S emesterarbeit Sicherheit und Freiheit

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S emesterarbeit Sicherheit und Freiheit
Semesterarbeit
Sicherheit und Freiheit
Freiheitliche Demokratien - Wie viel Staat muss (darf) sein?
verfasst von: Ortrud Battenberg
Immenweg 27
58239 Schwerte
vorgelegt bei: Dr. Marco Iorio, Universität Bielefeld
Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie
Abteilung Philosophie, Wintersemester 2001/02
Inhalt
Kapitel
Seite
0.
Einleitung
3
1.
Sicherheit und Freiheit
4
1.1
Zum Begriff „Sicherheit“
4
1.2
Zum Begriff „Freiheit“
6
1.3
Der Staat als Garant für Sicherheit
8
1.3.1
Thomas Hobbes: der mächtige Staat Leviathan (1651)
9
1.3.2
John Locke: der rechtssichere Staat (1690)
9
1.3.3
Jean – Jacques Rousseau: der Gesellschaftsvertrag (1762)
11
1.3.4
John Rawls: der liberale Staat (1993)
13
1.4
Zwischenfazit: Wie viel Staat muss sein?
15
2.
Sicherheit und Unsicherheit
16
2.1
Gefahr und Risiko
17
2.1.1
Unterscheidung von Gefahr und Risiko; Risikominimierung
17
2.1.2
Risikoeinschätzung vs. tatsächliches Risiko
20
2.2
Sicherheitsmaßnahmen vs. individuelle Freiheit
24
2.2.1
Grundrechte
24
2.2.2
Grenzen staatlicher Maßnahmen
24
2.3
Zwischenfazit: Wie viel Staat darf sein?
28
3.
Schluss: Balance zwischen Müssen und Dürfen
28
2
0. Einleitung
„Eine über zwei Jahrtausend alte Denkgeschichte im Rücken, während der das Problem der
(Un-) Freiheit die Menschen beschäftigt hat; Bergen von Literatur gegenüber, in der das
Problem der (Un-) Gleichheit abgehandelt wird; eine unüberschaubare Vielfalt von Aspekten
im Kopf, unter denen das Problem der (Un-) Sicherheit thematisiert werden kann.“ Mit diesen
Worten beginnen Husi und Meier Kressig das Vorwort zu ihrem Buch ‚Der Geist des
Demokratismus’ (1998). Treffender könnte ich das Problem nicht beschreiben, das sich auch
mir am Anfang meiner Arbeit in gleicher Weise stellt. Man könnte das Thema ‚Sicherheit und
Freiheit’ unter dem nationalen, kollektiven Gesichtspunkt betrachten oder aber unter dem
Gesichtspunkt des Individuums. Hier wiederum könnte man beispielsweise über physische
Sicherheit, über soziale Sicherheit, über freie Entfaltung der Persönlichkeit oder
Glaubensfreiheit sprechen. In Anbetracht der unzähligen Facetten, die das Thema Sicherheit
und Freiheit aufweist, habe ich mich zu folgender Eingrenzung entschlossen.
Im ersten Teil meiner Arbeit strebe ich zunächst eine Klärung der Begriffe „Sicherheit“ und
„Freiheit“ an. Daraufhin werde ich an einigen ausgewählten Staatstheorien von Hobbes’
Leviathan bis zu John Rawls’ Political Liberalism aufzeigen, welcher Weg zu unserer
heutigen Auffassung von liberaler Demokratie geführt hat. Im Anschluss daran versuche ich
eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wie viel Staat muss sein?“.
Im zweiten Teil wende ich mich der Frage zu: „Wie viel Staat darf sein?“. Ich untersuche
zunächst, wie der Staat Sicherheit gewährleisten kann, ob es ihm gelingen kann, Gefahren
abzuwenden, oder ob er lediglich Risiken minimieren kann. Hierzu gehe ich genauer auf die
Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko ein. Als eine wichtige Aufgabe sehe ich an, zu
überlegen, wie weit ein freiheitlich demokratischer Staat wie die Bundesrepublik Deutschland
in der Wahrung der Sicherheit seiner Bürger gehen darf, wenn er möglicherweise dadurch
individuelle Freiheitsrechte beschneidet, die im Grundrecht verankert sind. Ich werde
deswegen die Grenzen staatlicher Maßnahmen ansprechen. Abschließend möchte ich den
ersten und zweiten Teil meiner Arbeit zusammenführen und darstellen, dass ein freiheitlich
demokratischer Staat wie die Bundesrepublik Deutschland die Balance zwischen Müssen und
Dürfen staatlicher Maßnahmen in einem Prozess ständiger und immer wieder überprüfter
Ausbalancierung stets aufs Neue herstellen muss.
3
1. Sicherheit und Freiheit
Heute erwarten Staatsbürger eines modernen freiheitlich demokratischen Staates ohne lange
darüber nachzudenken, dass ‚ihr’ Staat die Sicherheit seiner Bürger gewährleistet und ihre
Freiheit respektiert. Im Folgenden werde ich zunächst die für das Thema relevanten Begriffe
beleuchten. Beginnend mit Hobbes’ Staatstheorie möchte ich dann untersuchen, welche
Charakteristika ein Staatswesen unter diesen Aspekten aufweisen muss und einige
staatstheoretische Schritte nachvollziehen, die auf dem Weg zur heutigen, vielfach als
selbstverständlich genommenen, freiheitlichen Demokratie unternommen wurden.
1.1 Zum Begriff „Sicherheit“
„Sicherheit, Zustand des Unbedrohtseins, der sich objektiv im Vorhandensein von
Schutz[einrichtungen] bzw. im Fehlen von Gefahr[enquellen] darstellt und subjektiv als
Gewißheit von Individuen oder sozialen Gebilden über die Zuverlässigkeit von Sicherungsund Schutzeinrichtungen empfunden wird.“1 Da ich meine, dass zu dieser Definition noch
einige Ergänzungen erforderlich sind, möchte ich im Folgenden weitere Bedeutungen des
Begriffes Sicherheit betrachten.
Anthropologisch gesehen scheint das Bedürfnis nach Sicherheit neben dem Bedürfnis nach
Nahrung eines der Urbedürfnisse des Menschen zu sein. Wenn ich sage: „Ich bin in
Sicherheit“, so verstehe ich Sicherheit als einen Zustand der Geborgenheit, in dem ich als
Mensch vor Gefahren geschützt und vor Schaden behütet bin, in dem meine Besitztümer vor
Einwirkungen von außen bewahrt werden. Sicherheit ist ein Zustand, der ein
unbeeinträchtigtes Leben gewährleistet. Andererseits ist Sicherheit aber auch ein Gefühl, das
einer seelischen Stimmungslage entspricht: zum einen ein Gefühl von Sorgenfreiheit,
Wohlbehütetsein und innerer Ruhe, zum anderen aber auch ein Gefühl von Furchtlosigkeit,
Verwegenheit, Mut und Selbstvertrauen. Ebenso wird mit dem Begriff Sicherheit ein
bestimmter Bewusstseinszustand beschrieben, nämlich ohne Zweifel, entschieden, gewiss und
entschlossen zu sein. Der Begriff Sicherheit wird darüber hinaus auch in Bezug auf die
Qualitäten eines Menschen wie Verlässlichkeit, Beständigkeit und Gewissenhaftigkeit
benutzt, sowie für Fertigkeiten, die er besitzt: ein sicherer (zielgenauer) Schütze, ein sicherer
(geübter) Skiläufer. Auf Dinge und Zustände bezogen kann sicher bedeuten: Schutz und
Stabilität verheißend und damit Vertrauen erweckend, gewiss, wahr, untrüglich oder
bestimmt, verbürgt und berechenbar. Genauso wird der Begriff aber auch in Bezug auf
4
Zuverlässigkeit oder Harmlosigkeit angewandt: ein sicheres (funktionstüchtiges) Flugzeug,
ein sicheres (wirksames) Medikament, ein sicherer (stabiler) Zustand, ein sicherer (harmloser)
Eingriff (vgl. Husi/Meier Kressig 1998: 281 ff.).
Mit diesen Ausführungen zum Begriff Sicherheit habe ich gewiss nicht alle Bedeutungen
erfassen können. Eines aber wird klar, allen Bedeutungen ist gemeinsam: Sicherheit wird in
der Regel positiv bewertet. Demgegenüber findet sich aber auch eine negative Bewertung von
Sicherheit oder aber, anders gesagt, eine positive Bewertung von Unsicherheit. Betrachtet
man Unsicherheit unter dem Aspekt ihrer Funktion, so kann man feststellen, dass sie auf
kognitiver Ebene Aufmerksamkeit auf bestehende Probleme lenkt und zu innovativen Ideen
führen kann. Für spezielle Gruppen kann mangelnde Sicherheit eine positive Appellqualität
besitzen, z. B. als Inspirationsquelle für Schriftsteller, Maler oder andere Künstler (vgl. ebd.).
So gesehen heißt „sich in Sicherheit wiegen“ entweder, sich einer Gefahr auszusetzen, oder
faul und träge zu werden und den Anreiz zu kreativem Schaffen zu verlieren. Eine Struktur
der Sicherheit bleibt nur unter der Bedingung erhalten, dass sie sich immer wieder durch den
Umgang mit „einem gehörigen Maß an Unsicherheit“ erneuert (Luhmann 19842, zitiert in:
Husi/Meier Kessig 1998: 282). Beachtet man diese Aspekte von Sicherheit, lässt sich sagen,
dass es nicht wünschenswert für einen Staat wäre, einen Zustand absoluter Sicherheit zu
erreichen. Ob er dies könnte, ist ohnehin fraglich. Hierauf werde ich später noch
zurückkommen.
Ein politischer Alltagsbegriff ist die innere Sicherheit. Er beschreibt einen Zustand sozialer
Ordnung und sozialen Friedens innerhalb einer Gesellschaft. Im Gegensatz zu einer
Bedrohung der äußeren Sicherheit z. B. durch Krieg bezieht sich der Begriff der inneren
Sicherheit auf Bedrohungen, die von Zuständen und Entwicklungen innerhalb des Staates
ausgehen. Gemeint sind: Schutz der Bürger vor Kriminalität, Schutz der staatlichen
Einrichtungen vor Übergriffen und Schutz der sozialen Ordnung schlechthin. Verantwortlich
für die Herstellung der inneren Sicherheit ist in erster Linie die Polizei. Kritiker dieses
traditionellen Verständnisses betonen, dass innere Sicherheit nicht allein auf die durch die
Polizei vermittelte Ordnungsgarantie und Schutzfunktion des Staates beschränkt sei, sondern
man darüber hinaus auch den Schutz der Bürger vor Umweltschädigung, die Gewährleistung
von Chancengleichheit und den Schutz vor Missbrauch wirtschaftlicher Macht als Bereich der
inneren Sicherheit verstehen könne ( Brusten 1995: 600). So gesehen ist die Herstellung
1
Meyers großes Taschenlexikon Band 20, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim 1987
5
innerer Sicherheit nicht nur Aufgabe der Kriminalpolitik sondern ebenfalls Aufgabe der
Sozialpolitik oder der Umweltpolitik.
Für die Frage der Sicherheit im Zusammenhang mit Staatlichkeit werden im Folgenden nicht
alle Bedeutungen des Begriffes gleichermaßen relevant sein. Einige ‚Sicherheiten’ betreffen
den Menschen nur als Individuum, für diese sind die Menschen selbst verantwortlich (z. B.
ein sicherer Skiläufer zu sein); andere ‚Sicherheiten’ betreffen den Menschen als
Staatsbürger, für die ist der Staat verantwortlich (z. B. die innere Sicherheit), wieder andere
‚Sicherheiten’ betreffen das Verhältnis vom Staatsbürger zum Staat (z. B. wann fühlt ein
Bürger sich sicher). Die Frage, ob die Verantwortlichkeit für die Sicherheit beim Individuum
selbst oder beim Staat liegt, ist nicht immer eindeutig zu beantworten (so z. B. nützt es der
Sicherheit eine Bürgers wenig, wenn er verantwortungsbewusst mit seiner Gesundheit
umgeht, aber Umweltbelastungen ausgesetzt ist, die er nicht beeinflussen kann). Verschiedene
Theorien beantworten die Frage, welche und wie viel Sicherheit ein Staatswesen garantieren
muss, auf verschiedene Weise. Ich werde in Kapitel 1.3 auf einige ausgewählte Theorien
eingehen.
1.2 Zum Begriff „Freiheit“
„Freiheit, je nach philosophischer oder weltanschaulicher Position unterschiedlich definierter
und bewerteter Begriff; meist in Gegensetzung zu Determination, Kausalität, Zwang, i. a.
auch zur Notwendigkeit gebraucht; [...] in negativer Definition das Fehlen äußerer oder
innerer Zwänge, in positiver Definition die Fähigkeit zur unabhängigen Setzung bestimmter
Inhalte und zu deren Verwirklichung. [...] In praktischer Hinsicht findet die Freiheit stets nur
relative Verwirklichung, da ihr durch die Bedingungen der menschlichen Natur, die
persönlichen Anlagen des einzelnen und deren Entwicklung sowie die Voraussetzungen der
(besonders sozialen; aber auch physischen) Umwelt Grenzen gesetzt sind“3
Ebenso wie der Begriff Sicherheit ist auch der Begriff Freiheit nicht mit wenigen Worten zu
umfassen. Die Bedeutung
von
Freiheit hat seit der Antike einen beständigen Wandel
erfahren und die Literatur zu diesem Begriff füllt Bibliotheken. An dieser Stelle möchte ich
nur eine punktuelle Klärung im Hinblick auf das von mir gewählte Thema versuchen. Ich
2
3
Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984
dtv Lexikon Band 6, F. A. Brockhaus GmbH, Mannheim u. dtv Verlag GmbH &Co. KG, München 1995
6
werde nicht auf eine zweitausendjährige Geschichte der Freiheit eingehen, sondern möchte
lediglich der obigen Definition noch einige Ergänzungen hinzufügen.
Wenn man Freiheit nach verschiedenen Arten unterscheidet, kann man z. B. von
Willensfreiheit, Grundsatzfreiheit oder produktiver Freiheit sprechen. Willensfreiheit erfasst
das „sittlich zurechenbare Wählenkönnen in Entscheidungssituationen“ (dtv 1995: 112f.) und
begründet eine Befähigung zur Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung wird als
Bedingung dafür angesehen, dass der Mensch als „sittliche Person angesprochen werden
kann, die ihr Handeln als Freiheit erlebt und um die Möglichkeit dieser Freiheit zum
Zeitpunkt des Handelns weiß“ (ebd.). Das heißt, der Mensch besitzt eine Freiheit der Wahl, so
oder anders zu handeln, und ist sich dessen bewusst. Daraus ergibt sich, dass er für seine frei
gewählten Handlungen auch verantwortlich ist. Grundsatzfreiheit soll bedeuten, dass
Menschen die Freiheit haben, Prinzipien für ihre Handlungen aufzustellen (das trifft z. B.
bestimmte Art der individuellen Lebensführung oder auf religiöse Grundsätze zu). Allerdings
ist für diese Freiheit die Willensfreiheit Bedingung. Produktive Freiheit4 soll „die Freiheit zur
individuellen oder gesellschaftlichen Selbstentfaltung und –verfassung“ bezeichnen. Dieser
Begriff von Freiheit entwickelte sich vom 17. Jahrhundert an unter Berufung auf die
‚natürliche’ Freiheit des Menschen und enthält die Forderung nach Befreiung von
Bevormundung durch Kirche oder Staat und den Wunsch nach Selbstbestimmung und
Mitbestimmung an der Regierung. „Im gesellschaftlichen Sinne ist produktive Freiheit [...]
nicht an Fremdinterpretation des menschlichen Daseins gebundene Schaffung einer
staatlichen Ordnung“ (ebd.). Diese Definition der produktiven Freiheit könnte man so auch
auf den Begriff der politischen Freiheit anwenden.
Zu der oben erwähnten Entwicklung des politischen Freiheitsbegriffes gab Hobbes 1651 den
Anstoß, indem er die Freiheit des Menschen auf einen Naturzustand zurückführte. „Das
Naturrecht ist die Freiheit, nach welcher ein jeder zu Erhaltung seiner selbst seine Kräfte
beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu etwas beizutragen scheint, tun kann. Freiheit
begreift ihrer ursprünglichen Bedeutung nach die Abwesenheit aller äußeren Hindernisse in
sich“(Hobbes (1651) 2000: 118). Allerdings zieht diese Freiheitsauffassung den Bedarf
staatlicher Ordnung nach sich.5 Das bedeutet, personale Freiheit, d. i. die Möglichkeit, nach
seinem Fähigkeiten selbst bestimmen zu können (tun, was einem beliebt, also auch z. B.
nehmen, was einem nicht gehört) zieht soziale Freiheit, d. i. die Möglichkeit selbst
4
Fischer Lexikon Band 3, Frankfurt a. M. und München 1981
7
bestimmen zu dürfen (tun, was einem beliebt, unter Beachtung gesellschaftlicher Normen),
nach sich. Die personale Freiheit ist umso größer, je größer die soziale Freiheit ist, d. h. je
mehr Möglichkeiten der Selbstbestimmung nicht-normativer Art vorhanden sind. (vgl. Morel
1986: 58) Mit Hobbes’ Verständnis der Freiheit als individuelles Naturrecht ist verbunden,
dass das freie Individuum als treibende Kraft seines Gemeinwesens angesehen werden muss
und der Staat nicht etwa z. B. gottgegeben ist, sondern von den Menschen selbst auf
irgendeine Weise geregelt werden muss. Im Verständnis des Freiheitsbegriffes liegt die
Auffassung begründet, wie der Mensch sein Gemeinwesen gestalten will und wie er es
gestaltet.
Im Hinblick auf den Menschen als Bürger eines freiheitlich demokratischen Staates müssen
folgende Voraussetzungen gelten: er braucht Willens- und Handlungsfreiheit, die ihm
ermöglicht, ohne Zwang bewusste Handlungen ausführen zu können. Des weiteren braucht er
Grundsatzfreiheit, d. h. die Freiheit, sein Leben oder sein Gemeinwesen nach
selbstbestimmten Prinzipien zu gestalten und zu führen. Ebenso braucht er politische Freiheit,
die ermöglicht, dass Bürger in freien Wahlen die Regierung bestimmen und selbstbestimmt
ihr Staatswesen mitgestalten können. Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass
- wie eingangs erwähnt - Freiheit stets nur relative Verwirklichung innerhalb der Grenzen
einer sozialen Ordnung finden kann.
1.3 Der Staat als Garant für Sicherheit
Die Grundvoraussetzung für ein „Wählenkönnen“ , d. h. einerseits Willens- und
Handlungsfreiheit und andererseits politische Freiheit, und für ein funktionierendes
Gemeinwesen ist die Sicherheit seiner Mitglieder. Das bedeutet, die Grundbedürfnisse
müssen gestillt sein, Menschen müssen zunächst ‚ein Dach über dem Kopf und genügend zu
essen haben’. Darüber hinaus muss vorhersehbar sein, dass sie nicht um Leib und Leben
fürchten müssen, wenn sie ihre eigenen vier Wände verlassen. Setzt man die Freiheit des
Einzelnen voraus, muss man verhindern, dass Menschen ihre Freiheit ausschließlich für sich
und damit gegen andere nutzen. Wie soll also ein Staat beschaffen sein, in dem
verantwortliche Bürger in Sicherheit leben können? „War der Staat ursprünglich nichts
anderes als der Zustand des Friedens und der Sicherheit6, so verschiebt er sich allmählich auf
5
6
Wie diese sich entwickeln soll, werde ich später erläutern.
‚Staat’ entspricht ‚status’
8
das Instrument, mit dem dieses Ziel erreicht werden soll“ (Husi/Meier Kessig 1998: 287).
Einen ersten Ansatz macht die Staatstheorie Thomas Hobbes’.
1.3.1 Thomas Hobbes: der mächtige Staat (Leviathan 1651)
Nach seinem Freiheitsverständnis geht Hobbes davon aus, dass die Menschen im
Naturzustand durch den Trieb zur Selbsterhaltung bestimmt werden. Dies bringt ein großes
Maß an Misstrauen den Mitmenschen gegenüber mit sich und erfordert deswegen ein
stetiges Streben nach Machterhaltung und –steigerung. Die Gesellschaft befindet sich im
Kriegszustand eines jeden gegen jeden („homo homini lupus“); das bedeutet für die
Menschen, „Furcht gemordet zu werden, stündliche Gefahr, [und] ein einsames,
kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben“ regieren den Alltag. Ständige Gefahr und
Furcht verhindern, dass Menschen sich um erstrebenswerte Dinge wie „Ackerbau“,
„bequeme Wohnungen“ oder auch „Künste“ kümmern können (Hobbes (1651) 2000 :
115f.). Erst die Errichtung eines Staates, auf den alle Bürger ihre natürlichen Rechte durch
einen Staatsvertrag übertragen, kann Willkür unterbinden und Frieden herstellen. „Um aber
eine allgemeine Macht zu gründen, unter deren Schutz [...] die Menschen bei dem ruhigen
Genuß der Früchte ihres Fleißes und der Erde ihren Unterhalt finden können, ist der einzig
mögliche Weg folgender: jeder muß alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren
Menschen übertragen, wodurch der Willen aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird
[...]; es ist eine wahre Vereinigung in einer Person und beruht auf dem Vertrage eines jeden
mit einem jeden. [...] Auf diese Weise werden alle einzelnen Personen eine Person und
heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan“ (ebd.: 155). Die
Legitimation des Staates beruht also auf Friedenssicherung durch vertraglich vereinbarten
Tausch natürlicher Freiheit gegen staatliche Zwangsgewalt. Sicherheit ist somit der zentrale
Zweck des Staates und kann nach Hobbes nur unter Aufgabe der Freiheit gewährleistet
werden. Haben die Menschen erst den Souverän ernannt, hat er absolute Gewalt (vgl. auch
Hoerster 1983: 124 f.).
1.3.2 John Locke: der rechtssichere Staat (1690)
Für Locke ist der Naturzustand der Menschen ein Zustand „vollkommener Freiheit,
innerhalb des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine
9
Person zu verfügen, [...], ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen
eines anderen abhängig zu sein“ (Locke (1690) 1999: 5). Locke geht aber im Gegensatz zu
Hobbes davon aus, dass es wohlwollende, kooperierende Menschen, „die nach ihrer
Vernunft“ zusammen leben, gibt (ebd.: 16). Da aber der Zustand, in dem jeder so viel Grund
und Boden besaß, wie er zu seiner eigenen Erhaltung bearbeiten konnte, durch die
„Erfindung“ des Geldes abgelöst wurde, wurden Begehrlichkeiten geweckt und die
Menschen strebten nach Anhäufung von Besitz. Allerdings brachte das die Schwierigkeit
mit sich, einerseits seinen durch Arbeit rechtmäßig erworbenen Besitz vor Übergriffen
schützen
und
verteidigen
Eigentumsverhältnissen
zu
gegenüber
müssen
zu
sehen
und
sich
(ebd.:
.
andererseits
29
u.
95).
ungerechten
Um
diesen
Unsicherheitszustand zu beenden, entwickelt Locke ein Staatsmodell, das vorsieht, dass
Menschen freiwillig einen Vertag schließen, in dem sie zugunsten von (Rechts-)Sicherheit
auf ihre Naturrechte verzichten. Mit diesem Verzicht tauscht der Mensch seine allgemeinen
Freiheiten des Naturzustandes ein, um sie in die Hände der Gesellschaft zu legen. Er
begegnet dadurch der Unsicherheit des Naturzustandes, in dem es „eines eingeführten und
anerkannten Gesetzes“ bedarf und an „einem anerkannten und unparteiischen Richter, mit
Autorität,“ und an einer „Gewalt, die dem Urteil, wenn es gerecht ist, Rückhalt gibt [...] und
für die gebührende Vollstreckung sorgt“, fehlt (ebd.: 96). Der Verzicht geschieht „nur mit
der Absicht jedes einzelnen, um sich seine Freiheit und sein Eigentum um so besser zu
erhalten“ (ebd.: 98). Das bedeutet, die allgemeine Freiheit des Naturzustandes wird
eingetauscht gegen eine individuelle Freiheit unter positivem Recht. Lockes Staatsmodell
geht vor allem dahingehend über Hobbes’ Modell hinaus, dass es Gewaltenteilung vorsieht
und darüber hinaus beinhaltet, dass zur Verhinderung einer Zwangsherrschaft die
Legislative bei Missbrauch ihrer zugebilligten Rechte aufgelöst werden kann. „Und mit all
dem darf kein anderes Ziel verfolgt werden als der Friede, die Sicherheit und das öffentliche
Wohl des Volkes“ (ebd.: 99).
Dieser Schritt Lockes, anders als Hobbes über die Freiheitsrechte des Naturzustandes
hinauszugehen und die oben angeführten individuellen Freiheitsrechte der Menschen als
Bürger in den Mittelpunkt der Staatstheorie zu rücken, ist der zweite Schritt in Richtung
einer liberalen Verfassung. Den nächsten Schritt - auf eine demokratische Verfassung zu –
unternimmt Rousseau.
10
1.3.3 Jean-Jacques Rousseau: der Gesellschaftsvertrag (1762)
„Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten“ (Rousseau (1762) 2001: 5).
Mit diesem ersten Satz des ersten Kapitels seiner Abhandlung Vom Gesellschaftsvertrag
beschreibt Rousseau einerseits den Naturzustand des Menschen und andererseits den
gesellschaftlichen Zustand, in dem der Mensch sich befindet. Er will herausfinden, „ob es in
der bürgerlichen Ordnung irgendeine rechtmäßige und sichere Regel für das Regieren geben
kann; dabei werden die Menschen so genommen, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein
können“ (ebd.). Im Naturzustand ist den Menschen keine staatliche Ordnung gegeben. Wie
Hobbes und Locke vor ihm sieht auch Rousseau die gesellschaftliche Ordnung als Recht, das
es durch Übereinkunft zu konstituieren gilt. Erst durch den Übergang vom - allerdings
fiktiven, da nicht mehr vorhandenen (s. o.) - Naturzustand zum Gesellschaftszustand erreicht
der Mensch „Gerechtigkeit“ anstelle des „Instinkts“ und gewinnt „Sittlichkeit“. „Was der
Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und sein
unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält ist
die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt“ (ebd.: 22). Rousseau
tauscht die natürliche Freiheit, die nur von den Kräfteverhältnissen der Individuen bestimmte
‚liberté naturelle’7, ein gegen die bürgerliche Freiheit, die vom Gemeinwillen (s. folgender
Abschnitt) begrenzte ‚liberté civile’8 (Hegner, Friedhart 1995: 213). Das bedeutet, das Recht
des Stärkeren wird ersetzt durch einen sicheren Rechtsanspruch, „nur auf einen
ausdrücklichen Titel gegründet“. Mit dem Übergang gewinnt der Mensch ebenso die „sittliche
Freiheit“, die ihn in die Lage versetzt, den durch den Gemeinwillen verfassten Gesetzen Folge
zu leisten (Rousseau 2001: 23).
Wie Hobbes und Locke sieht auch Rousseau in seinem Staatsmodell die Aufhebung des
Naturzustandes durch Vertrag vor. Der Gesellschaftsvertrag ist ein Assoziierungsakt
zwischen Individuum und Gesellschaft, bringt einen einzigen moralischen und politischen
Körper und einen einzigen Willen, den Gemeinwillen (volonté générale), hervor. Der
Gesellschaftsvertrag lässt sich mit folgendem Wortlaut auf einen Satz reduzieren:
7
Spielraum des Handelns, in dem der natürliche Mensch sich im Rahmen seiner Kräfte alle Wünsche erfüllt, die
ihm aus seiner unreflektierten Triebstruktur erwachsen.
8
Freiheit, in der der Mensch sich in seiner Eigenschaft als Bürger eines Gemeinwesens sieht, und in der er die
Grundsätze des Verhaltens erkennt und aus eigenem Antrieb befolgt, die sowohl für die Freiheit und das Leben
seiner Mitmenschen wie auch für das Gemeinwesen notwendig sind.
11
„Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die
oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als
untrennbaren Teil des Ganzen auf“ (ebd.: 18). Das Individuum ist gleichzeitig Staatsbürger
mit Teilhabe an politischer Macht und Untertan mit Verpflichtung gegenüber dem
Souverän, der den Gemeinwillen verkörpert. Der Staat ist mehr als die Summe seiner Teile,
er ist eine neue, moralische, nur auf dem vernünftigen Gemeinwillen gegründete, Entität.
Das bedeutet, der Souverän kann nicht dem Interesse des Einzelnen schaden, da er aus dem
Willen der Einzelnen besteht (ebd.: 18f.). Zu unterscheiden ist hier zwischen Sonderwillen
(das ist die individuelle Freiheit, „Einzelwillen“), dem Gesamtwillen (das ist die Anhäufung
von Sonderwillen, „Summe von Einzelwillen“) und dem Gemeinwillen (das ist die einzig
legitime Stimme des Volkes). Rousseau lehnt Gewaltenteilung ab, da der Gemeinwille ein
einziger und somit nicht teilbar ist (ebd.: 28f.).
Ein Problem ergibt sich: da der einzelne Bürger sich per Gesellschaftsvertrag dem
Gemeinwillen, der immer im Recht ist (vgl. ebd.), unterwirft, muss er auf seine persönliche
Freiheit verzichten. Das Ideal des volonté général verpflichtet jeden Einzelnen, Enthaltung
ist ausgeschlossen. Es darf also niemals Teilinteressen geben, die dem Gesamtinteresse
entgegenstehen könnten, weil: „wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von
der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man
ihn zwingt, frei zu sein“ (ebd.: 21). Mit dem Zwang des Gemeinwillens erteilt Rousseau
einem Liberalismus, wie Locke ihn vorsieht, oder einem Pluralismus, wie Rawls ihn später
vorschlagen wird, eine deutliche Absage. Ich möchte an dieser Stelle auch auf den
Widerspruch zu Rousseaus Aussage hinweisen, dass jeder „nur sich selbst gehorcht und so
frei bleibt wie vorher“, wenn der Gesellschaftsvertrag in Kraft getreten sei (ebd.: 17).
Zu sagen bleibt, dass nach Rousseau die Menschen im Naturzustand frei sind, dieser
Zustand aber nicht mehr herrscht, da sie durch gesellschaftliche Zwänge „in Ketten“ liegen.
Zu beseitigen ist die Unfreiheit erst durch den Gesellschaftsvertrag, der die Menschen
verändert, indem er sie zu moralisch verantwortlichen Staatsbürgern heranreifen lässt, und
zur bürgerlichen Freiheit führt. Rousseau betont nicht so sehr wie Hobbes und Locke den
Sicherheitsaspekt; dennoch ist er implizit vorhanden, da der Gesellschaftsvertrag von
positivem Recht ausgeht und die Menschen sowohl vor den Übergriffen ihrer Mitmenschen
als auch vor willkürlicher Herrschaft absichert. Nach John Lockes Theorie ist die
12
Herrschaftsform nicht bestimmt, einzige Voraussetzung ist die Zustimmung des Volkes.
Nach Rousseaus Staatstheorie geht die Herrschaft einzig und allein vom Volk aus. Seine
Verteidigung des Gemeinwillens gegenüber dem absolutistischen Staat bildete die
theoretischen Grundlagen der Französischen Revolution.9 Damit hat seine Theorie eine
weitreichende Bedeutung für die Entwicklung der Demokratien.
1.3.4 John Rawls: der liberale Staat (1993)
Einen völlig anderen Ansatz in der Frage der sozialen Ordnung erarbeitet John Rawls. Sein
Modell des ‚Political Liberalism’ basiert auf Freiheit, Gleichheit, Chancengleichheit (Rawls
1993: 3ff.)10 und auf Gerechtigkeit. Er stellt sich die Frage, wie in einer differenzierten,
pluralistischen Gesellschaft ein Staat beschaffen sein muss, damit Ressourcen, die in
unterschiedlicher Menge vorhanden sind, so gerecht verteilt werden, dass jedem zumindest
ein faires Minimum11 davon zukommt.
Für Rawls, der im Gegensatz zu Rousseau bereits „Nutznießer von drei Jahrhunderten
demokratischen Denkens und der Entwicklung einer konstitutionellen Praxis“ ist (Rawls
1994: 295), ist eine der wichtigsten Erfahrungen der Neuzeit, dass in den hoch komplexen
modernen Gesellschaften trotz unterschiedlicher, teilweise konkurrierender Ideale vom
‚richtigen’ Zusammenleben ein geregeltes Zusammenleben möglich ist, solange die
Menschen der Grundordnung ihrer Gesellschaft verpflichtet sind und dieses auch von
einander wissen. Rawls will „speziell für die moralische Bewertung gesellschaftlicher
Grundordnungen
eine
Gerechtigkeitskonzeption
entwickeln,
die
die
Anhänger
konkurrierender Weltanschauungen moralisch befürworten können, und eine gerechte, dieser
Konzeption genügende Grundordnung konkret entwerfen“ (Pogge 1994: 44). Sein politisches
Gerechtigkeitskonzept erfordert einen „übergreifenden Konsensus“ aller Glieder der
pluralistischen Gesellschaft. Unter der Grundstruktur einer solchen Gesellschaft versteht
Rawls die „wichtigsten politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Institutionen einer
Gesellschaft und die Art und Weise, in der sie in einem einheitlichen System sozialer
9
vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie. © 1993-1998 Microsoft Corp.
„Each person has an equal claim to a fully adequate scheme of basic rights and liberties,[…]. Social and
economic inequalities are to satisfy […] under conditions of fair equality of opportunity” ( S. 5/6).
11
„the greatest benefit of the least advantaged members of society” (S. 6).
10
13
Kooperation aufeinander bezogen sind“ (Rawls 1994: 296). Eine gerechte Grundordnung ist
nur zu erreichen, wenn alle Teilnehmer sie gemeinsam als gerecht befürworten.
Die Gerechtigkeit einer Grundordnung der Gesellschaft misst Rawls daran, wie diese sich auf
das Leben der Mitglieder auswirkt. Anders als bei Rousseau werden die Staatsbürger nicht als
ein einziger Körper, sondern ausschließlich als Individuen berücksichtigt. Jedem einzelnen
Individuum soll fair begegnet werden. Die politische Gerechtigkeitskonzeption enthält drei
Hauptelemente: „erstens eine Liste bestimmter Grundrechte, Grundfreiheiten und Chancen
(so wie sie aus demokratischen Verfassungsstaaten bekannt sind); zweitens einen besonderen
Vorrang dieser Rechte, Freiheiten und Chancen insbesondere gegenüber den Forderungen des
Allgemeinwohls und den Werten des Perfektionismus; und drittens Maßnahmen, die geeignet
sind, allen Bürgern angemessene Mittel für die wirksame Nutzung ihrer Grundrechte und
Chancen zu geben“ (Rawls 1994: 321). Auch Rawls’ Regelung wird, wenn auch fiktiv,
vertragstheoretisch abgestützt: rationale Menschen entscheiden gemeinsam durch einen
Gesellschaftsvertrag, wie eine gerechte Grundordnung auszusehen hat (hierzu mehr in den
nächsten Absätzen). Als Maßstab gilt die rationale Entscheidung, den Staat so einzurichten,
dass er über die bestmögliche allgemeine Ausstattung hinaus auch die bestmögliche
Mindestausstattung bietet. Das bedeutet, die Wahl der einen Ordnung anstelle einer anderen
hängt nur davon ab, ob sie im Vergleich den höchsten Mindeststandard hat. Eine
Gesellschaftsform, in der viele in mittelmäßigem Wohlstand leben, in der es den Ärmsten
aber besser geht, als den Ärmsten in einer Gesellschaftsform, in der es sehr viele Reiche aber
auch Menschen in extremer Armut gibt, ist vorzuziehen. Rawls nennt dieses
Bewertungssystem „Maximinstandard“
Da eine stabile Gesellschaftsordnung nur dann allgemeine Anerkennung erwarten darf, wenn
sie auf Werten beruht, die allen gleichermaßen zugänglich sind, entwirft Rawls drei
übergeordnete Interessen, die von allen, auch bei divergierenden Ansichten, verfolgt werden
können: erstens einen Gerechtigkeitssinn auszubilden, der eine Kontrollfunktion im Umgang
mit anderen hat; zweitens eine kritische und rationale Konzeption eines lebenswerten Lebens
auszubilden und drittens das umfassende Interesse, beim Verfolgen dieser Konzeption auch
Erfolg zu haben (vgl. Pogge 1994: 51ff.).
Wahrhaft gerecht kann nur eine Gesellschaftsordnung sein, der jedes Mitglied zustimmen
könnte, auch wenn (und gerade weil) es über seine eigene Stellung in dieser Gesellschaft noch
14
nichts weiß. Dies ist die Grundvoraussetzung für den zu schließenden Gesellschaftsvertrag.
Im vorvertraglichen Zustand befinden sich deshalb die Vertragsparteien unter einem „veil of
ignorance“ (Schleier der Unkenntnis) (Rawls 1993: 23). Das bedeutet, sie haben weder eine
spezielle Kenntnis über die einzelnen Menschen oder die Umstände, in denen sie leben, noch
haben sie Kenntnis darüber, welchen Status sie selbst in der zukünftigen Ordnung innehaben
werden. Sie folgen nur den oben genannten Interessen, und ihre Wahl wird ausschließlich von
dem Zweckrationalismus bestimmt, möglichst viel ‚herauszuholen’ (Pogge 1994: 65). Alle
politischen Entscheidungen müssen öffentlich sein, und die Entscheidungsgründe müssen
offengelegt werden, damit sie von allen nachzuvollziehen sind. Da jeder das Beste für sich
will, aber noch nicht weiß, an welcher Position er sich im zukünftigen Staat befinden wird,
liegt sein ganz rationales Interesse darin, dass er von verschiedenen Staatsmodellen einen
Staat wählt, in dem es ihm, wäre er in Zukunft auf der untersten sozialen Position, am besten
geht, einen Staat, der sich auf die Gerechtigkeitskonzeption gründet.
1.3
Zwischenfazit: Wie viel Staat muss sein?
Für uns, die wir in der Bundesrepublik Deutschland leben, ist es selbstverständlich, in einer
freiheitlichen Demokratie zu leben. In der Regel nehmen wir unsere Rechte in Anspruch und
denken nicht weiter darüber nach. Die von mir ausgewählten Theorien haben gezeigt, dass der
Weg dorthin mehrere Jahrhunderte gedauert hat und sich in verschiedenen Schritten
vollzogen hat: von Hobbes, dessen Theorie auf der Not des täglichen Überlebens beruhte, und
der die Idee hatte, dass die Menschen durch einen gemeinsam geschlossenen Vertrag eine
soziale Ordnung schaffen sollten, über Locke, der darüber hinaus die individuelle Freiheit als
ein zu schützendes Gut erachtete und den man als den ersten Liberalen bezeichnen kann, über
Rousseau, den geistigen Vater der modernen Demokratien, der allerdings nicht liberal dachte,
sondern den Gemeinwillen über den Individualwillen stellte, bis hin zu Rawls, der einen
liberalen pluralistischen, sozial gerechten Staat verficht.
„Gib mir Geld, ich will in die Schule“, mit diesem Worten überfällt ein Kind einen Touristen
in Lagos, der Hauptstadt von Nigeria. Obwohl das Land über immensen Erdölreichtum
verfügt, leben Menschen in elenden Slums zwischen Müllbergen, die Polizei ist kriminell und
korrupt, zahlreiche Menschen werden täglich auf offener Straße ermordet und liegen gelassen,
ohne dass das Verbrechen überhaupt Beachtung findet. Das Leben ist „arm, ekelhaft,
15
pervertiert und kurz“12. Ähnliche Zustände, wie sie die Süddeutsche Zeitung (Bitala, SZ
11.12.2001) schildert, mag Hobbes vor Augen gehabt haben, als er einen mächtigen Staat
forderte, der die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten konnte. Und hinsichtlich der
beschriebenen Zustände in Nigeria müssen auch wir, die wir an eine freiheitliche Demokratie
gewöhnt und vielleicht auch verwöhnt sind, uns fragen: „Wie viel Staat muss sein?“ Im ersten
Schritt hat Hobbes darauf hingewiesen, dass Menschen in einer Gesellschaft nicht ohne eine
feste Ordnung auskommen. Wollen sie ihres Lebens und ihrer Habe sicher sein, brauchen sie
einen starken Staat, der sie schützt. Aber müssen sie dazu ihre Freiheit aufgeben? Locke
meint im zweiten Schritt dazu, der Friede, die Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes
sollen Ziel des Staates sein. Hierzu brauchen die Menschen ein sicheres Gesetz, unparteiische
Richter und eine Exekutive. Ein solches Staatswesen muss aber auch, damit die individuelle
bürgerliche Freiheit, die in Anerkennung der allgemeinen Gesetze besteht, nicht durch einen
despotischen Souverän abgeschafft werden kann, ermöglichen, dass dieser Souverän
abgesetzt werden kann. Den dritten Schritt auf dem Weg zu einer Demokratie vollzieht
Rousseau, indem er feststellt, dass der Staat das Volk ist. Der Staat muss den Willen des
Volkes verkörpern und die Herrschaft einzig und allein vom Volk ausgehen.
Wenn wir uns noch einmal das Beispiel Nigerias ins Gedächtnis rufen, so kann die
Schlussfolgerung nicht nur sein, dass man einen mächtigen Staat braucht, damit die Menschen
überhaupt leben können, sondern man kann sich auch Rawls’ Gerechtigkeitsprinzip vor
Augen führen, das verlangt, dass die Menschen auch ein lebenswertes Leben führen können.
Unter diesem Gesichtspunkt muss so viel Staat sein, dass auch der am schlechtesten Gestellte
ein Leben führen kann, das so gut als eben möglich ist. Voraussetzung dafür ist eine
freiheitliche Demokratie.
2. Sicherheit und Unsicherheit
Habe ich mich im ersten Teil meiner Arbeit mit Staatstheorien unter dem Aspekt Sicherheit
und Freiheit beschäftigt, so wende ich mich nun dem Thema Sicherheit und Unsicherheit zu.
Unsicherheit ist ein neutraler Gegenbegriff zu Sicherheit. Er bezeichnet die Ungewissheit der
Möglichkeit eintretender Ereignisse ohne Festlegung darauf, dass diese sich als schädlich
erweisen werden. Im Schlussteil der Arbeit werde ich darauf eingehen, dass im Verhältnis der
12
Robert Kaplan zit. in: Süddeutsche Zeitung Nr. 285, 11.12.2001
16
Bürger zu deren Staat keine Unsicherheit bestehen darf. Zunächst geht es mir aber um die
negativen Auswirkungen unsicherer Situationen.
2.1 Gefahr und Risiko
Erst wenn Unsicherheit als Gefahr oder Risiko benannt wird, bezeichnet dies einen möglichen
Schadensfall. Im folgenden Teil der Arbeit möchte ich mich also der Frage zuwenden, wie
und ob ein freiheitlich demokratischer Staat, wie es auch die Bundesrepublik ist, seinen
Bürgern ein sicheres, d. h. gefahr- oder risikoloses Leben garantieren kann. Ich möchte
überprüfen, wie das Verhältnis von Sicherheit und Unsicherheit einzuschätzen ist bzw. ob
staatliche Maßnahmen tatsächlich Gefahren abwenden können, oder ob sie lediglich Risiken
minimieren. Meine darauf folgenden Überlegungen sollen der Frage nachgehen, wie weit
Staatsorgane individuelle Freiheiten zum Wohle der Allgemeinheit einschränken oder
einschränken dürfen.
2.1.1 Unterscheidung von Gefahr und Risiko; Risikominimierung
„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen
mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und
verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben
werde. [So wahr mir Gott helfe.]“ (Art. 64 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland).
Dieses Gelöbnis bei Amtsantritt des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und seiner
Minister, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, ist ein Sicherheitsversprechen für die
Zukunft. Um zu untersuchen, ob der Staat dieses Versprechen einlösen kann, ist es nützlich
für die Definition künftigen „Schadens“, eine Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko
einzuführen. Hilfreich ist folgende Definition Luhmanns: „Von Gefahr kann man sprechen,
wenn der etwaige Schaden durch die Umwelt verursacht werden wird, zum Beispiel als
Naturkatastrophe oder als Angriff böser Feinde, von Risiko dagegen, wenn er auf eigenes
vorheriges Verhalten (einschließlich: Unterlassen) zurückgeführt werden kann“13; oder auch:
„Als Gefahr kann man jede nicht allzu unwahrscheinliche negative Einwirkung auf den
eigenen Lebenskreis bezeichnen. [...] Das Risiko ist [...], anders als die Gefahr, ein Aspekt
von Entscheidungen, eine einzukalkulierende Folge der eigenen Entscheidung“ (Luhmann
13
Luhmann 1990: 662 zit. in: Bechmann 1993: XXI
17
1993: 327). Dieser Ausgangspunkt hat die Konsequenz, dass Risiko an das „variierende
Handlungspotential der Gesellschaft gebunden“ ist (Bechmann 1993: XXI). Der wesentliche
Unterschied zwischen Risiko und Gefahr besteht darin, dass das Risiko auf eigene
Entscheidungen und Handlungen zurückgeführt werden kann. „Würde man anders
entscheiden, würde man das Risiko vermeiden – vielleicht auf Kosten eines anderen Risikos“
(Luhmann 1993: 327). Für mich als Individuum bedeutet das, dass z. B. generell die Gefahr
besteht, dass ich an einer Pilzvergiftung sterbe; das Risiko gehe ich aber erst ein, wenn ich
selbst gesammelte, mir unbekannte Pilze verzehre. Das bedeutet, die Gefahr kann ich nicht
ändern, erst wenn ich sie als Gefahr erkannt habe, kann ich bewusste Entscheidungen treffen,
ob ich das betreffende Risiko eingehe oder nicht. Gegen eine unbekannte Gefahr kann ich
nichts unternehmen, d. h. es gibt keinen Handlungsspielraum. Anders kann sich aber auch die
Situation ergeben, bekannten Risiken nichts, weder Handlung noch bewusste Unterlassung,
entgegenhalten zu können. Diese Risiken, für die es keinen Handlungsspielraum gibt, werden
wiederum als Gefahr empfunden. Ein Beispiel hierfür ist die Verbreitung genmanipulierter
Pflanzen, die aus Unachtsamkeit aus biologischen Labors in die freie Natur gelangt sind und
deren Vermischung mit natürlichen Pflanzen nicht mehr aufzuhalten ist.
Für ein Staatswesen bedeutet das, dass eine Gefahr sowohl von außen als auch von innen
drohen kann, ohne dass es einen eigenen Entscheidungsspielraum darüber hätte. Hinzu
kommt, dass die Gefahr erst einmal als Gefahr erkannt werden muss, um eine
Abwehrmaßnahme zu ermöglichen. Wird sie allerdings erkannt (beispielsweise durch die
Arbeit von Geheimdiensten oder wissenschaftlicher Forschung) - was Voraussetzung für die
zu unternehmenden Schritte ist -, wird die Gefahr in ein Risiko transformiert, denn der Staat
muss
nun
entscheiden
und
handeln,
will
er
Schaden
abwenden.
Es
entsteht
Entscheidungszwang, welche Entscheidungen zu fällen und Handlungen zu unternehmen oder
zu
unterlassen
sind.
Sobald
es
Entscheidungsmöglichkeiten
gibt,
müssen
auch
Entscheidungen getroffen werden, wobei eine Unterlassung eben auch als Entscheidung gilt
(Luhmann 1993: 328). „Die Transformation von Gefahren in Risiken selbst stellt eine
Entscheidung dar“ (Bechmann 1993: XXI), die die Kompetenz der beurteilenden Partei
erfordert. Luhmann weist darauf hin, dass es allerdings in bürokratischen Organisationen „an
Risikobewusstsein oft fehlt, weil Entscheidungsmöglichkeiten gar nicht gesehen oder aus dem
durch Routine bestimmten Alltag ausgeschaltet werden“ (ebd.). Außerdem kann sich die
paradoxe Lage ergeben, dass das Unterlassen einer Entscheidung ebenso viel Risiko birgt wie
das Treffen einer Entscheidung (vgl. Bechmann 1993.: XXII). Als Beispiel mag das Verbot
18
einer radikalen Partei gelten: unterlässt man das Verbot, ist das Risiko hoch, die Partei in
ihren Umtrieben noch zu unterstützen; verbietet man sie, ergibt sich das hohe Risiko, dass die
Partei im Untergrund weiter arbeitet und sich so jeglicher staatlicher Kontrolle entzieht.
Liegt die drohende Gefahr innerhalb des Territoriums eines Staates, so kann die Regierung
durch entsprechende Gesetze und deren Durchsetzung (z. B. Atomausstieg) das Risiko für die
Bevölkerung minimieren. Im Falle des Atomausstiegs wäre so auch eine Beseitigung des
Risikos möglich, gäbe es nicht andere Staaten, die keinen Ausstieg vornehmen.
Drohen Gefahren von außerhalb und sind sie bekannt, können sie, wenn sie nicht völlig
ausgeschaltet werden können, zunächst in Risiken „zerlegt“
werden,
die
dann
Handlungsspielraum eröffnen und es ermöglichen, in einzelnen Schritten Gegenmaßnahmen
zu ergreifen. Zur Erläuterung werde ich im folgenden auf den Terroranschlag vom 11.
September 2001 eingehen. In diesem Fall ist der Anschlag eine Gefahr gewesen, die nicht
rechtzeitig erkannt wurde. Heute besteht mit der Erkenntnis, dass eine solche Tat ausgeführt
werden konnte, ebenso das Bewusstsein der Möglichkeit weiterer spektakulärer Anschläge in
der Zukunft. Staaten, die den Terror nicht dulden wollen, sind nun in Entscheidungszwang.
Die Gefahr selbst lässt sich nicht beseitigen, da der Ursprung außerhalb des Einflussbereiches
freiheitlicher demokratischer Staaten liegt. Zerlegt man aber diese Gefahr in Risiko-Schritte,
so kann man die Handlungsebene von der gegnerischen Ebene auf die Ebene der bedrohten
Staaten verlagern und Risiken zumindest minimieren. Im Beispiel der Terroranschläge kann
man z. B. das Risiko einer Flugzeugentführung durch erhöhte Sicherheitskontrollen auf
Flughäfen minimieren, durch Rasterfahndungen „Schläfer“ ermitteln, durch Marinesoldaten
den Seeverkehr überwachen oder gar durch kriegerische Maßnahmen versuchen, die
vermutete Terrorzentrale zu eliminieren. Auf Bedrohungen der inneren Sicherheit (wie auch
z. B. durch Terror von innen) werde ich nicht weiter eingehen, sondern möchte nur kurz am
Beispiel der Kriminalität aufzeigen, wie der Staat der allgemeinen Gefahr der Kriminalität
begegnen kann, indem er in verschiedenen Schritten vorgeht. So kann er Maßnahmen
ergreifen, um z. B. das Risiko der Jugendkriminalität durch Prävention, das Risiko der
Rückfallkriminalität durch Resozialisation oder das Risiko der „Trittbrett“-Verbrechen durch
Abschreckung zu mindern.
Zusammenfassend möchte ich, der Definition Luhmanns folgend, sagen, dass Staatswesen
Gefahren nicht beseitigen können, da diese nicht auf ihrer Entscheidungs- und
19
Handlungsebene liegen (es sei denn, die Gefahr ginge vom Staat selbst aus). Gefahren müssen
erkannt werden, damit sie zu Risiken transformiert werden und so auf die Handlungsebene
verlagert werden können; dann können staatliche Maßnahmen, „Schaden vom Volk zu
wenden“, einsetzen. Allerdings muss die Regierung, will sie ihrem Gelöbnis folgen,
Kompetenz erwerben und sich stets aller erreichbarer Erkenntnisse bedienen, um Gefahren zu
erkennen und Gefahrenquellen aufzudecken. Erst dann kann die Gefahr zu einem
verminderbaren, wenn nicht zu einem verhinderbaren Risiko werden.
Abgesehen davon, dass Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten gegeben sein müssen,
ist Sicherheit stets nur relativ zum gegenwärtigen Kenntnisstand und zur Einschätzung der
Lage zu gewährleisten. Auf das Problem, wie eine Gefahr eingeschätzt wird, möchte ich im
folgenden Abschnitt näher eingehen.
2.1.2 Risikoeinschätzung vs. tatsächliches Risiko
Problematisch ist die Einschätzung von Gefahren und Risiken, und zwar sowohl hinsichtlich
des Ob als auch des Wie des Eintretens. Sie ist in der Regel abhängig von subjektiven
Schätzungen von Experten und Laien, da es keine allgemeinen objektiven Kriterien für die
Einschätzung von Risiken zu geben scheint. Es gibt verschiedene Ansätze, die versuchen,
dieses Problem der Beurteilung zu lösen. Einige möchte ich hier kurz vorstellen:
erstens den formal-normativen Ansatz: Erklärtes Ziel dieses Ansatzes ist es, ein „universell
gültiges Risikomaß zu entwickeln“ (vgl. Bechmann 1993: IX). Dadurch soll es möglich
werden „eine rationale Klärung der Akzeptierbarkeit der unterschiedlichsten Risiken zu
erreichen, je nach Grad ihrer Wahrscheinlichkeit und Folgen“ (ebd.). Das „objektive Risiko“
als
formales
Risikomaß
ist
nach
diesem
Modell
berechenbar,
wenn
sich
die
Wahrscheinlichkeit eines Schadensfalles angeben lässt und der Schaden bestimmbar ist. Es ist
durch Wahrscheinlichkeitsschätzungen zu ermitteln. Hierzu dienen statistische Verfahren wie
der Schluss von einer Stichprobe auf die Grundgesamtheit oder auch hypothetische
Wahrscheinlichkeiten, die von Fachleuten als „plausibel“ berechnet werden, wenn
Stichproben nicht vorliegen oder die Risiken sehr selten sind (vgl. ebd.: Xff.). Diesem Ansatz
ist zweierlei entgegenzuhalten: im ersten Fall geht die Wahrscheinlichkeitsberechnug, die auf
einem Schluss von einer Stichprobe beruht, von einer homogenen Grundgesamtheit aus, das
heißt, es wird vorausgesetzt, dass die gezogene Stichprobe in gewisser Weise die
20
Grundgesamtheit repräsentiert. Allein dann ist die Berechnung einer Wahrscheinlichkeit aus
einer Stichprobe sinnvoll. Die Berechnung der Höhe der Wahrscheinlichkeit eines
eintretenden Ereignisses ist abhängig von der untersuchten Stichprobe. Je homogener die
Stichprobe ist, desto bessere Voraussagen lassen sich treffen. Möchte man z. B. das Risiko,
kriminelle Handlungen zu begehen, für männliche Jugendliche berechnen, so ist es sinnvoller,
eine (homogene) Stichprobe von tausend Personen der Grundgesamtheit „männliche
Jugendliche“ zu untersuchen, als eine (heterogene) Stichprobe des Bevölkerungsquerschnitts,
Säuglinge und alte Leute einbezogen, heranzuziehen. Auf diese Weise lässt sich eine Aussage
über das wahrscheinliche Verhalten einer, verglichen mit der Gesamtbevölkerung,
homogeneren
Grundgesamtheit
„männliche
Jugendliche“
treffen.
Aber
homogene
Grundgesamtheiten - im Falle des Terroranschlags vom 11. September müsste das eine
homogene Terroristengemeinschaft sein (aus der man obendrein noch eine Stichprobe ziehen
müsste) oder gar eine Vielzahl gleicher oder ähnlicher Anschläge - können nicht
vorausgesetzt werden. Gerade solche - oftmals extrem hohe - Risiken, die eine pluralistische,
heterogene Gesellschaft in sich bergen kann, wie z. B. durch extremistische Splittergruppen
oder durch zu allem bereite Einzeltäter, oder auch Risiken, die gar nicht innerhalb der
untersuchten Grundgesamtheit liegen können, wie z. B. Terroranschläge von außen, lassen
sich durch statistische Verfahren nicht erfassen. Man verfügt eben nicht über eine
ausreichende, homogene Stichprobe, um statistische Wahrscheinlichkeiten zu ermitteln. Hier
lässt sich das „objektive Risiko“ als formales Risikomaß nicht berechnen.
Im zweiten Fall, dem der Berechnung der plausiblen Wahrscheinlichkeit, geht man von einem
so seltenen Fall aus, dass bisher keine oder nur unzureichende Erfahrungswerte vorliegen.
Das bedeutet, dass hypothetische Wahrscheinlichkeiten, wie z. B. die Berechnung des Risikos
einer Kernschmelze eines Atomreaktors mit den dazu gehörigen Folgen, willkürlich sind, weil
man sie nicht auf Erfahrungswerte stützen kann und es Grenzen des „objektiv Wißbaren“ gibt
(ebd.). Den Berechnungen hypothetischer Wahrscheinlichkeiten ist entgegenzuhalten, dass
sie, solange es keine Erfahrungswerte gibt, nur subjektive Einschätzungen einer
Wahrscheinlichkeit sind und deswegen keine objektive Risikoeinschätzungen sein können.
Darüber hinaus ergibt sich eine weitere Kritik an der Ermittlung des „objektiven Risikos“
daraus, dass man nicht in allen Fällen die Schadenshöhe beziffern kann. Gerade bei Risiken
von Unfällen, die selten oder fast nie auftreten (z. B. GAU in einem Atomreaktor), fällt es
umso schwerer, den erwartbaren Schaden abzuschätzen. Zu bedenken ist auch, dass manche
Schäden nicht in Zahlen zu beziffern sind (z. B. individuelle Schicksale).
21
Der zweite Ansatz, den ich vorstellen möchte, ist der psychologisch-kognitive: Er geht davon
aus, dass die Risikoeinschätzung durch einzelne persönliche Wahrnehmungs- und
Bewertungsfaktoren gesteuert wird. Dieser Ansatz beinhaltet die Überlegung, dass eine
Diskrepanz zwischen dem, was als Risiko anzusehen ist, und dem, was tatsächlich als Risiko
eingeschätzt wird, besteht, dass Menschen sich also nicht nach objektiven Gegebenheiten,
sondern nach individuellen Empfindungen und Vorstellungen richten. Dies kann zu dem
paradoxen
Ergebnis
führen,
dass
Risikostudien,
die
eigentlich
die
höchste
Unwahrscheinlichkeit eines Ereignisses belegen, gerade dazu führen, dass Menschen dieses
Risiko als äußerst hoch einschätzen. Ein Grund hierfür kann z. B. die erhöhte Medienpräsenz
sein. Luhmann nennt das die „Katastrophenschwelle“14. Gemeint ist damit, dass einer
formalen
Risikokalkulation
nicht
vertraut
wird,
wenn
selbst
bei
niedrigster
Wahrscheinlichkeit eines möglichen Unglücks, dieses als eine Katastrophe empfunden würde.
Der psychologisch-kognitive Ansatz zielt nicht auf den wahrscheinlichen Eintritt des
Risikofalles, sondern darauf, wie Menschen in bestimmten Situationen Risiken bewerten
(Bechmann 1993: XIIff.). Einige der Entscheidungsfaktoren seien hier genannt: „Freiwillige
Risiken werden eher akzeptiert als unfreiwillige, von außen auferlegte. [...] Kontrollierbare
Risiken werden eher akzeptiert als unkontrollierbare.“ Außerdem werden solche Risiken als
niedriger eingeschätzt, deren Folgen schon lange bekannt sind - im Gegensatz zu Folgen z. B.
neuer Technologien -, oder deren Folgen erst später eintreten (z. B. Nikotin und Alkohol vs.
Lebensmitelvergiftung), oder deren Schäden reparabel sind. „Insgesamt zeigt sich bei der
Bewertung und Akzeptanz von Risiken eine generelle Tendenz, im wesentlichen das
Schadensausmaß zu berücksichtigen und die Eintrittswahrscheinlichkeit zu vernachlässigen“
(ebd.). Das bedeutet, man ist eher bereit, ein Risiko als gering einzuschätzen, dessen Schaden
nicht so hoch erscheint, zudem noch in weiter Ferne liegt, aber der wahrscheinlich eintreten
wird. Demgegenüber wird ein Risiko, dessen Eintritt äußerst unwahrscheinlich ist, dessen
Folgen aber unmittelbar und katastrophal eintreten würden, als besonders hoch eingeschätzt.
Dieser Ansatz kann vielleicht erklären, warum z. B. nach dem 11. September die Angst vor
Terroranschlägen so in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt ist, obwohl das Risiko, z. B.
durch eine ungesunde Lebensführung oder einen Unfall zu Tode zu kommen, ungleich höher
ist, als einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Über die Bewertung vieler einzelner
Risikofaktoren hinaus kann allerdings auch dieser Ansatz, ebenso wenig wie der formalnormative Ansatz, kein allgemeingültiges Maß zur Risikoeinschätzung liefern.
14
Luhmann 1991: 11, zit. in: Bechmann 1993: XII
22
Der dritte Ansatz schließlich, den ich vorstellen möchte ist ein soziologischer Ansatz. Diesen
Ansatz halte ich hinsichtlich politischer Entscheidungen für relevant. Er geht über den
vorigen dahingehend hinaus, dass er die Einschätzung von Risiken zusätzlich von
gesellschaftlichen Faktoren abhängig macht. Ein wesentlicher Faktor ist die öffentliche
Meinung und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen in normativer Hinsicht, das bedeutet, auf
dem Einzelnen liegt ein Erwartungsdruck, in „Übereinstimmung mit einer von vielen
getragenen Meinung“ zu sein (Bechmann 1993: XV). Das heißt, es liegt ein Erwartungsdruck
auf dem Einzelnen, mit seiner Einschätzung nicht von den allgemeinen Wertvorstellungen
abzuweichen; zum anderen ist die öffentliche Meinung in kognitiver Hinsicht von Bedeutung.
Das heißt, erst die öffentliche Meinung lässt uns viele Risiken wahrnehmen und bewerten,
von deren Existenz wir sonst nichts erfahren hätten. Das zieht natürlich nach sich, dass wir
zwar informiert sind, sich unsere Wahrnehmungen aber auf ausgewählte und möglicherweise
dramatisierte Informationen gründen. Unsere Wahrnehmungen und Einschätzungen von
Risiken sind also „sozial gefiltert“ (Bechmann 1993: XVIIf.). Die meisten Risiken
„können von den einzelnen Individuen gar nicht unmittelbar wahrgenommen werden, sondern
vermitteln sich ihnen erst durch Wissenschaft, Massenmedien und Politik“ (ebd.). Wie jeder
Bürger unterliegen selbstverständlich auch Politiker diesen Bedingungen, d. h. politische
Entscheidungen unterliegen ebenfalls der „öffentlichen Meinung“: zum einen, indem sie
selbst öffentliche Meinung bilden; zum zweiten, indem auf den Informationsfluss der
öffentlichen Meinung angewiesen sind und schließlich nicht zuletzt, indem sie von der
öffentliche Meinung für gut befunden werden müssen. Auch dieser Ansatz bestätigt, dass es
kein objektives Risikomaß gibt, im Gegenteil: „Die Analyse und Bewertung möglicher
Folgen hängen von dem spezifischen Kontext des Entscheiders oder Betroffenen ab“ (ebd.:
XXIII).
Nach diesem Exkurs über Risiken und Risikoeinschätzung möchte ich wieder zu meinem
Thema, ob und wie der Staat Risiken vermeiden oder minimieren kann, zurückzukehren. Es
sollte klar geworden sein, dass die Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung von
Risiken in hohem Maße abhängig von der Risikoeinschätzung sind, dass aber ein objektives
Maß zur Risikoeinschätzung nicht vorhanden zu sein scheint. Politische Entscheidungen
werden von Menschen getroffen und Sachlagen daher individuell verschieden beurteilt. Da
außerdem diese Sachlagen in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedlich bewertet
werden können, ist es für Regierende nicht einfach, ihr Versprechen, „Schaden vom Volk
23
abzuwenden“, einzulösen. Letztendlich ist nur von den Entscheidungsträgern zu fordern, sich
über tatsächliche Risiken aus verschiedenen Quellen so intensiv als möglich zu informieren
und sich ins Bewusstsein zu rufen, welche Faktoren auf ihre eigene (subjektive, nicht
objektive) Bewertung einen Einfluss haben können. Den Bürgern bleibt, darauf zu vertrauen,
dass Entscheidungen sorgfältig und gewissenhaft in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz
getroffen werden.
2.2 Sicherheitsmaßnahmen vs. individuelle Freiheit
Auf Grund von Kriminalität, Angriffen gegen die äußere oder innere Sicherheit oder auch auf
Grund der technischen Entwicklung ergeben sich immer wieder Situationen, die
Sicherheitsmaßnahmen erforderlich machen. Für politische Entscheidungen hierüber gibt es
aber in der Regel nicht nur eine einzige Möglichkeit, sondern es müssen immer wieder
Abwägungen verschiedener Interessen vorgenommen werden. Ich möchte im folgenden
darauf eingehen, wie weit Sicherheitsmaßnahmen die individuelle Freiheit einschränken
dürfen.
2.2.1 Grundrechte
„Nach liberaler Auffassung bestimmt sich der Status der Bürger nach Maßgabe der
subjektiven Rechte, die sie gegenüber dem Staat und anderen Bürgern haben. Als Träger
subjektiver Rechte genießen sie den Schutz des Staates, solange sie ihre privaten Interessen
innerhalb der durch die Gesetze gezogenen Grenzen verfolgen – auch den Schutz gegen
staatliche Interventionen, die über den gesetzlichen Eingriffsvorbehalt hinausgehen“
(Habermas 1996: 278). In Deutschland sind diese Rechte durch das Grundgesetz von 1949
garantiert. Das oberste Prinzip ist die Würde des Menschen. Die Grundrechte bestimmen
unsere Grundordnung; alle übrigen Gesetze und Bestimmungen haben sich den Grundrechten
unterzuordnen.
2.2.2 Grenzen staatlicher Maßnahmen
Spricht man von Grenzen staatlicher Maßnahmen, so kann man Grenze auf zweierlei Weise
verstehen: zum einen die Grenzen des Machbaren und zum anderen die Grenzen des
Erlaubten. Über Grenzen des Machbaren, soweit es die Entscheidungs- und Handlungsebene
24
betrifft (das technisch Machbare soll nicht erfasst werden), habe ich bereits im obigen
Abschnitt gesprochen (z. B. Transformation von Gefahr in Risiko). Im folgenden Abschnitt
soll es um die Grenzen des Erlaubten gehen. Gerade in der letzten Zeit, in der die öffentliche
Diskussion häufiger als sonst um das Thema Terror und vor allem auch um
Terrorbekämpfung kreiste, ist es wieder besonders nötig geworden, über die Grenzen
staatlicher Macht nachzudenken.
Das Thema Sicherheit hat einen besonders hohen Stellenwert eingenommen. „Das Volk muss
vor den Gefahren des Terrors und der Kriminalität geschützt werden!“, so lautet die Devise,
die allenthalben in den Medien zu hören und zu sehen ist. Ich möchte in den folgenden
Abschnitten einige Fragen aufwerfen, die möglicherweise nicht zu beantworten sind, aber die
immer bei der Abwägung von Sicherheit zu Lasten von Freiheit mit bedacht werden sollten.
Wie ich bereits ausgeführt habe, geht es bei der Abwehr von Gefahren darum, wie mögliche
Risiken eingeschätzt und bewertet werden. Ganz entschieden ist darauf zu achten, die
Gefährdung der Sicherheit so kompetent als nur möglich, das heißt aus verschiedenen
Blickwinkeln - sachlich und nach eingehender Beratung und sicher nicht im Überschwang der
Gefühle - zu betrachten. Wenn die Regierung mit Blick auf die „öffentliche und
veröffentlichte“ Meinung schnell reagieren möchte, ist das verständlich. Aber man muss sich
fragen, ob schnelles Vorgehen immer auch ratsam ist. Überschnelle Reaktionen gründen sich
eher auf Emotionalität als auf Rationalität (vgl. auch Lösel 2000: 44). Dass Subjektivität in
der Risikobewertung nicht zu verhindern ist, habe ich gezeigt. Wie sieht es nun mit der
Angemessenheit und Gesetzeskonformität ergriffener Maßnahmen aus?
Individuelle Freiheit bedeutet Freiheit von und Sicherheit vor Willkür. Das begrenzt die
Freiheit der Bürger untereinander auf den Rahmen, wo die Freiheit der Mitbürger tangiert
wird, begrenzt aber ebenso die Freiheit des Staates, wo er die Freiheit seiner Bürger antastet.
Der Staat hat das legitime Recht, Macht auszuüben. „So wie ‚Legitimität’ in politischer
Theorie gebraucht wird, sind diejenigen, die legitim Macht ausüben, dazu berechtigt, sind
besonders dazu berechtigt, sie auszuüben“15 (Nozick 1974: 134). Jede legitime Regierung ist
eine Regierung, die die meisten ihrer Untertanen als legitim regierend ansehen (ebd.). Die
besondere Berechtigung, die der Regierung von der Mehrheit des Volkes übertragen wird,
wird nur so lange gewährt, wie die Regierung die Bedingungen, unter denen sie gewählt
25
wurde - hier die Grundrechte -, erfüllt. Generell ist also zu sagen, dass eine Regierung nur
dann legitime Macht ausübt, solange sie den Grundrechten folgt.
In der praktischen Politik ergeben sich allerdings immer wieder Situationen, in denen man
nicht einfach den Grundgesetzen folgen kann, sondern Regierende kommen in der Frage der
Angemessenheit von Maßnahmen in den Konflikt, zwischen der Wichtigkeit verschiedener
Grundrechte abwägen zu müssen. Ist es also legitim, Freiheitsrechte zu beschneiden, wenn die
Sicherheit es zu fordern scheint? Artikel 2 (Individuelle Freiheitsrechte) des Grundgesetzes
sieht folgendes vor:
(1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die
Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das
Sittengesetz verstößt.
(2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist
unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden.
Ist es nun legitime Machtausübung, wenn die Regierung, falls eine Gefahr besteht, nach
Abwägung der Risiken Freiheitsrechte zugunsten der Sicherheit einschränkt, oder könnte es
sich um Machtanmaßung handeln? Hier möchte ich nur zwei Artikel des Grundgesetzes
anführen, zwei Freiheitsrechte - nämlich das Brief- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10) und die
Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13) - betreffend, die eine Antwort darauf geben können,
welche Beschneidungen der Freiheit als legitim anzusehen sind: „Beschränkungen dürfen nur
auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der
freiheitlich demokratischen Grundordnung [...], so kann das Gesetz bestimmen, dass an die
Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und
Hilfsorgane tritt“ (Art. 10). „Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im
Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in
der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. Eingriffe und Beschränkungen dürfen
im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne
Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die
öffentliche Sicherheit und Ordnung [...] vorgenommen werden“ (Art. 13).
Das bedeutet, Regierungen sind nicht generell legitimiert, jede beliebige der Sicherheit
dienliche Maßnahme zu ergreifen, sondern das Grundgesetz schreibt Grenzen, Kontrollen und
15
„As ‚legitimacy’ is used in political theory, those legitimately wielding power are entitled, are specially
26
die Durchführung dieser Kontrollen vor. Es stellt sich nun aber die Frage: wer sind die
Kontrolleure, wer kontrolliert sie selbst und – vor allem – können überhaupt Kontrollen
durchgeführt werden?
Innerhalb Deutschlands können wir bei Machtmissbrauch durch den Staat Gerichte und als
letzte Instanz das Verfassungsgericht anrufen. So ist z. B. die pauschale Rasterfahndung, wie
sie in Nordrhein-Westfalen im Rahmen der Anti-Terror-Maßnahmen durchgeführt wurde,
auch in zweiter Instanz vom Oberlandesgericht Düsseldorf für zu weitgehend erklärt worden,
da nicht in allen Fällen „die erforderliche Nähe zu Gefahrensituation gegeben“ war
(Westfälische Rundschau 12.2.02). Über die Arbeit der deutschen Geheimdienste Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst – soll das
Parlamentarische Kontrollgremium (PKG), bestehend aus neun Abgeordneten, wachen. Wie
effektiv dieses Gremium arbeiten kann, bleibt eine der offenen Fragen, denn man muss in
Betracht ziehen, dass neun Abgeordnete einem „Heer von rund zehntausend Geheimdienstlern
gegenüber“ stehen und die Berichte der Abwehrchefs nur etwa zwölfmal jährlich erfolgen
(Viering, SZ 01.02.2002).
Hiermit habe ich einige Beispiele deutscher Kontrollmöglichkeiten aufgezählt. Lowe weist
aber zu recht darauf hin, dass öffentliche Kontrollen in der Regel an den nationalen Grenzen
Halt machen. Er meint sogar, dass ein „Fehlen jeglicher kontrollierender Instanz in den
internationalen Beziehungen“ zu verzeichnen sei, was uns dazu zwinge, unsere Kontrollen
auf den intranationalen Bereich zu beschränken (Lowe 1990: 140). Ich interpretiere seine
Auffassung dahingehend, dass kein Nationalstaat für sich genommen die Möglichkeit einer
Kontrolle über internationale Beziehungen haben kann und gesetzliche Kontrollmöglichkeiten
nur im intranationalen Rahmen Gültigkeit haben und Anwendung finden können. So kann
z. B. der deutsche Bundestag nicht kontrollieren, welche Verträge Staat A mit Staat B
abschließen darf, oder welche geheimdienstliche Maßnahmen Staat A gegenüber Staat B oder
gegenüber der Bundesrepublik selbst durchführen darf und wie er geheime Informationen
verwendet oder weitergibt.
Gerade auch die, besonders im Augenblick geforderte und durchgeführte, internationale
Vernetzung verschiedenster Datenbanken von Geheimdiensten und Polizei (vorrangig gegen
Terror und organisierte Kriminalität), wie sie z. B. bei EUROPOL stattfindet, entzieht sich
entitled, to wield it.”
27
der Kontrolle der einzelnen Nationalstaaten. Wie kann also auch auf internationaler Ebene
verhindert werden, dass geheimdienstliche oder polizeiliche Einrichtungen zwar vorgeben,
der Sicherheit der freiheitlich demokratischen Welt zu dienen, aber dennoch möglicherweise
Freiheitsrechte verletzen, indem sie ein wenig kontrolliertes (oder gar unkontrolliertes)
Eigenleben führen und Machtmissbrauch betreiben? Hier sehe ich einen dringenden Bedarf an
öffentlichen Kontrollinstanzen, um die Rechte einzelner Bürger zu schützen.
2.3 Zwischenfazit: Wie viel Staat darf sein?
Diese Frage positiv zu beantworten fällt schwer. Es ist vielleicht einfacher, eine Antwort auf
die Frage: „Wie viel Staat darf nicht sein?“, zu finden. Hierauf lässt sich eindeutig antworten,
der Staat hat den im Grundgesetz verankerten Werten zu dienen. „Kein Gesetz des
Parlaments, kein Akt der Verwaltung, kein Urteil eines Gerichtes darf sich in Widerspruch zu
diesem Wertesystem setzen. Wo ein Widerspruch aufkommt, ist die Verfassung verletzt.“
16
Das bedeutet, in der Abwägung von Sicherheit zu Lasten von Freiheit darf der Staat sich
keiner willkürlichen Mittel bedienen. Er darf nach sorgfältiger und gewissenhafter Bewertung
Gesetze erlassen, die die Freiheit von Einzelnen einschränken. Dies darf nur „dem Schutze
der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ dienen und nur „zur Abwehr einer gemeinen
Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen“ oder bei „Gefahr im Verzuge“
geschehen. Über die notwendige Kontrolle entscheidet das Bundesverfassungsgericht in
höchster Instanz oder das Parlament. Die Frage, ob staatliche Maßnahmen immer angemessen
sind, richtet sich nach der Bewertung der Gefährdung der Sicherheit. Da es hierzu, wie ich
oben gezeigt habe, kein objektives Maß gibt, wird es immer wieder nötig sein, neu zu
überprüfen, ob der Staat mehr getan hat, als er darf. „Alles, was gültig ist, muss auch
öffentlich gerechtfertigt werden können“ (Habermas 1996: 108).
Eine positive Beantwortung der Frage lautet: es darf so viel Staat sein, dass die Sicherheit
seiner Bürger gewährleistet wird, ohne die im Grundgesetz verankerten Rechte zu
überschreiten.
3. Schluss: Balance zwischen Müssen und Dürfen
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Gustav Heinemann (1967), zit. in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) Frieden,
Freiheit, Sicherheit, Hannover 1988
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Die Frage nach der Balance zwischen Müssen und Dürfen des Staates ist eine Frage der
„Freiheit trotz, gegenüber und durch Ordnung“ (Morel 1986: 73). Dass Freiheit nur unter der
Bedingung von Sicherheit zu erreichen ist, und dass dies nur in einem geregelten Staat
möglich ist, hat der erste Teil der Arbeit gezeigt, das bedeutet Freiheit durch Ordnung. Es
darf keinerlei Unsicherheit der Bürger hinsichtlich der Frage geben, was Recht ist. Auch
Strafen, die bei Rechtsbruch zu erwarten sind, müssen festgeschrieben sein. Demokratische
Staaten erfüllen diese Pflicht, indem sie Gesetze erlassen und diese veröffentlichen.
Freiheit gegenüber Ordnung hat der Mensch, indem er „mehr oder weniger freie soziale
Spielräume je nach Qualität der herrschenden Normen“ hat (ebd.). Ein pluralistischer Staat, in
dem kein gemeinschaftlicher Konsens hinsichtlich Sitten und Gebräuchen erzwungen wird,
der aber auf der allgemeinen Anerkennung der Grundrechte beruht, gewährt seinen Bürgern
die größtmögliche Freiheit. Freiheit trotz Ordnung bedeutet, dass der Mensch „trotz für ihn
geltender sozialer Normen frei [bleibt], weil nicht sein ganzes Denken und Handeln geregelt
ist“ (ebd.), z. B. gilt Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc. Soweit die theoretischen
Aspekte - da es aber nicht ausreicht, theoretische Aspekte zu erwägen, müssen wir die Frage
stellen, wie das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der praktischen Politik zu beurteilen
ist. Wie sicher ist „sicher genug“? Wie frei soll „frei genug“ sein? Man muss sich darüber klar
sein, dass die Maximierung eines Wertes zumeist Kosten hinsichtlich anderer Werte
verursacht. „Für viele Individuen mag die Freiheit – oder eine bestimmte Art der Freiheit –
attraktiver sein als für andere, die mehr Stabilität und Sicherheit vorziehen“ (Albert 1994: 47).
So hätte die alte Dame, die sich aus lauter Furcht vor Kriminalität nicht mehr auf die Straße
traut, sicherlich nichts dagegen, wenn sie auf Schritt und Tritt von einem Polizisten begleitet
würde. Ein Jugendlicher hätte gewiss andere Präferenzen.
Unklarheit besteht in der Frage, wie weitreichend staatliche Maßnahmen zu Gunsten der
Sicherheit und zu Lasten der Freiheit reichen dürfen. Die praktischen Probleme können
einerseits in der Beurteilung von Sicherheitsrisiken bestehen, andererseits aber auch in der
Abwägung verschiedener Risiken, wobei die Freiheitseinbuße selbst auch als Risiko zu
betrachten ist. Angesichts immer neuer auftretender Gefahren, ist keine starre Regelung
denkbar. Eine Balance zwischen der Pflicht „Sicherheit“ und der Pflicht „Freiheit“ ist meiner
Meinung nach nur zu erreichen, wenn immer wieder Gesetze nach gründlicher und
gewissenhafter Bewertung der Risiken den auftretenden Erfordernissen angepasst werden. Ein
Problem liegt hierbei im Umgang mit vermeidbaren, d. h. vorhersehbaren, oder mit
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unvorhersehbaren Irrtümern in der Entscheidung über Risiken (vgl. auch Luhmann 1997:
330).
Da wir nicht erwarten können, irrtumsfreie und vollkommene Lösungen zu finden, aber in
jeder Lösung praktischer Probleme „zumindest einige kognitive Elemente enthalten sind“
(Albert 1994: 30), schlägt Albert einen konsequenten Fallibilismus vor. Auf rationale Weise
könnten Problemlösungen durch Ausschalten von Fehlern verbessert werden, und man könnte
sich an bestmögliche Lösungen annähern (ebd.). Das bedeutet im Fall Sicherheit vs. Freiheit,
die zur Zeit bestmögliche Lösung zu finden, sich aber weiterhin der rationalen Kritik zu
stellen, um gegebenenfalls Gesetze nachzubessern. Auch Luhmann bemerkt, dass ein
laufendes Nachbessern von Verboten und Erlaubnissen im Umgang mit Risiken als eine
angebrachte Lösung erscheint. Er gibt aber zu bedenken, dass auf diese Weise
möglicherweise die gesamte Bevölkerung „wie Meerschweinchen behandelt wird, mit denen
man experimentiert“ (Luhmann 1997: 330). Außerdem weist er darauf hin, dass die
praktischen Probleme auch nicht immer in der Beurteilung eines Risikos liegen, sondern auch
in der Abwägung verschiedener Risiken, die „wegen unterschiedlicher Betroffenheiten,
unterschiedlicher
Wahrscheinlichkeiten,
unterschiedlicher
kompensierender
Vorteile
untereinander unvergleichbar sind“ (ebd.: 331). Auch in diesem Fall könnte eine konsequente
rationale Kritik eine Verfahrensmöglichkeit schaffen, die bestmögliche Lösung zu finden.
Auch Lowe schlägt als „Chance der Freiheit“ vor, „schrittweisen Verfahren“ den Vorzug zu
geben. „Sie machen es möglich, die Ergebnisse der Planung in kurzen Abständen zu prüfen
und erlauben kurzfristige Revisionen“ (Lowe 1990: 148).
Die oben ausgeführten Vorschläge erscheinen mir als eine gute Lösung, das Problem der
schwierigen Balance zwischen genügend Sicherheit und genügend Freiheit, also zwischen
Müssen und Dürfen des Staates, anzugehen. Die Lösung besteht demnach nicht in einer
statischen Balance, sondern in einem stetigen Prozess überprüften Ausbalancierens von
Müssen und Dürfen. Gerade wenn die persönliche Freiheit der Bürger tangiert wird, sollte es
möglich sein, Gesetze auf Zeit - zur Wiedervorlage nach einer bestimmten Frist - zu
verabschieden. Allerdings muss auch hierfür das Grundgesetz die oberste Richtlinie bleiben.
Damit das Vertrauen der Bürger in ihren Staat gerechtfertigt bleibt, müssen Maßnahmen, die
auch nur im Geringsten die persönliche Freiheit antasten könnten, ausnahmslos unter
öffentlicher Kontrolle stehen und, wo das noch nicht geschieht, gestellt werden.
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