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Helmut Hahnke schloss die Eingangstür zur Schule auf. Dabei fiel ihm wieder einmal ein, dass er eine Schlüsselversicherung abschließen wollte. Vor ein paar Wochen hatte er seinen Schlüsselbund vermisst und diesen erst nach langem Suchen in den Tiefen seiner Couch gefunden. Wenn er die Schulschlüssel verlöre, würde viel Geld für das Auswechseln der Schlösser fällig, denn er hatte auch Generalschlüssel zum »Hochsicherheitsbereich«, wie er es nannte. Dazu gehörten vor allem die Räume, in denen sich technische Geräte von erheblichem Wert befanden, wie Computer, Overheadprojektoren, CD-Spieler und Fernseher. So erreichte er in Gedanken versunken den ersten Seitenflügel. Er beschloss, sich in den Unterrichtsraum zu setzen, in dem er die erste Stunde hatte, um noch ein wenig an seinen Arbeitsblättern zu basteln. Als er am Raum 109 vorbeikam, stutzte er. Die Tür stand halb auf. Das Reinigungspersonal war eigentlich angewiesen, jeden Raum wieder zu verschließen. Er holte seinen Schlüsselbund hervor und wollte gerade die Tür zuziehen, als sein Blick in das Innere fiel. Entsetzt stieß er die Tür auf und starrte schreckensbleich auf das Szenario, das sich ihm bot: Vor der Tafel waren zwei Tische zu sehen, auf denen ein Körper lag. Hahnke wich zurück. Er wollte nicht glauben, was er sah. Er begann zu zittern und musste sich mit einer Hand an einem Tisch festhalten. Dort lag sein Direktor Frühbrodt, nackt und mit einen Knebel im Mund, die Hände mit einem Strick zusammen gebunden, der unter dem Tisch hindurchführte. Am Kopf war Blut zu sehen. Hahnke wich nochmals zurück und hielt sich jetzt an der Tür fest. Er bekam nur noch mühsam Luft, sein Herz schlug wie ein Presslufthammer in seiner Brust. Er schaute auf den Kartenständer, der vor den beiden Tischen stand. Sein Blick ging nach oben. Vom Kartenhalter führte ein dünnes Seil direkt zu Frühbrodts Geschlechtsteil. Das Seil war um Hoden und Penis verknotet worden. Dann hatte man den Kartenständer nach oben geschoben, so dass das Geschlechtsteil deutlich unter Zug stand. Der Körper selbst aber lag noch auf dem Tisch. Frühbrodts Gesicht war fahl und die Augen blutunterlaufen. Der Mund stand leicht offen. Die Augen waren mit einem Tuch verbunden. Hahnke ging langsam zu ihm hin. Er überwand seine aus Angst, Ekel und Abscheu gebildeten Gefühle und tastete mit der Hand nach der Halsschlagader des Leblosen. Kein Pulsschlag. Der Mann war definitiv tot. Er schob das Tuch von den Augen. Ein Auge war halb geschlossen, das andere blickte ihn starr an. Hahnke erschrak wieder, er begann langsam, seine Beherrschung zu verlieren. 19 Obwohl es eigentlich unwichtig war, ging er, einem natürlichen Trieb folgend, um den Tisch herum und ließ den Kartenständer so weit herunter, dass kein Zug mehr in dem Seil war. In diesem Augenblick wurden seine Beine weich, und er musste sich abstützen. Mühsam richtete er sich auf und ging zu den anderen Tischen, setzte sich und versuchte sich zu beruhigen. Sein Direktor war ermordet worden, das gab es doch gar nicht! Das war doch eine üble Rauschfantasie! Aber er war bis auf den Schock vollkommen bei sich. Langsam wurde er wieder zum nüchtern denkenden Naturwissenschaftler, Fächer Physik und Chemie. ›Die Polizei‹, dachte er, ›die Polizei.‹ Dann fielen ihm die Schüler ein, die in einer Dreiviertelstunde die Schule stürmen würden. Er holte sein Handy aus der Tasche und wählte 110. »Polizeipräsidium Gelsenkirchen«, meldete sich eine Frauenstimme. »Hahnke, ich habe hier im Theodor-Heuß-Gymnasium eine Leiche gefunden. Es ist der Direktor der Schule. Bitte kommen Sie schnell, bevor die Schüler da sind. Ich erwarte Sie an der Haupteingangstür.« »Ihren Namen bitte noch einmal!« »Oberstudienrat Hahnke, ich bin hier an der Schule beschäftigt.« »Gut, Herr Hahnke, rühren Sie nichts an, wir kommen sofort!« Hahnke drückte auf die rote Taste. Er erhob sich, ging aus der Klasse und schloss sie zu. Danach begab er sich zur Haupteingangstür. 20 Die Grenze zwischen Leben und Tod ist nicht eindeutig. Bertram Bungert war kurz davor, diese Grenze zu überschreiten. Sein Glück war, dass er nur knapp einen halben Liter Blut verloren hatte, und ihm ein hämorrhagischer Schock erspart blieb. Zunehmend ging es ihm aber immer schlechter. Wenn er die Augen aufmachte, sah er manchmal alles nur verschwommen, er hatte auch das Gefühl, nichts mehr hören zu können. Seine Wahrnehmungen wurden schwächer, immer wieder wurde er ohnmächtig, und wenn er aus der Ohnmacht erwachte, fiel es ihm schwer, sich zu orientieren. Der Tod ist für die meisten Menschen eine schlechte Angewohnheit der alten Leute, die sie selbst nichts angeht. Das Fast-Sterben aber und dann überlebt zu haben, ist das Stärkste, was wir spüren können. BB war einmal mit dem Motorrad mit 180 km/h in einer Kurve in eine Längsrille geraten. Da hatte er für genau 3 Sekunden gewusst, dass er sterben würde, denn ein Sturz war unvermeidlich und er würde in einen Abgrund rasen. Aus einem unerfindlichen Grund aber kam er mit dem schlingernden Motorrad heil aus der Kurve heraus, es gelang ihm abzubremsen und anzuhalten. Zitternd hatte er eine halbe Stunde am Straßenrand gesessen und versucht, sich zu beruhigen. Dann hatte er es gespürt, dieses Gefühl, überlebt zu haben. Der Augenblick kurz vor dem Tod und das befreiende Gefühl danach waren tatsächlich die stärksten Empfindungen seines Lebens gewesen. Jetzt war ihm wieder klar, dass er sterben würde. Als ihn der Gedanke an den nahen Tod vollkommen ergriffen hatte, begann er mit sich selbst zu verhandeln. »Wenn ich nicht sterbe, werde ich mein Leben ändern, ich bring alle meine Angelegenheiten in Ordnung, ich werde nie mehr spekulieren, ich werde kürzer treten, den Landtag sausen lassen.« Dann hatte er begonnen, eine höhere Instanz anzurufen: »Wenn es dich gibt, dann hilf mir, ich werde ein besserer Mensch werden, ich werde Gutes tun.« Er dachte an die Überlebenden und fragte immer wieder, »warum ich, warum gerade ich?« Er neidete den Menschen das Leben, er war regelrecht zornig. Dann aber wich dieses Gefühl, er wurde von Verzweiflung ergriffen, er fing an, den Tod zu erwarten, er sehnte sich nach Schlaf und Ohnmacht. Sein Körper war ein einziger Schmerz, aber irgendwann wurde er ruhiger, Angst und Verzweiflung vergingen, der Schmerz war kaum noch spürbar, er fühlte sich wie eingesponnen in einem Kokon. Wenn er sterben sollte, nun gut, er 132 würde sterben. Aber immer noch war da diese Hoffnung, dass er noch einmal davon kommen würde. Durch das Fenster seines Gefängnisses schienen Sonnenstahlen direkt auf seinen Körper. Er sah, wie ganz langsam die Sonne nach Westen wanderte, es war später Nachmittag. BB lag ganz ruhig da. Der Raum sah fast idyllisch aus, Bungert wirkte nicht wie ein Fremdkörper, sondern eher wie eine Installation, fast wie ein Kunstwerk, die Inszenierung eines modernen Künstlers. Für einen Betrachter hätte dieses Bild einen friedlichen Eindruck gemacht. Es hatte etwas von einer Aufbahrung, wie man sie früher bei den Toten in der Wohnung vorgenommen hatte. Als der grenzenlose Schmerz allmählich wich und Bungert den Kampf gegen den Tod so gut wie aufgegeben hatte, empfand er plötzlich eine Leichtigkeit, er hatte das Empfinden zu schweben. Er erinnerte sich an seine Kindheit. Einmal war er eingeschlafen und hatte sich vorher vorgestellt, fliegen zu können. Und in seinem Traum flog er, er lag in seinem Bett und konnte den Körper in die Höhe fliegen lassen. Wie ein Vogel kurvte er durch den Nachthimmel, es war ihm bewusst, dass das alles gar nicht gehen konnte, aber er flog über das Lichtermeer der Stadt, drehte Kurven und Loopings, lenkte, indem er die Arme wie Flügel bewegte. Das Merkwürdige aber war, dass er diesen Traum nicht als Traum erlebt hatte, sondern als Realität. Er war felsenfest davon überzeugt gewesen, wirklich und wahrhaftig fliegen zu können. Aber so sehr er sich in den folgenden Tagen auch anstrengte, sein Körper hob sich nicht mehr in die Höhe. Er hatte sich nach einigem Zögern seinem Vater anvertraut. Der hatte ihn an beide Hände gefasst, ihm in die Augen geblickt und gesagt: »Ich weiß, dass du die Wahrheit sagst. Ich bin nämlich in deinem Alter auch einmal geflogen. Vielleicht können das die Mitglieder unserer Familie in einem gewissen Alter einfach, wenn auch nur einmal. Aber weil das niemand sonst kann, wollen wir das für uns behalten, erzähl das auch nicht deinen Freunden. Sie würden es nicht verstehen. Es ist unser gemeinsames Geheimnis.« Dann hatte er seinem Jungen über den Kopf gestrichen. Und als Bertram den Raum verließ, schaute ihm der Alte versonnen nach, setzte sich in einen Sessel, schloss die Augen und versuchte, nach oben zu fliegen. Aber es gelang ihm nicht mehr. ›Es gelingt einem nur einmal im Leben‹, dachte er, ›nur einmal.‹ 133