste Ertrag des Krieges –
hier ist Mezentius, durch meine Hände getötet. Nun steht uns eine Reise zum König und zu den
latinischen Stadtmauern bevor. Macht die Waffen bereit, stellt euch den Krieg im Voraus mit eurem
Mut und eurer Hoffnung vor, damit uns Unwissende nicht irgendein Hindernis hindern kann oder
unser träge Wille durch Furcht zögert, sobald die Götter (20) zustimmen werden, aufzubrechen und
die Jungmannschaft aus dem Lager zu führen. Inzwischen lasst uns die Kameraden und ihre
unbestatteten Körper der Erde anvertrauen, was die einzige Ehre unten im tiefen Acheron ist.
„Geht“, sprach Aeneas, „und schmückt die herausragenden Seelen mit der letzten Ehre, die mit
ihrem Blut diese Heimat hervorgebracht haben, schickt Pallas, den als tugendhafter Mann ein
finsterer Tag geraubt und in ein bitteres Grab versenkt hat, als ersten zur trauernden Stadt des
Euander.“
So sprach er unter Tränen, machte kehrt zum Haus, (30) wo der betagte Acoetes, der zuvor der
Waffenträger des Arkaders Euander war, den aufgebahrten Körper des toten Pallas bewachte. Jetzt
war er aber nicht unter glücklichen Vorzeichen als Begleiter seinem teuren Schutzbefohlenen anheim
gegeben und gefolgt. Ringsum war die ganze Schar der Diener, die trojanische Menschenmenge und
die Trojanerinnen trugen ordnungsgemäß ihr Trauerhaar gelöst. Sobald aber Aeneas durch die hohen
Tore trat, erhoben sie ein gewaltiges Seufzen zu den Sternen, während sie sich auf ihre Brust
schlugen und in tiefer Trauer brüllte der Königspalast. Sobald er selbst das gestützte Haupt des
bleichen Pallas sah und sein Gesicht, und die in seiner (40) leichten Brust offene Wunde der
ausonischen Pfeilspitze, sprach er folgendes, nachdem er in Tränen ausgebrochen war: „Hat mich
etwa“, sprach er, „Fortuna um dich beneidet, als sie frohgemut daherkam, so dass du weder unser
184
Königreich sehen noch als Sieger zu dem väterlichen Wohnsitz fahren konntest? Diese Versprechen
habe ich deinem Vater Euander beim Abschied nicht dich betreffend gegeben, als er mich, der ich im
Begriff war loszuziehen, umarmt hat, in die große Befehlsgewalt schickte und voller Furcht ermahnte,
dass es energische Männer seien, ein Krieg mit einem raubeinigen Stamm. Und nun leistet jener (50)
vielleicht, von leerer Hoffnung freilich zutiefst ergriffen, Gelübde und überhäuft die Altäre mit Gaben
und wir Trauernden begleiten den toten, jungen Mann, der nichts mehr irgendeinem
Himmelsbewohner schuldet, mit vergeblichen Ehrungen. Du unglücklicher Euander, du wirst das
grausame Begräbnis deines Sohnes sehen! Sind dies unsere Rückkehr und die erwarteten Siege? Ist
dies meine große Treue? Doch wirst du ihn, Euander, nicht durch schändliche Wunden besiegt
erblicken, noch wirst du dir als Vater, weil der Sohn wohlbehalten blieb, einen grauenvollen Tod
wünschen. Weh mir! Welch große Hilfe verlierst du, Ausonia, und du, Iulus!“
Nachdem er dies beklagte, (60) befahl er, den bemitleidenswerten Körper emporzuheben und
schickte tausend Männer, die er aus dem ganzen Heereszug ausgewählt hatte, die Pallas bei der
letzten Ehre begleiten und den väterlichen Tränen beistehen sollten, als kleiner Trost bei einer
gewaltigen Trauer, der aber dem unglücklichen Vater gebührte. Die anderen bedeckten die weiche
Totenbahre keineswegs träge mit Flechtwerk und Zweigen vom Meerkirschenbaum und
beschatteten das aus Eichengeflecht errichtete Lager mit einem Dach aus Laub. Jetzt legten sie den
erhabenen, jungen Mann auf das wilde Stroh. Pallas war wie eine mit dem Daumen einer Jungfrau
herausgerissene Blüte, sei es von einem weichen Veilchen, oder von einer biegsamen Hyazinthe, (70)
der ihr Glanz und ihre Schönheit noch nicht gewichen ist, welche aber nicht mehr die Mutter Erde
ernährt und sie mit ihren Kräften unterstützt. Dann trug Aeneas seine beiden Decken heraus, die vor
Gold und Purpur starrten, die ihm einst frohgemut der Arbeit die Sidonierin Dido selbst, mit ihren
eigenen Händen gemacht und das Gewebe mit dünnen Goldfäden durchwirkt hatte. Von diesen
bedeckte er trauernd den jungen Mann mit einer als letzte Ehrung und umhüllte seine Haare, die
verbrannt werden würden, mit einem Umhang, darüber hinaus häufte er viele Auszeichnungen aus
des laurentischen Kampfes auf und befahl, dass die Beute in einer langen Reihe geführt wurde. (80)
Er fügte Pferde hinzu und Waffen, denen er dem Feind geraubt hatte. Er hatte denjenigen die Hände
auf den Rücken gefesselt, die er in die unterweltlichen Schatten schicken und mit dem Blut der
Getöteten die Flammen benetzen wollte. Er befahl, dass die Anführer selbst die mit den feindlichen
Waffen geschmückten Baumstämme trugen und man an sie die Namen der Feinde heftete. Man
führte den unglücklichen und altersschwachen Acoetes, der sich bald die Brust mit Schlägen, bald das
Gesicht mit seinen Nägeln verunstaltete. Er warf sich auch mit seinem ganzen Körper vornüber zur
Erde nieder. Sie führten auch einen von Rutulerblut begossenen Streitwagen mit. Hinten (90)
marschierte weinend das Kriegsross Aethon, nachdem es seine Abzeichen abgelegt hatte, und
185
benetzte sein Gesicht mit großen Tropfen. Andere trugen die Lanze und den Helm des Pallas, denn
das übrige hatte der Sieger Turnus. Dann folgte die trauernde Phalanx, nämlich die Teucrer, alle
Tyrrhener und die Arcader mit umgedrehten Waffen. Nachdem die ganze Reihe der Begleiter weit
vorangeschritten war, machte Aeneas Halt und mit einem tiefen Seufzen fügte er diese Worte hinzu:
„Uns rufen von hier aus die gleichen schrecklichen Fata des Krieges zu weiteren Tränen: Sei mir auf
ewig gegrüßt, größter Pallas, lebe auf ewig wohl.“ Mehr sprach er nicht, eilte zu den hohen Mauern
und lenkte seinen Schritt zum Lager.
(100) Schon waren mit Ölbaumzweigen verhüllte Redner aus der latinischen Stadt herbeigekommen
und baten um seine Gunst: Er solle zulassen, dass die Körper, welche durch das Schwert über die
Felder zerstreut dalägen, zurückgegeben würden und dass man sie in einem Grab in der Erde
bestattete. Es bestünde kein Wettstreit mit den Besiegten, die des Himmels beraubt sind. Er solle
diejenigen schonen, die einst Gastfreunde und Schwiegerväter genannt wurden. Diesen, die um
Dinge baten, die man nicht zurückweisen durfte, schenkte der gute Aeneas Nachsicht und fügte ihren
Äußerungen darüber hinaus Folgendes hinzu: „Welch unwürdiges Schicksal hat euch denn, Latiner, in
einen so großen Krieg verwickelt, die ihr vor uns Freunden flieht? (110) Bittet ihr mich um Frieden für
die Toten, die durch das Schicksal des Mars vernichtet worden sind? Den wollte ich freilich auch den
Lebenden zugestehen. Ich wäre nicht gekommen, wenn nicht die Göttersprüche mir den Ort und den
Wohnsitz gewährt hätten, auch würde ich mit keinem Volksstamm Krieg führen. Der König hat
unsere Gastfreundschaft verlassen und sich lieber den Waffen des Turnus anvertraut. Es wäre besser
gewesen, wenn Turnus sich dem Tod gestellt hätte. Wenn er sich darauf vorbereitet, den Krieg mit
eigener Hand zu beenden, und uns Teucrer zu vertreiben, hätte es sich gehört, dass er mit mir zum
Kampf zusammen kommt. Derjenige würde dann noch leben, dem entweder ein Gott oder seine
Rechte sein Leben gegeben hätte. Nun geht, und legt Feuer unter eure unglücklichen Bürger.“ (120)
Das hatte Aeneas gesagt. Jene staunten schweigend, machten kehrt und schauten einander ins
Gesicht.
Dann begann der ältere Drances, der mit Hass und Beschuldigung dem jungen Turnus stets feindlich
gesinnt war, seinerseits mit folgender Äußerung zu berichten: „Oh du gewaltiger Held im Hinblick auf
deinen Ruhm, noch gewaltiger im Hinblick auf deine Waffen, trojanischer Mann, mit welchen
Lobpreisungen soll ich dich in den Himmel heben? Soll ich zuerst deinen Gerechtigkeitssinn und die
Strapazen des Krieges bewundern? Wir jedenfalls bringen diese deine Worte dankbar zu unserer
heimatlichen Stadt und dich werden wir, wenn uns Fortuna irgendeine Möglichkeit dazu gibt, mit
unserem König Latinus verbünden. Turnus möge für sich Bündnisse suchen. (130) Ja, es wird uns
gefallen die vom Schicksal bestimmten Massen der Stadtmauern aufzurichten und die für Troja
186
bestimmten Steine auf unseren Schultern herbeizuschaffen.“ Dies hatte er gesprochen, und einmütig
brüllten alle wiederholt die gleichen Worte. Sie bestimmten zwölf Tage und durch Vermittlung des
Friedens irrten Teucrer gemeinsam mit Latinern ungestraft durch die Wälder über die Bergrücken. Es
ertönte die hohe Esche durch die zweischneidige Axt, die bis zu Sternen reichenden gefällten Fichten
stürzten nieder. Weder wichen die Männer davor zurück mit den Spaltkeilen Hartholz und duftendes
Zedernholz zu spalten, noch mit den seufzenden Lastkarren die Bergeschen zu transportieren.
Und schon eilte das Gerücht herbei, als Vorbote so großer Trauer, kam (140) Euander zu Ohren und
erfüllte sowohl den Wohnsitz als auch die Stadt des Euander, das eben noch in Latium Pallas als
Sieger umher trug. Die Arcader rannten zu den Toren und nach altehrwürdigem Brauch ergriffen sie
hastig die Totenfackeln. Es leuchtete der Weg durch eine lange Reihe aus Flammen und durchschnitt
weit die Äcker. Ihnen entgegen kam die Phrygierschar und verband sich mit dem klagenden Zug.
Nachdem die Mütter diese gesehen hatten, wie sie sich den Häusern näherten, entflammten sie die
trauernde Stadt mit ihrem Geschrei. Doch keine Macht vermochte Euander zurückzuhalten,
stattdessen kam er in die Mitte. Nachdem die Totenbahre mit Pallas hingestellt worden war, (150)
fiel er über ihn und umarmte ihn weinend und klagend; nur mit Mühe vermochte er endlich durch
den Schmerz getrieben zu sprechen: „Nicht diese Versprechen, oh Pallas, hattest du dem Vater
gegeben, als du dich dem wilden Mars recht vorsichtig anvertrauen wolltest. Ich hatte wohl gewusst,
wie groß der neue Ruhm im Krieg und welch lockende Zierde im ersten Kampf sein kann. Eine
unglückliche erste Waffentat des jungen Mannes, beschwerliche, erste Versuche in einem
benachbarten Krieg, Gelübde und meine Gebete, die von keinem der Götter vernommen worden
sind! Und du meine heiligste Gattin bist glücklich, weil du schon tot bist und diesen Schmerz nicht
miterleben musst. (160) Dagegen besiegte ich lebend meine Fata, da ich als Vater meinen Sohn
überlebend zurückbleibe. Würden mich doch, der ich den verbündeten Waffen der Trojaner gefolgt
bin, die Rutuler mit ihren Waffen überschütten! Ich selbst hätte mein Leben gegeben, und diese
Prozession würde mich, nicht Pallas, nach Hause bringen! Ich möchte euch, Teucrer, nicht
beschuldigen, auch nicht die Bündnisse, auch nicht die Rechte die wir uns in Gastfreundschaft gaben:
Dieses Los selbst gebührte meinem Greisenalter. Wenn aber ein vorzeitiger Tod auf meinen Sohn
wartete, so wird es mich doch freuen, dass zuvor tausende Volsker gefallen sind, bevor er, als er die
Teucrer nach Latium führte, gefallen ist. Ja, ich kann dich mit keinem anderen Begräbnis würdigen,
Pallas, (170) als es der pflichtbewusste Aeneas und die vielen Phryger, sowie die tyrrhenischen
Führer und das ganze Heer der Tyrrhener getan haben. Sie tragen große Siegeszeichen über die
Männer, die deine rechte Hand in den Tod schickte. Auch du könntest nun als Baumstamm in den
weiten Fluren stehen, wenn er dir altersmäßig gleichgestellt gewesen und aufgrund seiner
Lebensjahre die gleiche Kraft gehabt hätte. Aber was halte ich Unglücklicher die Teucrer im Krieg
187
auf? Geht hinfort und berichtet eingedenk dieser Aufträge: Der Grund, dass ich noch in meinem
verhassten Leben verweile, obwohl mir Pallas weggenommen wurde, ist deine Rechte, die, wie du
siehst, dem Sohn und dem Vater Turnus schuldig ist. Für deine Verdienste und für dein (180) Glück
bleibt dir dies eine noch zu tun. Ich ersuche keine Freuden des Lebens, keinen Frevel, sondern diese
Tat dem Sohn unten bei den Totengeistern zu überbringen.“
Inzwischen brachte Aurora für die unglücklichen Sterblichen das gütige Licht hervor, womit sie ihnen
gleichzeitig die Arbeiten und Strapazen zurückbrachte. Schon errichteten der Vater Aeneas und
Tarchon an der gerundeten Küste Scheiterhaufen. Hierhin trug einjeder die Leichen nach der Sitte
seiner Vorväter und nachdem darunter finstere Brände gelegt worden waren, barg sich der hohe
Himmel durch den Qualm in Finsternis. Dreimal liefen sie mit glänzenden Rüstungen umgeben um
die entzündeten Scheiterhaufen, dreimal (190) musterten sie auf ihren Pferden das traurige Feuer
des Begräbnisses und ließen aus ihren Mündern Geheul verlauten. Sowohl die Erde wurde mit
Tränen benetzt als auch die Waffen, das Geschrei der Männer erhob sich zum Himmel, sowie das
Dröhnen der Trompeten. Nun warfen einige die geraubten Rüstungen von gefallenen Latinern ins
Feuer: Helme, geschmückte Schwerter, Zügel und heiße Räder. Ein Teil der Männer warf bekannte
Gaben hinein, Rundschilde der Toten und Waffen, die kein Glück gebracht haben. Ringsum wurden
viele Rinderkörper geschlachtet, sowie borstige Säue und sie schlachteten aus allen Feldern geraubte
Schafe für das Feuer. Dann erblickten sie an der ganzen Küste (200) ihre brennenden Kameraden und
beobachteten die halbverbrannten Scheiterhaufen, konnten sich nicht losreißen, bis die feuchte
Nacht den Himmel wendete, der mit funkelnden Sternen besetzt war.
Doch auch die unglücklichen Latiner errichteten in einer anderen Gegend unzählige Scheiterhaufen,
und gruben teilweise viele Leichen der Helden in der Erde ein, teilweise fuhr man sie weg, nahm sie
mit auf benachbarte Felder und schickte sie in deren jeweilige Stadt zurück. Die Übrigen verbrannten
den gewaltigen Haufen vermengter Gefallener ohne die Leichen zu zählen oder sie zu ehren. Damals
leuchteten überall die riesigen Felder wetteifernd mit zahlreichen Feuern. (210) Das dritte Tageslicht
hatte den eisigen Schatten vom Himmel vertrieben: Die Trauernden rissen die hohe Asche und die
vermengten Gebeine von den Brandherden und beluden sie mit einem warmen Erdhaufen. Ferner
nun gab es in den Häusern, in der Stadt des äußerst reichen Latinus, außerordentliches Getöse und
der größte Teil der langwährenden Trauer. Hier verfluchten die Mütter und die unglücklichen
Schwiegertöchter, hier die teuren Gemüter der trauernden Schwestern sowie die Jungen, die des
Vaters beraubt worden waren den unheilvollen Krieg und die geplante Hochzeit des Turnus. Sie
befahlen, dass er selbst mit Waffen, selbst mit dem Schwerte um die Entscheidung kämpfen sollte,
weil er für sich die Herrschaft über Italien sowie die obersten Ehrungen forderte. (220) Diese
188
Forderung verschlimmerte der grimmige Drances und schwor, dass Turnus allein gerufen, allein in
den Kampf gefordert werden würde. Zugleich gab es hingegen auch viele Stimmen für Turnus, die mit
verschiedenen Argumenten geäußert wurden und der große Namen der Königin schützte ihn,
während auch der zahlreiche Ruhm durch die verdienten Siegesabzeichen den Mann unterstützte.
Zwischen diesen Bewegungen mitten in dem brennenden Aufruhr – schau! – da bringen traurige
Gesandte von der großen Stadt des Diomedes Meldungen darüber: „Bei all dem Aufwand so großer
Mühen sei nichts erreicht worden, nichts seien Geschenke, Gold oder große Bitten von Wert
gewesen, ein neuer Krieg sei von den Latinern (230) anzufangen oder Friede vom trojanischen König
zu erbeten. Selbst König Latinus ermattete in gewaltiger Trauer: Der Zorn der Götter mahnt, dass der
schicksalsträchtige Aeneas durch das offenkundige, göttliche Wirken getrieben wird, auch die
frischen Grabhügel vor unserem Antlitz. Also versammelt er durch seinen Befehl einen großen
Kriegsrat und die Fürsten seiner Leute im Inneren seines erhabenen Palastes. Jene kamen zusammen
und strömten auf vollen Straßen zum Königspalast. Es saß in ihrer Mitte der älteste und im Hinblick
auf seine Macht der oberste Mann, Latinus – keineswegs mit froher Stirn. Und hier befahl er den aus
der aetolischen Stadt zurückgeschickten Gesandten (240) auszusprechen, was sie zu melden hatten
und forderte der Reihe nach alle Antworten. Nachdem die Männer darauf mit ihren Zungen
verstummten, begann Venulus, der dem Wort des Latinus gehorchte, so zu sprechen: „Wir sahen, oh
Bürger, Diomedes und das argivische Lager und nachdem wir den Weg durchwandert haben, haben
wir jeden Schicksalsschlag überwunden, wir berührten die Hand, durch welche die ilische Erde
niederstürzte. Jener gründete als Sieger auf den iapygischen Feldern des Garganus die Stadt Argyripa,
nach dem Beinamen des väterlichen Stammes. Nachdem wir eingetreten waren und die Möglichkeit
in seiner Gegenwart zu sprechen erhalten hatten, trugen wir Geschenke voran, unterrichteten ihn
über unseren Namen und unsere Heimat, (250) welche Leute uns angegriffen haben und welcher
Grund uns nach Arpi zog. Nachdem unsere Worte gehört waren, erwiderte jener dies mit sanfter
Stimme:
„Oh glückliche Stämme, Königreiche des Saturns, altehrwürdige Ausonier, welches Schicksal
beunruhigt euch ruhige Gemüter und rät dazu einen Krieg anzufangen, den ihr sonst noch nicht
kanntet? Alle, die wir die trojanischen Felder mit dem Schwert verletzt haben (ich lasse aus, was
unter den hohen Mauern Trojas im Krieg durchlitten wurde, auch die Helden, die jener Simois-Strom
niederdrückte), büßen überall auf der Welt unsägliche Marter und alle Strafen für unsere
Verbrechen. Sogar Priamus hätte Mitleid mit uns! Das weiß das traurige (260) Sternbild der Minerva,
die euboischen Felsen und der Rächer Caphereus. Aus diesem Krieg wurden wir an eine fremde Küste
getrieben, der Atride Menelaus bis zu den Säulen des Proteus und lebt dort in Verbannung, Odysseus
189
sah die Zyklopen des Ätna. Soll ich von dem Königreich des Neoptolemus berichten und von den
umgestürzten Penaten des Idomeneus? Von den Locrern, die an libyscher Küste wohnen? Der
Mykener selbst, Führer der großen Achiver, erlitt noch auf der Schwelle den Tod aufgrund der
Rechten seiner unsäglichen Gattin und der Ehebrecher lauerte auf den Sieg über Kleinasien. Was soll
ich berichten, dass es mir die Götter missgönnten, dass ich an die väterlichen Altäre zurückgekehrt
bin, damit ich meine (270) gewünschte Gattin und das schöne Calydon wieder sehen konnte? Nun
folgen mir sogar schrecklich anzusehende Ungeheuer und die verlorenen Kameraden streben auf
Flügeln zum Himmel, fliegen als Vögel über die Flüsse (ach, welch unheilvolle Marter der Meinen!)
und erfüllen die Klippen mit ihren weinerlichen Stimmen. Diese Dinge musste ich nun seit dieser Zeit
so sehr erwarten, seit ich von Sinnen die himmlischen Körper mit dem Schwert angegriffen und den
rechten Arm der Venus mit einer Wunde verletzt habe. Treibt mich freilich nicht, nicht zu solchen
Kämpfen an! Weder habe ich seit der kompletten Zerstörung (280) Pergamums irgendeinen Krieg mit
den Teucrern, noch erfreut es mich, mich an die alten Übel zu erinnern. Die Gaben, die ihr mir von
eurer heimatlichen Küste bringt, wendet zu Aeneas. Gegenüber standen wir uns mit rauhen Waffen
und kämpften: Glaubt mir, dem erfahrenen Mann, wie groß er sich zu seinem Rundschild erhebt, in
welchem Wirbel er seine Lanze wirft. Wenn überdies das idäische Land zwei solcher Männer
hervorgebracht hätte, wäre von sich aus Dardanus zur Stadt am Inachus gekommen und
Griechenland würde über das umgestürzte Schicksal trauern. Was auch immer bei den Stadtmauern
des hartherzigen Troja verzögert wurde, der Sieg der Griechen wurde durch die Hand des Hector und
des Aeneas (290) gehemmt und schleppte sich ins zehnte Jahr. Beide waren ausgezeichnet im
Hinblick auf ihren Mut, beide im Hinblick auf ihre vorzüglichen Waffen, aber Aeneas noch mehr im
Hinblick auf sein Pflichtgefühl. Möget ihr euch die Hände für einen Friedensvertrag reichen, wodurch
er gültig wird. Aber hütet euch davor, Krieg zuführen!“
Und zugleich hast du gehört, teuerster König, was seine Antworten sind und was seine Meinung
bezüglich des großen Krieges ist.“
Kaum hatten die Gesandten dies gemeldet, eilte verschiedenes Brüllen durch die verwirrten Münder
der Ausonier, ganz wie Felsen reißende Ströme im Lauf behindern, im eingeschlossenen Strudel ein
Brausen entsteht und die benachbarten Ufer durch die krachenden Wellen tosen. (300) Sobald die
Gemüter beruhigt und die verwirrten Münder verstummt waren, rief der König zunächst die Götter
an, dann sprach er von seinem hohen Thron: „Ich wollte, Latiner, wir hätten freilich vorher über das
Staatswesen entschieden und es wäre besser, nicht zu solcher Zeit einen Rat zu versammeln, in der
der Feind vor den Stadtmauern steht. Wir führen einen beschwerlichen Krieg, Bürger, mit einem
Stamm der Götter, mit unbesiegbaren Helden, die keine einzige Schlacht ermüdet und selbst besiegt
190
können sie nicht von dem Schwert ablassen. Die Hoffnung, wenn ihr welche angenommen und auf
die Waffen der Aetoler habt, legt ab! Jeder soll für sich Hoffnung sein. Aber wie eng begrenzt diese
ist, seht ihr. (310) Die Überreste unseres Staates, die als zerschmetterte Ruinen daliegen, sind euch
vor Augen und für eure Hände greifbar. Ich beschuldige niemanden: So zahlreich die Tugend sein
konnte, ist sie gewesen. Es wurde mit dem ganzen Wesen des Königreiches gekämpft. Nun will ich so
weit darlegen, was die Meinung meines zweifelnden Geistes ist und euch über weniges belehren
(aufgepasst!): „Ich habe einen alten Acker nahe dem etruskischen Strom, er erstreckt sich weit nach
Westen, über das Gebiet der Sicaner hinaus. Die Auruncer und Rutuler besäen und bearbeiten mit
der Pflugschar die harten Hügel. Sie hüten das Vieh auf deren rausten Stellen. (320) Diese ganze
Gegend und das Fichtengebiet des emporragenden Berges möge für Freundschaft der Teucrer
weichen, wir wollen gerechte Gesetze eines Bündnisses bestimmen und die Kameraden in unser
Königreich rufen: Sie mögen sich niederlassen, wenn das Verlangen danach so groß ist, und eine
Stadt gründen. Wenn ihnen aber der Sinn danach steht, zu anderen Gebiete und zu einen anderen
Volksstamm zu streben und sie unseren Grund und Boden verlassen können, wollen wir ihnen
zwanzig Schiffe mit italischem Hartholz bedecken. Wenn sie mehr füllen können, liegt das ganze
Material beim Gewässer. Sie selbst mögen die Anzahl und die Art der Schiffe vorschreiben, wir wollen
das Erz, unsere Handarbeit und die Werften gewähren. (330) Darüber hinaus scheint es gut, wenn
sich einhundert latinische Redner vom vornehmsten Stamm auf den Weg machen, welche meine
Worte überbringen und die Verträge bekräftigen sollen, und die Zweige des Friedens in ihren Händen
vorstrecken, wobei sie Gaben tragen, nämlich Talente an Gold und Elfenbein, sowie den Thron und
das Staatskleid als Abzeichen unseres Königreiches. Beratet euch gemeinsam und kommt dem
erschöpften Staat zur Hilfe.“
Dann erhob sich derselbe Drances feindlich gesinnt, den der Ruhm des Turnus mit neidischer
Missgunst und bitteren Stacheln quälte, der ein großes Vermögen hatte und recht gut reden konnte,
doch dessen Rechte im Krieg starr war, der bei Beratungen als wertvoller Berater geachtet wurde,
(340) mächtig war, wenn es um Aufruhr ging (ihm gab der mütterliche Adel eine erhabene Abkunft,
vom Vater berichtete er nur Ungewisses) und belud mit diesen Worten die Zorneswallung und
türmte sie auf: „Das ist eine Sache, die jedermann klar ist, die keine meiner Worte noch Ratschläge
bedarf, oh du guter König: Alle mögen gestehen, dass sie wissen, was das Schicksal des Volkes bringt,
doch sie scheuen sich, es auszusprechen. Er soll Redefreiheit gewähren und seinen Stolz ablegen,
wegen dessen unglücklicher Auspizien und linken Sitten (das will ich freilich sagen, mögen mir auch
Waffen und Tod drohen) wir so viele gefallene Anführer gesehen haben, und wie sich Trauer in der
ganzen Stadt (350) breit machte, während er, auf die Flucht vertrauend, das trojanische Lager angriff
und den Himmel heftig mit seinen Waffen erschreckte. Du mögest sogar noch eine einzige Gabe zu
191
denjenigen Gaben hinzufügen, die du befiehlst, dass sie zahlreich geschickt und den Dardanern
gehörig genannt werden, und dich soll keine Gewalttätigkeit irgendeines Mannes davon abhalten,
dass du als Vater deine Tochter einem herausragenden Schwiegersohn für eine würdige Hochzeit
gewährst und diesen Frieden in einem ewigen Bündnis schließt. Wenn aber so große Furcht die
Geister und Gemüter besitzt, wollen wir ihn persönlich anflehen und ihn um Nachsicht bitten: Er
möge nachgeben, und das eigentümliche Recht dem König und dem Vaterland zurückgeben. (360)
Warum wirfst du uns unglückliche Bürger sooft in offene Gefahren, oh Oberhaupt und Grund dieser
Übel für Latium? Es gibt kein Heil im Krieg, alle fordern wir von dir Frieden, Turnus, und zugleich nur
ein unverletzliches Unterpfand des Friedens. Als erster komme ich, schau, demütig bittend, den du
dir ja als feindlich gesinnten vorstellst (und ich zögere keineswegs es zu sein). Erbarme dich der
Deinen, leg deinen Hochmut ab und ziehe geschlagen fort. Wir haben genug gesehen, wie Leichen
hervorgebracht werden und wir haben gewaltige Äcker verlassen. Oder aber, wenn dich dein Ruhm
dazu bewegt, wenn du so große Stärke in deiner Brust aufnimmst und wenn dir so sehr der zur
Mitgift gehörige Königspalast am Herzen liegt, (370) dann wage es und stürze deine Brust im
Vertrauen frontal gegen den Feind! Damit Turnus die königliche Gattin zuteil wird, sollen wir
wertlose Seelen natürlich, als unbegrabene und unbeweinte Menschenmenge die Felder pflastern.
Auch du, wenn dir noch irgendeine Kraft zu Eigen ist, wenn du noch irgendetwas von dem väterlichen
Kriegssinn hast, erblicke jenen Held, den dir entgegen ruft!“
Mit derartigen Worten entflammte er die Gewaltbereitschaft des Turnus. Er seufzte und brach aus
tiefer Brust diese Worte hervor: „Freilich hast du stets, Drancus, eine reiche Redegabe und dann,
wenn Kriege tapfere Hände fordern, bist du, wenn die Väter in den Rat gerufen werden, (380) als
Erster zur Stelle. Doch man darf das Ratsgebäude nicht mit Worten füllen, die dir in sicherer
Entfernung groß von den Lippen fliegen, solange der Wall der Mauern den Feind abhält und die
Gräben nicht vor lauter Blut überfluten. Daher donnere mit deiner Redekunst (das bist du ja
gewohnt) und behaupte du, Drances, ich würde mich fürchten, weil ja deine Rechte so viele
Leichenhaufen von Teucrern hervorgebracht, und weit und breit ausgezeichnete Felder mit
Siegeszeichen beladen hat. Was lebendige Mannhaftigkeit kann, magst du erproben, und freilich
müssen wir nicht lang den Feind suchen! Von allen Seiten umsteht er die Mauern. Tief in die
Feindesreihen – was zögerst du? Oder wird Mars stets nur auf deiner (390) stürmischen Zunge und in
deinen flüchtenden Füßen sein? Ich bin geschlagen? Kann jemand verdientermaßen, du Widerling,
mich als geschlagen beschuldigen, der den stürmischen Tiber vor lauter trojanischem Blut
anschwellen sah, wie das ganze Haus des Euander samt seinem Nachkommen niedergestürzt ist und
wie die Arcader ihren Waffen beraubt sind? Nicht so haben mich Bitias und der gewaltige Pandarus
auf die Probe gestellt und die tausend Männer, die ich an einem einzigen Tag als Sieger in den
192
Tartarus hinab geschickt habe, der ich in ihre Mauern eingeschlossen und vom feindlichen Wall
umgeben war. Es gibt kein Heil im Krieg? Verkünde dem (400) dardanischen Anführer solche Dinge,
Wahnsinniger, und dir selbst. Zögere also nicht, alles durch große Furcht in Verwirrung zu bringen
und den Mut eines zweimal besiegten Volkes zu erheben, die Waffen des Latinus hingegen
niederzudrücken. Nun erzittern auch die vornehmen Männer der Myrmidoner vor den phrygischen
Waffen, nun auch Tydides, und Achilles aus der Stadt Larissa, der Strom Aufidus flüchtet rückwärts
vor den adriatischen Wassern. Oder wenn er sich so darstellt, als hätte er Angst vor einem Streit mit
mir – ein Verbrechen eines Kunstfertigen – und durch die Furcht verschärft er die Anschuldigung.
Niemals wirst du durch diese Rechte eine so arme Seele verlieren - hör auf, dich zu erregen! Sie
möge bei dir wohnen, möge in deiner Brust sein. (410) Nun wende ich mich dir und deinen großen
Beschlüssen vor, Vater. Wenn du überdies keine Hoffnung in unsere Waffen setzt, wenn wir so sehr
verlassen sind und wir völlig zugrunde gehen, nachdem der Heereszug kehrt gemacht hat, Fortuna
nicht zurückkehrt, dann wollen wir um Frieden bitten und unsere träge Rechte zur Versöhnung
ausstrecken! Obwohl – oh wenn irgendetwas von der gewohnten Mannhaftigkeit zur Stelle wäre!
Jener ist mir noch vor den anderen glücklich mit seinen Strapazen und herausragend mit seinem Mut,
der, damit er solches nicht sehen musste, sterbend niedersank und zugleich mit seinem Mund in die
Erde biss. Wenn uns aber die Streitkräfte und bis jetzt die Jugend unversehrt bleibt, sowie mit ihrer
(420) Unterstützung die Italischen Städte und Völker bleiben, wenn aber auch für die Trojaner der
Ruhm mit viel Blut einher kam (sie haben ihre eigene Begräbnisse und in gleicher Weise fegt über alle
der Sturm), warum verlassen wir dann ruhmlos die vorderste Front? Weshalb besetzt schon vor dem
Kampfsignal Furcht unsere Glieder? Vieles hat der Tag und die wechselnde Strapaze der
verschiedenen Zeiten zum Besseren gewendet, das wechselnde Schicksal hat schon mit vielen
gespielt, wenn es sie aufgesucht hat, und dann wieder auf festen Boden gestellt. Weder Diomedes
noch Arpi werden uns eine Hilfe sein, doch Messapus, und der glückliche Tolumnius sowie die
Anführer, die uns (430) so viele Völker schickten, und nicht gerade wenig Ruhm möge den
ausgewählten Männer aus Latium und den Äckern von Lauentum folgen. Da gibt es Camilla, vom
herausragenden Stamm der Volscer. Sie führt einen Reiterzug an und mächtige Scharen aus Erz.
Aber wenn mich die Teucrer allein in den Kampf fordern, dies euch gut scheint und ich nur euren
guten Gemeinden im Wege stehe – nicht so sehr floh Victoria voller Hass vor diesen Händen, sodass
ich mich weigerte, irgendetwas für die so große Hoffnung zu wagen. Ich werde ihnen mit Mut
entgegen treten, (440) möge der große Achilles voranstehen oder jener Aeneas die Rüstung, die von
den Händen des Volcanus auf gleicher Weise gefertigt wurde, anziehen. Ich, Turnus, habe euch und
meinem Schwiegervater Latinus dieses Leben geweiht, und ich stehe niemandem der alten Helden an
Tugend nach. Aeneas ruft mich allein? Und ich bitte darum, dass er mich ruft! Nicht Drances soll eher
193
mit dem Tod büßen, wenn dies der Zorn der Götter ist, wenn es aber Tugend und Ruhm ist, soll er ihn
nicht eher abräumen.“
Jene verhandelten streitend diese Dinge untereinander die zweifelhafte Lage betreffend. Aeneas
hingegen brach auf und rückte mit seiner Kampfreihe vor. Sieh, die Botschaft stürzte unter
gewaltigem Aufruhr durch den königlichen Palast und erfüllte die Stadt mit großem Schrecken: Die
ausgerüsteten Teucrer und die (450) tyrrhenische Mannschaft zögen in Formation vom Fluss Tiber
auf den ganzen Feldern hinab. Sofort waren die Gemüter verwirrt, die Herzen des einfachen Volkes
heftig erschüttert und die Zorneswallungen dank nicht gerade sanfter Anreize erregt. Die zitternden
Menschen forderten, dass man sich bewaffnete, die Jugend brüllte nach Waffen, die traurigen Väter
weinten und scheuten sich. Jetzt erhob sich von allen Seiten lautes Geschrei bestehend aus
verschiedenartiger Uneinigkeit gegen die Lüfte, nicht anders als in einem hohen Hain, wenn sich
zufällig eine Schar Vögel niederlässt, oder wenn am fischreichen Strom der Padusa heißere Schwäne
überall in den murmelnden Sümpfen Laute von sich geben. „Nun ihr Bürger“, sagte Turnus, nachdem
sich ein passender Moment bot, (460) „versammelt den Rat und lobt sitzend den Frieden. Jene
stürzen mit Waffen in unser Königreich.“ Nachdem er nicht Weiteres gesprochen hatte, eilte er fort
und eilte schnell aus dem erhabenen Palast. „Du, Volusus, veranlasse und verkünde den Manipeln
der Volscer, dass sie sich bewaffnen und führe auch die Rutuler.“, sagte er, „Verteile du Messapus
mit deinem Bruder Coras die bewaffnete Reiterei auf den weiten Feldern. Ein Teil soll den Zugang zur
Stadt stärken und schnell die Türme besetzen. Die übrige Mannschaft soll, wo ich es befehlen werde,
mit mir angreifen.“
Sogleich eilte die ganze Stadt zu den Mauern auseinander. Vater Latinus selbst (470) verließ den Rat
und die großen Unternehmungen und verschob sie, verwirrt durch die finstere Zeit. Er machte sich
viele Vorwürfe, weil er nicht von sich aus Aeneas von den Dardanern empfangen und ihn als
Schwiegersohn an seine Stadt herangezogen hatte. Andere sicherten die Tore mit Gräben, oder
schafften Felsen und Speere herbei. Die raue Posaune gab das blutige Zeichen zum Krieg. Dann
stellten sich Mütter und Jungen oben auf der Mauer im Kreis auf, die letzte Strapaze rief alle herbei.
Doch auch zum Tempel, zu der äußerst erhabenen Burg des Pallas zog eine große Schar der
königlichen Müttern hinauf, indem sie Gaben brachte, gleich daneben war als Begleiterin die
Jungfrau Lavinia, (480) der Grund des so großen Übels. Ihre zierlichen Augen hatte sie zu Boden
gerichtet. Die Mütter traten ein, erfüllten den Tempel mit Weihrauch und brachen vom hohen
Eingang aus betrübte Äußerungen hervor: „Waffenmächtige, Beschützerin des Krieges, tritonische
Jungfrau, zerbrich die Waffe in der Hand des phrygischen Räubers, und werfe ihn selbst vornüber zu
Boden. Streue ihn hin unter den hohen Stadttoren!“ Der rasende Turnus selbst gürtete sich
194
wetteifernd für die Schlacht. Schon hatte er den rötlichen Brustpanzer angelegt und starrte ob der
ehernen Schuppen. Seine Waden hatte er mit Gold umschlossen, an den Schläfen war er bis jetzt
unbedeckt, an seine Seite hatte er sich das Schwert gegürtet (490) und er glänzte golden, als er von
der hohen Burg hinabstieg. In seinem Gemüt war er übermütig und in freudiger Erwartung stellte er
sich den Feind bereits vor: Wie wenn ein Hengst, nachdem er die Fesseln zerrissen hatte, vor dem
Stall floh, als er endlich frei war, und sich dem offenen Feld bemächtigte. Entweder zieht er auf die
Weide und zur Stutenherde oder springt hinaus in den bekannten Fluss, gewohnt vom Wasser
begossen zu werden. Mit seinem hoch emporgerichteten Hals brüllt er übermütig. Seine Mähne tanzt
über den Hals bis zu seinen Schulterblättern.
Diesem eilte Camilla entgegen, begleitet von einer Schlachtreihe der Volscer, vor den Toren selbst
(500) sprang die Königin von ihrem Pferd. Das ganze Gefolge ahmte sie nach und nachdem sie die
Pferde verlassen hatten, glitten sie zur Erde herab. Dann sprach sie solches: „Turnus, wenn es für den
tapferen Krieger verdientermaßen irgendeine Zuversicht in sich selbst gibt, wage ich es, und
verspreche, den Schwadronen der Aeneaden entgegenzutreten und allein gegen die tyrrhenischen
Reiter zu ziehen. Lasse mich an vorderster Front die Gefahren des Krieges auf die Probe stellen, und
du verweile bei den Mauern und schütze die Stadt.“ Auf diese Worte sprach Turnus, der seine Augen
auf die ehrwürdige Jungfrau gerichtet hatte: „Oh Jungfrau, Würde Italiens, wie, ja wie soll ich dir nur
danken? Doch jetzt, weil (510) dieser Mut über allem erhaben ist, teile mit mir die Strapaze! Der
unverschämte Aeneas hat eine nur leicht bewaffnete Reiterei vorangeschickt, wie das Gerücht und
die ausgesandten Kundschafter versichern. Die Reiter sollten die Felder erschüttern. Er selbst würde
über die verlassene, steile Gegend des Berges, den Bergrücken überwindend, zur Stadt heranrücken.
Ich bereite ihm eine Hinterlist auf dem gewölbten Weg des Waldes, sodass ich die beiden Engpässe
mit jeweils einem bewaffneten Soldaten besetze. Nimm du die tyrrhenische Reiterei auf, nachdem
der Kampf begonnen sein wird. Bei dir wird der eifrige Messapus sein, sowie die latinische
Schwadron und die Mannschaft des Tiburtus, nimm auch du das Amt eines Anführers an!“ (520) So
sprach er und mit gleichen Worten ermunterte er auch Messapus und die verbündeten Anführer.
Dann brach er gegen den Feind auf.
Es gibt ein Tal in einer kurvigen Krümmung, günstig für einen Hinterhalt oder einer Kriegslist, an das
von beiden Seiten eine finstere Seite aus dichtem Laub herandringt, wohin ein schmaler Fußweg
führt, sowie enge Schluchten und spärliche Zugänge. Über diesem Tal liegt auf Anhöhen, ganz oben
am Gipfel des Berges eine unbekannte Ebene, ein sicherer Zufluchtsort, sei es, dass man zur Rechten
oder zur Linken einen Kampf begegnen will, sei es dass man vom Bergrücken aus drohen und riesige
195
Felsen hinab wälzen will. (530) Hierhin zog der junge Mann in bekannter Richtung der Wege, riss den
Ort an sich und besetzte den ungünstigen Wald.
Unterdessen redete Diana, die Tochter der Latona, im Olymp die schnelle Opis, eine ihrer
jungfräulichen Genossinnen und ihrer heiligen Schar und brachte aus ihrem Mund diese ernsten
Worte hervor: „Camilla schreitet zum grausamen Krieg, oh Jungfrau, und umgürtet sich vergeblich
mit unseren Waffen, die mir noch vor den anderen lieb ist. Nicht kam mir, der Göttin Diana, diese
Liebe zu ihr erst jüngst auf und bewegte meinen Geist durch plötzlich entstandene Lieblichkeit. Als
Metabus, aufgrund von Missgunst und seinen erhabenen Kräften aus seinem Königreich vertrieben,
aus der alten Stadt (540) Privernum ging, nahm er, während er inmitten der Gefahren des Krieges
floh, seine Tochter als Begleiterin im Exil mit und nannte sie nach dem Namen ihrer Mutter Casmilla,
nachdem er einen Teil verändert hatte, Camilla. Er selbst strebte zu den langen Bergrücken der
einsamen Haine, während er sie an seiner Brust vor sich her trug: Von allen Seiten bedrängten ihn
wilde Waffen und ringsum trieben sich Soldaten der Volscer um ihn. Siehe, der Amasenus schäumte
mitten in der Flucht auf und überflutete die höchsten Ufer, ein so großer Regenguss war aus den
Wolken gebrochen. Während sich jener anschickte ihn zu durchschwimmen, (550) hemmte ihn die
Liebe zu seiner Tochter und war um seine teure Last besorgt. Während jener für sich alles hin und
her überlegte, kam er plötzlich mit Mühe zu diesem Entschluss: Er wickelte an die gewaltige Lanze,
die er zufällig als Krieger in seiner kräftigen Hand führte – ein massives Holz, mit Knoten versehrt und
aus gehärtetem Hartholz – seine Tochter, die er mit Bast und aus Wäldern stammenden Korkeiche
umschloss, und band sie bequem an der Mitte der Lanze fest. Während er sie in seiner gewaltigen
Rechten schwang, sprach er so zum Himmel: „Gütige Bewohnerin der Haine, Jungfrau Diana, ich
selbst als Vater gelobe dir diese Dienerin. Während sie erstmals deine Waffen hält, flieht sie demütig
vor dem Feind durch die Lüfte. Nimm die deine an, ich rufe dich (560) Göttin als Zeugin an, die nun
den unsicheren Lüften anvertraut wird.“ Das sagte er, und nachdem er seinen Arm angespannt hatte
schleuderte er die geschwungene Lanze: Die Gewässer erklangen, die unglückliche Camilla floh über
dem reißenden Fluss am zischenden Wurfgeschoss dahin. Doch Metabus, da die große Schar ihn nun
schon näher bedrängte, übergab sich dem Fluss, und zog auf der anderen Seite als Sieger die Lanze
mit der jungfräulichen Tochter, als Geschenk der Trivia, aus einem Stück mit Gras bewachsenem
Boden. Nicht nahm jenen auch nur eine einzige Stadt in ihre Häuser oder in ihre Mauern auf (Auch
hätte er in seiner Wildheit selbst nicht die Hand gereicht), und in den einsamen Bergen verbrachte er
ein Hirtendasein. (570) Hier ernährte er seine Tochter im Dorngestrüpp und inmitten von struppigen
Wildlagern an den Zitzen einer weidenden Stute mit wilder Milch, indem er mit den zarten Lippen
der Tochter die Zitzen molk. Sobald die Tochter die erste Schritte gemacht hatte, bewaffnete er ihre
Handflächen mit einem scharfen Wurfspieß und hing der kleinen an ihrer Schulter Pfeile und einen
196
Bogen auf. Anstatt einer goldenen Haarspange, statt der Bedeckung eines langen Obergewands, hing
das erbeutete Fell eines Tigers vom Scheitel über den Rücken. Schon damals schleuderte sie in ihren
zarten, kindlichen Händen die Pfeile, mit einem gerundeten Seil trieb sie das Wurfnetz um ihren Kopf
und warf es auf einen (580) strymonischen Kranich oder auf einen weißen Schwan. Viele Mütter
überall in den tyrrhenischen Städten hatten sich jene vergebens als Schwiegertochter gewünscht.
Allein mit Diana war sie zufrieden und sie verehrte lauter ihre ewige Liebe zu Waffen und zu ihrer
Jungfräulichkeit. Ich wünschte, sie wäre nicht vom Kriegsdienst ergriffen und sie würde nicht mit
solchen Unternehmungen die Teucrer reizen: Sie wäre mir lieb und wäre eine meiner Begleiterinnen.
Nun aber gleite vom Himmel, Nymphe, da sie nun einmal von bitteren Fata bedrängt wird, und
besuche die latinischen Gebiete, wo aufgrund eines unglücklichen Vorzeichens ein finsterer Kampf
begonnen wird. (590) Nimm dies und hole aus dem Köcher den rächenden Pfeil: Durch ihn soll mir,
wer auch immer ihren heiligen Körper durch eine Wunde verletzt – Trojaner oder Italer – auf gleicher
Weise mit seinem Leben büßen. Später will ich den Leichnam der Unglücklichen und die ungeraubten
Waffen in einer hohlen Wolke tragen und sie in ihren Grabhügel in der Heimat legen.“ Das sprach sie.
Die Nymphe hingegen glitt leicht durch die Himmellüfte, erklang mit ihrem Körper, umgeben von
einem schwarzen Wirbel.
Doch inzwischen näherte sich die trojanische Mannschaft den Mauern. Die Etrusker, die Führer der
Reiterei, sowie das ganze Heer waren in gleicher Zahl in Schwadronen eingeteilt. Die (600)
springenden Pferde lärmten in der ganzen Ebene, es kämpfte mit den knapp gehaltenen Zügeln,
während es sich hierhin und dorthin wendete. Dann starrte der Acker eisern vor lauter Lanzen und
die Felder brannten ob der nach oben gerichteten Waffen. Doch auch Messapus und die schnellen
Latiner, Coras mit seinem Bruder und die Reiterabteilung der Jungfrau Camilla erschienen auf der
anderen Seite auf dem Schlachtfeld. Nachdem sie ihre Rechte weit zurückgezogen hatten, streckten
sie die Lanzen vor und schleuderten die Geschosse: Der Anmarsch der Männer und das Gebrüll der
Pferde entbrannte. Schon war jeder in Wurfreichweite vorgerückt und stehen geblieben. Plötzlich
brachen sie in Geschrei aus und (610) spornten die tobenden Pferde an, schleuderten von allen
Seiten zahlreiche Waffen – wie wenn es schneit – und der Himmel wurde von einem Schatten
verborgen. Sogleich rannten Tyrrhenus und der eifrige Aconteus angestrengt mit entgegen
gerichteten Lanzen zusammen und sorgten als erste unter gewaltigem Getöse niederstürzten,
nachdem ihre Pferde Brust an Brust zusammengeprallt waren und sie sich gebrochen hatten. Der wie
ein Blitz oder wie ein von einer Wurfmaschine geschleudertes Gewicht herausgeschlagene Aconteus
stürzte weit kopfüber und zerstreute sein Leben in die Lüfte. Sofort warf die verwirrte Kampfreihe
sowie die Latiner, die kehrt gemacht hatten, ihre Schilder auf den Rücken und wendeten ihre Pferde
zu den Mauern. (620) Die Trojaner trieben sie. Als erster führte Asilas die Schwadronen heran. Und
197
schon näherten sie sich den Toren, da erhoben die Latiner erneut Geschrei und lenkten die weichen
Pferdehälse zurück. Die Trojaner flüchteten und nachdem sie die Zügel gänzlich schießen gelassen
hatten, wendeten sie zurück. Wie wenn das Meer in einem abwechselnden Strudel hervor strömt
und bald zur Erde rast, schäumend eine Welle über die Felsen wirft und den äußersten Sand mit der
Biegung der Welle begießt, bald rasend zurückfließt, und wenn die Flut zurückgegangen ist, flieht es
zurückflutend vor den Felsen, und verlässt die Küste, während es aus der Untiefe zurückfließt:
Zweimal trieben die Etrusker die Rutuler zurück zu den Mauern, (630) zweimal wurden sie
zurückgeworfen und blickten sich um, als sie mit dem Schild ihren Rücken schützten. Doch nachdem
sie zur dritten Schlacht zusammengekommen waren, verwickelten sich die ganzen Formationen
untereinander und jeder wählte sich seinen Gegner. Dann aber war das Seufzen der Sterbenden zu
hören, im tiefen Blut lagen Waffen und Leichen, und halbtote Pferde, die mit dem Blut der Helden
besudelt waren wälzten sich, der raue Kampf gewann an Schärfe. Orsilochus schleuderte eine Lanze
in das Pferd des Remulus, weil er davor schauderte, an ihn selbst heranzutreten und ließ das Eisen
unter dem Pferdeohr zurück. Durch diesen Treffer tobte das Pferd, warf mit emporgerichteter Brust
seine hohen Schenkel in die Luft, weil es den Schmerz der Wunde nicht ertrug und (640) wälzte,
nachdem es Remulus abgeworfen hatte, zu Boden. Catillus warf Iollas nieder, auch den
waffengewaltigen Herminius, der gewaltig war im Hinblick auf seinen Körperbau und seine
Waffenfertigkeit. Ihm fiel von entblößtem Scheitel sein blondes Haar über die nackten Schultern,
denn Wunden erschreckten ihn nicht. Der so große Mann war den Waffen ausgesetzt. Die Lanze, die
ihm durch seine breiten Schultern getrieben wurde, zitterte und nachdem sie den Mann durchbohrt
hatte, schmerzte sie doppelt so stark. Überall wurde dunkles Blut vergossen. Die Wettstreitenden
brachten mit dem Schwerte Leichen hervor und erstrebten durch ihre Wunden einen schönen Tod.
Doch mitten im Gemetzel war eine Amazone ausgelassen, eine Seite hatte sie für den Kampf
entblößt: Die köchertragende Camilla. (650) Und bald verdichtete sie mit ihrer geschmeidigen die
Lanzen werfend, deren Frequenz, bald ergriff sie hastig mit ihrer unermüdlichen Rechten die
Doppelaxt. Von ihrer Schulter klang der goldene Bogen und die Waffen der Diana. Jene lenkte sogar
einen fliehenden Pfeil, wenn sie einmal vertrieben zurückwich, mit umgedrehtem Bogen. Und um sie
herum befanden sich ausgewählte Begleiterinnen, nämlich die Jungfrau Larina, Tulla sowie Tarpeia,
die ein erzbeschlagenes Beil schwang, Italerinnen, welche die göttliche Camilla selbst für sich als
Zierde ausgewählt hatte, als gute Gehilfinnen in Krieg und Frieden: Es war, wie wenn die thrakischen
Amazonen über den Fluss Thermodon (660) stampfen und mit bunten Waffen kriegen, sei es um
Hippolyte geschart, sei es, wenn sich die Tochter des Mars, Penthesilea auf dem Streitwagen
zurückbegibt, und der weibliche Zug unter lautem Geschrei und in Aufruhr mit den
halbmondförmigen Schilden ausgelassen ist. Wen wirfst du zuerst mit dem Schwert nieder, wilde
198
Jungfrau, wen als letzten? Oder wie viele sterbende Körper zerstreust du auf der Erde? Als erstes den
Eunaeus, Sohn des Clytius, dessen ungedeckte Brust vorne ein langer Speer durchschlagen hatte.
Während jener Ströme von Blut erbrach, fiel er und biss in den blutigen Erdboden. Sterbend wandt
er sich in seiner Wunde. (670) Danach machte sie Lris nieder, darüber hinaus Pagasus, von denen der
eine zurückwälzend die Zügel anzog, während sein Schwert strauchelte, während der andere zur Hilfe
eilte und dem Fallenden seine unbewaffnete Rechte ausstreckte. Gleichzeitig stürzten sie kopfüber.
Diesen fügte sie Amastrus, den Sohn des Hippotes hinzu. Sie verfolgte stürzend aus der Ferne mit
einer Lanze Tereus, Harpalycus, sowie Demophoon und Chromis. Wie viele aus der Hand
geschleuderte Pfeile die Jungfrau warf, so viele phrygische Helden fielen. Aus der Ferne eilte Ornytus
mit fremden Waffen als Jäger auf einem iapygischen Pferd, dem ein von einem jungen (680)
Kampfstier geraubtes Fell seine breiten Schultern bedeckte. Der gewaltige Rachen des Mauls und die
Wangen eines Wolfes bedeckten sein Haupt mit weißen Zähnen. Seine Hände bewaffnete er mit
einem bäuerlichen Jagdspeer. Er selbst wandte sich mitten in den Scharen und überragte sie um
einen ganzen Kopf. Nachdem Camilla jenen empfangen hatte (das ist freilich keine große Mühe in
einem zur Flucht gewandten Heereszug), durchbohrte sie ihn und sprach überdies aus feindlicher
Brust: „Hast du, Tyrrhener, geglaubt, dass du in den Wäldern nach Wild jagst? Der Tag ist gekommen,
der eure Worte durch weibliche Waffen wiederlegt. Dennoch bringst du keinen unbedeutenden
Namen den Totengeistern deiner Ahnen: du bist durch die Waffe der Camilla gefallen!“
Unverzüglich traf sie Orsilochus und Butes, zwei äußert erhabene Körper der Teucrer, doch Butes war
von der Pfeilspitze abgewandt – sie traf ihn zwischen seinem Brustpanzer und dem Helm, wo der
Hals des sitzenden Mannes hervorleuchtete und der leichte Schild vom linken Arm herunterhing.
Während sie vor Orsilochus floh und in einen großen Kreis getrieben war, täuschte ihn der innere
Kreis und sie verfolgte ihren Verfolger. Während sie sich dann höher erhob, rammte sie die kräftige
Axt wiederholt dem Mann, der noch vieles bat und flehte durch die Rüstung und durch die Gebeine.
Die Wunde benetzte sein Gesicht mit warmen Gehirnresten. Auf sie stieß der (700) Bewohner des
Appennin, der Krieger und Sohn des Aunus, war aber plötzlich ob des Anblicks erschreckt und
verharrte. Er war nicht der letzte der Ligurer, solange es die Fata noch zuließen zu täuschen. Dieser,
nachdem er erkannt hatte, dass er auf keinem Wege dem Kampf entkommen, noch sich von der
drohenden Fürstin abwenden konnte, fing er an, sich im Rahmen eines Plans eine List zu überlegen
und begann in seiner Schlauheit zu sprechen: „Was ist so herausragend, wenn du als Frau einem
kräftigen Pferd vertraust? Gib die Flucht auf und vertraue dich mit mir Mann gegen Mann dem
gleichen Boden an! Rüste dich für einen Kampf zu Fuß! Schon wirst du kennen lernen, wem die
windige Ruhmsucht einen Nachtteil bringt.“ Das sagte er, doch jene (710) übergab einer Begleiterin
das Pferd, durch heftigen Schmerz entflammt und leistete ihm mit gleichen Waffen Widerstand:
199
Unerschrocken zu Fuß mit bloßem Schwert und mit einem reinen, leichten Schild. Doch der junge
Mann, der glaubte, sie durch die List bereits besiegt zu haben, eilte selbst davon (er zögerte nicht)
und mit entgegen gerichteten Zügeln lenkte er flüchtig das schnelle Pferd hinfort und quälte es mit
seinen Sporen. „Eitler Ligurer, der du umsonst durch deinen überheblichen Mut aufgeblasen bist!
Vergeblich versuchst du dich betrügerisch an den väterlichen Künsten, auch wird dich deine
Täuschung nicht unversehrt zum trügerischen Aunus bringen.“ Dies sprach die Jungfrau, und feurig
überholte sie in ihrem Lauf mit schnellen Fußsohlen das Pferd. Nachdem sie die Zügel ergriffen hatte,
(720) bekämpfte sie ihn von vorne und nahm blutige Rache, ebenso einfach, wie ein Habicht, der
heilige Vogel, von einem hohen Felsen aus mit seinen Flügeln in einer Wolke einer erhabenen Taube
folgt und wenn er sie ergriffen hat, hält er sie fest und weidet sie mit seinen gekrümmten Klauen aus.
Dann fallen das Blut und das gerupfte Gefieder vom Himmel.
Doch während diese Ereignisse der Erzeuger von Menschen und Götter nicht mit unaufmerksamen
Augen beobachtete, saß er erhaben ganz oben auf dem Olymp. Der Erzeuger ermunterte den
Tyrrhener Tarchon für die wilde Schlacht und flößte ihm auf nicht gerade sanfter Weise
Zorneswallungen ein. Also eilte Tarchon auf seinem (730) Pferd inmitten des Gemetzels und den ihm
weichenden Heereszügen und wiegelte mit verschiedenen Äußerungen die Flügeltruppen auf, indem
er jeden einzelnen beim Namen nannte, und belebte die Geschlagenen neu für die Schlacht. „Welche
Furcht, oh ihr Tyrrhener, die ihr niemals Schmerz empfinden wolltet und stets untätig wart, welche
Feigheit vor den Waffen beschleicht euch? Eine Frau treibt euch Flüchtende und lässt diese
Heereszüge umdrehen! Wozu führen wir das Schwert, wozu führen wir diese erfolglosen Waffen in
unserer Rechten? Venus gegenüber und bei ihren nächtlichen Kriegen seid ihr doch auch nicht träge,
oder sobald die gekrümmte Flöte des Bacchus zu Reigentänzen aufruft. Erwartet Tische voller
Speisen und Trinkbecher (dies euer Verlangen, dies ist euer Eifer), während der gewogene Weissager
die Opfer (740) melden und euch das fette Opfertier in die hohen Haine rufen wird!“ Nachdem er
dies ausgesprochen hatte, trieb er sich selbst und sein Pferd, bereit zu sterben, in die Mitte des
Kampfes, stürzte sich stürmisch gegen Venulus, und nachdem er seinen Feind vom Pferd gerissen
hatte, umschlang er ihn mit seinem rechten Arm und schaffte ihn schnell vor seiner Brust mit großer
Gewalt weg. Geschrei erhob sich zum Himmel und alle Latiner richteten ihre Augen auf ihn. Der
feurige Tarchon eilte über die Ebene, indem er seine Waffen und den Mann trug. Dann brach er ganz
oben von seiner Lanze die Eisenspitze ab und forschte nach offenen Stellen, wo er seinen Gegner
tödlich verwunden konnte. Während sich jener wehrte, (750) hielt er von seiner Kehle die Rechte des
Angreifers zurück und entkam der Gewalt durch seine Stärke. Wie wenn der feurige Adler hoch
fliegend eine Schlange trägt, die er geraubt hat, sie mit seinen Füßen umschlang und mit seinen
Krallen in ihr haftete, sich die verwundete Schlange aber mit ihren verschlungenen Windungen
200
wendet, vor aufgestellten Schuppen starrt, mit ihrem Mund zischt, während sie sich steil erhebt,
peinigt der Vogel die kämpfende Schlange nicht weniger mit seinem einwärts gekrümmten Schnabel
und gleichzeitig schlägt er mit seinen Flügeln die Lüfte: Nicht anders trug Tarchon seine Beute
jubelnd aus dem Heereszug der Tiburter. Die Maeoniden, welche dem Beispiel und dem Erfolg ihres
Führers folgten, stürmten in die Schlacht. Dann umgab Arruns, der dem Fatum geschuldet war, die
(760) schnelle Camilla, der ihr am Wurfspieß und mit seiner großen Kunstfertigkeit überlegen war,
und prüfte, welche Chance zum Angriff wohl die müheloseste wäre. Wohin sich die rasende Jungfrau
auch immer mitten im Heereszug begab, dorthin näherte sich ihr Arruns und durchwanderte
schweigend ihre Fußspuren. Wohin die Siegreiche zurückkehrte und ihren Fuß aus den Feindesreihen
lenkte, dorthin lenkte der junge Mann heimlich die schnellen Zügel. Zu diesen Zugängen, dann zu
diesen Zugängen eilte er von allen Seiten auf jeder Umkreisung und schwang boshaft seine
treffsichere Lanze.
Zufällig strahlte der Cybele geweihte Chloreus, der einst ein Priester war, weithin in seinen
auffallenden, phrygischen Waffen (770) und trieb sein schäumendes Pferd, welches eine Haut mit
ehernen Schuppen und mit Gold durchwirkt wie ein Gefieder umgab. Er selbst schleuderte einen
ausländischen, gortynischen Pfeil aus lykischem Horn, während er mit seinem rostfarbenen
Purpurgewand leuchtete. Von seinen Schultern hing ein goldener Bogen und golden war sein
Prophetenhelm. Dann hatte er seinen safrangelben Mantel und die leinenen, rauschenden Falten zu
einem Knoten gebunden mit schimmerndem Gold. Bunt bestickt waren sein Hemd und sein
ausländischer Schutz der Beine. Diesem einen aus dem ganzen Gefecht des Kampfes folgte die
Jungfrau Camilla blind – sei es, um an den Tempeln seine trojanischen Waffen aufzuhängen, sei es,
um sich als (780) Jägerin in geraubtem Gold zu zeigen – durch den ganzen Heereszug, entbrannt in
weiblicher Begierde nach Beute und nach geraubten Rüstungen. Als Arruns endlich, nachdem er eine
günstige Gelegenheit ergriffen hatte, seine Lanze aus dem Hinterhalt antrieb und so mit seiner
Stimme zu den Göttern betete: „Höchster der Götter, Apollo, Wächter über das heiligte Soracte, den
wir als erste verehren, für den ein Brand aus Fichtenscheitern genährt wird, und wir, deine Verehrer,
mitten über einen Haufen glühende Kohle gehen, im Vertrauen auf unser Pflichtgefühl. Gewähre,
Vater, dass diese Schmach von unseren Waffen beseitigt wird, (790) du Allmächtiger. Ich erbitte
keine Beute oder ein Siegeszeichen der geschlagenen Jungfrau, oder irgendeine Rüstung, mir werden
die übrigen Taten Ruhm bringen. Solange nur dieses unheilvolle Scheusal durch meine Wunde
geschlagen fällt, will ich ruhmlos in meine heimatliche Stadt zurückkehren.“
Phoebus hatte ihn erhört und beschloss einem Teil des Gebets zu folgen, einen Teil verteilte er in die
schnellen Winde: Er stimmte dem Bittenden zu, dass er die verwirrte Camilla in einem plötzlichen
201
Tod niederstrecken konnte. Dass seine erhabene Heimat ihn sah, wie er zurückkehrte, gewährte er
nicht und ließ diese Äußerung in die Südwinde des Sturms umkehren. Sobald die Lanze also aus der
Hand durch die Lüfte geworfen wurde und sie ein Zischen verlauten ließ, (800) richteten alle Volscer
ihre Aufmerksamkeit und ihre feurigen Augen zur Königin. Sie selbst berücksichtigte weder die Luft,
noch das Getöse, noch das vom Himmel kommende Geschoss, bis die Lanze unter ihre entblößte
Brust hingelangte, haften blieb und tief hineingetrieben jungfräuliches Blut aufsog. Es rannten die
zitternden Begleiterinnen zusammen und stützten die stürzende Herrin. Arruns floh aufgeschreckt
allen voran, vor Freude aber auch vor Furcht. Er wagte es nicht mehr der Lanze zu vertrauen noch
den Waffen der Jungfrau entgegenzutreten. Doch wie ein Wolf sich (810) unverzüglich in den hohen
Bergen abseits vom Wege versteckt hat, bevor ihm feindliche Waffen folgen konnten, nachdem von
ihm ein Hirte oder ein großer Stier getötet worden war, seiner kühnen Tat bewusst den zitternden
Schwanz und den Bauch eingezogen und in die Wälder gestrebt ist – nicht anders schaffte sich der
bebende Arruns aus den Augen und mit seiner Flucht zufrieden, mischte er sich mitten unter die
Kämpfe. Jene zog sterbend mit ihrer Hand an der Waffe, doch die feurige Schneide steckte zwischen
ihren Gebeinen in einer tiefen Wunde bis zu den Rippen. Blutleer brach sie zusammen, es glitten im
Tod ihre eisigen Augenlieder herab; die einst purpurne Farbe verließ ihr Gesicht. (820) Dann sprach
sie sterbend Acca, eine von ihren Altersgenossinnen, an, die Camilla als einzige noch vor den anderen
treu ergeben war und die ihre Sorgen teilte, und sprach so Folgendes: „Soweit vermochte ich zu
kämpfen, Schwester Acca. Nun tötet mich eine bittere Wunde und alles um mich herum wird
schwarz in Finsternis gehüllt. Fliehe und überbringe Turnus diese letzten Aufträge: Er möge in den
Kampf nachrücken und die Trojaner von der Stadt abhalten. Und nun leb‘ wohl.“ Während sie dies
gesprochen hatte, ließ sie die Zügel zur Erde fallen, während sie nicht freiwillig niedersank. Dann
befreite sich die Eisige allmählich von ihrem ganzen Körper, legte ihren geschmeidigen Hals und (830)
ihr vom Tod ergriffenes Haupt nieder, während sie die Waffen zurückließ, und die Seele floh mit
einem Seufzen unwillig hinunter zu den Schatten. Dann aber erhob sich gewaltiges Geschrei und
raste bis zu den goldenen Sternen: Nachdem Camilla niedergemacht war, wurde der Kampf blutig.
Zugleich rennt dichtgedrängt die ganze Schar der Teucrer zusammen, sowie die tyrrhenischen Führer
und die arcadischen Flügeltruppen des Euander.
Doch Opis, die Wächterin der Trivia, saß schon lange ganz oben in den Bergen und schaute sich
unerschrocken die Kämpfe an. Sobald in der Ferne sie mitten im Geschrei der tobenden jungen
Männer die durch einen traurigen Tod geschlagene Camilla sah, (840) seufzte sie und brachte aus
tiefer Brust diese Worte hervor: „Ach, mit einer allzu – ja allzu grausamen Todesstrafe hast du
gebüßt, Jungfrau, die du versucht hast, die Teucrer in einem Krieg anzugreifen! Nicht hat es dir
genützt, dass du einsam im Dornengestrüpp Diana verehrt hast oder unseren Köcher auf der Schulter
202
getragen hast. Dennoch hat dich deine Königin nicht ruhmlos in deiner nun letzten Stunde
hinterlassen, und weder wird dieser Tod namenlos bei den Völkern sein noch wirst du den Ruf einer
ungerächten Frau erleiden. Denn wer auch immer deinen Körper mit einer Wunde verletzt hat, wird
dafür mit einem verdienten Tod bezahlen.“ Es gab am Fuße eines hohen Berges einen riesigen (850)
Grabhügel des Königs Dercennus, einem alten Laurenter, bestehend aus einem irdischen Wall, der
von einer schattenspendenden Steineiche bedeckt wurde. Hierhin stellte sich die äußerst schöne
Göttin als erstes mit einer rasend schnellen Bewegung und beobachtete Arruns vom hohen
Grabhügel aus. Sobald sie sah, wie er in seiner Rüstung glänzte und eitel stolz war, sprach sie:
„Warum gehst du in entgegengesetzter Richtung fort? Lenke hierhin deinen Schritt, komm hierher,
bereit zugrunde zu gehen, damit du dir die würdigen Belohnungen für den Tod der Camilla in Besitz
nehmen kannst. Wirst du nicht einmal durch die Waffen der Diana sterben?“ Das sprach sie, dann
holte die Thrakerin einen schnellen Pfeil aus dem goldenen Köcher, spannte feindlich den Bogen,
(860) holte weit aus, bis die gekrümmten Enden zusammentrafen und sie schon mit ihren Händen auf
gleicher Höhe links die Spitze des Pfeils und rechts die Brust mit der Sehne berührte. Sofort hörte
Arruns gemeinsam das Zischen der Waffe und die klingenden Lüfte, das Eisen haftete in seinem
Körper. Seine Kameraden hinterließen ihn sterbend, während er die letzten Worte seufzte, auf dem
fremden Schmutz der Felder, da sie ihn vergessen hatten. Opis entfernte sich auf ihren Schwingen
zum himmlischen Olymp.
Nachdem sie ihre Herrin verloren hatte, floh als erste die leichte Flügeltruppe der Camilla, es flohen
die verwirrten Rutuler, es floh der eifrige Atinas; (870) die zersprengten Führer und die verlassenen
Manipeln eilten in Sicherheit und strebten, nachdem sie kehrt gemacht hatten, mit ihren Pferden in
das Lager. Niemand vermochte den drohenden Teucrern, die ihnen den Tod brachten, mit Waffen
standzuhalten oder ihnen entgegenzutreten, sondern sie trugen die schlaffen Bögen auf ihren
ermatteten Schultern zurück und der Huf der Pferde erschüttert im Lauf das stäubende Feld. Der
trübe Staub wurde in einem finsteren Dunst zu den Mauern gewälzt und von den Anhöhen aus
erhoben die Mütter, die sich an die Brust schlugen, weibisches Geschrei zu den Sternen des Himmels.
Diejenigen, die in ihrem Lauf als erste in die offenstehenden Tore einbrechen wollten, (880)
bedrängte überdies eine feindliche Menge, die sich unter ihren Zug gemischt hatte, und sie flohen
nicht von einem beklagenswerten Tod, sondern hauchten noch auf der Schwelle in den väterlichen
Stadtmauern und innerhalb des Schutzes der Häuser durchbohrt ihre Seelen aus. Ein Teil schloss die
Tore und wagte es nicht, den Kameraden den Weg zu öffnen, noch die Bittenden in die Mauern
aufzunehmen. Es entstand ein äußerst elendes Blutbad derjenigen, die mit ihren Waffen den Zugang
verteidigten und derjenigen, die gegen die Waffen stürzten. Vor den Augen und dem Antlitz der
weinenden Eltern ausgeschlossen, wälzte sich ein Teil in die jähen Gräben vom Verderben bedroht.
203
Der andere Teil stieß, nachdem er die Zügel schießen gelassen hatte, blind und aufgeregt (890) wie
ein Widder gegen die Tore und gegen die harten Pfosten, die mit einem Querbalken versperrt waren.
Die Mütter selbst schleuderten von den Mauern in höchstem Wettstreit zitternd Waffen aus ihrer
Hand und ersetzten mit hartem Kernholz, Keulen und in Feuer gehärteten Speeren kopfüber das
Schwert (es zeigte sich ihre wahre Liebe zum Vaterland, wie sie es von Camilla sahen) und sie
brannten darauf, als erste für die Stadt zu sterben.
Unterdessen erreichte die äußerst grausame Botschaft in den Wäldern Turnus und Acca lässt den
jungen Mann in gewaltige Empörung geraten: Die Schlachtreihe der Volscer sei zerstört, Camilla sei
gefallen, die Feinde seien eingefallen und hätten unter günstigem Kriegsglück (900) alles an sich
gerissen, die Furcht würde bereits zu der Stadt getragen werden. Jener verließ die besetzten Hügel
(und so forderten es die grimmigen Befehle des Jupiter) und verließ die rauen Haine. Kaum hatte er
ihr Blickfeld verlassen und war auf dem Weg zum Schlachtfeld, als der Vater Aeneas in die offenen
Waldungen marschierte, den Bergrücken überwand und den schattigen Wald verließ. So eilten beide
mit ihrem ganzen Heereszug rasch zu den Stadtmauern und waren nur noch wenige Schritte
voneinander entfernt. Sobald Aeneas in der Ferne die vor Staub rauchenden Feldern erblickte und
die laurentischen Heereszüge sah, (910) erkannte auch Turnus den wilden Aeneas in seiner Rüstung
und hörte die Füße der Ankömmlinge sowie das Schnauben der Pferde. Sofort hätten sie die Kämpfe
begonnen und versucht zu kämpfen, wenn nicht der rosige Phoebus seine erschöpften Pferde in das
hiberische Meer getaucht und die Nacht zurückgeführt hätte, während der Tag niedersank. Sie ließen
sich in ihrem Lager vor der Stadt nieder und verschanzten die Mauern.
Buch 12
Sobald Turnus sah, wie die gebrochenen Latiner nach widrigem Kriegsglück ermattet waren, wie nun
die Einlösung seiner Versprechen gefordert wurden, dass er mit den Augen beobachtet wurde, da
war er von sich aus unversöhnlich entbrannt und erhob seinen Mut. Wie auf den punischen Feldern
jener durch eine heftige Wunde in seiner Brust verletzte Löwe, die er von Jägern erhalten hatte, dann
endlich angreift und sich freut, während er an seinem Nacken seine behaarten Muskeln schüttelt. Er
zerbricht furchtlos den feststeckenden Pfeil des Räubers und brüllt aus seinem blutigen Maul. Nicht
anders entbrannte dem zornentflammten Turnus seine Gewalttätigkeit. (10) Dann sprach er so den
König an und begann stürmisch folgendermaßen: „Es gibt kein Aufschub mehr in Turnus. Es gibt
keinerlei Grund, dass die feigen Männer des Aeneas ihre Worte widerrufen, oder was sie verabredet
204
haben, zurückweisen. Ich treffe mit ihnen zusammen. Bringe Opfer dar, Vater, und fasse einen
Vertrag ab. Entweder schicke ich mit dieser Rechten den Flüchtling aus Asien, den Dardaner hinunter
in den Tartarus (die Latiner sollen dasitzen und zuschauen) und allein will ich die Schuld der
Gemeinde mit dem Schwert widerlegen, oder aber er soll uns für besiegt halten und die Gattin
Lavinia soll weichen.“
Ihm antwortete König Latinus mit ruhigem Herzen: „Oh du junger Mann, herausragend an Mut, so
sehr du dich selbst an wilder (20) Mannhaftigkeit überragst, um so mehr ist es billig, dass ich mich
sorgfältiger berate und dass ich mich fürchtend alle Möglichkeiten ausbreite. Du hast ein Königreich
deines Vaters Daunus, du hast Städte, die du mit eigener Hand besetzt hast, auch besitze ich, Latinus,
Gold und bin dir gewogen. Es gibt andere unvermählte Frauen in Latium und auf den laurentischen
Fluren, die nicht aus schlechtem Hause stammen. Lass mich dir dies, was nicht angenehm ist zu
sagen, ohne jegliche List eröffnen und du nimm es mit deinem Geist auf: Nach göttlichem Recht darf
ich meine Tochter mit niemandem der alten Adligen verbinden und dies prophezeiten mir alle:
Götter und Menschen. Von der Liebe zu dir besiegt, vom verwandten Blut besiegt (30) und aufgrund
der Tränen meiner traurigen Gattin habe ich alle Fessel durchbrochen. Ich habe meinem
Schwiegersohn die versprochene Frau entrissen und unfromme Waffen ergriffen. Du siehst, Turnus,
welche Schicksalsschläge und welche Kriege mir seit jener Zeit folgen, wie viele Strapazen du als
erster erleidest. Zweimal in großen Kämpfen besiegt, können wir nur mit Mühe die Hoffnung Italiens
in unserer Stadt schützen. Noch immer sind die Fluten des Tiber durch unser Blut warm und die
gewaltigen Felder sind weiß durch unsere Gebeine. Wozu wende ich mich sooft zurück? Welcher
Wahnsinn stimmt meinen Geist um? Wenn ich bereit bin, die Männer des Aeneas als Kameraden
anzunehmen, nachdem Turnus ausgelöscht sein wird, warum beseitige ich dann nicht vielmehr die
Kämpfe, wenn er noch unversehrt ist? (40) Was würden die verwandten Rutuler, was würde das
übrige Italien sagen, wenn ich dich dem Tod übergeben würde (der Zufall soll das Gesagte
widerlegen!), der du meine Tochter für die Heirat forderst? Schaue zurück auf die verschiedenen
Ereignisse im Krieg, erbarme dich deines betagten Vaters, den nun in der Ferne die Heimat Ardea
von dir teilt.“ Keineswegs wurde die Wildheit des Turnus mit diesen Worten umgestimmt. Sie ragte
noch mehr hervor und verschlimmerte sich im Versuch ihr abzuhelfen. Sobald er sprechen konnte,
bestürmte er ihn folgendermaßen mit Bitten: „Ich bitte dich, Bester, die Fürsorge, die du für mich
anführst, für mich abzulegen und du sollst zulassen, dass ich mich für den Ruhm dem Tod verpflichte.
(50) Auch ich, Vater, schleuderte Lanzen und starke Eisenspitzen mit meiner Rechten, und aus der
von mir verursachten Wunde, strömt Blut. Fern wird Aeneas seine göttliche Mutter sein, um den
Flüchtigen mit einer weibischen Wolke zu umgeben und sich in inhaltlosen Schatten zu verbergen.“
205
Doch die Königin, die ob des neuen Loses des Krieges heftig erschreckt war, weinte und hielt bereit
zu sterben ihren eifrigen Schwiegersohn: „Turnus, ich bitte dich bei diesen Tränen, bei der Ehre der
Amata, wenn nur etwas davon deinen Geist berührt: Du bist nun die einzige Hoffnung, du bist die
Ruhe meines armen Greisenalters, die Würde und die Befehlsgewalt des Latinus liegen in deinen
Händen, auf dich stützt sich das ganze ins Wanken gekommene Herrscherhaus. (60) Um eins bitte ich
dich: Lass‘ davon ab die Teucrer anzugreifen. Welche Schicksalsschläge auch immer auf dich in
diesem Kampf warten, warten auch auf mich, Turnus. Zugleich werde ich diese verhasste Oberwelt
verlassen und nicht als Kriegsgefangene meinen Schwiegersohn Aeneas sehen.“ Lavinia, deren
Wangen ob der Tränen feucht waren, vernahm die Stimme ihrer leidenschaftlichen Mutter.
Schamröte flößte ihr Feuer ein und lief durch ihr erhitztes Gesicht. Es war wie wenn jemand indisches
Elfenbein mit dem Blut der Purpurschnecke entweihte, oder weiße Lilien, sobald sie mit vielen Rosen
vermischt sind, rot schimmern. Derartige Farben ließ die Jungfrau in ihrem Gesicht erkennen. (70)
Die Liebe zu ihr verwirrte Turnus und er richtete seinen Blick auf die Jungfrau. Er entbrannte mehr für
den Krieg und sprach Amata mit wenigen Worten an: „Verfolge mich, der ich in die Kämpfe des
hartherzigen Mars gehe, bitte nicht mit Tränen oder mit dem so großen Vorzeichen, oh Mutter. Denn
auch für mich, Turnus, gibt es keine zügellose Verzögerung des Todes. Bringe du Bote Idmon, diese
meine Worte dem phrygischen Tyrannen, dem sie nicht gefallen werden. Sobald die morgendliche
Aurora mit ihren rötlichen Wagen zum Himmel gefahren und rot sein wird, soll er nicht die Teucrer
gegen die Rutuler führen. Die Waffen der Teucrer sollen ruhen, auch die der Rutuler. Wir wollen den
Krieg durch unser Blut entscheiden, (80) auf jenem Feld soll er sich Lavinia als Gattin erwerben.“
Nachdem er diese Worte hervorgebracht hatte, wich er hitzig in den Palast zurück, forderte Pferde
und freute sich, als er vor seinem Gesicht die brüllenden Rösser betrachtete, die Orithyia selbst dem
Pilumnus als Zierde geschenkt hatte, die mit ihrem lichten Schimmer den Schnee übertrafen, mit
ihrem Lauf die Winde. Eilige Wagenlenker standen um sie herum, reizten mit ihren hohlen Händen
ihre Bäuche, die sie tätschelten und sie kämmten ihre Mähnen. Dann umgab er selbst seine Schultern
mit einem schuppigen Brustpanzer aus Gold und weißem Messing. Dann fügte er sich sein Schwert,
den Rundschild und seine Helmspitze des roten Helmbusches für den Gebrauch an: (90) das Schwert,
das der feuerbeherrschende Gott selbst für seinem Vater Daunus hergestellt und glühend in das
stygische Gewässer getaucht hatte. Dann ergriff er mit Gewalt die starke Lanze, die mitten im
Gebäude an einer gewaltigen Säule lehnte. Sie war die Beute des Aurunkers Actor. Er schüttelte die
bebende Lanze und schrie: „Nun, oh Lanze, die du niemals meine Einladung vereitelt hast, nun ist die
Zeit gekommen. Dich hat der äußerst erhabene Actor geführt, dich führt nun die Rechte des Turnus.
Gewähre, dass ich den Körper des Aeneas niederstrecke und den losgerissenen Brustpanzer des
halben Phrygers mit meiner kräftigen Hand zerreißen kann, dass ich seine phrygischen Haare im
206
Dreck besudeln kann, (100) die mit dem warmen Eisen geschwungen sind und vor Myrrenöl triefen.“
Von dieser Raserei wurde er getrieben und von seinem ganzen Antlitz entwichen brennende Funken,
in seinen hitzigen Augen zuckte das Feuer. Wie wenn ein Stier bei seinen ersten Kämpfen sein
Schrecken erregendes Gebrüll hören lässt, oder wenn er versucht wütend mit seinem Gehörn
wütend zu werden und gegen einen Baumstamm anrennt, mit seinen Hieben die Winde reizt oder
sich durch den zerstreuten Sand auf den Kampf vorbereitet.
Nicht weniger wild rüstete sich währenddessen Aeneas in mütterlicher Rüstung zum Kampf und
fachte sich durch seinen Zorn an. Er freute sich, dass durch den angebotenen Vertrag der Krieg
beendet werden würde. (110) Dann tröstete er seine Kameraden und die Furcht des traurigen Iulus,
indem er sie über die Göttersprüche belehrte, dann befahl er, dass die Männer dem König Latinus
seine sichere Zusage überbrachten und Friedensbedingungen stellten.
Der nachfolgende, angebrochene Tag bestreute kaum die Berggipfel mit Licht, als sich aus dem
hohen Meer die Pferde des Sonnengottes erhoben und das Licht mit ihren erhobenen Nasenlöchern
hinaus bliesen. Die Männer, Rutuler und Teucrer, vermaßen am Fuße der Mauern der großen Stadt
das Feld für den Kampf und bereiteten in der Mitte Herde vor und für die gemeinsamen Götter
gräserne Altäre. Andere brachten Quellwasser und Feuer herbei (120) und waren mit einem Gürtel
verhüllt und an den Schläfen mit heiligem Kraut umgürtet. Die Legion der Ausonier rückte hervor, die
mit Pfeilen bewaffneten Heereszüge ergossen sich aus den vollen Toren. Darauf stürzten das ganze
trojanische und das tyrrhenische Heer in verschiedenen Rüstungen heraus, nicht anders, als wenn
der raue Kampf des Krieges die mit dem Schwert ausgerüsteten Männer rufen würde. Inmitten der
Tausenden eilten aber auch die Führer selbst, erhaben in Gold und Purpur. Auch der Sprössling des
Assaracus, Mnesteus, sowie der tapfere Asilas, Messapus, der Pferdebändiger, der Spross des
Neptun. Sobald das Zeichen gegeben worden war, wich ein jeder in seinen Bereich zurück. (130) Sie
schlugen ihre Lanzen in die Erde und lehnten daran die Schilde. Dann besetzten die sich mit Eifer
ergießenden Mütter, das unbewaffnete Volk sowie die schwachen Älteren die Türme und die Dächer
ihrer Häuser, andere standen auf den hohen Stadttoren.
Doch Iuno, die von der Spitze eines Erdhügels Ausschau hielt (der jetzt Albanus heißt, damals hatte
der Berg weder einen Namen, noch Ehre, noch Ruhm), erblickte das Feld und beide Kampfreihen der
Laurenter und der Trojaner, sowie die Stadt des Latinus. Sofort sprach die Göttin die göttliche
Schwester des Turnus, die den Sümpfen und den rauschenden Flüssen (140) vorstand (der erhabene
König des Himmels, Jupiter, hatte jener diese Ehre für die Jungfräulichkeit geweiht, die ihr entrissen
wurde), folgendermaßen an: „Nymphe, Zierde der Flüsse, die du unserem Gemüt äußerst
207
willkommen bist, du weißt, dass ich dich allen bevorzuge, welche Latinerin auch immer das
undankbare Bett des großherzigen Jupiter ersteigt und dass ich dich gerne in einen Teil des Himmels
setzen würde: Erfahre von deinem Schmerz Iuturna – und beschuldige mich nicht! Wie es Fortuna zu
erdulden schien und wie die Parzen zuließen, dass die Sache für Latium gut ausgeht, habe ich Turnus
und deine Stadt geschützt. Nun sehe ich, wie der junge Held mit ungleichen Göttersprüchen
zusammenrennt, (150) der Tag der Parzen und die feindliche Macht nahen. Ich kann mir mit meinen
Augen diesen Kampf und diese Verträge nicht ansehen. Brich du für deinen Bruder auf, wenn du
etwas recht Unerschrockenes wagst. Es ziemt sich. Vielleicht werden den Unglücklichen bessere
Zeiten folgen.“ Kaum hatte sie dies gesagt, vergoss Iuturna mit ihren Augen Tränen und schlug sich
drei- viermal mit ihrer Hand an ihre ehrenhafte Brust. Iuno, die Tochter des Saturn, sagte: „Dies ist
nicht die Zeit für Tränen. Beeil dich und entreiße, wenn irgendwie möglich, den Bruder dem Tod.
Oder fange einen Krieg an und schüttle den verfassten Vertrag ab. Ich bin der Urheber des
Wagnisses.“ Nachdem sie sie so ermuntert hatte, verließ Iuno die (160) unsichere und durch eine
traurige Wunde ihres Geistes verwirrte Schwester.
Inzwischen fuhren auf gewaltigen Wagen der König Latinus auf einem Viergespann herbei (dem zwölf
vergoldeten Strahlen seine glänzenden Schläfen umgaben, als Kennzeichen seines Ahns Sol) sowie
der König Turnus auf einem weißen Zweigespann, der in der Hand zwei Lanzen mit breiter
Eisenschneide zitternd hielt. Dann rückte der Vater Aeneas aus dem Lager, Ursprung der römischen
Nachkommenschaft, glühend mit seinem strahlenden Rundschild und der himmlischen Rüstung und
gleich daneben Ascanius, die erhabene Hoffnung des großen Roms. Ein Priester in seiner reinen
Kleidung brachte das Junge einer (170) borstigen Sau und ein ungeschorenes Schaf herbei und
bewegte Kleinvieh zu den brennenden Altären. Jene, die ihre Augen zu der aufgehenden Sonne
gerichtet hatten gaben den Tieren mit ihren Händen gesalzene Feldfrüchte, bezeichneten mit dem
Schwert das Vieh oben an der Stirn und spendeten das Trankopfer mit den Opferschalen den Altären.
Dann betete der pflichtbewusste Aeneas mit gezücktem Schwert so: „Sei mir, der ich rufe, nun Sol
und diese Erde Zeuge, wegen der ich so viele Strapazen aushalten konnte – und du allmächtiger
Vater, du Gattin Saturnia (sei schon gütiger, Göttin, ich bitte dich) auch du bekannter Mars, (180)
Vater, der du alle Kriege unter deinem göttliche Willen lenkst. Ich rufe Quellen und Flüsse, und alle
Heiligtümer im erhabenen Äther, und alle göttlichen Wirkmächte, die im bläulichen Meer sind. Wenn
der Zufall den Sieg dem Ausonier Turnus zugesteht, schickt es sich für die Besiegten zur Stadt des
Euander zu gehen, Iulus wird von den Fluren weich, und später sollen keine Aeneaden, den Krieg
erneuernd, auch nur eine einzige Waffe zurücktragen oder mit dem Schwerte dieses Königreich
herausfordern. Wenn aber unser Mars uns den Sieg zugesteht (was ich eher glaube, und was die
208
Götter durch ihr Wirken eher bekräftigen werden) werde ich für meinen Teil nicht befehlen, dass die
Italer den Teucrern gehorchen, (190) und ich erstrebe für mich nicht das Königreich: Unter
angemessenen Bedingungen sollen sich beide unbesiegte Völker in einem ewigen Bündnis einen. Ich
werde ihnen Bräuche und Götter geben. Mein Schwiegervater Latinus soll das militärische
Kommando besitzen – seine gewohnte Befehlsgewalt. Die Teucrer werden mir eine Stadt gründen
und Lavinia wird der Stadt ihren Namen geben.“ So sprach Aeneas als erster, dann folgte Latinus
folgendermaßen, während er zum Himmel aufschaute und er streckte seine Rechte zu den Sternen
aus: „Ich schwöre die gleichen Dinge, Aeneas, bei der Erde, dem Meer und der Sterne, bei den zwei
Sprösslingen der Latona und bei dem zweigesichtigen Ianus, bei der Macht der unterirdischen Götter
und bei den Heiligtümern des hartherzigen Dis. (200) Dies möge der Schöpfer hören, der Verträge
mit seinem Blitz weiht. Ich berühre die Altäre und rufe die in der Mitte befindlichen Feuer und die
göttlichen Wirkmächte als Zeugen auf: Kein Tag wird diesen Frieden oder den Vertrag bei den Italern
brechen, wie sich die Sachlage auch immer entwickeln wird. Auch wird mich, der ich willig bin, keine
Gewalt davon abwenden, auch nicht, wenn sie die Erde durch eine Sintflut in die Wogen ergießen
und den Himmel mit dem Tartarus vermischend auflösen würde, so wie dieses Zepter (denn zufällig
führte er in seiner Rechten ein Zepter) niemals mehr Gesträuch mit leichtem Laub oder Schatten
hervorbringen wird, wenn es einmal in den Wäldern von der tiefen Wurzel her abgeschnitten und
seiner Mutter beraubt ist, dem Eisen das Laub und die Zweige vorsetzt. (210) Einst umschloss es ein
Baum, dann die Hände eines Künstlers mit ehrenvollem Erz, und den latinischen Vätern gewährte es,
dass es von ihnen getragen wird.“ Mit derartigen Worten bekräftigten sie untereinander den Vertrag,
mitten im Blickfeld der Vornehmen. Dann schlachteten sie ordnungsgemäß die geweihten Opfertiere
für das Feuer, rissen den noch lebenden Tieren die Eingeweide heraus und häuften auf die Altäre die
beladenen Opferschalen.
Doch den Rutulern schien dieser Kampf schon lange Zeit ungleich und durch verschiedene
Gemütswallungen waren sie verwirrt – dann umso mehr, je mehr sie erkannten, dass die beiden
Männer nicht gleichstark waren. Dies unterstützte Turnus, der in stillem Gang voranschritt, (220)
während er den Altar demütig mit gesenktem Blick verehrte, sowie seine männlichen Wangen und
die Blässe an seinem jugendlichen Körper. Sobald seine Schwester Iuturna sah, wie das Gerede
zunahm und die schwankenden Herzen des Volkes umstürzten, ging sie mitten unter die
Schlachtreihen, nachdem sie sich in Camers verwandelt hatte, der von seinem Großvater her eine
gewaltige Abstammung und einen berühmten Namen väterlicher Tugend hatte und selbst äußerst
energisch im Krieg war – sie ging also mitten unter die Schlachtreihen, der Lage kundig, zeugte
verschiedene Gerüchte und sprach solches: „Schämt es euch nicht, oh ihr Rutuler, all den solchen
Männern eine einzige (230) Seele entgegenzuwerfen? Sind wir ihnen etwa nicht von der Zahl und der
Kraft ebenbürtig? Seht, dies sind alle – sowohl Trojer als auch Arcader sowie die schicksalsträchtige
209
Mannschaft, das dem Turnus feindlich gesinnte Etrurien: Wir haben kaum einen Feind, wenn wir
Mann gegen Mann kämpfen. Turnus allerdings wird sich durch den Ruhm den Göttern näheren,
deren Altäre er sich weiht und durch die mündliche Überlieferung wird er weiterleben. Wir, die wir
nun säumig auf den Fluren sitzen, werden, nachdem wir unsere Heimat verloren haben, gezwungen
werden, überheblichen Herren zu gehorchen.“
Durch solche Worte war die Meinung der jungen Männer mehr und mehr entflammt, das Gemurmel
kroch durch den Heerezug. (240) Selbst die Laurenter, selbst die Latiner wurden umgestimmt.
Diejenigen, die für sich schon Ruhe vor dem Kampf und Hoffnung für ihre eigene Lage erhofft hatten,
wollten nun den Krieg, wünschten sich den Vertrag ungeschehen und hatten Mitleid mit dem
ungerechten Schicksal des Turnus. Diesen Punkten fügt Iuturna etwas anderes Gewichtigeres hinzu
und gab ein Zeichen vom hohen Himmel, woran gemessen kein einziges die italischen Gemüter
wirksamer verwirrt und durch sein Wunder getäuscht hatte. Denn im Flug verfolgte der rotgelbe
Vogel des Jupiter am rötlichen Himmel Küstenvögel, die tönende Menge eines geflügelten Zuges, als
er plötzlich zum Meer glitt und einen (250) vortrefflichen Schwan boshaft mit seinen gekrümmten
Zehen raubte. Die Italer waren gespannt: Alle Vögel wendeten mit Geschrei die Flucht um
(wundersam anzusehen), verdunkelten den Himmel mit ihren Flügeln und brachten den Feind durch
die Lüfte in Bedrängnis, indem sie eine Wolke gebildet hatten, solange bis der Vogel durch die Gewalt
besiegt, durch das Gewicht selbst ermattet war und seine Beute aus seinen Krallen zum Fluss
niederwarf, dann tief in die Wolke flüchtete.
Dann aber begrüßten die Rutuler das Vorzeichen mit Geschrei, sie machten die Mannschaft bereit
und als erster sagte der Augur Tolumnius: „Das, ja das war, was ich in meinen Gebeten oft erbeten
hatte. (260) Ich empfange und erkenne die Götter. Unter meiner, ja unter meiner Führung ergreift
das Schwert, oh ihr Unglücklichen, die euch der boshafte Ankömmling heftig mit einem Krieg
erschreckt, wie die schwachen Vögel und der eure Küsten mit Gewalt verwüstet. Er wird fliehen und
er wird weit auf dem Meer die Segel hissen. Verdichtet ihr einmütig die Scharen und verteidigt für
euch den geraubten König in der Schlacht.“ Das sagte er und während er vorlief, schleuderte er
gegen die Feinde gegenüber eine Lanze. Das zischende Horn gab ein Geräusch von sich und
zerschnitt treffsicher die Lüfte. Und zugleich, zugleich entstand gewaltiges Geschrei und alle
keilförmigen Schlachtordnungen waren verwirrt, die Herzen erwärmten sich im Aufruhr. (270) Die
Lanze flog und zufällig standen die äußerst schönen Körper von neun Brüdern gegenüber, welche so
zahlreich eine einzige treue, tyrrhenische Gattin, dem Arcader Gylippus geboren hatte, von welchen
die Waffe den einen an seiner Körpermitte durchbohrte, wo der leicht zusammengenähte Gürtel an
seinem Bauch reibt und die Gewandspange die Verbindungsenden seiner Seiten zusammenhält, den
210
im Hinblick auf seine Schönheit und den glänzenden Waffen herausragenden jungen Mann. Sie
durchbohrte seine Rippen und streute ihn auf den goldgelben Sand. Doch seine Brüder, eine mutige
Phalanx, die durch die Trauer entflammt war, zogen zum Teil mit ihren Händen ihre Schwerter, zum
Teil ergriffen sie hastig das eiserne Geschoss und stürzten wild nach vorne. Diesen entgegen (280)
rückten die Heereszüge der Laurenter vor, dann fluteten in dichten Reihen erneut die Trojer, die
Agilliner, und die Arcader mit ihren bunten Waffen: So hatte die eine Begierde mit dem Schwert um
die Entscheidung zu kämpfen alle in der Hand. Sie plünderten die Altäre, ein ungestüme Sturm aus
Waffen verlief über den ganzen Himmel und es brach eine eiserne Wolke herein, sie trugen
Opferschalen und Herde weg. Latinus selbst floh und berichtete, dass die Götter durch den
befleckten Vertrag vertrieben worden waren. Andere zügelten die Streitwägen oder warfen ihre
Körper mit einem Sprung auf die Pferde und waren mit gezogenen Schwertern zur Stelle. Messapus,
der begierig darauf war, den Vertrag zu brechen, jagte sein Pferd gegen Aulestes, König der (290)
Tyrrhener, der seinen königlichen Schmuck trug. Jener stürzte zurückweichend und stürzte
unglücklich mit dem Kopf und den Schultern auf die Altäre, die hinter ihm im Weg standen. Doch der
brennende Messapus eilte mit der Lanze herbei und traf oben auf dem Pferd den Mann, der noch
vieles bat, heftig mit seiner balkenartigen Lanze und sprach folgendermaßen: „Dies hat er, dieses
bessere Opfer wurde für die großen Götter gebracht.“ Die Italer liefen zusammen und beraubten die
noch warmen Glieder. Gegenüber ergriff Corynaeus von dem Altar einen verbrannten Holzscheit und
(300) steckte dem kommenden Ebysus, der ihn gerade Schlagen wollte, dessen Gesicht in Flammen.
Jenem leuchtete sein gewaltiger Bart auf und brachte verbrannt Dunst hervor. Darüber hinaus folgte
Corynaeus, ergriff hastig mit seiner Linken das Haar seines verwirrten Gegners. Während er sich
durch sein niedergedrücktes Knie stützte, lehnte er ihn gegen die Erde. So schlug er ihn mit seinem
steifen Eisen in die Seite. Podalirius, verfolgte den Hirten Alsus, welcher in der ersten Schlachtreihe
durch die Waffen eilte und er überragte ihn mit seinem blanken Schwert. Doch jener spaltete,
nachdem er mit seinem Beil ausgeholt hatte, die mittlere Stirn des ihm gegenüber stehenden
Mannes sowie dessen Kinn und benetzte weithin die Rüstung mit versprengtem Blut. Dem Podalirius
drückte schwere Ruhe und der eiserne (310) Schlaf die Augen zu, seine Augen schließen sich zur
ewigen Nacht.
Doch der pflichtbewusste Aeneas streckte seine unbewaffnete Rechte aus und rief seinen Leuten mit
entblößtem Haupt schreiend zu: „Wohin eilt ihr? Welche Zwietracht erhebt sich da so plötzlich? Oh,
haltet eure Zorneswallungen im Zaum! Der Vertrag wurde bereits geschlossen und alle Klauseln
verfasst. Allein ich besitze das Recht mit ihnen zusammenzutreffen. Lasst es mich tun und beseitigt
eure Furcht. Ich werde mit eigener Hand die Verträge festigen. Diese Opfer schulten mir nun
Turnus.“ Inmitten dieser Äußerungen, mitten in den solchen Worten – sieh! – glitt eine geflügelte
211
Lanze an den Helden. (320) Es war ungewiss von welcher Hand sie gestoßen wurde, durch welchen
Wirbel sie hergetrieben wurde, welcher Schicksalsschlag oder welcher Gott den Rutulern so viel
Ruhm brachte. Der hervorragende Ruhm der Tat wurde unterdrückt, und niemand prahlte mit der
Verwundung des Aeneas. Sobald Turnus den aus dem Heereszug weichenden Aeneas und die
verwirrten Heeresführer sah, entbrannte er hitzig in plötzlicher Hoffnung. Er forderte Pferde und
zugleich Waffen. Überheblich sprang er mit einem Sprung auf den Wagen hinauf und setzte mit
seinen Händen die Zügel in Bewegung. Viele tapfere Heldenkörper übergab er eilend dem Tod. Viele
wälzte er halbtot zu Boden: Entweder (330) trat er die Heereszüge mit seinem Streitwagen nieder
oder schleuderte auf die Flüchtenden die geraubten Lanzen. Es war, wie wenn bei dem Fluss des
eisigen Hebrus der blutige Mars eilig mit seinem Schild ertönt und seine Pferde schießen lässt,
während er Kriege in Bewegung setzt: Jene eilen noch vor dem Süd- und vor dem Westwind über die
offene Ebene. Es seufzt das hinterste Thrakien unter dem Schlag ihrer Hufen und um die Gestaden
werden die finstere Furcht, die Dämonen des Zorns und der Hinterlist als Begleitung des Gottes
getrieben. Solche Pferde, dampfend vor Schweiß stieß der eifrige Turnus mitten in die Schlachten,
während er beklagenswert auf den niedergehauenen Feinden herumtanzte. Die schnellen Hufe
verspritzen (340) Blut und trampelten auf dem mit Blut vermischtem Sand herum. Und schon
übergab er Sthenelus, Thamyrus und Pholus dem Tod. Mit dem einen und mit dem anderen stieß er
zusammen, letzterer tötete er Mann gegen Mann. Mann gegen Mann auch die beiden Söhne des
Imbrasus, nämlich Glaucus und Lades, die Imbrasus selbst in Lykien ernährt und mit gleichen
Rüstungen geschmückt hatte, um entweder anzugreifen oder mit dem Pferd die Winde zu überholen.
In anderer Richtung eilte Eumedes mitten in die Schlacht, der im Krieg hochberühmte Sprössling des
alten Dolon, der den Namen seines Ahn trug. Im Hinblick auf seinen Mut und sein Geschick dem
Vater gleich, der es einst (350) gewagt hatte, als er als Späher an das Lager der Danaer herantrat, den
Wagen der Peliden als Belohnung für sich zu fordern. Jenen stattete der Sohn des Tydeus für solche
Wagnisse mit einem anderen Preis aus – und er widmete sich dann nicht mehr den Pferden des
Achilles. Sobald diesen Turnus über das offene Feld aus der Ferne erblickt hatte, folgte er ihm erst
lange vergeblich mit einem leichten Wurfspieß, dann machte er mit seinem Zweigespann Halt,
sprang vom Streitwagen und kam über den halbtoten, fallenden Mann. Nachdem er mit seinem Fuß
auf dessen Hals gedrückt hatte, entriss er dessen Rechten den Dolch, tauchte die glänzende Waffe
tief in seine Kehle und fügte darüber hinaus diese Worte hinzu: „Schau, durchwandere die Felder und
(360) Hesperien, das du im Krieg, Trojaner, erobern wolltest liegend. Diese Belohnungen bringen mir
diejenigen, die es gewagt haben, mich mit dem Schwert anzugreifen; auf diese Weise gründen sie
ihre Stadt.“ Ihm als Begleiter schickte er mit einer geworfenen Lanze Asbytes, sowie Chloreus,
Sybaris, Dares, Thersilochus und Thymoetes, der von dem Nacken seines sich aufbäumenden Pferdes
212
gefallen war. Und wie wenn das Wehen des thrakischen Boreas über der hohen Ägäis braust und die
Flut zu den Gestaden flieht, wohin sich die Winde gestürzt haben, fliehen die Wolken am Himmel. So
fallen vor Turnus, wo er auch immer sich einen Weg bahnt, ganze Heereszüge, Schlachtreihen eilen
zur Flucht gewandt dahin. Seine Begeisterung trug ihn (370) und die Luft, die seinem Streitwagen
entgegenwehte, schüttelt seinen fliegenden Helmbusch. Phegeus ertrug den drohenden und voller
Mut brüllenden Mann nicht, stellte sich ihm bei seinem Streitwagen entgegen und drehte die mit den
Zügeln schäumenden Mäulern der eilenden Pferde mit seiner Rechten weg. Während er gezogen
wurde und am Gespann hing, traf den entblößten Mann eine breite Lanze und durchbrach den
doppeldrahtigen Brustpanzer, in den sie hineingebohrt wurde, und berührte den Körper nur
oberflächlich mit einer Wunde. Phegeus allerdings machte kehrt, und versuchte mit seinem Schild,
das er ihm entgegenhielt, gegen den Feind zu gehen und bei seinem geführten Schwert Hilfe zu
suchen, als das Rad und die vorwärtseilende Achse den Mann kopfüber (380) fortstießen und auf den
Boden streuten. Turnus folgte ihm und raubte ihm zwischen dem unteren Ende des Helmes und dem
oberen Ende des Brustpanzers Gesicht und Kopf und ließ den Körperrumpf im Sand zurück.
Und während der siegreiche Turnus auf den Feldern diese Leichen hervorbrachte, brachten
Mnestheus, der treue Achates und sein Begleiter Ascanius den blutenden Aeneas, der sich jeden
zweiten Schritt auf seine lange Lanze stützte, in das Lager. Er wütete und rang damit den Pfeil mit
seinem gebrochenen Rohr herauszuziehen und forderte zur Hilfe das nächstgelegene Mittel. Seine
Männer sollten mit einem breiten Schwert die Wunde aufschneiden und den Schlupfwinkel der
Waffe tief (390) öffnen, und ihn in den Krieg zurückschicken. Und schon war Iapyx zur Stelle, der von
Phoebus noch vor den anderen geschätzt war, Sohn des Iason, dem einst Apollo selbst, von heftiger
Liebe ergriffen, seine Künste, seine Gaben geben wollte: Das Augurium, die Zither und die schnellen
Pfeile. Jener wollte lieber, damit er die Göttersprüche seines im Sterben liegenden Vaters
vorantragen konnte, die Macht der Heilkräuter, den Gebrauch des Heilens kennen und die stillen
Künste ruhmlos verfolgen. Da stand wild brüllend und auf die gewaltige Lanze gestützt Aeneas in
einem großen (400) Zusammenlauf der jungen Männer und des trauernden Iulus, unberührt von
ihren Tränen. Jener ältere Mann, der mit einem zurückgeworfenen Umhang umgürtet war, in der Art
der Paenonier, versuchte vergeblich, zitternd vieles mit seiner heilenden Hand und den mächtigen
Heilkräutern des Phoebus, vergeblich bewegte er mit seiner Rechten heftig die Pfeilspitze und ergriff
mit der festhaltenden Zange das Eisen. Keine Fortuna wies den Weg, kein Apollo kam als Urheber zu
Hilfe, und wilder Schauer verdichtete sich auf den Feldern mehr und mehr. Das Übel war schon
näher. Schon sahen sie den Himmel in Staub gehüllt. Es näherten sich die Reiter und dichte Pfeile
flogen mitten in das Lager. Trauriges Geschrei der (410) kriegführenden jungen Männer drang zum
Himmel und derjenigen, die im hartherzigen Kampf fielen.
213
Da war Venus ob des unrühmlichen Schmerzes ihres Sohnes erschüttert und pflückte als Mutter
Diptam vom kretischen Idagebirge: den mit ausgewachsenen Blättern belaubten Stängel samt der
purpurnen Blüte. Jenes ist kein Kraut, das den wilden Ziegen unbekannt ist, wenn geflügelte Pfeile
ihnen im Rücken stecken. Dieses brachte Venus, die ihre Gestalt mit einer finsteren Wolke umgeben
hatte, dies vermischte sie in einen strahlendem Becken mit Flusswasser, wodurch sie verborgen das
Heilmittel zubereitete und versprengte den Saft der heilbringenden Ambrosia sowie das duftende
Wunderkraut darüber. (420) Mit dieser Flüssigkeit pflegte der hochbetagte Iapyx die Wunde, ohne
dass er etwas davon wusste. Plötzlich floh freilich der ganze Schmerz von Aeneas‘ Körper, und all das
Blut war in der tiefen Wunde gestillt. Und schon fiel der Pfeil ab, der gänzlich ohne Zwang der Hand
gefolgt war, und neue Kräfte kamen wieder wie vormals zurück. „Holt schnell die Waffen für den
Mann! Was steht ihr da herum?“, schrie Iapyx und entflammte als erster die Gemüter gegen den
Feind. „Dies geschieht nicht durch menschliches Werk, dies geschieht nicht durch meine
Lehrmeisterin, die Heilkunst, auch rettet dich nicht, Aeneas, meine Rechte. Eine größere Gottheit
handelt und schickt dich für größeren Aufgaben zurück.“ (430) Aeneas, begierig zu kämpfen,
umschloss von beiden Seiten seine Waden mit Gold, er hasste Verzögerungen und schwang seine
Lanze. Nachdem der handliche Rundschild an seiner Seite und der Brustpanzer auf seinem Rücken
war, umarmte er mit angezogener Rüstung Ascanius, küsste ihn mit den obersten Lippen nur leicht
durch das Visier und sprach: „Lerne, mein Junge, von mir Tugend und wahrhafte Mühe, Glück aber
von anderen. Nun wird mir meine Rechte gewähren, dass du im Krieg verteidigt wirst und sie wird
dich zwischen große Belohnungen führen. Sorge dafür und erinnere dich daran, wenn bald dein
junges Alter erstarken wird, und während du im Geist die Beispiele der Deinen Revue passieren lässt,
werden dich (440) sowohl dein Vater Aeneas als auch dein Onkel Hector ermuntern.“
Sobald er dies gesagt hatte, eilte er aus den Toren während er riesig eine gewaltige Lanze in seiner
Hand schüttelte. Zugleich eilten in einem dichten Heereszug Antheus und Mnestheus. Die ganze
Masse verbreitete sich von den übrigen Lagern aus. Dann wurde das Schlachtfeld in finsteren Staub
gemischt und durch den Hufschlag der Pferde zitterte die erschreckte Erde. Von einem Erdwall
gegenüber sah Turnus die Kommenden, auch die Ausonier sahen sie und eisiges Zittern lief ihnen
durch Mark und Bein. Als erste noch vor allen hatte Iuturna die Latiner gehört und das Geräusch
erkannt. Erschüttert floh sie. (450) Aeneas eilte und riss den finsteren Heereszug auf das offene Feld.
Es war, wie wenn eine Wolke bei einem gewaltigen Sturm mitten über das Meer zum Land hineilt.
(Ach, den unglücklichen Bauern schaudern schon lange ihre vorausahnenden Herzen: Der Sturm wird
bei den Bäumen für Stürze sorgen und bei der Saat für deren Vernichtung. Alles wird weit und breit
einstürzen). Voraus eilen die Winde zu den Gestaden und bringen Getöse mit. Ebenso treibt der
trojanische Heeresführer den Zug gegen den gegenüber befindlichen Feind. Dichtgedrängt ballte sich
214
ein jeder, nachdem sich die Männer in den keilförmigen Formationen versammelt hatten.
Thymbraeus schlug mit seinem Schwert den schweren Osiris, Mnestheus den Arcetius, Achatas
schlug den Epulo nieder, (460) Gyas den Ufens. Selbst der Augur Tolumnius fiel, der als erster seine
Lanze gegen die Feinde gegenüber geschleudert hatte. Geschrei erhob sich zum Himmel. Die Rutuler,
die kehrt gemacht hatten, wandten ihnen in ihrer staubigen Flucht über die Äcker ihre Rücken zu.
Aeneas selbst hielt es nicht für würdig die Abgewandten tödlich niederzustrecken, noch diejenigen,
die mit ihm mit gleichem Schritt zusammentrafen oder die Waffen tragenden Männer zu verfolgen.
Allein Turnus suchte er in dichtem Dunst, während er umherspähte, allein ihn forderte er zum Kampf.
Die Heldenjungfrau Iuturna, die durch diese Furcht in ihrem Geist erschüttert war, (470) schüttelte
Metiscus, der Wagenlenker des Turnus inmitten der Zügel ab und ließ ihn, der weit über die Deichsel
gefallen war, zurück. Sie selbst löste ihn ab und lenkte mit ihren Wellen schlagenden Händen die
Zügel, während sie alles an sich trug: Die Stimme, den Körper sowie die Waffen des Metiscus. Es war
wie wenn eine schwarze Schwalbe durch die großen Gemächer eines reichen Hausherrn fliegt und
mit ihren Flügeln die hohen Vorhallen durchfliegt, ein wenig Futter aufsammelt und auch für die
zwitschernden Nester Futter. Und bald rauscht sie in den leeren Säulenhallen, bald um die feuchten
Seen. Ähnlich eilte Iuturna mitten durch die Feindesreihen mit ihren Pferden und ging dahinfliegend
auf eilendem Wagen allen entgegen. Und bald hielt sie sich hier, bald dort den jubelnden Bruder vor
Augen, (480) ließ es nicht zu, dass er kämpfte und eilte fern auf einem Umweg. Nicht weniger fuhr
Aeneas auf der anderen Seite gerundete Kreisbahnen entlang, suchte den Mann und rief ihn laut
durch die zersprengten Heereszüge. Sooft er seine Augen auf den Feind richtete und versuchte, mit
seinem Lauf die schnellfüßigen Rosse auf deren Flucht zu erreichen, sooft drehte Iuturna ihren
abgewandten Streitwagen um. Ach, was soll er tun? Er schwankte durch verschiedene Regungen,
verschiedenartige Sorgen riefen seinen Geist in entgegengesetzte Richtungen. Zu ihm lenkte
Messapus, sowie er zufällig zwei leichte, biegsame Lanzen trug, an deren Spitzen Eisen befestigt war,
in schnellem Lauf (490) eine von ihnen, die er in einem sicheren Wurf schleuderte. Aeneas machte
Halt und barg sich hinter seinem Schild, während er sein Knie beugte. Dennoch traf die angetriebene
Lanze den oberen Teil der Helmspitze und schlug ihm oben am Scheitel den oberen Teil des Buschs
ab. Dann aber erhoben sich, weil in den Hinterhalt gezwungen, seine Zorneswallungen, sobald er
wahrnahm, dass die Pferde und der Streitwagen in verschiedene Richtungen zurückeilten. Er schwor
Jupiter und den Altären des verletzten Vertrages vieles. Schon fiel er endlich mitten in die Scharen
ein und verursachte schrecklich unter günstigem Kriegsglück ein wildes Blutbad ohne jeden
Unterschied. Alle Zügel des Zorns ließ er schießen.
215
(500) Welcher Gott legt mir nun so viele bittere Dinge dar, welcher Gott in seiner Prophezeiung die
verschiedenen Blutbäder und den Untergang der Heeresführer, die auf der ganzen Ebene
abwechselnd bald Turnus, bald der trojanische Held treibt? Schien es etwa gut, Jupiter, dass die
Völker, die in ewigem Frieden leben sollten, mit so großer Leidenschaft zusammenstoßen? Aeneas
empfing den Rutuler Sucro (dieser Kampf ließ die eilenden Teucrer als erster auf der Stelle stehen) an
dessen Seite, der ihn nicht lange aufhielt, und bohrte ihm, wo die Fata am schnellsten sind, sein
blutiges Schwert in die Rippen und in seinen Brustkorb. Turnus (510) traf zu Fuß mit den vom Pferd
geworfenen Amycus zusammen und mit dessen Bruder Diores: den einen Herbeikommenden traf er
mit einem langen Pfeil, den anderen mit einem Dolch. Die abgetrennten Häupter der beiden hing er
auf seinen Wagen und trug sie vor Blut triefend. Aeneas schickte Talo, Tanais, sowie den tapferen
Cethegus in den Tod – alle drei in einem Zusammentreffen – sowie den traurigen Onites, der den
Namen des Echion trug und der Sprössling der Mutter Peridia war. Turnus tötete die Brüder, die von
Lykien und von den apollinischen Feldern geschickt wurden, sowie den jungen Mann Menoetes, der
vergebens voll Hass gegen Kriege war, den Arcader, der sein Handwerk um den Fluss der fischreichen
Lerna hatte, sowie ein bescheidenes Haus und (520) Dienste für mächtige Herren waren ihm nicht
bekannt. Sein Vater bepflanzte ein gepachtetes Stück Land. Und wie Feuer, die in verschiedenen
Richtungen in einen trockenen Wald und in das Gebüsch, das durch den Lorbeer rauscht, geworfen
wurden oder wie schäumende Ströme in ihrem schnellen Herabströmen von den hohen Bergen
Getöse von sich geben und ins Meer eilen: Beides verwüstet seinen Weg. Nicht weniger träge
stürzten beide, Aeneas und Turnus, durch die Schlachten. Jetzt, ja jetzt wogte der Zorn in ihrem
Inneren. Die Gemüter wurden durchbrochen, die nicht wussten, was es heißt, besiegt zu werden.
Nun ging man mit ganzen Kräften den Wunden entgegen.
Aeneas schlug Murranus, der seine Ahnen und den altehrwürdigen (530) Namen seiner Ahnen pries,
und dass sich sein ganzes Geschlecht durch die latinischen Könige zog, durch einen Felsen und durch
den Wirbel eines gewaltigen Steins vom Wagen und streckte ihn zu Boden. Unter den Riemen und
dem Joch wälzten ihn die Räder vorwärts und oft traten die schnellen Hufen der Pferde auf ihn,
uneingedenk ihres Herrn. Turnus lief dem eilenden Hyllus, der mit seinem Gemüt gewaltig brüllte,
entgegen und schleuderte seine Waffe zu dessen vergoldeten Schläfen: Jenem blieb die Lanze, die
durch den Helm hindurch flog, fest im Gehirn stecken. Auch deine Rechte entreißt dich nicht dem
Turnus, du tapferster der Griechen, Cretheus, noch schützen seine Götter Cupencus, (540) wenn
Aeneas kommt: Er bot dem Schwert seine Brust, die er ihm entgegenhielt. Und das Hindernis seines
ehernen Rundschildes half dem Unglücklichen nicht. Auch dich, Aeolus, sahen die laurentischen
Felder sterben und wie du langgestreckt die Erde mit deinem Rücken bedeckt hast. Du fällst, den
weder die argivischen Phalangen niederstrecken konnten, noch Achilles, Zerstörer des Königreiches
216
des Priamus. Hier waren für dich die Grenzen des Todes, hier deine erhabene Stätte am Fuße des Ida,
deine erhabene Stätte in Lyrnesus, ein Grabhügel auf laurentischem Boden. So sehr wandten sich die
ganzen Kampfreihen zu: Alle Latiner, alle Dardaner, Mnestheus und der eifrige Serestus, (550)
Messapus, der Pferdebändiger, und der tapfere Asilas, die Phalanx der Etrusker, sowie die
arkadischen Flügeltruppen des Euander. Ein jeder für sich strengte sich mit äußerster Kraft an. Es gab
keine Verzögerung, keine Ruhe. Sie strebten in den weiten Kampf.
Jetzt schickte seine äußerst schöne Mutter dem Aeneas die Absicht, dass er zu der Stadtmauer
marschierte, seinen Heereszug rasch der Stadt zuwendete und in einem plötzlichen Blutbad die
Latiner verwirrte. Sobald jener in den verschiedenen Heereszügen Turnus suchte, ließ er seine Blicke
hier und dorthin schweifen und erblickte eine Stadt, die von dem so großen Krieg unberührt war und
straffreie Ruhe. Sofort entflammte das Bild eines größeren Kampfes: (560) Er rief die Heeresführer
Mnestheus, Sergestus und den tapferen Serestus, er nahm einen Hügel ein, wo die übrige Legion der
Teucrer zusammenlief und die dichtgedrängten Männer legten weder ihre Schilde noch ihre Pfeile
ab. Während Aeneas mitten auf dem herausragenden Erdwall stand, sprach er: „Für meine Worte
gibt es keinen Aufschub, Jupiter steht hier, und niemand soll mir ob des plötzlichen Vorhabens träger
marschieren! Ich will heute die Stadt, den Kriegsgrund, das Königreich des Latinus selbst zerstören,
wenn sie nicht bekennen, die Zügel anzunehmen und als Besiegte zu gehorchen und ich werde die
rauchenden Dächer dem Erdboden gleichmachen. (570) Soll ich freilich warten, bis es Turnus beliebt,
sich dem Kampf mit mir zu stellen und bis er erneut – bereits besiegt – mit mir kämpfen will? Dies ist
der Ursprung, oh Bürger, dies das Höchste des unsäglichen Krieges. Bringt eilig Brandfackeln und
fordert den Vertrag durch Flammen ein!“ Das hatte er gesagt und alle formierten sich mit
wetteifernden Gemütern in der keilförmigen Formation und eilten in dichter Masse zu den Mauern.
Sofort erschienen Leitern und plötzliches Feuer. Einige wichen zu den Toren ab und metzelten die
Ersten nieder, andere schleuderten das Eisen und verhüllten mit ihren Waffen den Himmel. (580)
Aeneas selbst streckte inmitten der vordersten Reihen seine Hand hoch zu den Mauern aus, klagt mit
lauter Stimme Latinus an, rief die Götter als Zeugen an, dass er erneut zu einem Kampf gezwungen
wurde, dass schon zweimal die Italer zu Feinden wurden, und dass auch dieser zweiter Vertrag
gebrochen würde. Bei den unruhigen Stadtbürgern entstand Zwietracht: Die einen befahlen, den
Dardanern Stadt und Tore zu öffnen und sie zogen den König selbst auf die Mauern. Die anderen
trugen Waffen herbei und machten sich auf, die Stadtmauern zu verteidigen, wie wenn ein Hirte
Bienen, die in einem Bimsstein voller Schlupfwinkel eingeschlossen sind, nachspürt und ihn mit
scharfem Rauch erfüllt. Jene, die im Inneren ob der Situation unruhig sind, (590) verstreuen sich
überall in ihrem Lager aus Wachs und schärfen unter lautem Summen ihren Zorn. Finsterer Gestank
217
wälzt sich im Bau, dann klingen die Steine in ihrem Inneren von dumpfem Summen, der Rauch steigt
in die freien Lüfte.
Den erschöpften Latinern geschah sogar dieses Unglück, welches die ganze Stadt im Innersten mit
Trauer erschütterte: Sobald die Königin von ihrem Palast aus den kommenden Feind erblickte, wie
die Männer zu den Stadtmauern schritten, wie die Feuer zu den Häusern flogen, wie nirgends
rutulische Kampfreihen dagegen zogen, auch keinerlei Heereszüge des Turnus, glaubte die
Unglückliche, dass der junge Held in einer Auseinandersetzung des Kampfes ausgelöscht worden war
und im Geist durch den plötzlichen Schmerz verwirrt, (600) nannte sie sich laut den Grund, das
Verbrechen, den Ursprung der Übel, sprach viel, wahnsinnig aufgrund ihrer betrübten Raserei, zerriss
bereit zu sterben ihren purpurfarbenen Umhang mit eigener Hand und flocht einen Knoten der an
einem hohen Balken hing, für einen hässlichen Tod. Nachdem die unglücklichen Latinerinnen von
dieser Niederlage gehört hatten, zerraufte die Tochter Lavinia als erste mit der Hand ihre blonden
Haare, zerkratze ihre rosafarbenen Wangen, dann tobte die übrige Menge um sie herum und der
Palast hallte durch die Trauerschläge weithin wieder. Darauf verbreitete sich das unglückbringende
Gerücht in der ganzen Stadt: Sie ließen ihren Mut sinken. Latinus ging mit zerrissenem Gewand
einher, (610) bestürzt über die Fata seiner Gattin und über den Untergang der Stadt, während er sein
feuchtes, graues Haar mit unreinem Staub verunstaltete.
Während dessen verfolgte der Krieger Turnus am Rande der Ebene wenige Fliehende, doch schon
recht träge und zunehmend weniger froh über den Vormarsch der Pferde. Da hob ihm die Luft dieses
Geschrei, das mit dunklem Schrecken vermischt war, hervor und der Klang der verwirrten Stadt
sowie das unerfreuliche Gemurmel trieben seine aufgerichteten Ohren an. (620) „Weh mir! Warum
wird die Stadt durch so große Trauer in Verwirrung gebracht? Welches so große Geschrei stürzt aus
der fernen Stadt?“ So sprach er, und mit gestrafften Zügeln blieb er von Sinnen stehen. Und jenem
kam seine Schwester mit solchen Worten entgegen, nachdem sie sich in die Gestalt des
Wagenlenkers Metiscus verwandelt hatte und Wagen, Pferde und Zügel lenkte: „Dort, Turnus, wollen
wir die Trojaner verfolgen, wo uns der Sieg die erste Möglichkeit eröffnet! Es gibt andere, die mit
ihrer Hand die Häuser verteidigen können. Aeneas stürmt auf die Italer los und mischt sie in
Schlachten auf, lass auch uns für die Teucrer mit wilder Hand für Leichen sorgen! (630) Weder bist du
ihm von der Mannesstärke deines Heeres unterlegen, noch unterliegst du ihm von deiner Ehre her.“
Darauf erwiderte Turnus: „Oh Schwester, ich habe dich schon längst erkannt, als du den ersten
Vertrag mit deiner Kunst gestört und dich in diesen Krieg eingemischt hast und nun täuschst du mich
vergebens, Göttin. Doch wer im Olymp wollte, dass du, die du herabgeschickt wurdest, so große
Strapazen erträgst? Damit du etwa den grausamen Tod deines unglücklichen Bruders siehst? Denn
218
was mache ich? Oder welches Glück gelobt mir schon Hoffnung? Ich sah selbst schon vor meinen
eigenen Augen den gewaltigen Murranus (640) sterben, von einer gewaltigen Wunde besiegt, der
mich mit seiner Stimme rief und woran gemessen mir kein zweiter lieber ist. Der Unglückliche Ufens
fiel, damit er nicht unsere Schmach erblicken musste. Die Teucrer rissen seinen Körper und seine
Waffen an sich. Soll ich etwa ertragen, wie die Häuser vernichtet werden (dies allein fehlte dem
Staatswesen noch!) und mit meiner Rechten nicht die Worte des Drances widerlegen? Soll ich fliehen
und soll diese Erde einen fliehenden Turnus sehen? Ist es derart elend zu sterben? Ihr, oh
Totengeister, seid mir gut, weil mir bei den Göttern die Zuneigung fehlt. Als heilige Seele, die von
dieser Schuld nichts weiß, will ich zu euch absteigen, der ich niemals meiner großen Ahnen unwürdig
war.“
Kaum hatte er dies gesagt – sieh! – da eilte mitten durch den Feind der von einem schäumenden
Pferd getragenen Saces. Vorn an seinem Gesicht war er durch einen Pfeil verwundet. Er eilte dahin,
während er Turnus mit seinem Namen anflehte: „Turnus, in dir liegt die letzte Hoffnung, erbarme
dich der Deinen! Aeneas tobt mit seinen Waffen und droht die obersten Festungen der Italer zu
zerstören und dem Untergang zu weihen und schon fliegen die Brandfackeln zu den Häusern. Auf
dich richten die Latiner ihre Gesichter, auf dich ihre Augen. Der König Latinus selbst schwankt,
welche Schwiegersöhne er rufen und zu welchen Bündnissen er sich wenden soll. Darüber hinaus
(660) kam die Königin, deiner äußerst treue, durch ihre eigene Rechte um und floh aufgeschreckt vor
dem Tag. Als einzige halten vor den Pforten Messapus und Atinas ihre Kampfreihen aufrecht. Um sie
herum stehen die dichten Phalangen und das eisige Feld starrt vor gezückten Schwertern – und du
treibst deinen Streitwagen auf einer verlassenen Wiese herum.“ Turnus staunte ob des bunten Bildes
der Ereignisse verwirrt und stand in dessen stiller Betrachtung da. In einem einzigen Herzen wogten
gewaltige Scham, mit Trauer vermischter Wahnsinn, sowie das von Raserei getriebene Verlangen und
schuldbewusste Tugend. Sobald dem Verstand die Schatten vertrieben und das Licht zurückgegeben
waren, wandte er sein (670) brennendes Blickfeld seiner Augen zu den Stadtmauern und blickte von
seinem Streitwagen aus verwirrt zurück zur Stadt. Sieh jedoch: inmitten des Bretterwerks wogte ein
sich dahin wälzender Flammenscheitel und hielt den Turm in seinen Fängen, den Turm, den er selbst
aus zusammengefügten Balken errichtet hatte, unter den er Räder gefügt und hohe Brücken darüber
gebreitet hatte. „Schon, ja schon, Schwester, besiegen mich die Fata, hör auf mich aufzuhalten! Lass
uns dahin folgen, wohin mich ein Gott und die hartherzige Fortuna rufen! Es steht fest mit Aeneas zu
kämpfen und es steht fest alles bittere nah am Tod zu erleiden und nicht wirst du, Schwester, mich
(680) länger ruhmlos sehen. Lass mich bitte vorher noch diese Wut austoben!“ Das sagte er, machte
einen Sprung vom Wagen, begab sich rasch durch Feindesfeld, stürzte durch die Waffen, verließ
seine traurige Schwester, und brach in reisend schnellem Lauf mitten durch die Heereszüge – ganz
219
wie ein losgerissener Fels vom Gipfel eines Berges jäh mit dem Wind nach unten stürzt, sei es, dass
der stürmische Regen ihn weggespült hat oder ihn das Alter gelöst hat, das sich mit den Jahren
herangeschlichen hat. Der schlechte Teil des Berges stürzt ausgelöst von einem großen Schlag in den
Abgrund und springt vom Boden auf, mit sich wälzt er Wälder, Herden und Männer. (690) Genauso
stürzt Turnus durch die zersprengten Heereszüge zu den Mauern der Stadt. Sobald die Erde zahlreich
von versprengtem Blut triefte und die Lüfte durch die Lanzen zischten, gab er mit seiner Hand ein
Zeichen und begann zugleich mit lauter Stimme zu sprechen: „Spart es euch nun, Rutuler, und haltet
ihr die Waffen still, Latiner! Um welches Los es sich auch immer handelt, es ist meins. Es ist
aufrichtiger, dass ich an eurer Stelle für den Vertrag büße und mit dem Schwert um die Entscheidung
kämpfe.“ Alle entfernten sich aus der Mitte und machten Platz.
Der Vater Aeneas hingegen verließ, nachdem er den Namen des Turnus gehört hatte, die Mauern,
sowie die höchsten Zinnen der Festung, ließ jede Verzögerung aus, unterbrach alle Aufgaben, war
(700) übermütig vor Frohsinn und donnerte schrecklich mit seinen Waffen: Ebenso sehr wie wenn
sich der Athos oder der Eryx oder selbst der Vater Appennin freut, der sich mit seinen zitternden
Steineichen und mit seinem schneeweißen Gipfel in die Lüfte erhebt. Nun aber wandten die Rutuler,
die Trojaner sowie alle Italer ihre Augen wetteifernd auf das Geschehen, und diejenigen, welche die
hohen Mauern besetzt hielten sowie diejenigen, welche die unteren Mauern mit dem Rammbock
stießen, legten ihre Rüstung von den Schultern. Selbst Latinus staunte darüber, dass die gewaltige
Männer, aus verschiedenen Gegenden der Welt geboren, untereinander übereingekommen waren
und mit dem Schwert um die Entscheidung kämpften. (710) Und jene, sobald sich das Feld in der
leeren Ebene öffnete, schritten sie in schnellem Vormarsch mit handgemein geschleuderten Lanzen
in den Kampf, samt Rundschilder und klingender Bronze. Die Erde gab ein Seufzen von sich. Dann
verdoppelten sie die zahlreichen Hiebe mit ihren Schwertern: Zufall und Manneskraft vermischten
sich zu einem Ganzen. Und es war ganz wie wenn in dem gewaltigen Sila oder ganz oben auf dem
Taburnus zwei Stiere mit entgegen gerichteten Stirnen in den Kampf rennen, die ängstlichen
Aufseher gewichen sind, das Kleinvieh vor lauter Furcht stumm dasteht, die jungen Kühe stumm
abwarten, wer den Hain beherrschen und wem die ganze Herde folgen wird. (720) Die Stiere werden
sich untereinander mit Gewalt viele Wunden zufügen. Indem sie Widerstand leisten stoßen sie dem
anderen ihre Hörner hinein und baden ihre Hälse und ihren Vorderbug in reichlich Blut: Der ganze
Hain hallt von ihrem Gebrüll wieder. Nicht anders stießen der Trojaner Aeneas und der Sohn des
Daunus, der Held, samt ihren Rundschildern zusammen. Ein gewaltiges Krachen erfüllte den Äther.
Jupiter selbst stellte zwei Schalen mit gleichem Gewicht auf und legte darin die verschiedenen Fata
der beiden, wen die Strapaze des Kampfes verdammt und unter welchem Gewicht sie ihn dem Tod
weiht.
220
Jetzt sprang Turnus hervor – straflos, wie er glaubte – und richtete sich mit seinem ganzen Körper
hoch zu seinem erhabenen Schwert auf (730) und schlug zu. Die Trojaner sowie die aufgeregten
Latiner schrien auf. Die Schlachtreihen der beiden waren aufgerichtet. Doch das treulose Schwert des
Turnus brach und ließ den zornentbrannten Mann mitten im Schlag im Stich, wenn ihm nicht die
Flucht als Hilfsmittel in den Sinn gekommen wäre. Er floh schneller als der Südostwind, als er den
unbekannten Schwertgriff und seine unbewaffnete Rechte erblickte. Es gab das Gerücht, dass er eilig,
als er die zusammengebundenen Pferde für die erste Schlacht bestiegen und das väterliche Schwert
in der Aufregung zurückgelassen hatte, das Schwert seines Wagenlenkers Metiscus an sich gerissen
hatte. Dies hatte lange ausgereicht, als ihm die Teucrer ihre flüchtenden Rücken zuwandten.
Nachdem das (740) sterbliche Schwert aber auf die vulkanischen Waffen des Gottes traf, zersprang
sie wie Eis unter einem Hieb. Die schimmernden Bruchstücke strahlten im Sand. Daher eilte Turnus
von Sinnen auf seiner Flucht zu entfernten Ebenen und wand sich bald hierhin, bald dorthin in
unsicheren Kreisbahnen. Von allen Seiten schlossen ihn nämlich die Teucrer mit einem dichten
Zuschauerkreis ein, und von der einen Seite umgab ihn ein riesiger Sumpf, von der anderen Seite die
steilen Stadtmauern.
Nicht weniger eifrig verfolgte ihn Aeneas, obwohl seine Knie, die vom Pfeil noch manchmal gehemmt
waren, ihn behinderten und den schnellen Lauf verweigerten und bedrängte die Füße des unruhigen
Mannes hitzig mit seinen eigenen. Es war, wie wenn manchmal ein Jagdhund zufällig einen (750)
Hirsch findet, der in einem Fluss eingeschlossen ist oder von der Furcht purpurner Federn, und ihm
mit seinem Lauf und seinem Bellen droht. Jener hingegen flieht auf tausend Wegen hin und zurück,
eingeschüchtert vom Hinterhalt und den tiefen Ufern. Doch der lebhafte Jagdhund hängt ihm
keuchend an den Fersen, und schon packt er ihn. Als habe er ihn gepackt, kracht er mit seinen
Wangen und vergeblich zugebissen wurde er verspottet. Dann aber bricht Geschrei aus, die Ufer und
die Seen hallen ringsum wieder und der ganze Himmel ertönt von dem Aufruhr. Während Turnus
floh, fuhr er zugleich alle Rutuler an, indem er jeden beim Namen nannte und forderte dringend sein
Schwert. (760) Aeneas hingegen drohte mit dem Tod und entschlossen mit dem Verderben, falls
jemand hinzukäme, und schüchterte die zitternden Männer damit ein, indem er ihnen androhte, die
Stadt zu zerstören und setzte Turnus, wenn auch verwundet, nach. Fünfmal vollendeten sie in ihrem
Lauf eine Kreisbahn, ebenso oft rannten sie zurück, hierhin und dorthin. Denn sie erstrebten keine
unbedeutenden oder spaßhaften Belohnungen, sondern kämpften um das Leben und Blut des
Turnus. Zufällig hatte hier ein dem Faunus geweihter Ölbaum mit bitteren Blättern gestanden, einst
ein ehrwürdiger Baum für die Seeleute, wo die aus den Meereswogen geretteten Männer für
gewöhnlich dem laurentischen Gott Gaben befestigten und ihre versprochenen Kleider aufhängten.
221
(770) Doch die Teucrer beseitigten seinen heiligen Stamm unterschiedslos, damit sie auf leerem Feld
zusammentreffen konnten. Hier steckte die Lanze des Aeneas, hierhin hatte der Antrieb die
feststeckende Waffe gebracht, und hielt sie in der zähen Wurzel. Der Dardaner strengte sich an,
wollte mit der Hand das Eisen losreißen und den Mann mit dem Wurfgeschoss verfolgen, den er in
seinem Lauf nicht hatte ergreifen können. Dann aber sagte Turnus, wahnsinnig vor Furcht: „Faunus,
ich flehe dich an, erbarme dich meiner und du beste Erde – halt die Lanze fest, wenn ich eure Ehren
stets verehrt habe, welche die Aeneaden hingegen im Krieg entheiligt haben.“ (780) Das sprach er,
und er hatte die Hilfe des Gottes nicht in einem unnützen Gebet angerufen. Denn während sich
Aeneas lange abmühte und an dem zähen Stamm verharrte, vermochte er es unter keinerlei Kräften
die Waffe von dem Biss des Holzes zu trennen. Während er sich hitzig anstrengte und stehen blieb,
lief die daunische Göttin, die sich erneut in die Gestalt des Wagenlenkers Metiscus verwandelt hatte,
hervor und gab ihrem Bruder sein Schwert zurück. Weil sich Venus darüber empörte, dass dies der
kühnen Nymphe erlaubt war, schritt sie herbei und riss die Waffe des Aeneas aus der tiefen Wurzel.
Jene erhabenen Männer waren wieder zu Waffen und Mut gekommen, wobei der eine auf sein
Schwert, der andere hitzige und groß gewachsene auf seine Lanze vertraute. (790) Sie stehen da,
bereit für den Entscheidungskampf des keuchenden Mars.
Der König des allmächtigen Olymp sprach unterdessen Iuno an, während er die Kämpfe von einer
feurigen Wolke aus betrachtete: „Wann wird es nun ein Ende nehmen, Gattin? Was bleibt schließlich
übrig? Du selbst weißt, und gestehst ein, es zu wissen, dass Aeneas als einheimischer Gott dem
Himmel geschuldet und durch seine Fata zu den Sternen erhoben wird. Was stiftest du an? Oder
aufgrund welcher Hoffnung hängst du in den eisigen Wolken? Ziemt es sich, dass ein Gott durch die
Wunde eines Sterblichen verletzt wird? Oder ziemt es sich, dass Turnus sein entrissenes Schwert
zurückgegeben wird (denn was vermag schon Iuturna ohne dich?) und dass den Besiegten die Kraft
wächst? (800) Lass nun endlich ab und lass dich durch meine Bitten umstimmen, nicht dass dich
schweigende so großer Schmerz auffrisst und mir nicht ständig traurige Sorgen aus deinem süßen
Mund kommen. Es ist zum Äußersten gekommen. Du konntest die Trojaner über Länder und Meere
jagen, einen unsäglichen Krieg entzünden, den Königspalast verunstalten und Hochzeit mit Trauer
mischen: Weiteres zu versuchen verbiete ich dir!“ So begann Jupiter. Und so erwiderte die Göttin,
Tochter des Saturn, gesenkten Blickes: „Weil mir dieser dein Wille freilich bekannt ist, erhabener
Jupiter, habe ich gegen meinen Willen Turnus und die Erde verlassen. (810) Du würdest mich sonst
nicht einsam auf dem luftigen Wohnsitz sehen, wie ich Würdiges und Unwürdiges ertrage, sondern
ich würde mit Flammen umgürtet unter der Schlachtreihe selbst stehen und die Teucrer in eine
feindliche Schlacht ziehen. Ich habe Iuturna geraten (ich gestehe es!) ihrem unglücklichen Bruder zu
Hilfe zu kommen und es gutgeheißen für sein Leben Größeres zu wagen, aber nicht, dass sie mit
222
einer Waffe oder mit einem Bogen kämpfen sollte. Ich schwöre es beim nicht zu besänftigenden
Quell der stygischen Quellen, die einzige heilige Furcht, die den himmlischen Göttern gegeben ist.
Und nun weiche ich freilich und verlasse die Kämpfe voller Hass. Um jenes bitte ich dich, das von
keinem Gesetz des Fatums gebunden ist, (820) für Latium und für die Erhabenheit der Deinen: Wenn
sie nun durch eine glückliche Hochzeit Frieden schließen (so sei es!) und wenn sie nun Abkommen
und Bündnisse schließen werden, befehle nicht, dass die einheimischen Latiner ihren Namen
wechseln, oder Trojaner werden und sich Teucrer nennen, oder dass die Männer ihre Sprache
wechseln oder ihre Kleidung verändern. Es sei Latium, es seien über Jahrhunderte hinweg albanische
Könige, es sei die römische Nachkommenschaft, mächtig durch italische Tugend. Troja fiel, und du
mögest zulassen, dass es samt seinem Namen gefallen ist.“ Während der Erfinder der Menschen und
der Dinge ihr zulächelte, sprach er: (830) „Du bist die Schwester des Jupiter und der andere
Nachkomme des Saturn und du wälzt so große Fluten von Zorneswallungen in deiner Brust. Aber los,
zähme deine umsonst begonnene Raserei. Ich gewähre, was du willst und lasse besiegt und willig
nach. Die Ausonier sollen die Sprache und die Sitten ihrer Väter haben, und wie der Name lautet,
wird er auch in Zukunft lauten. Die Teucrer werden sich lediglich unter ihre Körperschaft gemischt
ansiedeln. Ich will den Brauch, den Ritus der Opferhandlungen hinzufügen und ich werde sie durch
eine Sprache alle zu Latinern machen. Von da an wird sich ein Geschlecht erheben, dass mit
ausonischem Blut vermischt ist. Du wirst sehen, dass es mit seinem Pflichtgefühl die Menschen und
die Götter überragt (840) und kein anderes Volk wird deine Ehren ebenbürtig feiern.“ Iuno stimmte
diesen Dingen zu und änderte froh ihre Gesinnung. Während dessen entschwand sie aus dem
Himmel und verließ die Wolke.
Nachdem er diese Dinge ausgeführt hatte, erwog der Schöpfer etwas anderes mit sich und bereitete
vor, Iuturna von den Waffen ihres Bruders fortzuschicken. Man spricht von zwei Scheusalen, die man
auch Dirae nennt, welche die düstere Nacht in ein und derselben Geburt mit der höllischen Megaera
hervorbrachte. Sie umwand sie mit den gleichen Windungen einer Schlange und fügte ihnen
stürmische Flügel hinzu. Diese (850) erschienen am Thron des Jupiter und im Palast des wilden
Königs. Sie schärfen den erschöpften Sterblichen Furcht ein, wenn der König der Götter einmal den
schrecklichen Tod oder Krankheiten in Bewegung setzt, oder Städte durch Krieg in Schrecken hält, die
das verdient haben. Die eine schnelle von ihnen schickte Jupiter vom hohen Äther und befahl ihr,
dass sie als Omen der Iuturna begegnen sollte. Jene eilte dahin und stürzte sich in einem schnellen
Wirbel zur Erde: Nicht anders wie ein mit dem Zorn eines grimmigen Giftes bewaffneter Pfeil, der
von der Sehne durch die Wolke getrieben wird und den ein Parther – ein Parther oder ein Kydonier
geschleudert hat, eine unheilbare Waffe, zischend und unerkannt durcheilt sie die schnellen
Schatten. (860) Derart stürzte sich die Tochter der Nacht hinab und eilte zur Erde. Nachdem sie die
223
trojanischen Schlachtreihen und die Heereszüge des Turnus gesehen hatte, schrumpfte sie plötzlich
in die Form eines kleinen Vogels, der nachts manchmal auf Grabmälern oder auf den verlassenen
Giebeln sitzt und noch spät frech durch die Schatten singt – nachdem sie sich in diese Gestalt
verwandelt hatte, begab sich das Scheusal vor das Gesicht des Turnus, verließ ihn singend wieder
und schlug sein Rundschild mit den Flügeln. Jenem lähmte vor lauter Furcht neue Erstarrung seine
Glieder, die Haare standen ihm vor Schrecken zu Berge, seine Stimme blieb ihm im Halse stecken.
Doch sobald sie in der Ferne das Zischen und die Flügel der Dira erkannte, zerraufte die (870)
unglückliche Iuturna ihr gelöstes Haar, während sie sich mit ihren Nägeln ihr Gesicht entstellte und
ihre Brust durch Schläge. Sie sprach: „Wie kann dir, Turnus, deine Schwester jetzt helfen? Oder was
bleibt mir Hartherzigen noch übrig? Mit welcher Kunst kann ich dir das Leben verlängern? Kann ich
mich einem solchen Ungeheuer entgegenstellen? Schon, ja schon verlasse ich die Schlachtreihe.
Erschreckt mich nicht, die ich euch fürchte, ihr scheußlichen Vögel: Ich bemerke die Flügelschläge,
den tödlichen Klang und die erhabenen Befehle des großherzigen Jupiters täuschen mich nicht. Ist
dies sein Preis für meine geopferte Jungfräulichkeit? Wozu hat er mir ein ewiges Leben gewährt?
Warum ist mir die (880) Bedingung des Todes genommen? Ich könnte sicherlich so großem Schmerz
nun ein Ende machen und meinem armen Bruder als Begleiterin durch die Schatten schreiten!
Unsterblich bin ich? Oder wird mir irgendetwas ohne dich, Bruder, lieb sein, was mein ist? Oh,
welche Erde will sich für mich tief genug spalten und mich als Göttin zu den tiefen Totengeistern
schicken?“ Nachdem sie nur das gesprochen hatte, bedeckte sie ihr Haupt mit ihrem grauem
Umhang, während sie viel seufzte und barg sich als Göttin im tiefen Fluss.
Aeneas hingegen setzte nach und schwang seine gewaltige Waffe, die aus einem Baum gearbeitet
wurde. Aus grimmiger Brust sprach er so: „Welche Verzögerung gibt es jetzt noch? Oder wieso
sträubst du dich nun, Turnus? (890) Nicht im Lauf ist zu kämpfen, sondern mit wilden Waffen Mann
gegen Mann. Verwandle dich in alle Gestalten und zieh alles zusammen, sei es, dass du durch Mut
oder durch deine Kunstfertigkeit zu kämpfen vermagst. Wünsche dir mit Flügeln zu den Sternen steil
oben zu eilen oder dich eingeschlossen in der hohler Erde zu verbergen.“ Jener schüttelte sein Haupt:
„Deine hitzigen Worte erschrecken mich nicht, Wilder! Die Götter erschrecken mich, und mein Feind
Jupiter!“ Mehr hatte er nicht mehr gesprochen und betrachtete einen gewaltigen Felsen, einen
gewaltigen, altehrwürdigen Felsen, der zufällig auf dem Feld lag. Er wurde als Grenzstein für ein Feld
dort hingelegt, um einen Streit um das Ackerland zu lösen. Mit Mühe könnten ihn ein Duzend
ausgewählte Männer mit ihren Hälsen ziehen – (900) solche Männerkörper, wie sie die Erde nun
hervorbringt. Turnus ergriff ihn mit seiner unruhigen Hand hastig und wollte ihn gegen den Feind
schleudern, während sich der Held schnell laufend höher aufrichtete. Doch weder erkannte er sich
224
rennend noch laufend, wie er mit seiner Hand den gewaltigen Felsen emporhob und bewegte. Seine
Knie schwankten, sein Blut erstarrte eisig vor Kälte. Dann legte selbst der Stein des Mannes, der
durch die wertlose Leere wälzte, nicht die ganze Strecke zurück und überbrachte nicht den Hieb. Und
es war, wie es uns im Schlaf scheint, sobald nachts die matte Ruhe die Augen zudrückt, als (910)
wollten wir unseren hastigen Lauf vergeblich ausdehnen aber mitten in unserem Versuch
niederfallen. Die Zunge vermag nichts, die vertrauten Kräfte im Körper reichen nicht und es folgen
weder Stimme noch Worte: So versagt die unheilvolle Göttin dem Turnus den Erfolg, durch welche
Mannhaftigkeit er auch immer einen Weg sucht. Dann wandten sich in seiner Brust verschiedene
Gefühle. Er erblickte die Rutuler und die Stadt, zögerte aus Furcht und erzitterte davor, dass ihm der
Tod bevorstand. Er sah nichts, wohin er sich dem Kampf entreißen konnte, keine Kraft, um gegen den
Feind zu ziehen, nirgendwo ein Streitwagen oder seine Schwester, die Lenkerin. Aeneas schwang auf
den zögernden Mann eine tödliche Lanze, (920) zielte glücklich, und schleuderte sie aus der Ferne in
den ganzen Leib. So tosten niemals die von den Geschossen der Stadtmauer geschleuderten Steine,
so sprangen niemals die so zahlreich krachenden Geräusche nach einem Blitz auseinander. Die Lanze
flog wie ein finsterer Wirbel, unheilvolles Verderben bringend, herbei, durchbohrte die Ränder des
Brustpanzers sowie die äußersten Rundungen des siebenschichtigen Rundschildes. Mitten hindurch
sausend durchflog sie den Oberschenkel. Der gewaltige Turnus fiel getroffen zur Erde, nachdem
seine Kniekehle durchbohrt wurde. Es erhoben sich die Rutuler unter Seufzen, ringsum hallte der
ganze Berg wieder. Auch die hohen Haine schickten das Echo zurück. (930) Während Turnus seine
schwachen Augen auf Aeneas richtete und ihm seine flehende Rechte demütig ausstreckte, sagte er:
„Freilich habe ich es verdient und flehe nicht. Mache von deinem Los Gebrauch! Wenn dich
irgendeine Sorge meines armen Vaters berühren kann, bitte ich dich (auch du hattest in Anchises
einen solchen Vater), dass du dich des hohen Alters des Daunus und meiner erbarmst und mich, oder
den der Oberwelt geraubten Körper – wenn dir das lieber ist – den Meinen zurückgibst. Du hast
gesiegt und die Ausonier sahen, wie der Besiegte dir seine Handflächen ausstreckt. Dir gehört die
Gattin Lavinia, strebe nicht weiter mit deinem Hass.“ Aeneas stand hitzig in seiner Rüstung, rollte die
Augen und hielt seine Rechte zurück. (940) Und schon mehr und mehr begannen die Worte den
zögernden Helden umzustimmen, als ihm der unglückliche Gürtel an Turnus‘ Schultern ins Auge fiel
und als das Leinengewebe mit den bekannten Knöpfen des Jungen Pallas funktelte, den Turnus durch
eine Wunde besiegt niedergestreckt hatte und von da an das Abzeichen des Feindes an seinen
Schultern trug. Nachdem er mit seinen Augen das Andenken des grimmigen Schmerzes und die
Beute eingesogen hatte, sprach er von Raserei und Zorn entflammt schrecklich: „Du willst mich dir
von hier entreißen, gekleidet in der Beute der Meinen? Pallas fügt dir diese Wunde zu, Pallas opfert
dich und lässt dich mit deinem verbrecherischen Blut büßen.“ (950) Während er dies sprach, barg er
225
wütend sein Schwert in die vor ihm befindliche Brust. Turnus hingegen erstarrten die Glieder vor
Kälte; das entrüstete Leben floh ihm mit einem Seufzen hinunter in die Schattenwelt.
226