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Hermann Zeitlhofer Sozialer und demographischer Wandel im südböhmischen Kapličky 1640-1840 Eine Fallstudie zur Flexibilität traditionaler ländlicher Gesellschaften1 1. Eine statische vorindustrielle ländliche Gesellschaft? Die traditionale ländliche Agrargesellschaft wurde lange Zeit als statisch und wachstumsfeindlich beschrieben. Erst durch den Einfluss exogener Faktoren und den Abbau institutioneller Hemmnisse sei Wachstum ermöglicht worden. Einem raschen Agrarwachstum und einer Bevölkerungszunahme seien in vorindustrieller Zeit dieselben strukturellen Faktoren entgegengestanden. Sie lassen sich im Wesentlichen mit dem Begriff der ‚traditionalen Agrarverfassung‘ umschreiben.2 Feudale Strukturen hätten Investitionen der bäuerlichen Untertanen in eine Produktionsausweitung erschwert, die Entfaltung eines Bodenmarktes gehemmt und die Einführung neuer Kulturpflanzen behindert. Die untertänige Ökonomie beruhte auf einer festgefügten Ordnung der Flur, in der Elemente individueller und kollektiver Wirtschaftsführung (Flurzwang und Allmendenbewirtschaftung) miteinander verbunden waren. Kollektive dörfliche Nutzungsformen hätten Änderungen in der Besitzverteilung, individuelle Produktionsumstellungen oder einen Siedlungsausbau verhindert.3 „Gruppenbezogene Privilegien gaben ihren Nutznießern den Anreiz (und die Macht), jeden Wandel zu verhindern“.4 Speziell in Ge- 1 Dieser Beitrag beruht auf Forschungen, die im Rahmen des multilateralen Forschungsprojekts ‚Soziale Strukturen in Böhmen, 16. bis 19. Jahrhundert‘, gefördert von der Volkswagen-Stiftung, durchgeführt wurden. Für ihre wertvolle Anregungen danke ich Georg Fertig, Gudrun Hopf und Michael Kopsidis. 2 Aus der Fülle an älterer verfassungsgeschichtlicher Literatur sei hier nur auf Otto Brunner, Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte, Göttingen 19682, S. 107 verwiesen, in dessen Sichtweise bäuerliche Gesellschaften vom „Neolithikum bis ins 19. Jahrhundert“ vom Strukturwandel nur „wenig berührt“ wurden. Dem Bild einer statischen vorindustriellen ländlichen Gesellschaft kam und kommt, meist in Kontrast zu ‚dynamischen‘ (Proto-)Industrialisierungsprozessen, in unterschiedlichen Forschungstraditionen eine zentrale Rolle zu. 3 Selbst die innovative Studie von Rainer Beck, Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993, zeichnet im Hinblick auf die „Ordnung des Raumes“ im vorindustriellen Dorf ein überaus statisches Bild: diese war „festgefügt“ (S. 85), „Veto“ stand „gegen Veto“ (S. 83). 4 Sheilagh Ogilvie, Soziale Institutionen, Korporatismus und Protoindustrie. Die Württembergische Zeugmacherei, 1580-1797, in: Dietrich Ebeling/Wolfgang Mager (Hg.), Protoindustrie in der Region. Europäische Gewerbelandschaften vom 16. bis 19. Jahrhundert, Bielefeld 1997, S. 105-138, hier S. 130. 64 / ZAA Hermann Zeitlhofer Sozialer und demographischer Wandel im südböhmischen Kapličky 1640-1840 bieten mit Gutsherrschaft hätten außerdem verschiedene Formen rechtlicher Unfreiheit (Beschränkungen der Bewegungsfreiheit, herrschaftlicher Ehekonsens, ungünstige Besitzrechte, etc.) sowohl Produktionssteigerungen als auch demographisches Wachstum begrenzt.5 In traditioneller Sichtweise korrespondierten statische vormoderne ländliche Ökonomie und Flurverfassung auch mit einer starren demographischen ‚Ordnung‘. Die Institutionen der traditionalen Agrarverfassung hätten in (west-)europäischen vorindustriellen Gesellschaften Bevölkerungszahl und agrarische Ressourcen durch die Bindung von Heirat und Fortpflanzung an den Zugang zu Landbesitz aufeinander abgestimmt.6 Dadurch sei ein rasches Bevölkerungswachstum, das die vorhandenen ökonomischen Kapazitäten der traditionalen Agrarwirtschaft ‚überfordert‘ und zur „Unterschreitung der Konsumnorm“7 geführt hätte, verhindert worden. Erst die – überwiegend staatlich durchgeführten – Agrarreformen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts hätten die ‚alte Ordnung‘ aufgebrochen und damit Wachstum ermöglicht. Insbesondere den Teilungen der Allmenden wurde dabei eine zentrale Rolle zugesprochen: Dies hätte zu einem markanten Siedlungsausbau und einem rapiden Anwachsen der ländlichen Unterschichten und durch die Vergrößerung der individuell genutzten Flächen zu einer intensiveren Bewirtschaftung geführt.8 Die neuere agrarhistorische Forschung hat inzwischen allerdings die Bedeutung der Agrarreformen relativiert9 und für zahlreiche europäische Regionen nachgewiesen, dass über lange Zeiträume hinweg auch unter Beibehaltung des institutionellen Rahmens der tra- 5 Grund- und Gutsherrschaft gelten als „Haupthemmnis rationeller landwirtschaftlicher Produktion“ (Paul Münch, Lebensformen in der Frühen Neuzeit, 1500-1800, Berlin 1998, S. 52). Vgl. dagegen die differenzierte Diskussion der Auswirkungen dieser Aspekte auf das Agrarwachstum bei Clemens Zimmermann, Bäuerlicher Traditionalismus und agrarischer Fortschritt in der frühen Neuzeit, in: Jan Peters (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell, München 1995, 219-238, S. 228 f. An neuerer Literatur, die zum Teil auch eine Neubewertung der Frage persönlicher und ökonomischer Unfreiheit unter den Bedingungen der Gutsherrschaft vornimmt, vgl. neben Peters, Gutsherrschaft, etwa Markus Cerman, Proto-Industrialisierung und Grundherrschaft. Agrarische Klassenstruktur und grundherrschaftliche Interventionen in der Etablierung von Proto-Industrien am Beispiel Nordböhmens, in: Ebeling/Mager, Protoindustrie, S. 157-198. 6 Gerhard Mackenroth, Bevölkerungslehre. Theorie, Soziologie und Statistik der Bevölkerung, Berlin 1953, S. 421-432. Zur Kritik an diesen Annahmen: Josef Ehmer, Heiratsverhalten, Sozialstruktur, ökonomischer Wandel. England und Mitteleuropa in der Formationsperiode des Kapitalismus, Göttingen 1991, S. 64-67; Georg Fertig, ‚Wenn zwey Menschen eine Stelle sehen‘: Heirat, Besitztransfer und Lebenslauf im ländlichen Westfalen des 19. Jahrhunderts, in: Christophe Duhamelle/Jürgen Schlumbohm (Hg.), Eheschließungen im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts. Muster und Strategien, Göttingen 2003, S.93-124 und am vorliegenden Fallbeispiel: Hermann Zeitlhofer, Die ‚eisernen Ketten‘ der Heirat. Eine Diskussion des Modells der ‚ökonomischen Nischen‘ am Beispiel der südböhmischen Pfarre Kapličky, 1640-1840, in: Duhamelle/Schlumbohm, Eheschließungen, S. 35-63. 7 Mackenroth, Bevölkerungslehre, S. 428. 8 Vgl. etwa Josef Mooser, Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848, Göttingen 1984, S. 127f. und Wolfgang Mager, Protoindustrialisierung und agrarisch-heimgewerbliche Verflechtung in Ravensberg während der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 8, 1982, S. 435-474, hier S. 466. 9 Vgl. besonders: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2, 2000 (Themenschwerpunktheft: Gemeinheitsteilungen in Europa. Die Privatisierung der kollektiven Nutzung des Bodens im 18. und 19. Jahrhunderts); Robert v. Friedeburg, Bauern und Taglöhner: Die Entwicklung gesellschaftlicher Polarisierung in Schwalm und Knüll im Gewand der traditionellen Dorfgemeinde, 1737-1855, in: Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie 39, 1991, S. 44-68. Georg Fertig, Gemeinheitsteilungen in ZAA / 65 Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie Heft 1 / 52. Jg. / 2004 ditionalen Landwirtschaft kontinuierliches Agrarwachstum möglich war. Dieser Befund gilt für ganz unterschiedliche Agrarverfassungen und deutet darauf hin, dass der institutionelle Rahmen der alteuropäischen Landwirtschaft vor den Agrarreformen wesentlich flexibler und anpassungsfähiger war als bisher angenommen. Spielräume für eine Steigerung der agrarischen Produktion bestanden etwa in den Möglichkeiten, die dörfliche Produktion an veränderte Nachfrage- und Marktbedingungen anzupassen oder den Anteil individuell bewirtschafteter Flächen auszudehnen.10 Davon unabhängig haben andere Studien gezeigt, dass zahlreiche frühneuzeitliche Agrargesellschaften bereits vor den Agrarreformen ein starkes und kontinuierliches demographisches Wachstum aufwiesen, das überwiegend von einem deutlichen Anstieg des Anteils der landarmen Bevölkerungsgruppen getragen wurde, so dass diese oft bereits während der Frühen Neuzeit zahlenmäßig die Mehrheit unter den ländlichen Anwesen bildeten.11 Die bisher weitgehend unverbundenen Ergebnisse neuerer agrarhistorischer und historischdemographischer Studien geben Anlass, die Zusammenhänge von Demographie und Ökonomie in vorindustrieller Zeit neu zu überdenken. Bedingten demographisches und ökonomisches Wachstum einander gegenseitig? Von Malthus bis Mackenroth wurde das Verhältnis zwischen Bevölkerung und agrarischen Ressourcen als einseitige Kausalkette – der Nahrungsspielraum begrenzte die Bevölkerungszahl – gedacht, nicht als ein wechselseitiger Prozess.12 Eine Steigerung des agrarischen Outputs war freilich eine Vorbedingung dafür, um eine wachsende Bevölkerungszahl ernähren zu können. Weniger klar scheint dagegen der Einfluss demographischen Wachstums auf die agrarische Produktion. Entscheidend war vor allem, in welcher Form und in welchem Ausmaß diese Entwicklung zu zusätzlichen Arbeitskräften im Agrarsektor führte.13 10 11 12 13 Löhne: Eine Fallstudie zur Sozial- und Umweltgeschichte Westfalens im 19. Jahrhundert, in: Karl Ditt/Rita Gudermann/Norwich Rüße (Hg.), Landwirtschaft und Umwelt in Westfalen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Forschungen zur Regionalgeschichte, Paderborn 2001, S. 393-426 zeigt, dass Allmendteilungen nicht durchgeführt wurden, weil die Grenzen des möglichen Wachstums spürbar geworden wären, sondern weil sie staatlich gewollt und für individuelle Interessenten von Vorteil waren. Vgl. für deutsche Regionen etwa Michael Kopsidis, Die regionale Entwicklung der Produktion und der Wertschöpfung im westfälischen Agrarsektor zwischen 1822/35 und 1878/82. Ein komparativstatischer Vergleich, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 1, 1995, S. 131-169; Lieselott Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, Weimar 1992, besonders S. 585-591. Vgl. etwa Peter Kriedte, Spätfeudalismus und Handelskapital, Göttingen 1980, S. 179-181; Werner Troßbach, Bauern 1648-1806, München 1993, S. 36-44; Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in proto-industrieller Zeit, 1650-1860, Göttingen 1994; Beck, Unterfinning; Ehmer, Heiratsverhalten, S. 68; für Böhmen vor allem Markus Cerman, Der langfristige Wandel der ländlichen Sozialstruktur: mittelalterliche Ursprünge der unterbäuerlichen Schichten, in: Markus Cerman/Robert Luft (Hg.), Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im ‚Alten Reich‘, München (im Druck). Vgl. Rolf Gehrmann, Das Verhältnis von Bevölkerung und Ressourcen als Problem der demographischen Theorie und historischen Forschung, in: Ditt/Gudermann/Rüße, Agrarmodernisierung, S. 2345, hier S. 32. Sofern ländliche Unterschichten nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch landwirtschaftliche Produzenten waren, konnten sie manchmal auch Träger der Innovationen und der agrarischen Intensivierung sein. Vgl. Zimmermann, Traditionalismus, S. 235 f. Vgl. andererseits zu den von Großbauern ausgehenden Tendenzen eines ‚Bauernkapitalismus‘ Trossbach, Bauern, S. 65. 66 / ZAA