S emesterarbeit Sicherheit und Freiheit
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Semesterarbeit Sicherheit und Freiheit Freiheitliche Demokratien - Wie viel Staat muss (darf) sein? verfasst von: Ortrud Battenberg Immenweg 27 58239 Schwerte vorgelegt bei: Dr. Marco Iorio, Universität Bielefeld Fakultät für Geschichtswissenschaft und Philosophie Abteilung Philosophie, Wintersemester 2001/02 Inhalt Kapitel Seite 0. Einleitung 3 1. Sicherheit und Freiheit 4 1.1 Zum Begriff „Sicherheit“ 4 1.2 Zum Begriff „Freiheit“ 6 1.3 Der Staat als Garant für Sicherheit 8 1.3.1 Thomas Hobbes: der mächtige Staat Leviathan (1651) 9 1.3.2 John Locke: der rechtssichere Staat (1690) 9 1.3.3 Jean – Jacques Rousseau: der Gesellschaftsvertrag (1762) 11 1.3.4 John Rawls: der liberale Staat (1993) 13 1.4 Zwischenfazit: Wie viel Staat muss sein? 15 2. Sicherheit und Unsicherheit 16 2.1 Gefahr und Risiko 17 2.1.1 Unterscheidung von Gefahr und Risiko; Risikominimierung 17 2.1.2 Risikoeinschätzung vs. tatsächliches Risiko 20 2.2 Sicherheitsmaßnahmen vs. individuelle Freiheit 24 2.2.1 Grundrechte 24 2.2.2 Grenzen staatlicher Maßnahmen 24 2.3 Zwischenfazit: Wie viel Staat darf sein? 28 3. Schluss: Balance zwischen Müssen und Dürfen 28 2 0. Einleitung „Eine über zwei Jahrtausend alte Denkgeschichte im Rücken, während der das Problem der (Un-) Freiheit die Menschen beschäftigt hat; Bergen von Literatur gegenüber, in der das Problem der (Un-) Gleichheit abgehandelt wird; eine unüberschaubare Vielfalt von Aspekten im Kopf, unter denen das Problem der (Un-) Sicherheit thematisiert werden kann.“ Mit diesen Worten beginnen Husi und Meier Kressig das Vorwort zu ihrem Buch ‚Der Geist des Demokratismus’ (1998). Treffender könnte ich das Problem nicht beschreiben, das sich auch mir am Anfang meiner Arbeit in gleicher Weise stellt. Man könnte das Thema ‚Sicherheit und Freiheit’ unter dem nationalen, kollektiven Gesichtspunkt betrachten oder aber unter dem Gesichtspunkt des Individuums. Hier wiederum könnte man beispielsweise über physische Sicherheit, über soziale Sicherheit, über freie Entfaltung der Persönlichkeit oder Glaubensfreiheit sprechen. In Anbetracht der unzähligen Facetten, die das Thema Sicherheit und Freiheit aufweist, habe ich mich zu folgender Eingrenzung entschlossen. Im ersten Teil meiner Arbeit strebe ich zunächst eine Klärung der Begriffe „Sicherheit“ und „Freiheit“ an. Daraufhin werde ich an einigen ausgewählten Staatstheorien von Hobbes’ Leviathan bis zu John Rawls’ Political Liberalism aufzeigen, welcher Weg zu unserer heutigen Auffassung von liberaler Demokratie geführt hat. Im Anschluss daran versuche ich eine Antwort auf die Frage zu finden: „Wie viel Staat muss sein?“. Im zweiten Teil wende ich mich der Frage zu: „Wie viel Staat darf sein?“. Ich untersuche zunächst, wie der Staat Sicherheit gewährleisten kann, ob es ihm gelingen kann, Gefahren abzuwenden, oder ob er lediglich Risiken minimieren kann. Hierzu gehe ich genauer auf die Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko ein. Als eine wichtige Aufgabe sehe ich an, zu überlegen, wie weit ein freiheitlich demokratischer Staat wie die Bundesrepublik Deutschland in der Wahrung der Sicherheit seiner Bürger gehen darf, wenn er möglicherweise dadurch individuelle Freiheitsrechte beschneidet, die im Grundrecht verankert sind. Ich werde deswegen die Grenzen staatlicher Maßnahmen ansprechen. Abschließend möchte ich den ersten und zweiten Teil meiner Arbeit zusammenführen und darstellen, dass ein freiheitlich demokratischer Staat wie die Bundesrepublik Deutschland die Balance zwischen Müssen und Dürfen staatlicher Maßnahmen in einem Prozess ständiger und immer wieder überprüfter Ausbalancierung stets aufs Neue herstellen muss. 3 1. Sicherheit und Freiheit Heute erwarten Staatsbürger eines modernen freiheitlich demokratischen Staates ohne lange darüber nachzudenken, dass ‚ihr’ Staat die Sicherheit seiner Bürger gewährleistet und ihre Freiheit respektiert. Im Folgenden werde ich zunächst die für das Thema relevanten Begriffe beleuchten. Beginnend mit Hobbes’ Staatstheorie möchte ich dann untersuchen, welche Charakteristika ein Staatswesen unter diesen Aspekten aufweisen muss und einige staatstheoretische Schritte nachvollziehen, die auf dem Weg zur heutigen, vielfach als selbstverständlich genommenen, freiheitlichen Demokratie unternommen wurden. 1.1 Zum Begriff „Sicherheit“ „Sicherheit, Zustand des Unbedrohtseins, der sich objektiv im Vorhandensein von Schutz[einrichtungen] bzw. im Fehlen von Gefahr[enquellen] darstellt und subjektiv als Gewißheit von Individuen oder sozialen Gebilden über die Zuverlässigkeit von Sicherungsund Schutzeinrichtungen empfunden wird.“1 Da ich meine, dass zu dieser Definition noch einige Ergänzungen erforderlich sind, möchte ich im Folgenden weitere Bedeutungen des Begriffes Sicherheit betrachten. Anthropologisch gesehen scheint das Bedürfnis nach Sicherheit neben dem Bedürfnis nach Nahrung eines der Urbedürfnisse des Menschen zu sein. Wenn ich sage: „Ich bin in Sicherheit“, so verstehe ich Sicherheit als einen Zustand der Geborgenheit, in dem ich als Mensch vor Gefahren geschützt und vor Schaden behütet bin, in dem meine Besitztümer vor Einwirkungen von außen bewahrt werden. Sicherheit ist ein Zustand, der ein unbeeinträchtigtes Leben gewährleistet. Andererseits ist Sicherheit aber auch ein Gefühl, das einer seelischen Stimmungslage entspricht: zum einen ein Gefühl von Sorgenfreiheit, Wohlbehütetsein und innerer Ruhe, zum anderen aber auch ein Gefühl von Furchtlosigkeit, Verwegenheit, Mut und Selbstvertrauen. Ebenso wird mit dem Begriff Sicherheit ein bestimmter Bewusstseinszustand beschrieben, nämlich ohne Zweifel, entschieden, gewiss und entschlossen zu sein. Der Begriff Sicherheit wird darüber hinaus auch in Bezug auf die Qualitäten eines Menschen wie Verlässlichkeit, Beständigkeit und Gewissenhaftigkeit benutzt, sowie für Fertigkeiten, die er besitzt: ein sicherer (zielgenauer) Schütze, ein sicherer (geübter) Skiläufer. Auf Dinge und Zustände bezogen kann sicher bedeuten: Schutz und Stabilität verheißend und damit Vertrauen erweckend, gewiss, wahr, untrüglich oder bestimmt, verbürgt und berechenbar. Genauso wird der Begriff aber auch in Bezug auf 4 Zuverlässigkeit oder Harmlosigkeit angewandt: ein sicheres (funktionstüchtiges) Flugzeug, ein sicheres (wirksames) Medikament, ein sicherer (stabiler) Zustand, ein sicherer (harmloser) Eingriff (vgl. Husi/Meier Kressig 1998: 281 ff.). Mit diesen Ausführungen zum Begriff Sicherheit habe ich gewiss nicht alle Bedeutungen erfassen können. Eines aber wird klar, allen Bedeutungen ist gemeinsam: Sicherheit wird in der Regel positiv bewertet. Demgegenüber findet sich aber auch eine negative Bewertung von Sicherheit oder aber, anders gesagt, eine positive Bewertung von Unsicherheit. Betrachtet man Unsicherheit unter dem Aspekt ihrer Funktion, so kann man feststellen, dass sie auf kognitiver Ebene Aufmerksamkeit auf bestehende Probleme lenkt und zu innovativen Ideen führen kann. Für spezielle Gruppen kann mangelnde Sicherheit eine positive Appellqualität besitzen, z. B. als Inspirationsquelle für Schriftsteller, Maler oder andere Künstler (vgl. ebd.). So gesehen heißt „sich in Sicherheit wiegen“ entweder, sich einer Gefahr auszusetzen, oder faul und träge zu werden und den Anreiz zu kreativem Schaffen zu verlieren. Eine Struktur der Sicherheit bleibt nur unter der Bedingung erhalten, dass sie sich immer wieder durch den Umgang mit „einem gehörigen Maß an Unsicherheit“ erneuert (Luhmann 19842, zitiert in: Husi/Meier Kessig 1998: 282). Beachtet man diese Aspekte von Sicherheit, lässt sich sagen, dass es nicht wünschenswert für einen Staat wäre, einen Zustand absoluter Sicherheit zu erreichen. Ob er dies könnte, ist ohnehin fraglich. Hierauf werde ich später noch zurückkommen. Ein politischer Alltagsbegriff ist die innere Sicherheit. Er beschreibt einen Zustand sozialer Ordnung und sozialen Friedens innerhalb einer Gesellschaft. Im Gegensatz zu einer Bedrohung der äußeren Sicherheit z. B. durch Krieg bezieht sich der Begriff der inneren Sicherheit auf Bedrohungen, die von Zuständen und Entwicklungen innerhalb des Staates ausgehen. Gemeint sind: Schutz der Bürger vor Kriminalität, Schutz der staatlichen Einrichtungen vor Übergriffen und Schutz der sozialen Ordnung schlechthin. Verantwortlich für die Herstellung der inneren Sicherheit ist in erster Linie die Polizei. Kritiker dieses traditionellen Verständnisses betonen, dass innere Sicherheit nicht allein auf die durch die Polizei vermittelte Ordnungsgarantie und Schutzfunktion des Staates beschränkt sei, sondern man darüber hinaus auch den Schutz der Bürger vor Umweltschädigung, die Gewährleistung von Chancengleichheit und den Schutz vor Missbrauch wirtschaftlicher Macht als Bereich der inneren Sicherheit verstehen könne ( Brusten 1995: 600). So gesehen ist die Herstellung 1 Meyers großes Taschenlexikon Band 20, Bibliographisches Institut & F. A. Brockhaus AG, Mannheim 1987 5 innerer Sicherheit nicht nur Aufgabe der Kriminalpolitik sondern ebenfalls Aufgabe der Sozialpolitik oder der Umweltpolitik. Für die Frage der Sicherheit im Zusammenhang mit Staatlichkeit werden im Folgenden nicht alle Bedeutungen des Begriffes gleichermaßen relevant sein. Einige ‚Sicherheiten’ betreffen den Menschen nur als Individuum, für diese sind die Menschen selbst verantwortlich (z. B. ein sicherer Skiläufer zu sein); andere ‚Sicherheiten’ betreffen den Menschen als Staatsbürger, für die ist der Staat verantwortlich (z. B. die innere Sicherheit), wieder andere ‚Sicherheiten’ betreffen das Verhältnis vom Staatsbürger zum Staat (z. B. wann fühlt ein Bürger sich sicher). Die Frage, ob die Verantwortlichkeit für die Sicherheit beim Individuum selbst oder beim Staat liegt, ist nicht immer eindeutig zu beantworten (so z. B. nützt es der Sicherheit eine Bürgers wenig, wenn er verantwortungsbewusst mit seiner Gesundheit umgeht, aber Umweltbelastungen ausgesetzt ist, die er nicht beeinflussen kann). Verschiedene Theorien beantworten die Frage, welche und wie viel Sicherheit ein Staatswesen garantieren muss, auf verschiedene Weise. Ich werde in Kapitel 1.3 auf einige ausgewählte Theorien eingehen. 1.2 Zum Begriff „Freiheit“ „Freiheit, je nach philosophischer oder weltanschaulicher Position unterschiedlich definierter und bewerteter Begriff; meist in Gegensetzung zu Determination, Kausalität, Zwang, i. a. auch zur Notwendigkeit gebraucht; [...] in negativer Definition das Fehlen äußerer oder innerer Zwänge, in positiver Definition die Fähigkeit zur unabhängigen Setzung bestimmter Inhalte und zu deren Verwirklichung. [...] In praktischer Hinsicht findet die Freiheit stets nur relative Verwirklichung, da ihr durch die Bedingungen der menschlichen Natur, die persönlichen Anlagen des einzelnen und deren Entwicklung sowie die Voraussetzungen der (besonders sozialen; aber auch physischen) Umwelt Grenzen gesetzt sind“3 Ebenso wie der Begriff Sicherheit ist auch der Begriff Freiheit nicht mit wenigen Worten zu umfassen. Die Bedeutung von Freiheit hat seit der Antike einen beständigen Wandel erfahren und die Literatur zu diesem Begriff füllt Bibliotheken. An dieser Stelle möchte ich nur eine punktuelle Klärung im Hinblick auf das von mir gewählte Thema versuchen. Ich 2 3 Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984 dtv Lexikon Band 6, F. A. Brockhaus GmbH, Mannheim u. dtv Verlag GmbH &Co. KG, München 1995 6 werde nicht auf eine zweitausendjährige Geschichte der Freiheit eingehen, sondern möchte lediglich der obigen Definition noch einige Ergänzungen hinzufügen. Wenn man Freiheit nach verschiedenen Arten unterscheidet, kann man z. B. von Willensfreiheit, Grundsatzfreiheit oder produktiver Freiheit sprechen. Willensfreiheit erfasst das „sittlich zurechenbare Wählenkönnen in Entscheidungssituationen“ (dtv 1995: 112f.) und begründet eine Befähigung zur Selbstbestimmung. Diese Selbstbestimmung wird als Bedingung dafür angesehen, dass der Mensch als „sittliche Person angesprochen werden kann, die ihr Handeln als Freiheit erlebt und um die Möglichkeit dieser Freiheit zum Zeitpunkt des Handelns weiß“ (ebd.). Das heißt, der Mensch besitzt eine Freiheit der Wahl, so oder anders zu handeln, und ist sich dessen bewusst. Daraus ergibt sich, dass er für seine frei gewählten Handlungen auch verantwortlich ist. Grundsatzfreiheit soll bedeuten, dass Menschen die Freiheit haben, Prinzipien für ihre Handlungen aufzustellen (das trifft z. B. bestimmte Art der individuellen Lebensführung oder auf religiöse Grundsätze zu). Allerdings ist für diese Freiheit die Willensfreiheit Bedingung. Produktive Freiheit4 soll „die Freiheit zur individuellen oder gesellschaftlichen Selbstentfaltung und –verfassung“ bezeichnen. Dieser Begriff von Freiheit entwickelte sich vom 17. Jahrhundert an unter Berufung auf die ‚natürliche’ Freiheit des Menschen und enthält die Forderung nach Befreiung von Bevormundung durch Kirche oder Staat und den Wunsch nach Selbstbestimmung und Mitbestimmung an der Regierung. „Im gesellschaftlichen Sinne ist produktive Freiheit [...] nicht an Fremdinterpretation des menschlichen Daseins gebundene Schaffung einer staatlichen Ordnung“ (ebd.). Diese Definition der produktiven Freiheit könnte man so auch auf den Begriff der politischen Freiheit anwenden. Zu der oben erwähnten Entwicklung des politischen Freiheitsbegriffes gab Hobbes 1651 den Anstoß, indem er die Freiheit des Menschen auf einen Naturzustand zurückführte. „Das Naturrecht ist die Freiheit, nach welcher ein jeder zu Erhaltung seiner selbst seine Kräfte beliebig gebrauchen und folglich alles, was dazu etwas beizutragen scheint, tun kann. Freiheit begreift ihrer ursprünglichen Bedeutung nach die Abwesenheit aller äußeren Hindernisse in sich“(Hobbes (1651) 2000: 118). Allerdings zieht diese Freiheitsauffassung den Bedarf staatlicher Ordnung nach sich.5 Das bedeutet, personale Freiheit, d. i. die Möglichkeit, nach seinem Fähigkeiten selbst bestimmen zu können (tun, was einem beliebt, also auch z. B. nehmen, was einem nicht gehört) zieht soziale Freiheit, d. i. die Möglichkeit selbst 4 Fischer Lexikon Band 3, Frankfurt a. M. und München 1981 7 bestimmen zu dürfen (tun, was einem beliebt, unter Beachtung gesellschaftlicher Normen), nach sich. Die personale Freiheit ist umso größer, je größer die soziale Freiheit ist, d. h. je mehr Möglichkeiten der Selbstbestimmung nicht-normativer Art vorhanden sind. (vgl. Morel 1986: 58) Mit Hobbes’ Verständnis der Freiheit als individuelles Naturrecht ist verbunden, dass das freie Individuum als treibende Kraft seines Gemeinwesens angesehen werden muss und der Staat nicht etwa z. B. gottgegeben ist, sondern von den Menschen selbst auf irgendeine Weise geregelt werden muss. Im Verständnis des Freiheitsbegriffes liegt die Auffassung begründet, wie der Mensch sein Gemeinwesen gestalten will und wie er es gestaltet. Im Hinblick auf den Menschen als Bürger eines freiheitlich demokratischen Staates müssen folgende Voraussetzungen gelten: er braucht Willens- und Handlungsfreiheit, die ihm ermöglicht, ohne Zwang bewusste Handlungen ausführen zu können. Des weiteren braucht er Grundsatzfreiheit, d. h. die Freiheit, sein Leben oder sein Gemeinwesen nach selbstbestimmten Prinzipien zu gestalten und zu führen. Ebenso braucht er politische Freiheit, die ermöglicht, dass Bürger in freien Wahlen die Regierung bestimmen und selbstbestimmt ihr Staatswesen mitgestalten können. Allerdings darf man nicht aus den Augen verlieren, dass - wie eingangs erwähnt - Freiheit stets nur relative Verwirklichung innerhalb der Grenzen einer sozialen Ordnung finden kann. 1.3 Der Staat als Garant für Sicherheit Die Grundvoraussetzung für ein „Wählenkönnen“ , d. h. einerseits Willens- und Handlungsfreiheit und andererseits politische Freiheit, und für ein funktionierendes Gemeinwesen ist die Sicherheit seiner Mitglieder. Das bedeutet, die Grundbedürfnisse müssen gestillt sein, Menschen müssen zunächst ‚ein Dach über dem Kopf und genügend zu essen haben’. Darüber hinaus muss vorhersehbar sein, dass sie nicht um Leib und Leben fürchten müssen, wenn sie ihre eigenen vier Wände verlassen. Setzt man die Freiheit des Einzelnen voraus, muss man verhindern, dass Menschen ihre Freiheit ausschließlich für sich und damit gegen andere nutzen. Wie soll also ein Staat beschaffen sein, in dem verantwortliche Bürger in Sicherheit leben können? „War der Staat ursprünglich nichts anderes als der Zustand des Friedens und der Sicherheit6, so verschiebt er sich allmählich auf 5 6 Wie diese sich entwickeln soll, werde ich später erläutern. ‚Staat’ entspricht ‚status’ 8 das Instrument, mit dem dieses Ziel erreicht werden soll“ (Husi/Meier Kessig 1998: 287). Einen ersten Ansatz macht die Staatstheorie Thomas Hobbes’. 1.3.1 Thomas Hobbes: der mächtige Staat (Leviathan 1651) Nach seinem Freiheitsverständnis geht Hobbes davon aus, dass die Menschen im Naturzustand durch den Trieb zur Selbsterhaltung bestimmt werden. Dies bringt ein großes Maß an Misstrauen den Mitmenschen gegenüber mit sich und erfordert deswegen ein stetiges Streben nach Machterhaltung und –steigerung. Die Gesellschaft befindet sich im Kriegszustand eines jeden gegen jeden („homo homini lupus“); das bedeutet für die Menschen, „Furcht gemordet zu werden, stündliche Gefahr, [und] ein einsames, kümmerliches, rohes und kurz dauerndes Leben“ regieren den Alltag. Ständige Gefahr und Furcht verhindern, dass Menschen sich um erstrebenswerte Dinge wie „Ackerbau“, „bequeme Wohnungen“ oder auch „Künste“ kümmern können (Hobbes (1651) 2000 : 115f.). Erst die Errichtung eines Staates, auf den alle Bürger ihre natürlichen Rechte durch einen Staatsvertrag übertragen, kann Willkür unterbinden und Frieden herstellen. „Um aber eine allgemeine Macht zu gründen, unter deren Schutz [...] die Menschen bei dem ruhigen Genuß der Früchte ihres Fleißes und der Erde ihren Unterhalt finden können, ist der einzig mögliche Weg folgender: jeder muß alle seine Macht oder Kraft einem oder mehreren Menschen übertragen, wodurch der Willen aller gleichsam auf einen Punkt vereinigt wird [...]; es ist eine wahre Vereinigung in einer Person und beruht auf dem Vertrage eines jeden mit einem jeden. [...] Auf diese Weise werden alle einzelnen Personen eine Person und heißen Staat oder Gemeinwesen. So entsteht der große Leviathan“ (ebd.: 155). Die Legitimation des Staates beruht also auf Friedenssicherung durch vertraglich vereinbarten Tausch natürlicher Freiheit gegen staatliche Zwangsgewalt. Sicherheit ist somit der zentrale Zweck des Staates und kann nach Hobbes nur unter Aufgabe der Freiheit gewährleistet werden. Haben die Menschen erst den Souverän ernannt, hat er absolute Gewalt (vgl. auch Hoerster 1983: 124 f.). 1.3.2 John Locke: der rechtssichere Staat (1690) Für Locke ist der Naturzustand der Menschen ein Zustand „vollkommener Freiheit, innerhalb des Naturgesetzes seine Handlungen zu lenken und über seinen Besitz und seine 9 Person zu verfügen, [...], ohne jemandes Erlaubnis einzuholen und ohne von dem Willen eines anderen abhängig zu sein“ (Locke (1690) 1999: 5). Locke geht aber im Gegensatz zu Hobbes davon aus, dass es wohlwollende, kooperierende Menschen, „die nach ihrer Vernunft“ zusammen leben, gibt (ebd.: 16). Da aber der Zustand, in dem jeder so viel Grund und Boden besaß, wie er zu seiner eigenen Erhaltung bearbeiten konnte, durch die „Erfindung“ des Geldes abgelöst wurde, wurden Begehrlichkeiten geweckt und die Menschen strebten nach Anhäufung von Besitz. Allerdings brachte das die Schwierigkeit mit sich, einerseits seinen durch Arbeit rechtmäßig erworbenen Besitz vor Übergriffen schützen und verteidigen Eigentumsverhältnissen zu gegenüber müssen zu sehen und sich (ebd.: . andererseits 29 u. 95). ungerechten Um diesen Unsicherheitszustand zu beenden, entwickelt Locke ein Staatsmodell, das vorsieht, dass Menschen freiwillig einen Vertag schließen, in dem sie zugunsten von (Rechts-)Sicherheit auf ihre Naturrechte verzichten. Mit diesem Verzicht tauscht der Mensch seine allgemeinen Freiheiten des Naturzustandes ein, um sie in die Hände der Gesellschaft zu legen. Er begegnet dadurch der Unsicherheit des Naturzustandes, in dem es „eines eingeführten und anerkannten Gesetzes“ bedarf und an „einem anerkannten und unparteiischen Richter, mit Autorität,“ und an einer „Gewalt, die dem Urteil, wenn es gerecht ist, Rückhalt gibt [...] und für die gebührende Vollstreckung sorgt“, fehlt (ebd.: 96). Der Verzicht geschieht „nur mit der Absicht jedes einzelnen, um sich seine Freiheit und sein Eigentum um so besser zu erhalten“ (ebd.: 98). Das bedeutet, die allgemeine Freiheit des Naturzustandes wird eingetauscht gegen eine individuelle Freiheit unter positivem Recht. Lockes Staatsmodell geht vor allem dahingehend über Hobbes’ Modell hinaus, dass es Gewaltenteilung vorsieht und darüber hinaus beinhaltet, dass zur Verhinderung einer Zwangsherrschaft die Legislative bei Missbrauch ihrer zugebilligten Rechte aufgelöst werden kann. „Und mit all dem darf kein anderes Ziel verfolgt werden als der Friede, die Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes“ (ebd.: 99). Dieser Schritt Lockes, anders als Hobbes über die Freiheitsrechte des Naturzustandes hinauszugehen und die oben angeführten individuellen Freiheitsrechte der Menschen als Bürger in den Mittelpunkt der Staatstheorie zu rücken, ist der zweite Schritt in Richtung einer liberalen Verfassung. Den nächsten Schritt - auf eine demokratische Verfassung zu – unternimmt Rousseau. 10 1.3.3 Jean-Jacques Rousseau: der Gesellschaftsvertrag (1762) „Der Mensch wird frei geboren, und überall liegt er in Ketten“ (Rousseau (1762) 2001: 5). Mit diesem ersten Satz des ersten Kapitels seiner Abhandlung Vom Gesellschaftsvertrag beschreibt Rousseau einerseits den Naturzustand des Menschen und andererseits den gesellschaftlichen Zustand, in dem der Mensch sich befindet. Er will herausfinden, „ob es in der bürgerlichen Ordnung irgendeine rechtmäßige und sichere Regel für das Regieren geben kann; dabei werden die Menschen so genommen, wie sie sind, und die Gesetze, wie sie sein können“ (ebd.). Im Naturzustand ist den Menschen keine staatliche Ordnung gegeben. Wie Hobbes und Locke vor ihm sieht auch Rousseau die gesellschaftliche Ordnung als Recht, das es durch Übereinkunft zu konstituieren gilt. Erst durch den Übergang vom - allerdings fiktiven, da nicht mehr vorhandenen (s. o.) - Naturzustand zum Gesellschaftszustand erreicht der Mensch „Gerechtigkeit“ anstelle des „Instinkts“ und gewinnt „Sittlichkeit“. „Was der Mensch durch den Gesellschaftsvertrag verliert, ist seine natürliche Freiheit und sein unbegrenztes Recht auf alles, wonach ihn gelüstet und was er erreichen kann; was er erhält ist die bürgerliche Freiheit und das Eigentum an allem, was er besitzt“ (ebd.: 22). Rousseau tauscht die natürliche Freiheit, die nur von den Kräfteverhältnissen der Individuen bestimmte ‚liberté naturelle’7, ein gegen die bürgerliche Freiheit, die vom Gemeinwillen (s. folgender Abschnitt) begrenzte ‚liberté civile’8 (Hegner, Friedhart 1995: 213). Das bedeutet, das Recht des Stärkeren wird ersetzt durch einen sicheren Rechtsanspruch, „nur auf einen ausdrücklichen Titel gegründet“. Mit dem Übergang gewinnt der Mensch ebenso die „sittliche Freiheit“, die ihn in die Lage versetzt, den durch den Gemeinwillen verfassten Gesetzen Folge zu leisten (Rousseau 2001: 23). Wie Hobbes und Locke sieht auch Rousseau in seinem Staatsmodell die Aufhebung des Naturzustandes durch Vertrag vor. Der Gesellschaftsvertrag ist ein Assoziierungsakt zwischen Individuum und Gesellschaft, bringt einen einzigen moralischen und politischen Körper und einen einzigen Willen, den Gemeinwillen (volonté générale), hervor. Der Gesellschaftsvertrag lässt sich mit folgendem Wortlaut auf einen Satz reduzieren: 7 Spielraum des Handelns, in dem der natürliche Mensch sich im Rahmen seiner Kräfte alle Wünsche erfüllt, die ihm aus seiner unreflektierten Triebstruktur erwachsen. 8 Freiheit, in der der Mensch sich in seiner Eigenschaft als Bürger eines Gemeinwesens sieht, und in der er die Grundsätze des Verhaltens erkennt und aus eigenem Antrieb befolgt, die sowohl für die Freiheit und das Leben seiner Mitmenschen wie auch für das Gemeinwesen notwendig sind. 11 „Gemeinsam stellen wir alle, jeder von uns seine Person und seine ganze Kraft unter die oberste Richtschnur des Gemeinwillens; und wir nehmen, als Körper, jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf“ (ebd.: 18). Das Individuum ist gleichzeitig Staatsbürger mit Teilhabe an politischer Macht und Untertan mit Verpflichtung gegenüber dem Souverän, der den Gemeinwillen verkörpert. Der Staat ist mehr als die Summe seiner Teile, er ist eine neue, moralische, nur auf dem vernünftigen Gemeinwillen gegründete, Entität. Das bedeutet, der Souverän kann nicht dem Interesse des Einzelnen schaden, da er aus dem Willen der Einzelnen besteht (ebd.: 18f.). Zu unterscheiden ist hier zwischen Sonderwillen (das ist die individuelle Freiheit, „Einzelwillen“), dem Gesamtwillen (das ist die Anhäufung von Sonderwillen, „Summe von Einzelwillen“) und dem Gemeinwillen (das ist die einzig legitime Stimme des Volkes). Rousseau lehnt Gewaltenteilung ab, da der Gemeinwille ein einziger und somit nicht teilbar ist (ebd.: 28f.). Ein Problem ergibt sich: da der einzelne Bürger sich per Gesellschaftsvertrag dem Gemeinwillen, der immer im Recht ist (vgl. ebd.), unterwirft, muss er auf seine persönliche Freiheit verzichten. Das Ideal des volonté général verpflichtet jeden Einzelnen, Enthaltung ist ausgeschlossen. Es darf also niemals Teilinteressen geben, die dem Gesamtinteresse entgegenstehen könnten, weil: „wer immer sich weigert, dem Gemeinwillen zu folgen, von der gesamten Körperschaft dazu gezwungen wird, was nichts anderes heißt, als dass man ihn zwingt, frei zu sein“ (ebd.: 21). Mit dem Zwang des Gemeinwillens erteilt Rousseau einem Liberalismus, wie Locke ihn vorsieht, oder einem Pluralismus, wie Rawls ihn später vorschlagen wird, eine deutliche Absage. Ich möchte an dieser Stelle auch auf den Widerspruch zu Rousseaus Aussage hinweisen, dass jeder „nur sich selbst gehorcht und so frei bleibt wie vorher“, wenn der Gesellschaftsvertrag in Kraft getreten sei (ebd.: 17). Zu sagen bleibt, dass nach Rousseau die Menschen im Naturzustand frei sind, dieser Zustand aber nicht mehr herrscht, da sie durch gesellschaftliche Zwänge „in Ketten“ liegen. Zu beseitigen ist die Unfreiheit erst durch den Gesellschaftsvertrag, der die Menschen verändert, indem er sie zu moralisch verantwortlichen Staatsbürgern heranreifen lässt, und zur bürgerlichen Freiheit führt. Rousseau betont nicht so sehr wie Hobbes und Locke den Sicherheitsaspekt; dennoch ist er implizit vorhanden, da der Gesellschaftsvertrag von positivem Recht ausgeht und die Menschen sowohl vor den Übergriffen ihrer Mitmenschen als auch vor willkürlicher Herrschaft absichert. Nach John Lockes Theorie ist die 12 Herrschaftsform nicht bestimmt, einzige Voraussetzung ist die Zustimmung des Volkes. Nach Rousseaus Staatstheorie geht die Herrschaft einzig und allein vom Volk aus. Seine Verteidigung des Gemeinwillens gegenüber dem absolutistischen Staat bildete die theoretischen Grundlagen der Französischen Revolution.9 Damit hat seine Theorie eine weitreichende Bedeutung für die Entwicklung der Demokratien. 1.3.4 John Rawls: der liberale Staat (1993) Einen völlig anderen Ansatz in der Frage der sozialen Ordnung erarbeitet John Rawls. Sein Modell des ‚Political Liberalism’ basiert auf Freiheit, Gleichheit, Chancengleichheit (Rawls 1993: 3ff.)10 und auf Gerechtigkeit. Er stellt sich die Frage, wie in einer differenzierten, pluralistischen Gesellschaft ein Staat beschaffen sein muss, damit Ressourcen, die in unterschiedlicher Menge vorhanden sind, so gerecht verteilt werden, dass jedem zumindest ein faires Minimum11 davon zukommt. Für Rawls, der im Gegensatz zu Rousseau bereits „Nutznießer von drei Jahrhunderten demokratischen Denkens und der Entwicklung einer konstitutionellen Praxis“ ist (Rawls 1994: 295), ist eine der wichtigsten Erfahrungen der Neuzeit, dass in den hoch komplexen modernen Gesellschaften trotz unterschiedlicher, teilweise konkurrierender Ideale vom ‚richtigen’ Zusammenleben ein geregeltes Zusammenleben möglich ist, solange die Menschen der Grundordnung ihrer Gesellschaft verpflichtet sind und dieses auch von einander wissen. Rawls will „speziell für die moralische Bewertung gesellschaftlicher Grundordnungen eine Gerechtigkeitskonzeption entwickeln, die die Anhänger konkurrierender Weltanschauungen moralisch befürworten können, und eine gerechte, dieser Konzeption genügende Grundordnung konkret entwerfen“ (Pogge 1994: 44). Sein politisches Gerechtigkeitskonzept erfordert einen „übergreifenden Konsensus“ aller Glieder der pluralistischen Gesellschaft. Unter der Grundstruktur einer solchen Gesellschaft versteht Rawls die „wichtigsten politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Institutionen einer Gesellschaft und die Art und Weise, in der sie in einem einheitlichen System sozialer 9 vgl. Rousseau, Jean-Jacques, Microsoft® Encarta® 99 Enzyklopädie. © 1993-1998 Microsoft Corp. „Each person has an equal claim to a fully adequate scheme of basic rights and liberties,[…]. Social and economic inequalities are to satisfy […] under conditions of fair equality of opportunity” ( S. 5/6). 11 „the greatest benefit of the least advantaged members of society” (S. 6). 10 13 Kooperation aufeinander bezogen sind“ (Rawls 1994: 296). Eine gerechte Grundordnung ist nur zu erreichen, wenn alle Teilnehmer sie gemeinsam als gerecht befürworten. Die Gerechtigkeit einer Grundordnung der Gesellschaft misst Rawls daran, wie diese sich auf das Leben der Mitglieder auswirkt. Anders als bei Rousseau werden die Staatsbürger nicht als ein einziger Körper, sondern ausschließlich als Individuen berücksichtigt. Jedem einzelnen Individuum soll fair begegnet werden. Die politische Gerechtigkeitskonzeption enthält drei Hauptelemente: „erstens eine Liste bestimmter Grundrechte, Grundfreiheiten und Chancen (so wie sie aus demokratischen Verfassungsstaaten bekannt sind); zweitens einen besonderen Vorrang dieser Rechte, Freiheiten und Chancen insbesondere gegenüber den Forderungen des Allgemeinwohls und den Werten des Perfektionismus; und drittens Maßnahmen, die geeignet sind, allen Bürgern angemessene Mittel für die wirksame Nutzung ihrer Grundrechte und Chancen zu geben“ (Rawls 1994: 321). Auch Rawls’ Regelung wird, wenn auch fiktiv, vertragstheoretisch abgestützt: rationale Menschen entscheiden gemeinsam durch einen Gesellschaftsvertrag, wie eine gerechte Grundordnung auszusehen hat (hierzu mehr in den nächsten Absätzen). Als Maßstab gilt die rationale Entscheidung, den Staat so einzurichten, dass er über die bestmögliche allgemeine Ausstattung hinaus auch die bestmögliche Mindestausstattung bietet. Das bedeutet, die Wahl der einen Ordnung anstelle einer anderen hängt nur davon ab, ob sie im Vergleich den höchsten Mindeststandard hat. Eine Gesellschaftsform, in der viele in mittelmäßigem Wohlstand leben, in der es den Ärmsten aber besser geht, als den Ärmsten in einer Gesellschaftsform, in der es sehr viele Reiche aber auch Menschen in extremer Armut gibt, ist vorzuziehen. Rawls nennt dieses Bewertungssystem „Maximinstandard“ Da eine stabile Gesellschaftsordnung nur dann allgemeine Anerkennung erwarten darf, wenn sie auf Werten beruht, die allen gleichermaßen zugänglich sind, entwirft Rawls drei übergeordnete Interessen, die von allen, auch bei divergierenden Ansichten, verfolgt werden können: erstens einen Gerechtigkeitssinn auszubilden, der eine Kontrollfunktion im Umgang mit anderen hat; zweitens eine kritische und rationale Konzeption eines lebenswerten Lebens auszubilden und drittens das umfassende Interesse, beim Verfolgen dieser Konzeption auch Erfolg zu haben (vgl. Pogge 1994: 51ff.). Wahrhaft gerecht kann nur eine Gesellschaftsordnung sein, der jedes Mitglied zustimmen könnte, auch wenn (und gerade weil) es über seine eigene Stellung in dieser Gesellschaft noch 14 nichts weiß. Dies ist die Grundvoraussetzung für den zu schließenden Gesellschaftsvertrag. Im vorvertraglichen Zustand befinden sich deshalb die Vertragsparteien unter einem „veil of ignorance“ (Schleier der Unkenntnis) (Rawls 1993: 23). Das bedeutet, sie haben weder eine spezielle Kenntnis über die einzelnen Menschen oder die Umstände, in denen sie leben, noch haben sie Kenntnis darüber, welchen Status sie selbst in der zukünftigen Ordnung innehaben werden. Sie folgen nur den oben genannten Interessen, und ihre Wahl wird ausschließlich von dem Zweckrationalismus bestimmt, möglichst viel ‚herauszuholen’ (Pogge 1994: 65). Alle politischen Entscheidungen müssen öffentlich sein, und die Entscheidungsgründe müssen offengelegt werden, damit sie von allen nachzuvollziehen sind. Da jeder das Beste für sich will, aber noch nicht weiß, an welcher Position er sich im zukünftigen Staat befinden wird, liegt sein ganz rationales Interesse darin, dass er von verschiedenen Staatsmodellen einen Staat wählt, in dem es ihm, wäre er in Zukunft auf der untersten sozialen Position, am besten geht, einen Staat, der sich auf die Gerechtigkeitskonzeption gründet. 1.3 Zwischenfazit: Wie viel Staat muss sein? Für uns, die wir in der Bundesrepublik Deutschland leben, ist es selbstverständlich, in einer freiheitlichen Demokratie zu leben. In der Regel nehmen wir unsere Rechte in Anspruch und denken nicht weiter darüber nach. Die von mir ausgewählten Theorien haben gezeigt, dass der Weg dorthin mehrere Jahrhunderte gedauert hat und sich in verschiedenen Schritten vollzogen hat: von Hobbes, dessen Theorie auf der Not des täglichen Überlebens beruhte, und der die Idee hatte, dass die Menschen durch einen gemeinsam geschlossenen Vertrag eine soziale Ordnung schaffen sollten, über Locke, der darüber hinaus die individuelle Freiheit als ein zu schützendes Gut erachtete und den man als den ersten Liberalen bezeichnen kann, über Rousseau, den geistigen Vater der modernen Demokratien, der allerdings nicht liberal dachte, sondern den Gemeinwillen über den Individualwillen stellte, bis hin zu Rawls, der einen liberalen pluralistischen, sozial gerechten Staat verficht. „Gib mir Geld, ich will in die Schule“, mit diesem Worten überfällt ein Kind einen Touristen in Lagos, der Hauptstadt von Nigeria. Obwohl das Land über immensen Erdölreichtum verfügt, leben Menschen in elenden Slums zwischen Müllbergen, die Polizei ist kriminell und korrupt, zahlreiche Menschen werden täglich auf offener Straße ermordet und liegen gelassen, ohne dass das Verbrechen überhaupt Beachtung findet. Das Leben ist „arm, ekelhaft, 15 pervertiert und kurz“12. Ähnliche Zustände, wie sie die Süddeutsche Zeitung (Bitala, SZ 11.12.2001) schildert, mag Hobbes vor Augen gehabt haben, als er einen mächtigen Staat forderte, der die Sicherheit seiner Bürger gewährleisten konnte. Und hinsichtlich der beschriebenen Zustände in Nigeria müssen auch wir, die wir an eine freiheitliche Demokratie gewöhnt und vielleicht auch verwöhnt sind, uns fragen: „Wie viel Staat muss sein?“ Im ersten Schritt hat Hobbes darauf hingewiesen, dass Menschen in einer Gesellschaft nicht ohne eine feste Ordnung auskommen. Wollen sie ihres Lebens und ihrer Habe sicher sein, brauchen sie einen starken Staat, der sie schützt. Aber müssen sie dazu ihre Freiheit aufgeben? Locke meint im zweiten Schritt dazu, der Friede, die Sicherheit und das öffentliche Wohl des Volkes sollen Ziel des Staates sein. Hierzu brauchen die Menschen ein sicheres Gesetz, unparteiische Richter und eine Exekutive. Ein solches Staatswesen muss aber auch, damit die individuelle bürgerliche Freiheit, die in Anerkennung der allgemeinen Gesetze besteht, nicht durch einen despotischen Souverän abgeschafft werden kann, ermöglichen, dass dieser Souverän abgesetzt werden kann. Den dritten Schritt auf dem Weg zu einer Demokratie vollzieht Rousseau, indem er feststellt, dass der Staat das Volk ist. Der Staat muss den Willen des Volkes verkörpern und die Herrschaft einzig und allein vom Volk ausgehen. Wenn wir uns noch einmal das Beispiel Nigerias ins Gedächtnis rufen, so kann die Schlussfolgerung nicht nur sein, dass man einen mächtigen Staat braucht, damit die Menschen überhaupt leben können, sondern man kann sich auch Rawls’ Gerechtigkeitsprinzip vor Augen führen, das verlangt, dass die Menschen auch ein lebenswertes Leben führen können. Unter diesem Gesichtspunkt muss so viel Staat sein, dass auch der am schlechtesten Gestellte ein Leben führen kann, das so gut als eben möglich ist. Voraussetzung dafür ist eine freiheitliche Demokratie. 2. Sicherheit und Unsicherheit Habe ich mich im ersten Teil meiner Arbeit mit Staatstheorien unter dem Aspekt Sicherheit und Freiheit beschäftigt, so wende ich mich nun dem Thema Sicherheit und Unsicherheit zu. Unsicherheit ist ein neutraler Gegenbegriff zu Sicherheit. Er bezeichnet die Ungewissheit der Möglichkeit eintretender Ereignisse ohne Festlegung darauf, dass diese sich als schädlich erweisen werden. Im Schlussteil der Arbeit werde ich darauf eingehen, dass im Verhältnis der 12 Robert Kaplan zit. in: Süddeutsche Zeitung Nr. 285, 11.12.2001 16 Bürger zu deren Staat keine Unsicherheit bestehen darf. Zunächst geht es mir aber um die negativen Auswirkungen unsicherer Situationen. 2.1 Gefahr und Risiko Erst wenn Unsicherheit als Gefahr oder Risiko benannt wird, bezeichnet dies einen möglichen Schadensfall. Im folgenden Teil der Arbeit möchte ich mich also der Frage zuwenden, wie und ob ein freiheitlich demokratischer Staat, wie es auch die Bundesrepublik ist, seinen Bürgern ein sicheres, d. h. gefahr- oder risikoloses Leben garantieren kann. Ich möchte überprüfen, wie das Verhältnis von Sicherheit und Unsicherheit einzuschätzen ist bzw. ob staatliche Maßnahmen tatsächlich Gefahren abwenden können, oder ob sie lediglich Risiken minimieren. Meine darauf folgenden Überlegungen sollen der Frage nachgehen, wie weit Staatsorgane individuelle Freiheiten zum Wohle der Allgemeinheit einschränken oder einschränken dürfen. 2.1.1 Unterscheidung von Gefahr und Risiko; Risikominimierung „Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. [So wahr mir Gott helfe.]“ (Art. 64 Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland). Dieses Gelöbnis bei Amtsantritt des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers und seiner Minister, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, ist ein Sicherheitsversprechen für die Zukunft. Um zu untersuchen, ob der Staat dieses Versprechen einlösen kann, ist es nützlich für die Definition künftigen „Schadens“, eine Unterscheidung zwischen Gefahr und Risiko einzuführen. Hilfreich ist folgende Definition Luhmanns: „Von Gefahr kann man sprechen, wenn der etwaige Schaden durch die Umwelt verursacht werden wird, zum Beispiel als Naturkatastrophe oder als Angriff böser Feinde, von Risiko dagegen, wenn er auf eigenes vorheriges Verhalten (einschließlich: Unterlassen) zurückgeführt werden kann“13; oder auch: „Als Gefahr kann man jede nicht allzu unwahrscheinliche negative Einwirkung auf den eigenen Lebenskreis bezeichnen. [...] Das Risiko ist [...], anders als die Gefahr, ein Aspekt von Entscheidungen, eine einzukalkulierende Folge der eigenen Entscheidung“ (Luhmann 13 Luhmann 1990: 662 zit. in: Bechmann 1993: XXI 17 1993: 327). Dieser Ausgangspunkt hat die Konsequenz, dass Risiko an das „variierende Handlungspotential der Gesellschaft gebunden“ ist (Bechmann 1993: XXI). Der wesentliche Unterschied zwischen Risiko und Gefahr besteht darin, dass das Risiko auf eigene Entscheidungen und Handlungen zurückgeführt werden kann. „Würde man anders entscheiden, würde man das Risiko vermeiden – vielleicht auf Kosten eines anderen Risikos“ (Luhmann 1993: 327). Für mich als Individuum bedeutet das, dass z. B. generell die Gefahr besteht, dass ich an einer Pilzvergiftung sterbe; das Risiko gehe ich aber erst ein, wenn ich selbst gesammelte, mir unbekannte Pilze verzehre. Das bedeutet, die Gefahr kann ich nicht ändern, erst wenn ich sie als Gefahr erkannt habe, kann ich bewusste Entscheidungen treffen, ob ich das betreffende Risiko eingehe oder nicht. Gegen eine unbekannte Gefahr kann ich nichts unternehmen, d. h. es gibt keinen Handlungsspielraum. Anders kann sich aber auch die Situation ergeben, bekannten Risiken nichts, weder Handlung noch bewusste Unterlassung, entgegenhalten zu können. Diese Risiken, für die es keinen Handlungsspielraum gibt, werden wiederum als Gefahr empfunden. Ein Beispiel hierfür ist die Verbreitung genmanipulierter Pflanzen, die aus Unachtsamkeit aus biologischen Labors in die freie Natur gelangt sind und deren Vermischung mit natürlichen Pflanzen nicht mehr aufzuhalten ist. Für ein Staatswesen bedeutet das, dass eine Gefahr sowohl von außen als auch von innen drohen kann, ohne dass es einen eigenen Entscheidungsspielraum darüber hätte. Hinzu kommt, dass die Gefahr erst einmal als Gefahr erkannt werden muss, um eine Abwehrmaßnahme zu ermöglichen. Wird sie allerdings erkannt (beispielsweise durch die Arbeit von Geheimdiensten oder wissenschaftlicher Forschung) - was Voraussetzung für die zu unternehmenden Schritte ist -, wird die Gefahr in ein Risiko transformiert, denn der Staat muss nun entscheiden und handeln, will er Schaden abwenden. Es entsteht Entscheidungszwang, welche Entscheidungen zu fällen und Handlungen zu unternehmen oder zu unterlassen sind. Sobald es Entscheidungsmöglichkeiten gibt, müssen auch Entscheidungen getroffen werden, wobei eine Unterlassung eben auch als Entscheidung gilt (Luhmann 1993: 328). „Die Transformation von Gefahren in Risiken selbst stellt eine Entscheidung dar“ (Bechmann 1993: XXI), die die Kompetenz der beurteilenden Partei erfordert. Luhmann weist darauf hin, dass es allerdings in bürokratischen Organisationen „an Risikobewusstsein oft fehlt, weil Entscheidungsmöglichkeiten gar nicht gesehen oder aus dem durch Routine bestimmten Alltag ausgeschaltet werden“ (ebd.). Außerdem kann sich die paradoxe Lage ergeben, dass das Unterlassen einer Entscheidung ebenso viel Risiko birgt wie das Treffen einer Entscheidung (vgl. Bechmann 1993.: XXII). Als Beispiel mag das Verbot 18 einer radikalen Partei gelten: unterlässt man das Verbot, ist das Risiko hoch, die Partei in ihren Umtrieben noch zu unterstützen; verbietet man sie, ergibt sich das hohe Risiko, dass die Partei im Untergrund weiter arbeitet und sich so jeglicher staatlicher Kontrolle entzieht. Liegt die drohende Gefahr innerhalb des Territoriums eines Staates, so kann die Regierung durch entsprechende Gesetze und deren Durchsetzung (z. B. Atomausstieg) das Risiko für die Bevölkerung minimieren. Im Falle des Atomausstiegs wäre so auch eine Beseitigung des Risikos möglich, gäbe es nicht andere Staaten, die keinen Ausstieg vornehmen. Drohen Gefahren von außerhalb und sind sie bekannt, können sie, wenn sie nicht völlig ausgeschaltet werden können, zunächst in Risiken „zerlegt“ werden, die dann Handlungsspielraum eröffnen und es ermöglichen, in einzelnen Schritten Gegenmaßnahmen zu ergreifen. Zur Erläuterung werde ich im folgenden auf den Terroranschlag vom 11. September 2001 eingehen. In diesem Fall ist der Anschlag eine Gefahr gewesen, die nicht rechtzeitig erkannt wurde. Heute besteht mit der Erkenntnis, dass eine solche Tat ausgeführt werden konnte, ebenso das Bewusstsein der Möglichkeit weiterer spektakulärer Anschläge in der Zukunft. Staaten, die den Terror nicht dulden wollen, sind nun in Entscheidungszwang. Die Gefahr selbst lässt sich nicht beseitigen, da der Ursprung außerhalb des Einflussbereiches freiheitlicher demokratischer Staaten liegt. Zerlegt man aber diese Gefahr in Risiko-Schritte, so kann man die Handlungsebene von der gegnerischen Ebene auf die Ebene der bedrohten Staaten verlagern und Risiken zumindest minimieren. Im Beispiel der Terroranschläge kann man z. B. das Risiko einer Flugzeugentführung durch erhöhte Sicherheitskontrollen auf Flughäfen minimieren, durch Rasterfahndungen „Schläfer“ ermitteln, durch Marinesoldaten den Seeverkehr überwachen oder gar durch kriegerische Maßnahmen versuchen, die vermutete Terrorzentrale zu eliminieren. Auf Bedrohungen der inneren Sicherheit (wie auch z. B. durch Terror von innen) werde ich nicht weiter eingehen, sondern möchte nur kurz am Beispiel der Kriminalität aufzeigen, wie der Staat der allgemeinen Gefahr der Kriminalität begegnen kann, indem er in verschiedenen Schritten vorgeht. So kann er Maßnahmen ergreifen, um z. B. das Risiko der Jugendkriminalität durch Prävention, das Risiko der Rückfallkriminalität durch Resozialisation oder das Risiko der „Trittbrett“-Verbrechen durch Abschreckung zu mindern. Zusammenfassend möchte ich, der Definition Luhmanns folgend, sagen, dass Staatswesen Gefahren nicht beseitigen können, da diese nicht auf ihrer Entscheidungs- und 19 Handlungsebene liegen (es sei denn, die Gefahr ginge vom Staat selbst aus). Gefahren müssen erkannt werden, damit sie zu Risiken transformiert werden und so auf die Handlungsebene verlagert werden können; dann können staatliche Maßnahmen, „Schaden vom Volk zu wenden“, einsetzen. Allerdings muss die Regierung, will sie ihrem Gelöbnis folgen, Kompetenz erwerben und sich stets aller erreichbarer Erkenntnisse bedienen, um Gefahren zu erkennen und Gefahrenquellen aufzudecken. Erst dann kann die Gefahr zu einem verminderbaren, wenn nicht zu einem verhinderbaren Risiko werden. Abgesehen davon, dass Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten gegeben sein müssen, ist Sicherheit stets nur relativ zum gegenwärtigen Kenntnisstand und zur Einschätzung der Lage zu gewährleisten. Auf das Problem, wie eine Gefahr eingeschätzt wird, möchte ich im folgenden Abschnitt näher eingehen. 2.1.2 Risikoeinschätzung vs. tatsächliches Risiko Problematisch ist die Einschätzung von Gefahren und Risiken, und zwar sowohl hinsichtlich des Ob als auch des Wie des Eintretens. Sie ist in der Regel abhängig von subjektiven Schätzungen von Experten und Laien, da es keine allgemeinen objektiven Kriterien für die Einschätzung von Risiken zu geben scheint. Es gibt verschiedene Ansätze, die versuchen, dieses Problem der Beurteilung zu lösen. Einige möchte ich hier kurz vorstellen: erstens den formal-normativen Ansatz: Erklärtes Ziel dieses Ansatzes ist es, ein „universell gültiges Risikomaß zu entwickeln“ (vgl. Bechmann 1993: IX). Dadurch soll es möglich werden „eine rationale Klärung der Akzeptierbarkeit der unterschiedlichsten Risiken zu erreichen, je nach Grad ihrer Wahrscheinlichkeit und Folgen“ (ebd.). Das „objektive Risiko“ als formales Risikomaß ist nach diesem Modell berechenbar, wenn sich die Wahrscheinlichkeit eines Schadensfalles angeben lässt und der Schaden bestimmbar ist. Es ist durch Wahrscheinlichkeitsschätzungen zu ermitteln. Hierzu dienen statistische Verfahren wie der Schluss von einer Stichprobe auf die Grundgesamtheit oder auch hypothetische Wahrscheinlichkeiten, die von Fachleuten als „plausibel“ berechnet werden, wenn Stichproben nicht vorliegen oder die Risiken sehr selten sind (vgl. ebd.: Xff.). Diesem Ansatz ist zweierlei entgegenzuhalten: im ersten Fall geht die Wahrscheinlichkeitsberechnug, die auf einem Schluss von einer Stichprobe beruht, von einer homogenen Grundgesamtheit aus, das heißt, es wird vorausgesetzt, dass die gezogene Stichprobe in gewisser Weise die 20 Grundgesamtheit repräsentiert. Allein dann ist die Berechnung einer Wahrscheinlichkeit aus einer Stichprobe sinnvoll. Die Berechnung der Höhe der Wahrscheinlichkeit eines eintretenden Ereignisses ist abhängig von der untersuchten Stichprobe. Je homogener die Stichprobe ist, desto bessere Voraussagen lassen sich treffen. Möchte man z. B. das Risiko, kriminelle Handlungen zu begehen, für männliche Jugendliche berechnen, so ist es sinnvoller, eine (homogene) Stichprobe von tausend Personen der Grundgesamtheit „männliche Jugendliche“ zu untersuchen, als eine (heterogene) Stichprobe des Bevölkerungsquerschnitts, Säuglinge und alte Leute einbezogen, heranzuziehen. Auf diese Weise lässt sich eine Aussage über das wahrscheinliche Verhalten einer, verglichen mit der Gesamtbevölkerung, homogeneren Grundgesamtheit „männliche Jugendliche“ treffen. Aber homogene Grundgesamtheiten - im Falle des Terroranschlags vom 11. September müsste das eine homogene Terroristengemeinschaft sein (aus der man obendrein noch eine Stichprobe ziehen müsste) oder gar eine Vielzahl gleicher oder ähnlicher Anschläge - können nicht vorausgesetzt werden. Gerade solche - oftmals extrem hohe - Risiken, die eine pluralistische, heterogene Gesellschaft in sich bergen kann, wie z. B. durch extremistische Splittergruppen oder durch zu allem bereite Einzeltäter, oder auch Risiken, die gar nicht innerhalb der untersuchten Grundgesamtheit liegen können, wie z. B. Terroranschläge von außen, lassen sich durch statistische Verfahren nicht erfassen. Man verfügt eben nicht über eine ausreichende, homogene Stichprobe, um statistische Wahrscheinlichkeiten zu ermitteln. Hier lässt sich das „objektive Risiko“ als formales Risikomaß nicht berechnen. Im zweiten Fall, dem der Berechnung der plausiblen Wahrscheinlichkeit, geht man von einem so seltenen Fall aus, dass bisher keine oder nur unzureichende Erfahrungswerte vorliegen. Das bedeutet, dass hypothetische Wahrscheinlichkeiten, wie z. B. die Berechnung des Risikos einer Kernschmelze eines Atomreaktors mit den dazu gehörigen Folgen, willkürlich sind, weil man sie nicht auf Erfahrungswerte stützen kann und es Grenzen des „objektiv Wißbaren“ gibt (ebd.). Den Berechnungen hypothetischer Wahrscheinlichkeiten ist entgegenzuhalten, dass sie, solange es keine Erfahrungswerte gibt, nur subjektive Einschätzungen einer Wahrscheinlichkeit sind und deswegen keine objektive Risikoeinschätzungen sein können. Darüber hinaus ergibt sich eine weitere Kritik an der Ermittlung des „objektiven Risikos“ daraus, dass man nicht in allen Fällen die Schadenshöhe beziffern kann. Gerade bei Risiken von Unfällen, die selten oder fast nie auftreten (z. B. GAU in einem Atomreaktor), fällt es umso schwerer, den erwartbaren Schaden abzuschätzen. Zu bedenken ist auch, dass manche Schäden nicht in Zahlen zu beziffern sind (z. B. individuelle Schicksale). 21 Der zweite Ansatz, den ich vorstellen möchte, ist der psychologisch-kognitive: Er geht davon aus, dass die Risikoeinschätzung durch einzelne persönliche Wahrnehmungs- und Bewertungsfaktoren gesteuert wird. Dieser Ansatz beinhaltet die Überlegung, dass eine Diskrepanz zwischen dem, was als Risiko anzusehen ist, und dem, was tatsächlich als Risiko eingeschätzt wird, besteht, dass Menschen sich also nicht nach objektiven Gegebenheiten, sondern nach individuellen Empfindungen und Vorstellungen richten. Dies kann zu dem paradoxen Ergebnis führen, dass Risikostudien, die eigentlich die höchste Unwahrscheinlichkeit eines Ereignisses belegen, gerade dazu führen, dass Menschen dieses Risiko als äußerst hoch einschätzen. Ein Grund hierfür kann z. B. die erhöhte Medienpräsenz sein. Luhmann nennt das die „Katastrophenschwelle“14. Gemeint ist damit, dass einer formalen Risikokalkulation nicht vertraut wird, wenn selbst bei niedrigster Wahrscheinlichkeit eines möglichen Unglücks, dieses als eine Katastrophe empfunden würde. Der psychologisch-kognitive Ansatz zielt nicht auf den wahrscheinlichen Eintritt des Risikofalles, sondern darauf, wie Menschen in bestimmten Situationen Risiken bewerten (Bechmann 1993: XIIff.). Einige der Entscheidungsfaktoren seien hier genannt: „Freiwillige Risiken werden eher akzeptiert als unfreiwillige, von außen auferlegte. [...] Kontrollierbare Risiken werden eher akzeptiert als unkontrollierbare.“ Außerdem werden solche Risiken als niedriger eingeschätzt, deren Folgen schon lange bekannt sind - im Gegensatz zu Folgen z. B. neuer Technologien -, oder deren Folgen erst später eintreten (z. B. Nikotin und Alkohol vs. Lebensmitelvergiftung), oder deren Schäden reparabel sind. „Insgesamt zeigt sich bei der Bewertung und Akzeptanz von Risiken eine generelle Tendenz, im wesentlichen das Schadensausmaß zu berücksichtigen und die Eintrittswahrscheinlichkeit zu vernachlässigen“ (ebd.). Das bedeutet, man ist eher bereit, ein Risiko als gering einzuschätzen, dessen Schaden nicht so hoch erscheint, zudem noch in weiter Ferne liegt, aber der wahrscheinlich eintreten wird. Demgegenüber wird ein Risiko, dessen Eintritt äußerst unwahrscheinlich ist, dessen Folgen aber unmittelbar und katastrophal eintreten würden, als besonders hoch eingeschätzt. Dieser Ansatz kann vielleicht erklären, warum z. B. nach dem 11. September die Angst vor Terroranschlägen so in den Mittelpunkt der Diskussionen gerückt ist, obwohl das Risiko, z. B. durch eine ungesunde Lebensführung oder einen Unfall zu Tode zu kommen, ungleich höher ist, als einem Terroranschlag zum Opfer zu fallen. Über die Bewertung vieler einzelner Risikofaktoren hinaus kann allerdings auch dieser Ansatz, ebenso wenig wie der formalnormative Ansatz, kein allgemeingültiges Maß zur Risikoeinschätzung liefern. 14 Luhmann 1991: 11, zit. in: Bechmann 1993: XII 22 Der dritte Ansatz schließlich, den ich vorstellen möchte ist ein soziologischer Ansatz. Diesen Ansatz halte ich hinsichtlich politischer Entscheidungen für relevant. Er geht über den vorigen dahingehend hinaus, dass er die Einschätzung von Risiken zusätzlich von gesellschaftlichen Faktoren abhängig macht. Ein wesentlicher Faktor ist die öffentliche Meinung und zwar in zweierlei Hinsicht: zum einen in normativer Hinsicht, das bedeutet, auf dem Einzelnen liegt ein Erwartungsdruck, in „Übereinstimmung mit einer von vielen getragenen Meinung“ zu sein (Bechmann 1993: XV). Das heißt, es liegt ein Erwartungsdruck auf dem Einzelnen, mit seiner Einschätzung nicht von den allgemeinen Wertvorstellungen abzuweichen; zum anderen ist die öffentliche Meinung in kognitiver Hinsicht von Bedeutung. Das heißt, erst die öffentliche Meinung lässt uns viele Risiken wahrnehmen und bewerten, von deren Existenz wir sonst nichts erfahren hätten. Das zieht natürlich nach sich, dass wir zwar informiert sind, sich unsere Wahrnehmungen aber auf ausgewählte und möglicherweise dramatisierte Informationen gründen. Unsere Wahrnehmungen und Einschätzungen von Risiken sind also „sozial gefiltert“ (Bechmann 1993: XVIIf.). Die meisten Risiken „können von den einzelnen Individuen gar nicht unmittelbar wahrgenommen werden, sondern vermitteln sich ihnen erst durch Wissenschaft, Massenmedien und Politik“ (ebd.). Wie jeder Bürger unterliegen selbstverständlich auch Politiker diesen Bedingungen, d. h. politische Entscheidungen unterliegen ebenfalls der „öffentlichen Meinung“: zum einen, indem sie selbst öffentliche Meinung bilden; zum zweiten, indem auf den Informationsfluss der öffentlichen Meinung angewiesen sind und schließlich nicht zuletzt, indem sie von der öffentliche Meinung für gut befunden werden müssen. Auch dieser Ansatz bestätigt, dass es kein objektives Risikomaß gibt, im Gegenteil: „Die Analyse und Bewertung möglicher Folgen hängen von dem spezifischen Kontext des Entscheiders oder Betroffenen ab“ (ebd.: XXIII). Nach diesem Exkurs über Risiken und Risikoeinschätzung möchte ich wieder zu meinem Thema, ob und wie der Staat Risiken vermeiden oder minimieren kann, zurückzukehren. Es sollte klar geworden sein, dass die Maßnahmen zur Vermeidung oder Verminderung von Risiken in hohem Maße abhängig von der Risikoeinschätzung sind, dass aber ein objektives Maß zur Risikoeinschätzung nicht vorhanden zu sein scheint. Politische Entscheidungen werden von Menschen getroffen und Sachlagen daher individuell verschieden beurteilt. Da außerdem diese Sachlagen in verschiedenen sozialen Kontexten unterschiedlich bewertet werden können, ist es für Regierende nicht einfach, ihr Versprechen, „Schaden vom Volk 23 abzuwenden“, einzulösen. Letztendlich ist nur von den Entscheidungsträgern zu fordern, sich über tatsächliche Risiken aus verschiedenen Quellen so intensiv als möglich zu informieren und sich ins Bewusstsein zu rufen, welche Faktoren auf ihre eigene (subjektive, nicht objektive) Bewertung einen Einfluss haben können. Den Bürgern bleibt, darauf zu vertrauen, dass Entscheidungen sorgfältig und gewissenhaft in Übereinstimmung mit dem Grundgesetz getroffen werden. 2.2 Sicherheitsmaßnahmen vs. individuelle Freiheit Auf Grund von Kriminalität, Angriffen gegen die äußere oder innere Sicherheit oder auch auf Grund der technischen Entwicklung ergeben sich immer wieder Situationen, die Sicherheitsmaßnahmen erforderlich machen. Für politische Entscheidungen hierüber gibt es aber in der Regel nicht nur eine einzige Möglichkeit, sondern es müssen immer wieder Abwägungen verschiedener Interessen vorgenommen werden. Ich möchte im folgenden darauf eingehen, wie weit Sicherheitsmaßnahmen die individuelle Freiheit einschränken dürfen. 2.2.1 Grundrechte „Nach liberaler Auffassung bestimmt sich der Status der Bürger nach Maßgabe der subjektiven Rechte, die sie gegenüber dem Staat und anderen Bürgern haben. Als Träger subjektiver Rechte genießen sie den Schutz des Staates, solange sie ihre privaten Interessen innerhalb der durch die Gesetze gezogenen Grenzen verfolgen – auch den Schutz gegen staatliche Interventionen, die über den gesetzlichen Eingriffsvorbehalt hinausgehen“ (Habermas 1996: 278). In Deutschland sind diese Rechte durch das Grundgesetz von 1949 garantiert. Das oberste Prinzip ist die Würde des Menschen. Die Grundrechte bestimmen unsere Grundordnung; alle übrigen Gesetze und Bestimmungen haben sich den Grundrechten unterzuordnen. 2.2.2 Grenzen staatlicher Maßnahmen Spricht man von Grenzen staatlicher Maßnahmen, so kann man Grenze auf zweierlei Weise verstehen: zum einen die Grenzen des Machbaren und zum anderen die Grenzen des Erlaubten. Über Grenzen des Machbaren, soweit es die Entscheidungs- und Handlungsebene 24 betrifft (das technisch Machbare soll nicht erfasst werden), habe ich bereits im obigen Abschnitt gesprochen (z. B. Transformation von Gefahr in Risiko). Im folgenden Abschnitt soll es um die Grenzen des Erlaubten gehen. Gerade in der letzten Zeit, in der die öffentliche Diskussion häufiger als sonst um das Thema Terror und vor allem auch um Terrorbekämpfung kreiste, ist es wieder besonders nötig geworden, über die Grenzen staatlicher Macht nachzudenken. Das Thema Sicherheit hat einen besonders hohen Stellenwert eingenommen. „Das Volk muss vor den Gefahren des Terrors und der Kriminalität geschützt werden!“, so lautet die Devise, die allenthalben in den Medien zu hören und zu sehen ist. Ich möchte in den folgenden Abschnitten einige Fragen aufwerfen, die möglicherweise nicht zu beantworten sind, aber die immer bei der Abwägung von Sicherheit zu Lasten von Freiheit mit bedacht werden sollten. Wie ich bereits ausgeführt habe, geht es bei der Abwehr von Gefahren darum, wie mögliche Risiken eingeschätzt und bewertet werden. Ganz entschieden ist darauf zu achten, die Gefährdung der Sicherheit so kompetent als nur möglich, das heißt aus verschiedenen Blickwinkeln - sachlich und nach eingehender Beratung und sicher nicht im Überschwang der Gefühle - zu betrachten. Wenn die Regierung mit Blick auf die „öffentliche und veröffentlichte“ Meinung schnell reagieren möchte, ist das verständlich. Aber man muss sich fragen, ob schnelles Vorgehen immer auch ratsam ist. Überschnelle Reaktionen gründen sich eher auf Emotionalität als auf Rationalität (vgl. auch Lösel 2000: 44). Dass Subjektivität in der Risikobewertung nicht zu verhindern ist, habe ich gezeigt. Wie sieht es nun mit der Angemessenheit und Gesetzeskonformität ergriffener Maßnahmen aus? Individuelle Freiheit bedeutet Freiheit von und Sicherheit vor Willkür. Das begrenzt die Freiheit der Bürger untereinander auf den Rahmen, wo die Freiheit der Mitbürger tangiert wird, begrenzt aber ebenso die Freiheit des Staates, wo er die Freiheit seiner Bürger antastet. Der Staat hat das legitime Recht, Macht auszuüben. „So wie ‚Legitimität’ in politischer Theorie gebraucht wird, sind diejenigen, die legitim Macht ausüben, dazu berechtigt, sind besonders dazu berechtigt, sie auszuüben“15 (Nozick 1974: 134). Jede legitime Regierung ist eine Regierung, die die meisten ihrer Untertanen als legitim regierend ansehen (ebd.). Die besondere Berechtigung, die der Regierung von der Mehrheit des Volkes übertragen wird, wird nur so lange gewährt, wie die Regierung die Bedingungen, unter denen sie gewählt 25 wurde - hier die Grundrechte -, erfüllt. Generell ist also zu sagen, dass eine Regierung nur dann legitime Macht ausübt, solange sie den Grundrechten folgt. In der praktischen Politik ergeben sich allerdings immer wieder Situationen, in denen man nicht einfach den Grundgesetzen folgen kann, sondern Regierende kommen in der Frage der Angemessenheit von Maßnahmen in den Konflikt, zwischen der Wichtigkeit verschiedener Grundrechte abwägen zu müssen. Ist es also legitim, Freiheitsrechte zu beschneiden, wenn die Sicherheit es zu fordern scheint? Artikel 2 (Individuelle Freiheitsrechte) des Grundgesetzes sieht folgendes vor: (1) Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. (2) Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Die Freiheit der Person ist unverletzlich. In diese Rechte darf nur auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Ist es nun legitime Machtausübung, wenn die Regierung, falls eine Gefahr besteht, nach Abwägung der Risiken Freiheitsrechte zugunsten der Sicherheit einschränkt, oder könnte es sich um Machtanmaßung handeln? Hier möchte ich nur zwei Artikel des Grundgesetzes anführen, zwei Freiheitsrechte - nämlich das Brief- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10) und die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13) - betreffend, die eine Antwort darauf geben können, welche Beschneidungen der Freiheit als legitim anzusehen sind: „Beschränkungen dürfen nur auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden. Dient die Beschränkung dem Schutze der freiheitlich demokratischen Grundordnung [...], so kann das Gesetz bestimmen, dass an die Stelle des Rechtsweges die Nachprüfung durch von der Volksvertretung bestellte Organe und Hilfsorgane tritt“ (Art. 10). „Durchsuchungen dürfen nur durch den Richter, bei Gefahr im Verzuge auch durch die in den Gesetzen vorgesehenen anderen Organe angeordnet und nur in der dort vorgeschriebenen Form durchgeführt werden. Eingriffe und Beschränkungen dürfen im übrigen nur zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen, auf Grund eines Gesetzes auch zur Verhütung dringender Gefahren für die öffentliche Sicherheit und Ordnung [...] vorgenommen werden“ (Art. 13). Das bedeutet, Regierungen sind nicht generell legitimiert, jede beliebige der Sicherheit dienliche Maßnahme zu ergreifen, sondern das Grundgesetz schreibt Grenzen, Kontrollen und 15 „As ‚legitimacy’ is used in political theory, those legitimately wielding power are entitled, are specially 26 die Durchführung dieser Kontrollen vor. Es stellt sich nun aber die Frage: wer sind die Kontrolleure, wer kontrolliert sie selbst und – vor allem – können überhaupt Kontrollen durchgeführt werden? Innerhalb Deutschlands können wir bei Machtmissbrauch durch den Staat Gerichte und als letzte Instanz das Verfassungsgericht anrufen. So ist z. B. die pauschale Rasterfahndung, wie sie in Nordrhein-Westfalen im Rahmen der Anti-Terror-Maßnahmen durchgeführt wurde, auch in zweiter Instanz vom Oberlandesgericht Düsseldorf für zu weitgehend erklärt worden, da nicht in allen Fällen „die erforderliche Nähe zu Gefahrensituation gegeben“ war (Westfälische Rundschau 12.2.02). Über die Arbeit der deutschen Geheimdienste Verfassungsschutz, Militärischer Abschirmdienst und Bundesnachrichtendienst – soll das Parlamentarische Kontrollgremium (PKG), bestehend aus neun Abgeordneten, wachen. Wie effektiv dieses Gremium arbeiten kann, bleibt eine der offenen Fragen, denn man muss in Betracht ziehen, dass neun Abgeordnete einem „Heer von rund zehntausend Geheimdienstlern gegenüber“ stehen und die Berichte der Abwehrchefs nur etwa zwölfmal jährlich erfolgen (Viering, SZ 01.02.2002). Hiermit habe ich einige Beispiele deutscher Kontrollmöglichkeiten aufgezählt. Lowe weist aber zu recht darauf hin, dass öffentliche Kontrollen in der Regel an den nationalen Grenzen Halt machen. Er meint sogar, dass ein „Fehlen jeglicher kontrollierender Instanz in den internationalen Beziehungen“ zu verzeichnen sei, was uns dazu zwinge, unsere Kontrollen auf den intranationalen Bereich zu beschränken (Lowe 1990: 140). Ich interpretiere seine Auffassung dahingehend, dass kein Nationalstaat für sich genommen die Möglichkeit einer Kontrolle über internationale Beziehungen haben kann und gesetzliche Kontrollmöglichkeiten nur im intranationalen Rahmen Gültigkeit haben und Anwendung finden können. So kann z. B. der deutsche Bundestag nicht kontrollieren, welche Verträge Staat A mit Staat B abschließen darf, oder welche geheimdienstliche Maßnahmen Staat A gegenüber Staat B oder gegenüber der Bundesrepublik selbst durchführen darf und wie er geheime Informationen verwendet oder weitergibt. Gerade auch die, besonders im Augenblick geforderte und durchgeführte, internationale Vernetzung verschiedenster Datenbanken von Geheimdiensten und Polizei (vorrangig gegen Terror und organisierte Kriminalität), wie sie z. B. bei EUROPOL stattfindet, entzieht sich entitled, to wield it.” 27 der Kontrolle der einzelnen Nationalstaaten. Wie kann also auch auf internationaler Ebene verhindert werden, dass geheimdienstliche oder polizeiliche Einrichtungen zwar vorgeben, der Sicherheit der freiheitlich demokratischen Welt zu dienen, aber dennoch möglicherweise Freiheitsrechte verletzen, indem sie ein wenig kontrolliertes (oder gar unkontrolliertes) Eigenleben führen und Machtmissbrauch betreiben? Hier sehe ich einen dringenden Bedarf an öffentlichen Kontrollinstanzen, um die Rechte einzelner Bürger zu schützen. 2.3 Zwischenfazit: Wie viel Staat darf sein? Diese Frage positiv zu beantworten fällt schwer. Es ist vielleicht einfacher, eine Antwort auf die Frage: „Wie viel Staat darf nicht sein?“, zu finden. Hierauf lässt sich eindeutig antworten, der Staat hat den im Grundgesetz verankerten Werten zu dienen. „Kein Gesetz des Parlaments, kein Akt der Verwaltung, kein Urteil eines Gerichtes darf sich in Widerspruch zu diesem Wertesystem setzen. Wo ein Widerspruch aufkommt, ist die Verfassung verletzt.“ 16 Das bedeutet, in der Abwägung von Sicherheit zu Lasten von Freiheit darf der Staat sich keiner willkürlichen Mittel bedienen. Er darf nach sorgfältiger und gewissenhafter Bewertung Gesetze erlassen, die die Freiheit von Einzelnen einschränken. Dies darf nur „dem Schutze der freiheitlich demokratischen Grundordnung“ dienen und nur „zur Abwehr einer gemeinen Gefahr oder einer Lebensgefahr für einzelne Personen“ oder bei „Gefahr im Verzuge“ geschehen. Über die notwendige Kontrolle entscheidet das Bundesverfassungsgericht in höchster Instanz oder das Parlament. Die Frage, ob staatliche Maßnahmen immer angemessen sind, richtet sich nach der Bewertung der Gefährdung der Sicherheit. Da es hierzu, wie ich oben gezeigt habe, kein objektives Maß gibt, wird es immer wieder nötig sein, neu zu überprüfen, ob der Staat mehr getan hat, als er darf. „Alles, was gültig ist, muss auch öffentlich gerechtfertigt werden können“ (Habermas 1996: 108). Eine positive Beantwortung der Frage lautet: es darf so viel Staat sein, dass die Sicherheit seiner Bürger gewährleistet wird, ohne die im Grundgesetz verankerten Rechte zu überschreiten. 3. Schluss: Balance zwischen Müssen und Dürfen 16 Gustav Heinemann (1967), zit. in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) Frieden, Freiheit, Sicherheit, Hannover 1988 28 Die Frage nach der Balance zwischen Müssen und Dürfen des Staates ist eine Frage der „Freiheit trotz, gegenüber und durch Ordnung“ (Morel 1986: 73). Dass Freiheit nur unter der Bedingung von Sicherheit zu erreichen ist, und dass dies nur in einem geregelten Staat möglich ist, hat der erste Teil der Arbeit gezeigt, das bedeutet Freiheit durch Ordnung. Es darf keinerlei Unsicherheit der Bürger hinsichtlich der Frage geben, was Recht ist. Auch Strafen, die bei Rechtsbruch zu erwarten sind, müssen festgeschrieben sein. Demokratische Staaten erfüllen diese Pflicht, indem sie Gesetze erlassen und diese veröffentlichen. Freiheit gegenüber Ordnung hat der Mensch, indem er „mehr oder weniger freie soziale Spielräume je nach Qualität der herrschenden Normen“ hat (ebd.). Ein pluralistischer Staat, in dem kein gemeinschaftlicher Konsens hinsichtlich Sitten und Gebräuchen erzwungen wird, der aber auf der allgemeinen Anerkennung der Grundrechte beruht, gewährt seinen Bürgern die größtmögliche Freiheit. Freiheit trotz Ordnung bedeutet, dass der Mensch „trotz für ihn geltender sozialer Normen frei [bleibt], weil nicht sein ganzes Denken und Handeln geregelt ist“ (ebd.), z. B. gilt Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit etc. Soweit die theoretischen Aspekte - da es aber nicht ausreicht, theoretische Aspekte zu erwägen, müssen wir die Frage stellen, wie das Verhältnis von Freiheit und Sicherheit in der praktischen Politik zu beurteilen ist. Wie sicher ist „sicher genug“? Wie frei soll „frei genug“ sein? Man muss sich darüber klar sein, dass die Maximierung eines Wertes zumeist Kosten hinsichtlich anderer Werte verursacht. „Für viele Individuen mag die Freiheit – oder eine bestimmte Art der Freiheit – attraktiver sein als für andere, die mehr Stabilität und Sicherheit vorziehen“ (Albert 1994: 47). So hätte die alte Dame, die sich aus lauter Furcht vor Kriminalität nicht mehr auf die Straße traut, sicherlich nichts dagegen, wenn sie auf Schritt und Tritt von einem Polizisten begleitet würde. Ein Jugendlicher hätte gewiss andere Präferenzen. Unklarheit besteht in der Frage, wie weitreichend staatliche Maßnahmen zu Gunsten der Sicherheit und zu Lasten der Freiheit reichen dürfen. Die praktischen Probleme können einerseits in der Beurteilung von Sicherheitsrisiken bestehen, andererseits aber auch in der Abwägung verschiedener Risiken, wobei die Freiheitseinbuße selbst auch als Risiko zu betrachten ist. Angesichts immer neuer auftretender Gefahren, ist keine starre Regelung denkbar. Eine Balance zwischen der Pflicht „Sicherheit“ und der Pflicht „Freiheit“ ist meiner Meinung nach nur zu erreichen, wenn immer wieder Gesetze nach gründlicher und gewissenhafter Bewertung der Risiken den auftretenden Erfordernissen angepasst werden. Ein Problem liegt hierbei im Umgang mit vermeidbaren, d. h. vorhersehbaren, oder mit 29 unvorhersehbaren Irrtümern in der Entscheidung über Risiken (vgl. auch Luhmann 1997: 330). Da wir nicht erwarten können, irrtumsfreie und vollkommene Lösungen zu finden, aber in jeder Lösung praktischer Probleme „zumindest einige kognitive Elemente enthalten sind“ (Albert 1994: 30), schlägt Albert einen konsequenten Fallibilismus vor. Auf rationale Weise könnten Problemlösungen durch Ausschalten von Fehlern verbessert werden, und man könnte sich an bestmögliche Lösungen annähern (ebd.). Das bedeutet im Fall Sicherheit vs. Freiheit, die zur Zeit bestmögliche Lösung zu finden, sich aber weiterhin der rationalen Kritik zu stellen, um gegebenenfalls Gesetze nachzubessern. Auch Luhmann bemerkt, dass ein laufendes Nachbessern von Verboten und Erlaubnissen im Umgang mit Risiken als eine angebrachte Lösung erscheint. Er gibt aber zu bedenken, dass auf diese Weise möglicherweise die gesamte Bevölkerung „wie Meerschweinchen behandelt wird, mit denen man experimentiert“ (Luhmann 1997: 330). Außerdem weist er darauf hin, dass die praktischen Probleme auch nicht immer in der Beurteilung eines Risikos liegen, sondern auch in der Abwägung verschiedener Risiken, die „wegen unterschiedlicher Betroffenheiten, unterschiedlicher Wahrscheinlichkeiten, unterschiedlicher kompensierender Vorteile untereinander unvergleichbar sind“ (ebd.: 331). Auch in diesem Fall könnte eine konsequente rationale Kritik eine Verfahrensmöglichkeit schaffen, die bestmögliche Lösung zu finden. Auch Lowe schlägt als „Chance der Freiheit“ vor, „schrittweisen Verfahren“ den Vorzug zu geben. „Sie machen es möglich, die Ergebnisse der Planung in kurzen Abständen zu prüfen und erlauben kurzfristige Revisionen“ (Lowe 1990: 148). Die oben ausgeführten Vorschläge erscheinen mir als eine gute Lösung, das Problem der schwierigen Balance zwischen genügend Sicherheit und genügend Freiheit, also zwischen Müssen und Dürfen des Staates, anzugehen. Die Lösung besteht demnach nicht in einer statischen Balance, sondern in einem stetigen Prozess überprüften Ausbalancierens von Müssen und Dürfen. Gerade wenn die persönliche Freiheit der Bürger tangiert wird, sollte es möglich sein, Gesetze auf Zeit - zur Wiedervorlage nach einer bestimmten Frist - zu verabschieden. Allerdings muss auch hierfür das Grundgesetz die oberste Richtlinie bleiben. Damit das Vertrauen der Bürger in ihren Staat gerechtfertigt bleibt, müssen Maßnahmen, die auch nur im Geringsten die persönliche Freiheit antasten könnten, ausnahmslos unter öffentlicher Kontrolle stehen und, wo das noch nicht geschieht, gestellt werden. 30 Literatur Albert, Hans, Das Ideal der Freiheit und das Problem der sozialen Ordnung, Freiburg i. Br. 1994 Bechmann, Gotthard (Hrsg.), Risiko und Gesellschaft, Opladen 1993 Bitala, Michael, „In den Straßen der Hoffnungslosigkeit“, Süddeutsche Zeitung Nr. 285, 11.12.2001 Brusten, Manfred, Innere Sicherheit, in: Werner Fuchs Heinritz (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 1995 dtv Lexikon Band 6, F. A. Brockhaus GmbH, Mannheim u. dtv Verlag GmbH &Co. KG, München 1995 Fischer Lexikon Band 3, Frankfurt a. M. und München 1981 Habermas, Jürgen, Die Einbeziehung des Anderen, Frankfurt a. M. 1996 Hegner, Friedhart, Freiheit, bürgerliche u. natürliche, in: Werner Fuchs Heinritz (Hrsg.), Lexikon zur Soziologie, Opladen 1995 Heinemann, Gustav (1967), zit. in: Niedersächsische Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) Frieden, Freiheit, Sicherheit, Hannover 1988 Hobbes, Thomas, Leviathan (1651), Stuttgart 2000 Hoerster, Nobert (Hrsg.), Klassische Texte der Staatsphilosophie, München 1983 Husi, Gregor u. 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