Kletterspiegel

Transcrição

Kletterspiegel
Das Kletter-Nachrichtenmagazin
Heft 2 Juli 2011
Kletterspiegel
Reportagen Berichte Analysen | informativ hintergründig unterhaltend
Gotthard
Susten
Avers
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Interview
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in USA: Blo
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B
Sommerklettern
Interview
Ausstieg
Kühles Konglomerat in den
Allgäuer Voralpen. Ideal für den
heißen Sommer.
Seite 36
Der Journalist hat über seine Boulderreise durch den Südwesten der
USA ein Tagebuch geschrieben.
Seite 72
Eine Entdeckung revolutioniert
die Ernährung von Athleten
Seite 78
Rottachberg
Steffen Kern
Schokoküsse als
Power-Booster
Einstieg
Intern
Rohrpost aus der Redaktion
Der Name der Route
1. Licht und (ein wenig) Schatten
W
ir sind dankbar für jede Kritik, die uns zur ersten Ausgabe erreicht
hat: Sie zeigt, dass der Kletterspiegel gelesen wird . Die erste Auflage hatte ca. 4000 Downloads. Auch die vielen Rückmeldungen
zeigen, dass man sich um das noch junge Blatt Gedanken macht. Das tut
man nur mit Dingen, die einem nicht ganz gleichgültig sind. Darüber freuen
wir uns.
Eine Anregung betraf die Lesbarkeit am Bildschirm. Eigentlich ist das
Heftformat auf den Druck ausgerichtet; da es aber nunmal den Kletterspiegel vorerst nur im PDF-Format gibt, haben wir das Heftformat verkleinert
und den Schriftgrad etwas erhöht. Dadurch kann man den Kletterspiegel
nun am Bildschrim lesen, ohne zu zoomen. Gleichzeitig bleibt aber die
Möglichkeit, den Kletterpiegel zu drucken. Wir hoffen, der Kompromiss
zwischen Bildschirm und Print funktioniert.
Chefredakteur und Herausgeber:
Jochen Riegg
2. Journalistische Verstärkung
G
anz besonders freut mich, professionelle Verstärkung für den Kletterspiegel gewonnen zu haben. Kilian Neuwert studiert Journalisitik
in Eichstätt und ist leidenschaftlicher Kletterer. Er passt somit haarscharf ins Konzept der noch jungen Kletterzeitschrift. Ich hoffe, er bleibt
nicht die einzige Verstärkung. Denn auch zu zweit wird so ein Blatt auf
Dauer kaum zu stemmen sein. Ziel wäre es, einen Stamm von etwa zehn
Autoren zu gewinnen, die wie Korrespondenten aus allen Klettergebieten
und über alle Kletterthemen der Welt berichten.
Wer Lust hat zu recherchieren, nachzuforschen, Personen zu interviewen, zu schreiben – oder wer auch nur einfach spannende Reiseerlebnisse in
packenden Geschichten erzählen will, die mit nützlichen Reiseinformationen angereichert sind, der möge sich bitte beim Kletterspiegel melden, so
wie es Kilian getan hat.
„Hasse-Brandler“
Große Zinne Nordwand
Dolomiten
Früher wurden die Routen nach
ihren Erstbegehern benannt. So
auch diese berühmte Dolomitenroute von 1958. Von Dietrich
Hasse, Lothar Brandler, Sigi Löw
und Jörg Lehne zum ersten Mal
durchstiegen, hat sich jedoch die
Bezeichnung „Hasse-Brandler“
tief ins kollektive Gedächtnis der
Alpinisten eingegraben. Wer von
diesem Namenspaar spricht, weiß,
was gemeint ist.
3. Titelthema
E
Foto: Markus Stadler
Im Interview mit Kilian Neuwert
erzählt Lothar Brandler von den
Hintergründen seiner Erstbegehung, die noch heute als eine sehr
ernste alpine Unternehmung gilt.
Seite 38
Foto: Markus Stadler
www.stadler-markus.de
2
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
igentlich war als Titel eine Reportage mit Reinhold Messner über
Spitzenkletterer als Berater in der Wirtschaft gedacht. Was kann ein
Manager von einem Mann wie Reinhold Messner lernen, was wiederum könnte der Sport aus der Wirtschaft lernen. Interessiert hätten uns Strategien und Erfahrungen, langfristig erfolgreich zu sein, Risiken einzugehen
und zu minimieren. Anfragen an das Pressebüro in Bozen blieben leider
erfolglos – so mussten wir umdenken.
Fünf Tage Bouldern in der Schweiz – alleine, aber nicht einsam. Eine
einzigartige Erfahrung, die ich in einem kleinen Tagebuch festgehalten
habe. Es enthält Eindrücke und Einschätzungen und jede Menge nützlicher Reiseinformationen. Zum Beispiel die gute Nachricht, dass es nächstes Jahr auf dem Parkplatz-Camping in Avers Duschen und Strom geben
wird. Die Bouldergebiete Avers, Gotthard, Susten bilden hoffentlich einen
würdigen Ersatz für das Titelthema. Einfach mal reinschauen. Dazu noch
eine Buckritik über Steffen Kerns Tagebuch „Block‘n‘Road“ über seine
USA-Boulderreise.
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
3
48
Bouldern in der Schweiz
Foto: Jochen Riegg
Foto: Jochen Riegg
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Topgebiet St. Léger
10
Familienklettern in Buis
Das Leben ist schön
Der 7. Himmel und das 8. Paradies
Buis-les-Familles
Wenn sich im Tal die Hitze staut, sind die
Schweizer Passgebiete Avers, Gotthard und
Susten ein ideales Rückzugsgebiet. Auch im
Sommer kann man zwischen 1250 m und
2100 m ausgiebig bouldern.
Auf engstem Raum drängen sich Hunderte
von Routen zwischen dem 7. und 8. französischen Grad: Das ist das Topgebiet St.
Léger. Am Fuße des Mt. Ventoux in der
Nähe von Orange kann man wochenlang
schwer klettern, ohne das Gebiet wechseln
zu müssen.
Unweit von St. Léger liegt das klassische
Klettertgebiet Buis-les-Baronnies. Das Bergsteigerdorf hat alles zu beiten, was es zum
Familienklettern braucht: Leichte Routen,
gute Absicherung, ausgiebige Freizeitangebote. In Verbindung mit St. Léger, das nur
eine Viertel Autostunde entfernt ist, kommt
die ganze Familie auf ihre Kosten.
Von Jochen Riegg
Von Jochen Riegg
Foto: Kilian Neuwert
Inhalt
Foto: Jochen Riegg
Inhalt
38
Lothar Brandler
Der legendäre Bergfilmer und
Alpinist im Interview
Das Namenspaar Hasse-Brandler hat in
Alpinistenkreisen einen legendären Klang:
Lothar Brandler erzählt dem KletterspiegelRedakteur Kilian Neuwert, wie es zu der
berühmten Erstbegehung an der Nordwand
der Große Zinne vor über 50 Jahren kam.
Von Kilian Neuwert
Von Jochen Riegg
Inhalt – Kletterspiegel 2 / Juli 2011
Persönlichkeiten
6Leserbriefe
38 Lothar Brandler
Lob und Tadel zur ersten Ausgabe.
Reise
10Buis-les-Familles
Unbeschwertes Sportklettern in
Südfrankreich mit der ganzen Familie.
22 Der 7. Himmel und das
8. Paradies
Wer auf engem Raum viel und schwer klettern möchte, ist in St. Léger genau richtig.
36 Heiße Tage, kühles Klettern
Am Rottachberg im Allgäu kann man auch
bei Hitze sehr gut klettern.
4
Der legendäre Alpinist und Bergfilmer im
Interview mit Kilian Neuwert.
42 Günter Sturm
Der Gründer des DAV Summit Club im
Interview mit Kilian Neuwert.
Titel
72 Interview Steffen Kern
Der Autor im Gespräch über sein Tagebuch.
Ausstieg
76 Sehnsucht nach Ruhm
Die allzu menschliche Begierde kann auch
überstrapaziert werden.
Foto: Kilian Neuwert
Einstieg
78 Schwarzes Kreatin
Schokoküsse sind der neue Power-Booster.
48 Das Leben ist schön
Sommerbouldern in der Schweiz zwischen
1250 m und 2100 m.
Buchkritik
Rubriken
19Schwierigkeitsskala
70Block‘n‘Road
Bouldertrip in den Südwesten der USA.
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
42
Günter Sturm
7Impressum
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Der Gründer des Summit Club
Interview mit Kilian Neuwert über die Geschichte des größten Alpin-Reiseclubs
in Deutschland.
Von Kilian Neuwert
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Leserbriefe
Gut recherchiert, weitere Infos zu
Kreatin
Hab mir dein Magazin herruntergeladen und
ganz gelesen. Es hat mir gut gefallen, nicht zuletzt
weil es zeigt, dass eine Magazinform jenseits von
klettern und „climb!“ möglich ist. Ich habe auch
alle anderen deutschsprachigen Veröffentlichungen im Abo (und einige englischsprachige) und
finde die Entwicklung des Kletterprintmarktes
echt interessant.
Zu deinem Kreatinartikel: Gut recherchiert!
Allerdings fehlt ein Aspekt: Es soll bei Kreatin
Responder und NonResponder geben, also Leute bei denen es viel und Leute bei denen es gar
nichts bringt. Deswegen sind Wirksamkeitsstudien widersprüchlich oder zeigen nur geringe
Effekte. Bei den Respondern gibt es gewaltige
Effekte. Ich bin Responder und setze Kreatin
sehr überlegt und sparsam ein: immer nur für
einzelne Tage, wenn ich voll austrainiert bin, um
dann für einen Tag eine super Performance zu erzeugen: z.B. am letzten Tag eines Kletter- oder
Boulderurlaubs oder zu einem Wettkampf. Hört
sich komisch an, aber mit Kreatin kann ich vor
allem sehr viele Wiederholungen von schweren
Zügen machen, da ich mich sehr schnell erhole.
Stärker wird man natürlich nicht. Nach so einem
Tag bin ich dann völlig kaputt und brauche zwei
Tage Pause. Für das Training setzte ich Kreatin
eigentlich nie ein.
Jochen Marx
Pseudowissentschaftlich
Muss ehrlich sagen mich haut‘s nicht so vom
Hocker. Die erste Ausgabe dem Kreatin gewidmet? Hab noch nie von dem Problem im Klettern
gehört. Irgendwie handelt das ganze Magazin
von irgend welchen erzeugten Problemen, die
dann eher pseudowissenschaftlich beantwortet
werden. Mir gefällt‘s nicht. Außerdem find ich
die Bilder jetzt auch nicht so den Wahnsinn.
tom-tom, climbing.de
Alles Gute
Da es mir beim Lesen genauso geht wie Ihnen,
und ich andere Kletterzeitungen schon vor mehreren Jahren abbestellt habe, wünsche ich für Ihr
Projekt alles Gute! Ich konnte die Seiten bisher
nur überfliegen, aber eines ist schon klar, es ist
eine ganz neue inhaltliche Qualität!
Ich würde mich sehr freuen, wenn das Projekt
erfolgreich wird!
Holger Seidel, Wolfenbüttel
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Leserbriefe
Wie ein regionales DAV-Heft
Ich will jetzt nichts von vorne herein gut oder
schlecht reden, ich denke das wird eher die Zukunft zeigen. Zu den einzelnen Punkten: Das
Heft wirkt auf mich eher wie Stuttgarter Anzeiger, nicht böse gemeint! Es ist mir klar, dass man
ja einen Aufhänger braucht, den man auch selbst
gut beurteilen kann, denn nix Schlimmeres, als
bei der ersten Ausgabe was machen, von dem
man keine Ahnung hat. Trotzdem bleibt es eben
hausbacken. Das ist nicht schlimm, darf aber halt
nicht so weitergehen. Sonst hättest Du auch ein
regionales DAV-Heft machen können. Die Sache
mit dem Kreatin. Nun – kann man machen, muss
man aber nicht.
Jürgen Kremer, climbing.de
Gut gefallen
Nicht schlecht deine erste Zeitschrift, hat mir
echt gut gefallen! Hast daneben überhaupt noch
Zeit zum klettern?
Philipp Ostmann, Stuttgart
Zu großer Fokus auf Stuttgart
Als ich das Vorwort las, dachte ich spontan:
„Interessanter Ansatz“, aber vom Heft war ich
dann doch stellenweise enttäuscht.
Irgendwie steht zu sehr die eigene Person im
Vordergrund. Damit meine ich nicht mal, dass
fast jeder Artikel mit „Von Jochen Riegg“ überschrieben ist, sondern die Darstellung der eigenen Erstbegehungen und Projekte. Der extreme
Fokus auf Stuttgart und Umgebung wirkt auch
nicht gerade professionell. Die Kreatinwerbung
soll wohl den Eigenkonsum verharmlosen. Am
Schluss hätte nur noch ein Bestellschein gefehlt.
Ganz gut waren die Brillen- und Topogeschichte,
wobei beide auch wieder einen Stuttgarter Bezug
haben.
Die Bilder sind ziemlich amateurhaft. Jeder
halbwegs ambitionierte Hobbyphotograf hat da
Besseres vorzuweisen. Hoffen wir mal auf das
nächste Heft.
Harri, climbing.de
Freiwillige Bezahlung
Ich habe gerade die erste Ausgabe Ihres Magazins gelesen und mich sehr über die Abwechslung
von der vorherrschenden Klettermagazin-Monokultur gefreut. Da Sie das Heft zum freien Download anbieten, bin ich spontan zu Ihrer Webseite
zurückgekehrt, um nach einer Möglichkeit der
freiwilligen Bezahlung zu suchen – um meiner
Anerkennung Ihrer Arbeit Ausdruck zu verleihen
und mich an einem Ausgleich der entstandenen
Kosten zu beteiligen.
Stefan Walter
Magenschmerzen
Erstmal Danke für so viel Eigeninitiative – ist
doch schön, dass sich was tut auf dem Markt der
deutschsprachigen Kletterzeitschriften. Ein paar
Kleinigkeiten an Layout und Text kann man sicherlich noch verbessern. Zum Beispiel hatte ich
bei der Schriftgröße am PC Probleme, das Ganze
zu lesen, ohne so nah heranzuzoomen, dass der
Überblick bzw. die Navigation problematisch
wird, aber das kriegst du bestimmt hin.
Wo ich allerdings doch ein paar Magenschmerzen bekomme, ist der Headliner Kreatin. Zum einen denke ich ähnlich wie Tom, dass die Fragestellung am Problem vorbei geht. Vielleicht ist es
gar nicht so wichtig, ob Kreatin legal oder illegal;
schädlich oder unschädlich ist. Vielmehr könnte
man auch daran denken, eine andere (und vielleicht nachhaltigere) Einstellung zu seinem Sport
zu entwickeln, bei der das „Wie“ eben doch zählt
und zur eigenen Zufriedenheit beiträgt. Deshalb
werden ja – um bei deinem Beispiel zu bleiben –
auch von vielen Profis keine Fersensporne mehr
beim Eisklettern verwendet.
Viel bedenklicher noch fand ich allerdings
den recht unvoreingenommenen, fast werbenden
Umgang mit dem Thema.
Impressum
Kletterspiegel, Heft 2, Juli 2011
Verlag:
Der Kletterspiegel erscheint im Selbstverlag
Anschrift:
Jochen Riegg
Sommerhofenstraße 176
71067 Sindelfingen
Tel: 0711/656939-16
Email:
[email protected]
Herausgeber, Chefredakteur (ViSdP):
Jochen Riegg
Redaktion:
Kilian Neuwert
Grafik, Layout:
Jochen Riegg
Personen dieser Ausgabe:
Lothar Brandler, Steffen Kern, Günter Sturm
Bezug:
Im Internet unter www.kletterspiegel.de
Rechtliches:
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht die
Meinung der Redaktion wieder. Veröffentlichung oder
Nachdruck – auch auszugsweise – in sämtlichen Medien nur mit Genehmigung des Herausgebers.
Titelbild:
Der Block „Ecstacy“ am Gotthardpass
Bild Jochen Riegg
Phreak05, climbing.de
Super Zeitung
Hallo Leute, eine super Zeitung ist das. Macht
weiter so. Leider muss aber bei der Schwierigkeitstabelle im Bereich französisch 5 was schief
gelaufen sein. Die Sarstellung ist unlogisch.
Michael Fangmeyer, Ertingen
Viel Erfolg
Hallo Jochen, wünsch dir auf diesem Weg viel
Erfolg!
Arnold Kaltwasser, climbing.de
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Die Redaktion hat einige Zuschriften gekürzt.
Die vollständigen Kommentare von climbing.de sind
zu erreichen unter:
http://news.climbing.de/kletterspiegel-eine-neue-kletterzeitschrift/
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
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Impressionen
Thomas Klemm bei abendlicher Sonne
und aufgehendem Mond im „Breitendach“, 8, am Breitenstein im Frankenjura.
Fotomontage: Jochen Riegg
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Kletterspiegel 2 / Juli 2011
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Reise
Klettern mit Familie
BuislesFamilles
Leichte Kletterrouten für Kinder,
knöcheltiefe Flüsse zum Planschen, Reiten auf dem Reiterhof oder Rollerbladen auf der
öffentlichen Freizeitanlage: Der
südfranzösische Bergsteigerort
Buis-les-Baronnies rund 50 Kilometer östlich von Orange bietet
alles, was man zum Familienklettern braucht.
Kletterspiegel
2 / Juli 2011
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Foto: Jochen Riegg
Von Jochen Riegg
Reise
Buis-les-Baronnies
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Foto: Jochen Riegg
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Baume R
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
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Buis-les-Baronnies
Foto: Jochen Riegg
Reise
Ubrieux: Klettern driekt über dem Parkplatz
Foto: Jochen Riegg
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Sektor „Initiation“ von Baume Rousse: Kletterspaß auch für die Kleinsten (kleines Bild Babyplatte im linken Sektor)
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
ie Erinnerung ist ein seltsamer Zeitgenosse. Je weiter sie zurückblickt, desto unerklärlicher werden die Kategorien, nach
denen sie das Erlebte aufbewahrt.
Vor rund 30 Jahren war ich das erste und bis
heute auch das einzige Mal in Buis-les-Baronnies.
Ich erinnere mich an drei Dinge, der Rest ist wie
mit dem Radiergummi ausgelöscht. Ich erinnere
mich an eine Route am Rocher St. Julien, dem
Hausberg von Buis-les-Baronnies. Ich klettere in
einer sonnenbestrahlten Platte, senkrechte und
waagrechte Griffe sind wie mit dem Kuchenmeser eingeschnitten. Es ist ein unbeschwertes Steigen im oberen fünften französischen Grad an an
riesigen Griffen.
Die zweite Erinnerung betrifft eine kurze Route am Wandfuß, dessen Einstieg zwei Varianten
aufwies: die eine 6b, die andere 6c. Ich erinnere mich an eine abgeschmierte Platte, und daran,
dass ich nach der 6b-Variante auch die 6c onsight
kletterte. Für mein damaliges Niveau ein Highlight. Klassische südfranzösische 6b-Platten sind
zum Teil technisch derart schwer, dass so manchem 10er-Hallenkletter das Blut in die Schläfen
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
schießen würde. Ich würde dann gerne in einem
der Buchsbäume sitzen und das Fluchen der
High-End-Artisten mit abfälligen Bemerkungen
kommentieren. Denn das ist der einzige Trost, der
mir noch bleibt, wenn ich sehe, was die jüngste
Jugend heute an den Hallen-Kunstwänden und
auch draußen an Leistungen vollbringt.
Die dritte Erinnerung betrifft unser Nachtquartier: Im Freien am Rande des Friedhofs von
Buis-les-Baronnies. Warum ich mich gerade an
diese Übernachtungsszene erinnere, ist eines jener unerklärbaren Geheimnisse der Erinnerung:
Es ist dort nichts Dramatisches geschehen, außer
dass wir auf der Wiese vor dem Mauer in Schlafsäcken im Freien übernachtet haben. Es hat nicht
geregnet, es hat nicht geschneit, es wurde einfach
nur Nacht.
Ich erinnere mich an Buis-les-Baronnies als
ein Klettergebiet im südfranzösischen Departement Drôme, 50 km östlich von Orange, zwei
Autostunden vom Mittelmeer entfernt, an dem es
hauptsächlich leichte Routen im 5. und 6. französischen Grad gab, die nicht unerhebliches technisches Kletterkönnen erforderten.
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Reise
D
er erste Fels, den wir ansteuern, ist der Anfängersektor im rechten Wandteil von Baume Rousse. Von Buis aus ist der Parkplatz unterhalb des Felsen in rund zehn Minuten mit dem
Auto zu erreichen. Von dort steigt man einen
kurzen, steilen Pfad in wenigen Minuten hoch zu
den Felsen.
Der geneigte und gestufte, etwa 30 Meter
hohe graue Kalkfels ist ein ideales Terrain für
junge und auch ältere Anfänger: Einige 4er- und
5er-Routen sind mit geklebten Haken in kurzen
Abständen eingerichtet, so dass auch noch ungeübtere Kinder ihre ersten Vorstiegsversuche
unternehmen können. Der Wandfuß ist von einem mal breiten, mal schmalen Weg gesäumt, an
dem Kinder gut rasten und spielen können. Eine
Gefahr ist jedoch in allen Gebieten vorhanden,
die man nie aus den Augen verlieren darf: Steinschlag! Die Felsen sind zwar kompakt und fest,
durch ihre Gestuftheit liegen aber immer wieder
kleinere Steine auf den Absätzen, die sich durch
Seilmanöver lösen können. Kinder (und auch
Erwachsene) sollten sich deshalb nie direkt un16
ter den Kletternden aufhalten. Das ist selbst mit
Helm zu gefährlich. Berücksichtigt man das,
kann man am Baume Rousse sehr viel leichten
Kletterspaß haben. Ca. 15 Routen ziehen durch
den Fels, genügend Stoff für einige Nachmittage.
Baume Rousse:
Voller Genuss für Anfänger und
kleine Fortgeschrittene
Am linken Felssektor von Baume Rousse befindet sich eine Babyplatte: ca. 10 Meter lang, 45
Grad geneigt, voll bespickt mit Haken. Hier können die Drei- und Vierjährigen ihre ersten aufregenden Erfahrungen am Fels machen. Für die Eltern bleiben einige schöne 6a und 6b-Routen, die
einiges an Fußtechnik erfordern, was nicht jedem
farbjustierten Hallenjunkie gleich schmecken
mag. Man muss sich auf die eigene Suche nach
Tritten machen und eigene Bewegungsphantasien entwickeln. Das mag dem einen Spaß machen,
dem anderen blamable Vorstellungen bescheren.
Auf dem Weg von Buis nach Baume Rousse
kommt nach nur zwei Autominuten entlang der
Baches Ouvèze an Ubrieux vorbei. Man stellt das
Auto direkt am Parkplatz unterhalb des Felsens
ab. Ubrieux ist ein ungefähr ein Kilometer langer,
vom Bach Ouvèze leicht ansteigender Kalkfelsriegel mit glatten, kompakten, teils abgespeckten
Platten. Hier gibt es einige 6b- und 6c-Routen,
die so schwer sind, dass man sich einen Übertrag
in den 8. französischen Grad überhaupt nicht vorstellen kann.
Der linke Teil des Sektors „Six Symbol“ bietet
dagegen einige herrliche Anfängerrouten im 4.,
5. und 6. französischen Grad. Der Wandfuß ist
mit einem Holzpodest versehen, so dass man hier
auch mit kleineren Kindern gut klettern kann. Die
Hakendichte ist in manchen Routen anfängergerecht, so dass auch hier Sprösslinge ihre ersten
Vorstiegsversuche unternehmen können.
Was die Übernachtungsmöglichkeiten angeht,
so gibt es in Buis-les-Baronnies einige Campingplätze, die zwei beliebtestem sind der „Camping
Municipal“ direkt in Buis, neben dem sich auch
das städtische Freibad befindet, und der Camping
„Les Ephélides“, einem 3-Sterne-Platz einige
Hundert Meter den Bach Ouvèze abwärts am
Ortsrand von Buis.
Wir quartierten uns in den zweiten ein, obwohl
der noch zu hatte. Der normale Campingbetrieb
geht dort erst Anfang Mai los, dafür bietet der
Platz ungefähr zehn Chalets in einer Größe zwischen 25m2 und 35m2, die schon ab Anfang April
buchbar sind. Ein solches kleines Häuschen mit
Wohnzimmer, Küche, Dusche, WC, KinderzimHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Alle Fotos auf dieser Seite: Jochen Riegg
Diese Erinnerungen waren der Grund, warum
ich in den letzten Jahren ein großen Bogen und
Buis-les-Baronnies machte: Ich war mittlerweile zu einem Felsathleten geworden, der gerne in
überhängenden Grotten kletterte. Wo Routen einfach nur große Kraft erforderten, die auch ohne
Angstschweiß ein Klettern im Bereich 7c und
darüber ermöglichten. Ich legte daher die Erinnerungen an Buis-les-Baronnies unter „Plattengeschrubbe“ ab, an dem man keine reiche Ernte
im französischen Grad 7 und 8 einfahren konnte.
Zwei Dinge brachten mich zum Umdenken.
Erstens ist man mit Familie und jungen Kindern
oder gar Babys gezwungen, geeignete Felsen anzusteuern. Dazu eignet sich Buis-les-Baronnies
ganz besonders. Denn zum Hausberg St. Julien
kamen zwei weitere familientaugliche Gebiete in unmittelbarer Nähe hinzu: Baume Rousse
und Ubrieux. Der zweite Grund ist das nur 20
Kilometer entfernte Gebiet St. Léger, in dem an
sich im 7. und 8. französischen Grad bis zum
Umfallen austoben kann. Beides zusammen, die
Familiengebiete direkt in Buis und das HighEnd-Kletterdorado in St. Léger, machen Buisles-Baronnies zu einem idealen Stützpunkt für
Familien, in denen sehr unterschiedliche Niveaus
geklettert werden.
Hinzu kommt, dass das malerische 2000-Seelen-Dorf Buis-les-Baronnies mit seinen alten
südfranzösischen Steinhäusern neben Bäcker und
Supermarkt nicht nur die wichtigste Logistik des
Kletterers vorhält. sondern mit seinen Kneipen,
seine Boule-Plätzen, seinem Wochenmarkt zudem echtes südfranzösisches Savoir-Vivre bietet.
Buis-les-Baronnies
Rocher St. Julien: Der Hausberg von Buis-les-Baronnies bietet mit 100 Metern Höhe auch leichte Mehrseillängen-Routen
Hinweisschild am Parkplatz (li), Schatten unter Buxbäumen (re): Kletterer sind am St. Julien willkommen
mer, Schlafzimmer, Kühlschrank und Veranda
darf man sich im Alter von fast 50 Jahren dann
doch gönnen. Nicht ganz billig, 390 Euro die Woche, dafür eine tolle Unterkunft, in der es Spaß
macht, nachts draußen dem Regen zuzuhören.
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Ubrieux: Klettern am Parkplatz,
Planschen in der Ouvèze
Was Buis-les-Baronnies zudem als Familiengebiet besonders auszeichnet, ist das Pausenprogramm. Hier hat die kleine Stadt eine Menge
17
Reise
Buis-les-Baronnies
Reiten auf dem Reiterhof (li), Hofhund Flud (re): Abwechslung nach dem Klettern
Rentner (li), Boule (re): Buis-les-Baronnies bietet originales französisches Savoir-Vivre
anzubieten. Gleich neben dem Camping „Les
Ephélides“ gibt es einen großen Reiterhof mit 35
kleinen und großen Pferden. Der Hof hat das ganze Jahr offen und bietet ständig Kurse zu günstigen Preisen an. Es empfiehlt sich, diese schon
von daheim aus zu buchen, denn das Reiten ist
hier unten sehr beliebt. Unsere Tochter musste
sich eine halbe Woche lang gedulden, und das
kann für ein Kind, das Pferde mag und das jeden
Tag an diesen vorbeifahren muss, eine harte Probe sein.
Eine professionelle Reitlehrerin gibt den jungen Aspiranten die notwendigen Tipps, damit das
Pferd richtig um die Ecke läuft. Was ich mich
aber die ganze Zeit Frage ist, warum nur Mädchen die Reitstunden besuchen und kein einziger
Junge. In keinem anderen Sport sind die Rollen so klar verteilt: Mädchen finden Pferde toll,
Jungs käslangweilig. Der Hof hat übrigens neben
einer Reitbahn im Freien auch eine 1000m2 große
Halle, in der auch bei schlechtem Wetter geritten
werden kann.
Der Bürgermeister von Buis wäre ein schlechter, wenn er nicht an das Wohlbefinden der abenteuerhungrigen Jungs denken würde. Und so
liegt zwischen Reithof und Campingplatz eine
Freizeitanlage mit Fussball-, Tennis- und BeachVolleyplatz, zu dem auch eine Rollerbladebahn
gehört. Halfpipes und Rampen bieten sowohl
dem Anfänger Spaß als auch dem Profi Möglichkeiten, sich auszutoben. Wir konnten einen
jungen Franzosen bestaunen, der mit gekonnten
Sprüngen über die Planken gebrettert ist. So waren wir froh, die Rollerblades dabeizuhaben und
die Tochter so von dem langen Warten auf Reiten ein wenig ablenken zu können. Das klappte
vorzüglich, wir waren fast jeden Abend nach dem
Klettern noch ein wenig Rollerbladen.
Der dritte Fels, der für Anfänger interessant
ist, ist der Hausberg „Rocher St. Julien“, der
gleich hinter Buis auffällig in den Himmel ragt.
Der Fels ist eigentlich eine riesige, schief gestellte Platte, die im Süden eine Wand von fast 100
Metern Höhe präsentiert, während die nördliche
Seite bis zur Hälfte etwa im französischen Jura
steckt.
Öffentliche Rollerbladebahn: Jeden Abend skaten
Nostalgie: Alter R4 auf Wochenmarkt von Buis-les-Baronnies
Wochenmarkt von Buis-les-Baronnies: Jeden Mittwoch werden auf fast 100 Ständen regionale Produkte angeboten
V
St. Julien: Mehrseillängen-Routen
oder kurze Baseclimbs bis zum ersten
Umlenker
Der Rocher St. Julien hat eine stattliche Breite von fast einem Kilometer, er teilt sich grob
in zwei Hauptsektoren auf. Einige Route haben
mehrere Seillängen, man kann aber fast immer
auch nur die erste machen und dann von guten
Standplätzen umlenken. Der Wandfuß ist breit
Alle Fotos auf dieser Seite: Jochen Riegg
on Buis aus fährt man am Camping Municipal vorbei in südlicher Richtung auf einer
geteerten Fahrstraße den Buchsbaumhang hoch,
bis nach etwa zwei Kilometern rechts ein kleiner Parkplatz mit Hinweisschild kommt. Hier in
Buis findet man fast an jedem größeren Felsen
solche Hinweisschilder. Sie mahnen einerseits,
sich richtig am Fels zu benehmen, die Natur zu
respektieren und keinen Müll zu hinterlassen.
Anderseits zeigen sie aber auch, dass Kletterer
gern gesehene Gäste sind, denen man wichtige
Informationen über den Felsen mitgeben möchte.
Anders als in vielen Gebieten in Deutschland, wo
Kletterer zuweilen so beliebt sind wie ein Pickel
am Hintern. Das mag daran liegen, dass die Franzosen Platz und Felsen haben wie Sand am Meer,
während sich in Deutschland zu viele in einem
zu kleinen Sandkasten um die Natur streiten. Die
Kletterer haben dabei zwar die stärkeren Unterar-
me, nicht aber die stärkere Lobby.
Der 20-minütige steile Aufstieg auf Trampelpfaden zwischen den Buchsbäumen hindurch
kann in der prallen Sonne leicht zu Tortur werden. Buchsbäume haben sehr kleine, schmale
Blätter, die nicht unbedingt einen guten Schutz
vor Sonne, Wind und Regen bieten. Es regnet
sehr schnell hindurch, wie wir noch erleben werden.
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
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Reise
Buis-les-Baronnies
Reiseinfo Buis-les-Baronnies
Schwierigkeitsgrade
UIAA
Foto: Jochen Riegg
Anfahrt
Camping Les Ephelides: Ruhig und gepflegt
und flach, keine Absturzgefahr für Kinder, doch
Obacht auch hier vor Steinschlag. Denn mein
erster Kontakt mit dem Fels lässt mich schmerzlich erkennen, wie trügerisch manche Erinnerung
ist. Ich steige in die Route „Le Gastronome de
gris“ ein, die phantastisch fest und plattig aussieht, doch bei näherem Hingreifen klingen die
Schuppen hohler als in manch brüchiger Dolomitenwand. Ich schiebe mich sehr behutsam die
Platten höher, und zu der Brüchigkeit kommt
noch ein 8-Meter-Runout mitten in der schwierigsten, vom Gestein her unzuverlässigsten Stelle. Ich fluche, was das Zeug hält, aber aufgeben
will ich nicht, nicht in einer 6a. So dauert es und
dauert, bis ich nach einer gefühlten Stunde endlich am Stand ankomme. Die Tochter am Wandfuß wird trotz Helm aus der Schusslinie beordert,
ich traue hier keinem Griff.
B
evor der Leser diesen Felsen zu den Akten
legt, will ich an dieser Stelle mit der negativen Schilderung enden. Ich sollte eben nicht bloß
mein Zeug an den Einstieg pfeffern, zum Seil
greifen wie ein Süchtiger nach Tabletten und mit
dem Klettern loslegen wie von Honrissen getrieben, sondern mich erst mal in Ruhe orientieren.
Dann wäre mir aufgefallen, dass ich wohl eine
der wenigen unzuverlässigeren Stellen erwischt
habe. Weiter rechts beginnen bombenfeste Platten, die großen Klettergenuß versprechen. Ich
erkenne auch wieder meine 6c-Platte von vor
dreißig Jahren.
Insgesamt bietet der St. Julien eine etwas ernstere Kletterei als Baume Rousse oder Ubrieux,
schon alleine weil die Möglichkeit von Mehrseilängen-Routen besteht. Aber wenn man ein
wenig sucht, findet man tolle erste Seillängen
und kürzere Routen, an denen auch Kinder ihren
Spaß haben können.
Es gibt sowohl in Ubrieux als auch in St. Julien
einige Routen im Grad 7a und 7b. Das sind aber
20
derart spezielle Plattenklettereien, das vor allem
Eidechsen Spaß daran haben dürften. Bei denen
sieht das dann auch wesentlich eleganter aus.
Würde man um Buis-les-Baronnies einen Kreis
von 50 Kilometern ziehen, also rund eine Stunde
Fahrt, würden neben den drei beschrieben Gebieten noch Orpierre und die Dentelles de Montmirail als Familliengebiete in Reichweite kommen,
was Buis-les-Baronnies für mich zu einem idealen Stützpunkt macht. Gerade auch deswegen,
weil mit St. Léger ein absolutes High-End-Gebiet
nur einen Katzensprung weit weg ist, so dass die
Kompromissfindung innerhalb der Famillie nicht
zum Urlaub tötenden Streit eskalieren muss.
Es erwischte uns noch ein Gewitter, allerdings
am Einstieg, so dass wir unter den Buchsbäumen
Schutz suchen können, die aber nach spätestens
fünf Minuten ihr Wasser wie von lästiger Inkontinenz geplagt rasch von sich gaben. Es war nur ein
Streifschuss einer einzelnen Wolke, nach zehn
Minuten war der ganze Wasserspaß vorbei. Was
mich wunderte war, dass keine einzige Seilschaft,
die zahlreich in den Ständen der Gipfelzone hing
und dem kurzen Unwetter schutzlos ausgeliefert
war, laut fluchte. Stoisch ertrugen sie die Dusche,
wie begossene Pudel mit triefenden Seilen kamen
sie nach und nach aus der Wand. Zum Klettern
mit Kind reicht es aber heute nicht mehr, die Felsen sind triefnass.
Dafür steht morgen endlich das Reiten auf dem
Programm. Als ich unsere Tochter daran erinnere, ist die kleine Strapaze des Aufstiegs und die
kurze unpässliche Dusche rasch vergessen.
Nach zehn Tagen ist der Urlaub schon wieder vorbei. Egal. Denn eines steht auch fest, liebe Erinnerung: Was Buis-les-Baronnies angeht,
brauchst du dich in nächster Zeit um nichts zu
kümmern. Ich werde wieder kommen, mit Mann
und Maus, nicht erst in dreißig Jahren, vielleicht
schon dieses, ganz sicher aber nächstes Jahr. ■
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
F
Bouldern
USA
Die Rhône-Autobahn (A7) bei Bollène verlassen und
über diverse Landstraßen nach Buis-les-Baronnies (ca.
50 km). Gesamtstrecke Stuttgart – Buis 880 km
4
4
5.4
5-
5a
5.5
Ausgangsort
5
5b
5.6
Buis-les-Baronnies
Office du Tourisme
Boulevard Michel Eysséric 14, BP 18,
26170 Buis-les-Baronnies
Tel 33 (0)4.75.28.04.59
[email protected]
http://www.buislesbaronnies.com
5+
5b+
5.7
6-
5c
Fb 4c
5.8
6
5c+
Fb 5a
5.9
6+
6a
Fb 5b
5.10a
7-
6a+
Fb 5b+
5.10b
Camping
7
6b
Fb 5c
5.10c
Camping Municipal
Quartier le Jalinier
Tel. 33 (0)4.75.28.04.96
Offen vom 01. 03. 2011 bis 11.11.2011
7+
6b+
Fb 5c+
5.10d
7+/8-
6c
Fb 6a
5.11a
8-
6c+
Fb 6a+
5.11b
Camping Les Ephelides
Allée des cerisiers
Tel. 33 (0).4.75.28.10.15
www.ephelides.com
[email protected]
Weitere Plätze und Wohnungen beim Touristenbüro
8
7a
Fb 6b
5.11c
8+
7a+
Fb 6b+
5.11d
8+/9-
7b
Fb 6c
5.12a
9-
7b+
Fb 6c+
5.12b
9
7c
Fb 7a
5.12c
9/9+
7c+
Fb 7a/7a+
5.12d
9+
7c+/8a
Fb 7b
5.13a
9+/10-
8a
Fb 7b+
5.13b
10-
8a+
Fb 7b+/7c
5.13c
10
8b
Fb 7c
5.13d
10+
8b+
Fb 7c+
5.14a
10+/11-
8c
Fb 8a
5.14b
11-
8c+
Fb 8a+
5.14c
11
9a
Fb 8b
5.14d
11+
9a+
Fb 8b+
5.15a
11+/12-
9b
Fb 8c
5.15b
Zugang Ubrieux
Buis-les-Baronnies in nordöstlicher Ruichtung auf der
D546 verlassen, nach 2 km rechts Parkbucht. Zustieg:
0 min bins 10 min.
Zugang Baume Rousse
Wie Ubrieux, hinter der Brücke über den Bach Ouvèze
links in die D108 einbiegen, nach 1,5 km wieder links
den Berg hoch, nach 1 km rechts Parkbuchten. Zustieg:
5 min.
Zugang Rocher St. Julien
Im Zentrum von Buis über den Bach Richtung Camping
Municipal, dann den Berg hoch, nach 2 km rechts Parkbucht. Zustieg: 40 min.
Führer
Verschiedene lokale Führer im Touristenbüro erhältlich,
leider ohne ISBN-Nummer.
Quelle: Kletterspiegel, www.kletterpiegel.de
Rockfax: France Haute Provence
ISBN 978 1 873341278
Jahreszeit
ganzjährig
Besonderheiten
Buis-les-Baronnies ist ein wunderschöner Ort mit Supermärkten, Einkaufsläden, Restaurants und Kneipen.
Idealer Standort für Familien, auch als Stützpunkt für die
Gebiete St. Léger und Malaucene geeignet. Über den
Pass nach Orpierre braucht man ca. 1 Stunde.
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
21
Kurzmeldungen
Reise
Vorgriff
St. Léger
Der 7. Himmel
und das 8.
Paradies
Die Route „Azimut“, 7b+, am Sektor „Le coffres“, Foto: Jochen Riegg
22
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Kletterspiegel 2 / Juli 2011
23
Reise
St. Léger
dies
as 8. Para
d
d
n
u
l
e
m
Der 7. Him
Foto: Jochen Riegg
am
t St. Léger
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Kreis der To
g
Annäherun
Riegg
Von Jochen
St. Léger am Mt. Ventoux: Leichte bis stark überhägende Routen beherrschen die Kletterei in dem südfranzösischen Top-Klettergebiet.
S
eit einem halben Jahr weiß ich, dass ich an
Ostern nach St. Leger fahre. Seit einem halben Jahr steige ich jeden Morgen auf diese
gottverdammte Waage. Seit einem halben Jahr
zeigt sie immer die gleiche Zahl an. Waren das
noch Zeiten, als ich mit Strickleiter zum Klettern
ging und eine Personenwaage so nützlich war
wie ein Höhenmesser im Klettergarten.
Die digitale Waage hat eine Memory-Funktion, die sich an das letzte Gewicht erinnert, und
immer erst eine Abweichung von mehr als 300
Gramm als neues Gewicht ausgibt. Ich habe mir
angewöhnt, zwei Mal auf die Waage zu stehen:
Einmal stütze ich mich mit der Hand am Waschbecken ab, so dass die Waage ein geringeres
Gewicht zur Messung bekommt. Anschließend
stelle ich mich normal auf die Waage. So kann
ich auch Abweichungen kleiner als 300 Gramm
messen.
Wie kaputt muss man sein, um sich sowas anzutun? Klettern ist zu einem Sport um Zahlen
verkommen, um Gewichte und Grade, zu einem
Jojo-Spiel im Kopf, auf der Waage, am Fels. Ge24
wicht rauf, Gewicht runter, Grad rauf, Grad runter, tagaus, tagein.
St. Leger: Jeweils 100 Routen im
französischen Grad 7 und 8
Ich war noch nie in St. Léger. Lapidar erzählte ein Freund, dass St. Léger ein überhangender
Fels sei, der direkt an einem Bach liege, an dem
es hauptsächlich schwere Routen gebe. Diese
sorglose Nüchternheit verführte mich nicht zum
Schwärmen. Ich dachte, gut, einen überhängenden Sektor mit schweren Routen gibt es an vielen
Stellen dieser Welt, nichts Besonderes. Aber was
ich dann zu sehen bekam, war eine bodenlose,
böswillige Untertreibung!
Ich finde, 77 Kilo sind zu viel, um eine 8a zu
klettern. Das war mein erklärtes Ziel, von dem
ich aber schon Anfang März Abschied genommen habe, nachdem die Waage einfach keine andere Zahl anzeigte. Ist es bloß kaputt und schon
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Die meisten Routen liegen im Bereich zwischen 7b bis 8b. Das Bild zeigt nur rund die Hälfte des gesamten Gebiets.
der Anfang vom Irrsinn, wenn man jeden Tag auf
die Waage steht und hofft, dass sich was ändert,
obwohl es dazu keinen Grund gibt? Es gab schon
Urlaube, an denen ich die Waage mitnahm. Das
ist nun wirklich kaputt. Nein, nie wieder nehme
ich eine Waage mit in den Urlaub, ich bin normal
im Oberstübchen, obwohl man das bei Kletterern
nie so genau weiß.
D
as Klettergebiet St. Léger liegt im breiten
Flusstal des Toulourenc direkt unterhalb der
Nordseite des Mt. Ventoux. Er erhebt sich fast
1500 Meter aus dem Rhônetal und hat auch bei
schönstem Wetter immer eine weiße Wolkenmütze auf. Hebt er sie an, kommt auch im Mai oder
Juni noch ein schneebedecktes Haupt zum Vorschein. Wenn es unten an den Felsen des Toulourenc zu heiß zum Klettern ist, können hoch droben durchaus Gewitterstürme mit Hagel toben,
was das Wetter hier unberechenbar macht.
An unserem heutigen ersten Klettertag haben
die französischen Lokalblätter „Le Dauphine“
und „La Provence“, die durch ihre schrille AufKletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
machung so zuverlässig wirken wie ein abgesprengter Felsblock in den Dolomiten, instabiles
Wetter vorausgesagt. Und es war den ganzen
Tag keine Wolke am Himmel, bis auf das kleine
Mützchen auf dem Ventoux. Welch ein Begriff
von Instabilität! Vive la France!
Ich war nach meinem Studium ein halbes Jahr
lang in Marseille und da haben die Franzosen
schon im September, als es noch 25 Grad am alten Hafen gab, dicke Herbstjacken übergestreift.
Instabiles südfranzösisches Wetter ist, wenn in
fünf Tagen die ersten Cirren den blauen Himmel
trüben. Welch ein Begriff von Instabilität! Viva
la France!
Die beste Kletterzeit für St.Léger ist
Frühling und Herbst
Was für ein Tal! Was für Felsen! Mon dieu!
Von Buis-les-Baronnies aus, unserem Standort
fürs Familienklettern, ist man in zwanzig Minu25
St. Léger
Foto: Jochen Riegg
Reise
„La farce tranquille“, 8a, in der gleichnamigen Grotte
26
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
27
St. Léger
Foto: Jochen Riegg
Foto: Jochen Riegg
Reise
Überhangende Sinterwand: Die Route „Indigo gallinacé“, 8a+, Sektor „FFMeuh“
Kleine Grotte für starke Leute: Die Route „Spit bouse“, 8a, Sektor „Le prince du lactique“
ten hier. Von Entrechaux, einem weiteren möglichen Standort, fährt man fünf Minuten weniger.
Allerdings muss man dort auf fast allen Komfort
verzichten, den Buis-les-Baronnies zu verzeichnen hat. Auch Malaucène ist ein möglicher Stützpunkt. Das Dorf liegt auf der Komfort-Skala
zwischen Buis und Entrechaux. Dafür ist es weitesten entfernt, hat als Ausgleich aber ein eigenes
Klettergebiet. Nicht nur das Gewicht nimmt im
Alter zu, auch das Verlangen nach Komfort, so
dass wir uns in ein Chalet in Buis eingemietet haben. Das mag die letzten Härte rauben, so dass
ich mich heute in keiner meiner Dolomitenrouten mehr trauen würde; aber so dekadent wie eine
Waage mit in den Urlaub zu nehmen, ist es nicht.
Von Buis oder Entrechaux kommend geht es
auf der Straße D40, die bei Mollans abzweigt,
über einen kleinen Pass hinunter nach dem Ge-
zwei Kilometer Länge leicht aufsteigend zum
Horizont.
Was für eine Untertreibung!
Ein paar überhängende Felsen an einem Bach
mit ein paar schweren Routen. Wie kann man
nur so untertreiben? Das ist böse Absicht! Es ist
das Paradies, das Paradies des siebten und achten französischen Grades. Wie ein langer Wurm
reihen sich die einzelnen Sektoren mal dicker,
mal dünner, bis sich am Horizont ein leuchtend
orangener Kopf zum Himmel erhebt. Zwei Kilometer Felsen, Grotten, Wände, Überhänge,
Platten, Sinterfahnen, Kanten, Verschneidungen.
Pah!
Hättest du mal abgenommen. Es ist immer das
gleiche. Du hockst im Winter abends am Fernseher, die Projekte im Kopf sind so weit weg wie
Grönland von den Alpen, es ist kalt, das Kamin-
28
höft St. Léger, einem gottverlassenen Kaff am
Fuße des Ventoux; einen Kilometer davor biegt
man rechts in einen geteerten Stichweg zur Bergerie ein, diesem folgt man bis zu deren Parkplatz. Dort gibt es Platz für etwa 25 Autos.
Die Bergerie ist ein Gasthaus, das von einem
Belgier liebevoll restauriert und zu einer Herberge mit Gästerzimmern für rund zwanzig Personen umgebaut wurde. Der Rasen vor dem Haus
wird liebevoll gepflegt und ist akurat geschnitten
wie ein Golfplatz. Da der Platz aber nur so groß
ist wie ein verunglückter Abschlag, ist das ebenso sinnlos, wie eine Waage mit in den Urlaub zu
nehmen.
Mon dieu! Was für Felsen! Was für ein Tal!
Vom Parkplatz an der Bergerie folgt man den
Fluss Toulourenc einige Minuten, dann öffnet
sich das Tal und rechts strebt ein Felsriegel von
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
feuer knistert, das Bier steht auf dem Tisch und
daneben eine Tafel Schokolade. Morgen fange
ich an, abzunehmen. Morgen, morgen, nur nicht
heute, sagen alle faulen Leute. Man ist doch nicht
faul, wenn man Bier trinkt und Schokolade isst?
Hättest du mal abgenommen!
S
t. Léger gehört zu den europäischen Topklettergebieten mit der wohl größten Dichte an
8a-Routen und 8b-Routen. Kaum ein anderes
Gebiet hat auf so engem Raum so viel Routen
dieses Grades zu bieten: etwa 100 Routen sind
8a und schwerer, und nochmal so viele liegen im
Bereich 7a bis 7c. Da kann man ein Leben lang
die Kletterschuhe durchtreten, ohne sich jemals
aus dem Tal des Toulourenc zu bewegen. Das
gesamte Klettergebiet besteht aus ungefähr zehn
Sektoren, die teilweise in weitere Einzelsektoren
29
Reise
St. Léger sind sehr lang – zwischen 25 und 35
Meter – und erfordern mehr Ausdauer als Maximalkraft. So auch diese. Die ersten zehn Meter
steigt man großen Griffen mäßig schwer die sich
aufsteilende Wand hoch bis man den grauen Teil
erreicht. Dort gehen die Schwierigkeiten los. Ich
ruhe an einer Schuppe, von der aus ein schwieriger Kreuzzug die linke Hand in ein senkrechtes
Zweifingerloch führt, dass man zuschrauben und
durchziehen muss, bis für die rechte Hand oben
ein guter Griff kommt. Die Wand hängt hier gut
über, und die 77 Kilo ziehen mich nach unten,
als ich hätte ich einen schweren Rucksack umgeschnallt. Hättest du mal abgenommen.
Nun Griffwechsel und unübersichtlich an eine
kleine Leiste neben dem nächsten Haken über
mir, hinter dem die Wand sich wieder deutlich
an hinten neigt. Die Schlüsselstelle. Onsight sehr
schwer zu lesen. Der Blick geht nach links oben
auf ein langes Tickmark, darüber befindet sich
der Ausstiegshenkel aus dem überhängenden
Teil. Normalerweise würde man sich nach links
orientieren, wenn man den Trick mit dem kleinen Griff rechts nicht kennt und mit der rechten
Hand vergeblich was zum Greifen suchen. Aber
im zweiten Versuch weiß man das natürlich.
An den Norwänden kann man auch im
Sommer klettern
Mir wird mir die 7a-Route „La Lévrotte“
empfohlen, sie sei ein absolutes Muss in diesem
Grat. 35 Meter purer Klettergenuss. Das klingt
wie aus einem Werbefilm. Die meisten Routen in
Der Übergang aus dem überhängenden in den
geneigten Teil ist schwer und auch hier würde
man sich eher links in die flachere Zone orientieren, was aber wieder eine Sackgasse ist. Rechts
ist es zwar ein wenig steiler, davor sorgen zwei
versteckte waagrechte Leisten, dass man nach
ein paar kräftigen Zügen auf dem Kopf des Überhangs steht. Jetzt noch 15 Meter 6b-Gelände,
purer grauer Genuss, bis man den Umlenker erreicht.
Wow! Die Werbung hatte nicht übertrieben.
Der Körper ist zwar geschunden, aber das Glück
verdrängt den Schmerz. Der Blick schweift an
der Südwand entlang zum Toulourenc, von dort
1500 Meter höher zum 1900 Meter hohen Gipfel des Mt. Ventoux. Er hat zum Schutz vor der
Sonne wieder sein Wolkenkäppi auf. Schon jetzt
im April ist die Grenze erreicht, wo man gerade
noch unter blauem Himmel in den Südwänden
klettern kann. Man muss auf wolkige Tage hoffen. Das Panorama ist derweil so kitschig wie ein
Roman von Ganghofer. Bei seinem Anblick muss
man glauben, dass die Natur selbst den Kitsch erfunden hat und der Autor nur das wiedergibt, was
er sieht.
Eine Gruppe französischer Jugendlicher aus
Traum in Schwarz-Orange 1: Die Route „Un monde à refaire“, 7a+, bietet 35m puren Klettergenuß
30
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Foto: Jochen Riegg
maße, zehn Meter tief, zwanzig Meter hoch, mir
werden die Arme schwer beim Hochschauen und
auch der Bauchansatz zwickt am Rucksackgürtel.
Obwohl der französische Kletterführer schreibt,
dass St. Léger im Gegensatz zu Buoux oder den
Dentelles de Montmirail eher überbewertet sei,
kann ich mir eine 8a nicht vorstellen. Noch einmal geht er Blick hoch in die Grotte. Ich fühle
mich klein, dick und hässlich.
An der „Face Sud“, Sektor „Les coffres en
bambou“, einer grauen, versinterten, leicht überhangenden Wand, werfen wir unsere Rucksäcke
an den breiten, geschotterten Einstieg. Die Wandfüße in St. Léger sind durchwegs flach und bequem, so dass auch Kinder und Hunde ihren Spaß
dort haben.
Foto: Jochen Riegg
unterteilt sind. Insgesamt erstreckt sich der komplette Felsriegel auf eine Länge von zwei Kilometern. Der Südteil ist bedeutend größer als der
Nordteil, bei dem man allerdings auch im Sommer klettern kann. Die beste Jahreszeit ist Frühling und Herbst, die meisten Routeneinträge bei
8a.nu liegen im April und Oktober.
Ich finde, ich habe einen Bauchansatz bekommen. Im Spiegel von vorne sieht man noch nichts,
aber von der Seite sieht es schrecklich aus. Früher, in der Schule, war ich ein Strich in der Landschaft, mit 30 bekam ich Muskeln und jetzt mit
50 einen Bauch. Ich habe mich damals geschämt,
als ich bei der Heimfahrt aus dem Fränkischen
die Waage wieder einpackte. Ärgerlich war, dass
ich in jenem Urlaub mit der Route „Chasin the
train“ am Krottenseer Turm ein klassisches Highlight im 9. Grad klettern konnte. Ist es nicht peinlich, dass man dafür extra eine Waage mitnehmen
muss?
Hat man die Engstelle des Toulourenc, in dem
man auch herrlich baden kann, an der Bergerie
passiert, führt ein breiter Fussweg zu den ersten
Felsen am Südteil. Der Felsenwurm ist ein ewiges Wechselspiel aus Grotten und deren Seitenwänden. Die Grotten haben beeindruckende Aus-
St. Léger
Traum in Schwarz-Orange 2: Vincent in der Schlüsselstelle „Un monde ...“, im Hintergrund der Felsriegel der Südwand
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
31
Reise
St. Léger
Colmar belagert zwei Routen rechts daneben die
Route „Sale fée mal brossée“, wenn ich richtig
gezählt habe, die in kürzester Zeit am öftesten begangenen 7b dieser Welt. „Allé Chantal, allé Julien“, schreit es stundenlang. Jeder, der oben ankommt, erhält wie im Dschungelcamp von RTL
zur Belohnung eine Pizza für die ganze Gruppe.
Das ganze dauert sicher drei Stunden, dann sind
fünf Pizzen beieinander, der jüngste Eroberer ist
nicht älter als 12 Jahre. Ich rede mir ein, dass ich
mit 20 Jahren ein 8c geklettert hätte, wenn ich
die Trainingsmöglichkeiten gehabt hätte wie die
Jugend heute. Ich rede mir es immer und immer
wieder ein. Ja, so wäre es gewesen. Auch ohne
abzunehmen.
Foto: Jochen Riegg
I
Traumfels: „Ni rire, ni pleurer ...“, 7b, Sektor „Les Coffres ...“
32
Traumkante: „L‘œil du loup““, 6c, Sektor „Ça peut chémar“
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
ch laufe den südlichen Felsriegel weiter hoch,
um Fotos zu machen. Ich komme an der Kante der Route „L’œil du loup“ vorbei, einer rotschwarzen Kante wie aus dem Bilderbuch,
35 Meter 6c+, famos, gigantisch, der Irrsinn.
Schließlich folgen Grotten, Wände, Grotten,
Wände, ich kann sie gar nicht mehr zählen. Was
für eine verschwenderische Anzahl! Wie der Bär,
der in einem Fluss steht, einen Lachs nach dem
anderen aus dem Wasser zieht, nur das Beste an
ihm frisst und den Rest wegwirft, so kann sich
der Kletterer in St. Léger das Beste an Routen
aussuchen und hat immer noch das Beste stehen
gelassen.
In Buis gibt es mehrere Pizzerien, eine davon
ist die Brasserie de L’Escale, die gerne von Kletterern besucht wird. Ich kann mir denken warum:
Für neun Euro bekommt man hier eine Pizza so
groß wie ein Straßenschild und Salate in tiefen
Suppentellern, die eine Kompanie Meerschweinchen satt machen würden.
Soll ich euch sagen, warum ich 77 Kilo wiege?
Nach der Pizza und dem Salat gingen wir noch
in unsere zweite Stammkneipe, die Brasserie de
L’Etoile. Dort gibt es Chocolat liégois, einen Eisschokoladebecher, wie ihn die Welt noch nicht
gesehen hat: drei Kugeln Schokoladeeis, eingebettet in Schokomilch mit Vanille- und Schokosauce, darüber eine Haube Sahne so groß wie der
Eispilz des Cerro Torre.
Vor der digitalen Waage hatte ich eine analoge
mit Zeiger. Die zeigte immer zwei Kilo zu wenig
an. Ich lebte ein halbes Leben lang in der Illusion,
zwei Kilo weniger zu wiegen. Darum hasse ich
digitale Waagen. Sie rauben einem mit ihrer Genauigkeit jede Illusion. Aber vielleicht ist diese
digitale Genauigkeit auch nur eine Illusion und
meine 77 Kilo sind auch nur ein Rechenfehler
genauso wie der Eisengehalt beim Spinat. Ja, so
muss es sein. Ganz sicher.
Am letzten Tag ist es so heiß, dass wir auf die
Nordseite zum Klettern gehen. Geht noch was?
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Vielleicht doch noch eine 7b oder 7c?
Eine 6a+ zum Aufwärmen lässt Schlimmes
vermuten. Hui. Aber ich bin es mittlerweile gewohnt, dass man in Südfrankreich in diesem
Grad keine Lorbeeren erntet. Man kann nur allen
raten, schnell über diese Grad hinauszukommen
und in den 7er-Bereich vorzudringen.
Dann eine weitere empfohlene 7a-Route. Danach werde ich warm sein. Die Route „La Chevauchée Fantastique“ beginnt kräftig an guten
Griffen, nach zehn Metern steht man unter einem
6 Meter langen, fast halben Meter breiten RiesenTuffa. Dann beginnt die Suche mit dem Fernglas
nach dem nächsten Haken. Normalerweise sind
die Routen in St. Léger südfranzösisch gut gesichert, hier aber scheint jemand böswillig einen
Haken vergessen zu haben. Ich bekam den Tipp,
dass am Ende des Tuffas, auf der linken Seite, ein
guter Untergriff sei. Der nächste Haken ist rechts
davon ums Eck.
Vorsicht, Suchtgefahr: St. Léger lädt
zum ewigen Bleiben ein
Puh, was für eine Strecke! Die Griffe sind zwar
gut, aber unter mit verschwindet der letzte Haken
unter dem Tuffa und der nächste wird erst zehn
Meter unter mir wieder sichtbar. Ich trau‘s mich
einfach nicht. Auf halber Strecke ist links drüben
die Schlinge einer anderen Route, die nehm ich
dazu, eine grausame Seilreibung ist die Folge.
Im zweiten Durchstiegsversuch nehme ich
mir fest vor, diese Schlinge auszulassen. Als ich
wieder am Beginn des Tuffa stehe, kommt mir
das Fracksaußen, weil einfach die Unterarme
dick sind, ich hänge ein. Es ist eine erste kleine
Niederlage. Dennoch presse ich mich den Tuffa
hoch, Untergriff mit links, rechts drüben den Haken geklippt, durchatmen, doch was ist das? Ich
erreiche weit rechts drüben den Seitgriff nicht,
was aus dem Hängen heraus kein Problem war.
Zwei Mal die Füße etwas weiter rechts auf den
Tuffa gepresst, es geht nicht. Meine Unterarme
sind so dick wie Schwimmreifen. Oh, Gott, wenn
ich das hier auch noch vergeige. Ich muss mich
schnell entscheiden. Das Blut pocht in den Schläfen, schnell, mach was. Ich blicke in die unbekannte Wandzone über mir, es hilft nichts, ich
muss da durch. Einmal tief durchgeatmet und los.
Fünf Meter Niemandsland im siebten Grad
können die Hölle sein. Ich erreiche einen Absatz
auf zwei Drittel der Wandhöhe mit letzter Kraft.
Puh. Ich blicke hinüber zu Harry, der etwa in
gleicher Höhe wie ich links drüben in der „Black
Mamba“, 8a hängt. Wir sehen uns an. Ich denke,
tja, Harry, du hängst schon, ich stehe noch. Was
33
St. Léger
Foto: Jochen Riegg
Reise
Nordwand von St. Léger: Ergiebiges Klettern auch dann, wenn in den Südwanden die Hitze zu groß wird.
für eine bodenlose Arroganz, mit 77 Kilo!
Am Ende des Absatzes befindet sich eine riesige Wurzel, in die ich abwechselnd die Unterarme stopfe. Man kann sie nicht loslassen, dafür
ist die Wand zu überhängend und die Tritte sind
zu schlecht. Es vergeht eine kleine Ewigkeit, bis
ich mich gefasst habe. Es wird nicht besser, die
Kraft kommt nicht zurück. Also weiter. Eine steile kleingriffige Wand folgt, dann eine Reihe kleiner Tuffas, die Wand hängt immer weiter über.
Noch drei Meter zum Stand, ich habe eine Reibung, wie wenn jemand auf dem Seil steht, dann
endlich schnappt der Umlenkkarabiner zu. Von
wegen warmgeklettert. Ich bin am Ende.
Das mit der 8a wird nichts mehr. Wieder nicht.
Wie lange muss ich in meinem Leben darauf
noch warten? Jahre und Jahre kämpfe ich schon
um diesen Grad. Ständig auf die Waage zu stehen, bringt aber auch nichts. So viel ist mir jetzt
klar. Ob ich viel oder wenig wiege: Nur eine Badewanne voll Schweiß kann diesen Mangel beheben, gefüllt an endlosen, zermürbenden Trainigstagen. Derweil rinnen die Jahre dahin. Ob ich je
nochmals die Energie aufbringe?
St. Léger, au revoir, tschüss, auf Wiedersehen.
Eigentlich hätte ich dich wie ein Aschenputtel beschreiben müssen. Klein, dick und hässlich. Damit dich niemand so begehrt wie ich. Aber ich bin
nun mal geschwätzig wie ein Kind, und du weißt,
Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Lass
dich nicht durch die vielen Leute unterkriegen.
Denn sobald irgendein anderer schöner Fels mit
dem Hintern wackelt, wird die Karavane weiterziehen: Auf mich aber kannst du immer zählen.
Adieu, ma chérie, je t‘aime.
Ach ja, chérie, findest du nicht auch, 77 Kilo
bei 182 Meter Größe sind viel zu viel für eine
8a? ■
Reiseinfo St. Léger
Anfahrt
Fahrt nach Buis-les-Baronnies wie auf Seite 21 beschrieben.
Ausgangsort
St. Léger / La Bergerie
Bis auf die Bergerie gibt es in St. Léger selbst keine
Übernachtungsmöglichkeiten
Stützpunkte
Buis-les-Baronnies *** (20 km)
www.buislesbaronnies.com
Entrechaux * (15 km)
www.entrechaux.info
Malaucène ** (20 km)
www.malaucene.fr
Zugang
Von Buis-les-Baronnies: Die D5 in westlicher Richtung.
Nach 10 km hinter Mollans links Richtung Entrechaux,
nach 500 m wieder links auf D40 Richtung St. Léger.
Über den Pass, nach ca. 10 km kurz vor St. Léger rechts
Richtung „Bergerie“ einbiegen. Der Straße folgen bis
zum Parkplatz der Bergerie. Dort Parken.
Von Entrechaux/Malaucène: Auf der D13 Richtung
Mollans, kurz vor Mollans rechts auf die D40 Richtung
St. Léger, dann wie oben. Zustieg: Vom Parkplatz dem
Fluß folgend in ca. 15 Minten auf breiten Wegen zu den
einzelnen Sektoren.
Übernachtung
La Bergerie des Salamandres
84390 St. Léger
Tel. 33 (0)4. 75.28.29.33
www.bergerie-des-salamandres.com
Platz für 20 Personen in 2- bis 6-Bett-Zimmern
Camping
Les 3 Rivières
Quartier des Jonches
84340 Entrechaux
Tel 33 (0)4.90.46.01.72
www.camping-les3rivieres.com
Weitere Campingplätze in Entrechaux, Buis-les-Baronnies und Malaucène
Führer
Escalade autour du Ventoux (St. Léger, Malaucène,
Bedoin). Erhältlich in der Bergerie, keine ISBN, ca. 20 €
Rockfax: France Haute Provence
ISBN 978 1 873341278
Jahreszeit
Foto: Jochen Riegg
ganzjährig, bis auf die Sommermonate Juli und August
Besonderheiten
Topklettergebiet mit ca. 300 Routen, davon 200 über
7a+. Gute Absicherung, Wandfuß kindertauglich. Planschen und Baden im Bach Toulourenc.
Der Fluss Toulourenc: Links und rechts des Baches befinden sich die Felsen von St. Léger. Kleines Bild re. zeigt die Bergerie.
34
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
35
Rottachberg
Foto: Jochen Riegg
Reise
Engelbräu in Rettenberg: Lokale Spezialitäten bei selbst gebrautem Bier.
Heiße Tage,
kühles Klettern
Der Rottachberg bei Rettenberg im
Allgäu ist ein ideales Ausgleichsgebiet für die heiße Jahreszeit, wenn
sich im überfüllten Frankenjura die
Kletterer drängen.
36
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Foto: Jochen Riegg
Rottachberg (groß), Konglomerat (klein): Klettern im Sommer, wenn es anderswo zu heiß ist.
Als Ouverture eine herzhafte Fleischbrühe
mit Bier-Treber-Brätstrudel, danach ein LolloRosso-Vorspeisensalat mit Mais und Karotten in
würziger Vinaigrette, dann Allgäuer Kasspatzen
mit Bergkäse, Edamer und Weistaler von heimischen Kühen, obendrauf ein kleines Hütchen von
gerösteten Zwiebeln, angerichtet in einer heißen
Gußeisenpfännle auf einem Holzbrettl aus örtlicher Fichte, dazu ein Weizenbier vom Fass mit 13
Prozent Stammwürze aus der eigenen Brauerei,
zum Ausklang ein Espresso aus echtem italienischen Kaffee, serviert von Kellnerinnen in lila
Dirndln, darüber ein strahlend blauer Himmel,
davor gelbblühende Almwiesen, im Hintergrund
die verschneiten Berge des Allgäuer Hauptkammes mit dem Hochvogel in der Mitte, bei 20 Grad
auf der Terrasse sitzend vor dem Gasthof Engelbräu.
Der zweite Grund, nach Rettenberg ins Allgäu
zu fahren, ist der Falkenstein, unter Kletterern
auch bekannt als Rottachberg.
Als Ouverture empfehlen sich einige leichte
Routen in der Mitte der Konglomeratfelsen gegenüber dem Grünten. Der erste Blick, der sich
auftut, wenn man von Hinterberg aus den Bergrücken des Falkenstein hochläuft und dann wieder
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
ein Stück ins Tal Richtung Rottach, bevor man
nach 50 Metern nach links zu den Felsen abzweigt, ist schauerlich. Man sieht leicht bis stark
überhängenden Felsen, im Schnitt 30 bis 40 Meter hoch, in den zwischen Lehm große und kleine
Kiesel stecken, und ist hell erschrocken.
Nach dem ersten kleinen Schock fühlt sich der
Fels, sobald man die Abscheu überwunden und
die Kletterschuhe übergestreift hat, aber erstaunlich fest an und er ist es auch.
Die leichtesten Routen sind um 6b, die sind gar
nicht mal so schlecht, es sind aber nur ein paar
und deswegen reist man nicht zum Rottachberg
an. Die richtige Musik fängt erst im Bereich 7a
an, und da erhält man volles Orchester. Rund 70
Routen bis 8c bietet der kühle Nordwestfels, der
auf über 1000 Meter unterhalb des Gipfelkammes
des Falkensteins liegt. Das Klettern spielt sich an
großen und kleinen Kieseln und deren schalenförmigen Ausbrüchen ab. Es wird eine tierische
Ausdauer gefordert.
Puristen werden am Rottachberg nicht glücklich: Ab und an sind Griffe geschlagen oder
Kiesel hinzugeklebt, um unüberwindliche Stellen zu überbrücken. Das tut dem Gebiet keinen
Abbruch, die Route „Krümelmonster“ 7a wäre
so vielleicht gar nicht kletterbar und es würde
der Kletterwelt eine der schönsten 8-er-Routen
fehlen. Das ist keine Aufforderung zum Routenkleben, aber am Rottachberg hat man ganz gutes
Augenmaß beweisen. Würde man den Kleb nicht
sehen, würde man die ergänzten Kiesel von den
anderen 5 Millionen nicht unterscheiden können.
Die Jahreszeit des Rottachbergs ist sehr begrenzt. Je nach Feuchtigkeit ist es von Herbst bis
Frühjahr sehr lange nass und kalt, so dass fast nur
die Sommermonate zum Klettern in Frage kommen. Dann aber bietet sich dem fortgeschrittenen
Sportkletterer ein herrlicher Spielplatz zum Austoben. Wer am Schluss die Jause und das Bier im
Engelbräu versäumt, ist selber schuld. ■ (jr)
37
Persönlichkeit
Lothar Brandler
„Ein Bergfilm
braucht echte Kletterer“
Lothar Brandler war als Erstbegeher zahlreicher schwerer Alpenrouten und als Bergfilmer ein Pionier. Kletterspiegel-Redakteur Kilian
Neuwert hat ihn in München besucht und mit ihm über die Direttissima an der Großen Zinne und seine Arbeit als Bergfilmer gesprochen.
Kletterspiegel: Der Sommer 1958 war Ihr
großer Sommer. Aber die Direttissima in der
Nordwand der großen Zinne geht auf eine Postkarte zurück, die Ihnen Dietrich Hasse schrieb.
Brandler: Ja. Ich hatte 1957 Arbeit in der
Schweiz und habe Seilbahnen gebaut. Da kam
die Postkarte vom Hasse, ob ich nicht zur Zinne
kommen könnte. Er hätte die Absicht die Nordwand direkt zu durchsteigen und brauchte einen
zweiten Mann. Ich musste ihm absagen. Ich hatte
Arbeit und verdiente gutes Geld. Genauso wichtig war aber, dass ich der Sache keine Chance
gegeben habe. Für mich war die Wand undurchsteigbar.
Kletterspiegel: Aber sie ließen sich trotzdem
überreden?
Brandler: Im Spätwinter 1957 kam wieder
ein kurzer Brief vom Hasse. Ich habe ihm wieder abgesagt und habe ihm gesagt, dass ich mich
jetzt der Musik widme, da ich am Konservatorium in München angenommen worden war. Im
Frühsommer 1958 bin ich mit Luis Vigl in die
Dolomiten gefahren und wir sind mal unter die
Wand gegangen. Ich habe nur gesagt: Der Has-
se spinnt. Aber Dieter Hasse hat nicht locker gelassen. Und das ist etwas Verrücktes an ihm. Er
sieht die Wände und glaubt daran, dass sie durchsteigbar sind. Er hatte einfach eine Vision und hat
mich doch breitgeklopft.
Kletterspiegel: Bei der Erstbegehung waren
dann noch Jörg Lehne und Dieter Löw dabei.
Wieso stiegen sie zu viert in die Wand ein?
Brandler: Die beiden haben ein Jahr vorher
schon die ersten Versuche gemacht. Dieter Hasse
hatte die beiden schon vorher angesprochen und
war mit ihnen auch schon in der Wand gewesen.
Alles andere war er mit Willi Zeller geklettert,
der dann aber an der Fleischbank Ostwand verunglückt ist. Also fehlte Ihnen der vierte Mann.
Kletterspiegel: Der waren Sie.
Brandler: Ja, denn die Idee war es mit zwei
Seilschaften einzusteigen, die sich dann auch gegenseitig helfen können. Ich bin dann am Vortag
der Unternehmung mit Dieter Hasse in die Wand
gestiegen um mir alles anzuschauen. Die anderen waren noch nicht da. Wir sind bis zur fünften
Seillänge geklettert und mir erschien es auf ein-
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Foto: Kilian Neuwert
Foto: Archiv Lothar Brandler
Lothar Brandler, * 19.10.1936
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Der Bergfilmer und Alpinist begann seine Kletterkarriere als
12-jähriger im Elbsandsteingebirge und kam wenige Jahre später
ins bayerische Neuburg. Bekannt wurde er durch Erstbegehungen im Wilden Kaiser, im Wetterstein und in den Dolomiten. In
fünf Tagen durchstieg er 1958 gemeinsam mit Dietrich Hasse,
Jörg Lehne und Sigi Löw die Nordwand der großen Zinne. Später wurde Brandler als Filmemacher vielfach international ausgezeichnet und drehte als erster mit einer Kinokamera in einer
großen Alpenwand. Heute lebt er in München. (Kilian Neuwert)
39
Persönlichkeit
Lothar Brandler
mal möglich. Je höher man kam, umso mehr begann sich die Wand
aufzugliedern. Also haben wir mit Lehne und Löw auf der Hütte vereinbart, dass wir die ersten Längen klettern und dann biwakieren würden. Die beiden sollten dann nachkommen.
Kletterspiegel: Die Zweitbegeher haben nochmal zahlreiche Haken geschlagen und heute wird die Wand frei begangen. Die Stände
hat Alexander Huber für seine Solo-Begehung saniert.
Brandler: Genau das hätte er nicht gebraucht. Die Standplätze waren immer das Beste an Haken in der gesamten Wand. Den Bohrhaken
hat er zum Üben gebraucht. Er hat in jeder Seillänge ein Fixseil gespannt und ist an dem Fixseil gesichert, frei geklettert. Bis er überall
weiß, wo jeder Griff sitzt. Das ist wie bei einem Zirkusartisten. Der
tanzt auch auf dem Seil und unten ist das Netz. Erst wenn er genau
kann, dann lässt er irgendwann aus Sensationsgründen das Netz weg.
Bei der Erstbegehung habe ich dem Dieter noch gesagt, dass die Wand
nach sächsischer Art frei zu klettern ist. Nur nicht mit unserem Hakenmaterial.
Kletterspiegel: Im selben Jahr waren sie an der Rotwand erfolgreich und wurden außerdem zum Bergfilmfestival in Trient eingeladen. Ihr erster Kontakt zum Bergfilm?
Brandler: Das ist der allererste Kontakt gewesen. Ich habe aber
vorher einen Fernkurs über Drehbuchsreiben gemacht. Da kam jeden
Monat ein Lehrheft. Im Grunde nichts Wertvolles. Einmal bin ich im
November allein auf dem Stripsenjoch gewesen und habe dort angefangen ein Drehbuch über Hans Dülfer zu schreiben. In Trient habe
ich dann Bergfilme gesehen, aber nicht die Idee gehabt Bergfilmer
zu werden. Das auslösende Moment kam erst im Jahr danach durch
meine Arbeit an „Phänomen Klettern“
Kletterspiegel: Sie haben dann angefangen für den Bayerischen
Rundfunk zu arbeiten und nach und nach etlichen preisgekrönten
Bergfilmen gedreht. Haben Sie dabei je mit Schauspielern gearbeitet?
Brandler: Für einen richtigen Kletterfilm ist ein echter Bergsteiger das wichtigste. Ein Bergsteiger hat untrügliche Bewegungen beim
Klettern. Ähnlich wie ein Tennisspieler typische Bewegungen haben.
Man kann das Niemandem in ein paar Tagen lernen. Das ist auch der
Fehler von zwei aktuellen Bergfilmen. Von „Nordwand“ und „Nanga Parbat“. Ich bekomme Magenschmerzen, wenn ich sehe, dass die
nicht klettern können. Gerade bei Nanga Parbat. Da spielen sie die
Messner Brüder und die konnten exzellent klettern. Man hätte zwei
Bergsteiger nehmen müssen. Die müssten nur sich selbst spielen.
Kletterspiegel: Und das Filmteam?
Foto: Archiv Lothar Brandler
Brandler: Auch das müssen Alpinisten sein. Dann sind sie in ihrem
Metier und ein Film wird authentisch. Er muss nicht lang sein, aber er
soll die Wirklichkeit zeigen.
40
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel
2 / Juli 2011
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Kletterspiegel: Welchem Thema hätten Sie sich noch gerne angenommen?
Brandler: Der Messner-Geschichte. Aber den hat Vilsmaier gemacht. ■
41
Persönlichkeit
Günter Sturm
Am
Anfang
war
Sturm
Der Münchener Berg- und Skiführer Günter Sturm stand am Beginn so mancher Entwicklungen,
die heute wie selbstverständlich
wirken: Er baute die erste künstliche Kletteranlage, schrieb das
erste Kletterlehrbuch und gründete 1970 mit dem DAV Summit
Club den ersten Bergreiseveranstalter der Welt. Kletterspiegel-Redakteur Kilian Neuwert
besuchte den 71-jährigen in der
Nähe von München und sprach
mit ihm über seine verwegenen
Ideen und sein bewegtes Leben.
Foto: Archiv Sturm
Von Kilian Neuwert
42
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
43
Günter Sturm
Foto: Archiv Sturm
Persönlichkeit
Kletterspiegel: Vor knapp 40 Jahren waren
Sie mit ihrem Freund Hartwig Bauer am Burgsteinfelsen im Altmühltal. Dort haben sie eine
Seilschaft im „Dolomitenweg“ beobachtet. Wenig später sind sie die Route ohne Seil geklettert,
um sich ins Wandbuch einzutragen. Was haben
Sie damals hineingeschrieben?
Sturm: Was ich ins Wandbuch geschrieben
habe weiß ich nicht mehr. Aber es war eine sehr
spektakuläre Aktion. Wir waren im Rahmen eines Ausfluges mit der Sektion Eichstätt am Burgsteinfelsen. Ich habe meinem Freund Hartwig
Bauer vorgeschlagen, eben diesen Dolomitenweg
zu gehen. Nur durften wir das nicht. Also sind wir
ein paar Tage später mit den Rädern zum Burgstein gefahren und dann ohne Seil und mit Turnschuhen den Dolomitenweg geklettert. Bis zum
Standplatz, der sich am Beginn eines Quergangs
befindet. Zuerst habe ich gequert und mich ins
Buch eingetragen. Dann bin ich zurückgeklettert
und Hartwig Bauer war an der Reihe. Nur hatte
ich den Bleistift in der Hosentasche und musste
ihn Hartwig über die acht Meter zuwerfen.
Kletterspiegel: Also begann Ihre Kletterkarriere ohne Seil und ohne Ausbildung. Einige Jahre
44
später haben ausgerechnet Sie die erste künstliche Kletteranlage für Kurse entworfen.
Sturm: Die Idee zu dem Klettergarten ist daher gekommen, dass ich im Hause Scheck eine
Bergsteigerschule aufgebaut hatte, mit der wir in
München Kletterkurse veranstalten wollten. Aber
dort gab es einfach kein ideales Klettergelände.
Der Klettergarten Buchenhain im Isartal war
für Kurse nicht geeignet. Als Sportlehrer hatte
ich natürlich auch andere Vorstellungen davon,
wie man einen Kletterkurs durchführen sollte.
Ich habe mich dann mit einem Architekten zusammengesetzt und dem von meiner Vision erzählt. Dann bin ich zum Chef von Sportscheck
gegangen und habe gesagt: Ich habe eine tolle
Idee – wir bauen einen künstlichen Klettergarten
in München um junge Kletterer auszubilden. Der
Kostenpunkt lag damals bei 30.000 DM. Ich war
ganz überrascht, dass Scheck letzten Endes damit
einverstanden war. Er hat nur gesagt: Wissen Sie,
was das heißt – 30.000 DM? Wenn Sie das verantworten können, dann machen Sie das.
Kletterspiegel: Was hielt der Alpenverein von
der Idee? Immerhin hatte ein Sportgeschäft die
Anlage finanziert.
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Sturm: Zur Eröffnung haben wir ein Sicherheitssymposium veranstaltet. Damals gab es nur
die Schultersicherung und ich habe alle Experten,
die sich mit diesem Thema beschäftigt haben eingeladen. Das waren Hasse, Schubert, Brahm und
Sticht aus dem fränkischen. Der Alpenverein war
auch eingeladen. Aber der hat abgelehnt und gesagt, für so ein Spektakel eines Sporthauses gebe
man sich nicht her. Entsprechend kritisch hat die
alpine Presse berichtet. Die Folge war, dass der
Alpenverein nahezu die gleichen Leute wieder
eingeladen hat und den Sicherheitskreis gegründet hat.
Kletterspiegel: Warum das plötzliche Umdenken?
Sturm: Weil die Medien klar gesagt haben,
dass es hier um die Sicherheit der Bergsteiger
geht. Das sollte die Aufgabe und Anliegen des
Alpenvereins sein.
Kletterspiegel: Sie erhielten wenig später
vom DAV das Angebot zu wechseln und so die
Gelegenheit, den bestehenden „Fahrtendienst“
auszubauen. Mit einer „wiederholbaren Auslandsbergfahrt“ sollte jeder Bergsteiger die MögKletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
lichkeit haben, die Berge der Welt zu erleben.
Wie schwer war die Umsetzung dieser Idee in der
Anfangszeit?
Sturm: Das war schon schwierig. In den sechziger Jahren waren vor allem die Genehmigungen für Besteigungen ein Problem. Also habe ich
angefangen, Kontakte nach Pakistan und Nepal,
nach Peru und in andere Länder aufzubauen.
Dort habe versucht Reiseagenturen zu finden, die
die gesamte Logistik vor Ort übernehmen konnten. So haben wir das systematisch aufgebaut und
schon 1970 die ersten Gruppen nach Chile, nach
Peru und Nepal geschickt. Ich selbst habe 1970
in Pakistan die erste Tour gemacht. Allerdings
mit einigen Hindernissen.
Kletterspiegel: Was für Hindernisse?
Sturm: In der Nähe von Tato – dem letzten
Ort vor dem Rakhiot-Gletscher – sind auf einmal
zehn oder zwölf bewaffnete Einheimische hinter Felsen aufgetaucht und haben uns den Weg
versperrt. Ich habe dann herausgefunden, dass es
daran lag, dass wir nur Träger aus dem HunzaGebiet beschäftigt hatten. Also haben wir noch
ein paar Einheimische dazu genommen und ver45
Persönlichkeit
Günter Sturm
Kletterspiegel: Dort konnten sie sich selbst
helfen. Aber stimmt es, dass ihnen später einmal
Franz Josef Strauß zu einem Permit verhalf?
Sturm: Der Strauß hat uns zu einem unserer
schönsten alpinen Erfolge verholfen. Ich war mit
einem CSU-Bundestagsabgeordneten beim Kletten in Berchtesgaden. Beim Abstieg hat er mich
nach meinem ganz großen Ziel gefragt. Das war
eine Besteigung in Tibet, wie die Shishapangma.
Aber die war für uns gesperrt und es hatten sich
32 Nationen für eine Genehmigung beworben. Er
meinte, das träfe sich gut, da er demnächst mit
einer Delegation von Strauß nach China reisen
würde. Ich sollte ein Gesuch schreiben, dass er
Strauß mitgeben würde. Der könnte das weiterleiten. Es hat nicht lange gedauert, da bekam ich
von der chinesischen Regierung ein Schreiben,
dass wir die Genehmigung für die Shishapangma
für 1980 bekommen.
Kletterspiegel: War Ihr Angebot damals noch
zu neu, um auf Kritik zu stoßen, wie sie heute
gegenüber kommerziellem Bergsteigen geäußert
wird?
Sturm: Grad am Anfang der siebziger Jahre
sind diese Reisen viel diskutiert worden. Es hieß
man würde die Kultur und die Wälder der Zielländer zerstören, weil bei Trekking sehr viel Holz
verschürt wird. Wir haben reagiert und nur noch
mit Kerosin, später mit Gas gekocht.
Kletterspiegel: Ihr Kundenstamm wuchs
schnell. Schon in den ersten zwei Jahren hatten
Sie 400 bis 500 Kunden. Gab es eine Vorauswahl
hinsichtlich der Erfahrungen der Teilnehmer?
Sturm: In den ersten Jahren waren die Kunden
ausgesprochen tüchtige Bergsteiger, die wussten,
was auf sie zukam. Für sie war es eine Chance,
die großen Berge der Welt zu sehen. Das waren
dann schnell richtige Stammkunden, die sozusagen immer von einem Trekking zum nächsten
mitgezogen sind. Schwieriger ist es erst geworden als wir angefangen haben 6000er, 7000er
und Ende der Siebziger Jahre auch 8000er ins
Programm aufzunehmen. Jeder Teilnehmer
musste dann einen entsprechenden Tourenbericht
abgeben. Wenn sich aber einer beworben hat der
sämtliche 4000er der Alpen bestiegen hatte, hat
er einen Freibrief bekommen. Das sind genau die
Alpinisten gewesen, die wir ansprechen wollten.
Foto: Kilian Neuwert
Foto: Kilian Neuwert
Günther Sturm, * 09.01.1940
46
Günter Sturm ist in Eichstätt geboren. Mit 16
klettert er erste Alpentouren im Wilden Kaiser und in den Dolomiten. Später folgen ein
Studium zum Sportlehrer und die Ausbildung
zum Staatlich geprüften Berg- und Skiführer.
1967 wird Sturm Leiter der Bergsteigerschule
und Bergsportabteilung von Sport Scheck in
München, von wo aus er zum DAV wechselt.
Dort überarbeitet er geltende Lehrkonzepte
und bringt mit „Sicher klettern in Fels und Eis“
(BLV-Verlag) das erste Kletterlehrbuch heraus. Zudem ist Sturm geistiger Vater der ersten künstlichen Kletteranlage und erfolgreicher
Expeditionsbergsteiger. Auf sein Konto gehen
Zweitbegehungen von Kantsch (1975), Lhotse
(1977) und Shishapangma (1980). Seit 2004 ist
er im Ruhestand und wohnt mit seiner Familie in
der Nähe von München. (Kilian Neuwert)
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel: Trotz erfahrener Kunden gab
es zwei schwere Unglücke in der Geschichte des
Summit-Clubs.
Sturm: Das war für uns alle ein großer Schock.
Vor allem der Unfall am Pisang-Peak, wo die
komplette Gipfelmannschaft abgestürzt ist. Als
mich unser Agent angerufen hat, dass die Gruppe
seit eineinhalb Tagen überfällig ist, war mir sofort
klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Wie sich herausgestellt hat war es ein Lawinenunfall. Ein kleines Schneebrett hatte sich gelöst
und einen der obersten erwischt. Der ist gestürzt
und hat die anderen Seilschaften mitgerissen.
Kletterspiegel: Wie haben Sie als Geschäftsführer reagiert?
Sturm: Ohne dass ich Details wusste, habe ich
kurzfristig eine Pressemitteilung herausgegeben,
dass die Teilnehmer verschollen sind. Mit den
Angehörigen waren wir in laufendem Kontakt.
Nachdem bekannt war, dass die Seilschaften abgestürzt sind, haben wir die Angehörigen zu einem ausführlichen Gespräch nach München eingeladen, bei dem auch alle anwesend waren, die
die Bergung vorgenommen haben. Den Pisang-
Peak haben wir dann aus dem Programm genommen. In der Ausbildung sind wir zudem darauf
eingegangen, wie man mit mehreren Seilschaften
gleichzeitig gehen kann und bessere Versicherungen baut.
Kletterspiegel: Die tragischen Ereignisse konnten den Erfolg des Summit-Club nicht
bremsen. Sehen Sie in den hohen Buchungszahlen heute einen Gegentrend zum selbstständigen
Bergsteigen?
Sturm: Das sehe ich nicht so. Im Prinzip war
es ja immer die Prämisse zu sagen, wir bilden die
Leute in unseren Kursen zu selbstständigen Bergsteigern aus.
Kletterspiegel: Seit 2004 sind Sie im Ruhestand. Sind Sie noch in den Bergen unterwegs?
Sturm: Meine letzte Reise war vor zwei Jahren
mit Freunden in Nepal. Dabei habe ich mir sämtliche Bänder im linken Sprunggelenk gerissen.
Nachts ist in einem Hotel der Strom ausgefallen
und ich habe eine Stufe übersehen. Insgesamt bin
ich aber bei weitem nicht mehr so viel unterwegs
wie früher. ■
DAV Summit Club, * 1984
1957: Der DAV-Fahrtendienst wird gegründet,
um auch kleinen Sektionen Ausbildungskurse
und Tourenwochen zu ermöglichen.
1969: Günter Sturm wird zum Leiter berufen. Der
Fahrtendienst wird in DAV Berg und Skischule
umbenannt.
1977: Die Berg und Skischule wird in eine GmbH
umgewandelt und ist somit selbstständige Körperschaft des DAV.
1984: Umbenennung in DAV-Summit-Club. Heute buchen etwa 12.000 Menschen jährlich Ausbildungskurse, Trekkingreisen und Expeditionen.
(Kilian Neuwert)
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Foto: Archiv Sturm
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So konnten wir passieren.
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
53
Titel
Schweiz Bouldern
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ch hatte mir eine schöne Einleitung zurechtgelegt: Im Zauberberg von Thomas Mann
werden aus einem Besuch des Helden Hans
Castorp bei seinem Cousin Joachim Ziemßen in
einem Schweizer Sanatorium aus einigen Tagen
Aufenthalt sieben Jahre. Beim Besuch des Bouldergebiets „Magic Wood“, dem Zauberwald am
nördlichen Fuß des San Bernardino-Passes, sollte
mich die Faszination des Unbekannten ebenso in
den Bann ziehen, so dass ich mir schwören würde, die nächsten Jahre hier immer wieder zurückzukehren. Es kam anders.
Donnerstag, 23. 6. 2011
Es regnet aus allen Kübeln im Tal. Avers ist
das Chiffre für höchsten Bouldergenuss, hat in
der Szene einen ebenso klangvollen Namen wie
Fontainebleau oder Val die Mello. Allein der
Klang des Namens lässt meine Erwartungen ins
Unermessliche steigen. Dazu kommen die begeisterten Berichte, die ich aus der Kletterhalle
54
zu hören bekam. Ich war geblendet vom Glanz
der Augen der Erzähler.
Nun aber waren die Blöcke, die hier im engen,
steilen Tal des noch sehr jungen Rheins an den
südlichen Hängen wild verstreut und aufeinandergetürmt umherliegen, pitsche-patsche nass.
Ich mache einen Spaziergang durch den Zauberwald, und ich komme mit Lehm verschmierten
Hosen wieder zurück. Der Waldboden und die
Wege durch das Steinlabyrinth sind erdig und
moosig, alles ist nach dem ausgiebigen Stauregen
an der Alpennordseite durchweicht.
Zum Glück ist der Campingplatz „Foghi Camping“ direkt an der Straße nach Avers frisch mit
Holzschnitzeln ausgelegt ist, so dass zwar die
Zeltheringe schlecht halten, dafür aber bei Dauerregen der Platz recht sauber und trocken bleibt.
Ich checke in der Rezeption ein. Für fünf
Franken am Tag ist man willkommener Gast. Ich
komme mit Micha, einem der beiden Betreiber
des Campings, ins Gespräch. Noch hat es zwar
bis auf die vier Chemieklos keine sanitären Anlagen auf dem Grund; doch nächstes Jahr soll es soweit sein. Die Gemeinde Außerferrera investiert
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Foto: Jochen Riegg
Boulder 1, Sektor Bach, Magic Wood: Die Hangel der „Super Nova“, Fb 7c+, ist das Testpiece der starken Boulderer.
Idylle am jungen Rhein: Der „Magic Wood“ mit Hunderten Blöcken befindet sich rechts des Flusses in kühlem Tannenwald.
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
55
Block 11, Sektor Bach, Magic Wood: Das Queren in „Madame Etoile“, Fb 6b+, verlangt viele Matten.
weiter in den Platz, schließt Strom an, baut Duschen und Klos, und der Platz soll auf der anderen Straßenseite erweitert werden. Die Gemeinde
hat erkannt, dass mit den Kletterern, auch wenn
sie wie Freaks aussehen und so gar nicht recht in
das Bild des gediegenen Touristen passen, Staat
zu machen ist.
Über den Besitzer des Hotels in Außerferrera
scheiden sich in den abendlichen Gesprächen am
Lagerfeuer die Geister. Er kann sich noch nicht
recht mit der neuen Klientel in den abgewetzten Kletterhosen und den wilden Rastalocken
anfreunden. Man ist sich sicher, er wird es noch
schaffen. Viele Möglichkeiten bleibt ihm nicht:
Außerferrera ist ein sehr kleiner Ort mit ungefähr zehn Dutzend Einwohnern; es liegt auf dem
Weg nach Avers-Juf, dem 2100 Meter hoch gelegenen Aussichtsdorf, wohin es die meisten Touristen zieht. Obwohl das Bouldergebiet „Magic
Wood“ in einem Naturschutzgebiet liegt, geht die
Gemeinde auf die Kletterer aus wirtschaftlichen
Gründen zu. Man will die Massen lenken, statt
Verbote auszusprechen, die dann doch umgangen
werden.
Die ganze Nacht hindurch prasselt es aufs Autodach; erst gegen Morgen hört der Regen auf.
Ich stopfe die Hörer meines MP3-Players ins Ohr
und schalte Amy Mc Donalds Lied „Footboller’s
Wife“ auf Endloswiederholung. Es löst in mir
eine Beschwingtheit aus, die Gedanken fliegen
56
zu Gott und der Welt. So mag ich es am liebsten:
Wenn beim Einschlafen die kalte Ratio des Tages
den irrationalen Spinnereien der Nacht weicht,
die niemand Rechenschaft ablegen müssen. Die
Gedanken sind dabei viel zu abgehoben, um sie
hier zu beschreiben. Doch ich verfluche den Tag,
an dem es abends nicht mehr sprudelt wie aus
einer Colaflasche, sich Assoziationen, Träume,
Sehnsüchte nicht mehr zu einem wirren Knäuel realitätsfremder Gedanken zusammenbrauen
dürfen. Wenn ich nur noch logisch denken darf,
so wie ich es als Informatiker jeden Tag muss.
Auch wenn ich diese abendliche Melancholie
sichtlich genieße, sie pflege wie eine arrogante,
blöde Marotte, heißt das nicht, dass ich an einem
vorzeitigen Ausscheiden aus dem irdischen Aufenthalt auch nur einen Gedanken verschwenden
würde. Im Gegenteil: Mein roter VW-Bus steht
am Hang und schaut mit der Front zum Rhein
hinunter, der 50 Meter weiter unten wild ins Tal
braust. Ich reiße die Handbremse bis an den Anschlag an. Ich will morgen nicht als nasser Engel
im Bodensee wieder aufwachen.
Freitag, 24. 6. 2011
Langsam wühlt sich die Sonne durch die Wolken hindurch. Es hat aufgehört zu regnen. MeiHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Foto: Jochen Riegg
Schweiz Bouldern
Foto: Jochen Riegg
Titel
Camping „Bodhi“ am Parkplatz „Magic Wood“: Holzschnipsel halten den Platz auch bei starkem Regen sauber.
ne nervende Übellaunigkeit weicht heiterer Zuversicht; aber wie bei einem Öltanker, der seine
Richtung wechselt, benötigt die Aufheiterung einen längeren Anlauf. Auf dem halb vollen Platz
herrscht aufgeregtes Geschwirre wie in einem
Bienenstock, dessen Bewohner nach Regen ungeduldig Ausschau nach leckerem Nektar halten.
Einige der Kletterbienen ziehen schon los, obwohl am Vormittag viele der Blöcke noch nass
sind. Warum die Kletterer manchmal so uniform
sind wie Bienen, ist mir ein Rätsel. Würde man
ihnen eine einheitliche Schultracht verpassen,
würden sie lauthals protestieren. Aber freiwillig
sehen sie alle gleich aus: schlaksige Leinenhosen, Fließjacken, Bommelmützen.
Eine Uniformität aber beeindruckt mich unter
den Jungen: Wenn sie sich zur morgendlichen
Wäsche am Brunnen die T-Shirts überstreifen,
kommen fein gezeichnete, muskulöse Oberkörper zum Vorschein, die Michelangelo zur Vorlage
getaugt hätten. Ich bin beeindruckt und schaue
verdruckst auf meinen Bauchansatz, der seit St.
Léger wenigstens etwas kleiner geworden ist; ich
habe – fragt mich nicht wie – seither zwei Kilo
abgenommen.
Das Bouldergebiet von Avers (oder auch „Magic Wood“, wie es präziser heißt) liegt auf 1250
Meter Höhe, in einem dichten Tannenwald liegen
auf einer Länge von etwa zwei Kilometern Hunderte von niedrigen und manchmal bis zu zehn
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Meter hohen Blöcken aus Granit verstreut oder
übereinander getürmt – ideal für die heißen Sommermonate Juli und August, wo es anderswo viel
zu heiß zum Bouldern ist. Es gibt wohl einiges
im Bereich 6a bis 6c zu klettern, aber die Hauptmusik spielt in den oberen Graden. Vor allem für
viele Kalkkletterer ist es angenehm, dass sich neben den üblichen Schiebereien im glatten Granit
sehr viel an großen und kleinen Kanten abspielt.
Der Fels ist erstaunlich griffig und leistig. Das
sollte mir eigentlich liegen.
N
achmittags kommt dann die Sonne immer
mehr durch und die freien Blöcke trocknen
rasch ab. Nach einer Suppe mit Hochzeitsnudeln
aus der Dose, die wie Spülwasser schmeckt und
die ich deshalb grantig ins Gebüsch kippe, schultere ich die Matte und es geht hinein in den Zauberwald. Vom Camping erreicht man über eine
Hängebrücke und einen ausgetretenen Waldweg
in fünf Minuten die ersten Böcke.
Nun, da schon wieder eine dicke Wolke den
Himmel verdunkelt, kehrt für kurze Zeit meine
Übellaunigkeit zurück. Die wird dadurch verstärkt, dass ich mich frage, was ich hier überhaupt mache: Ich drücke den Hintern in den
feuchten Waldboden, um aus dem Sitzstart – was
ist das? Alle meine alpinen Routen konnte ich aus
dem Stehen beginnen – nach drei Zügen am Gipfelkreuz anzugelangen. Nach drei Zügen! Und
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Titel
Schweiz Bouldern
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Foto: Jochen Riegg
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
59
Schweiz Bouldern
Foto: Jochen Riegg
Foto: Jochen Riegg
Titel
Block „Scary Christmas“ am Gotthard: Steve in„Il prigioniero“, Fb 6a, der die volle Aufmerksamkeit der Spotter verlangt.
Block „Scary Christmas“ am Gotthard: Dirk in dem gleichnamigen Boulder, Fb 8a.
nicht mal die schaffe ich! Die 6b, unter die ich
meine Matte geworfen habe, verlangt, dass ich
meine überlangen Füße an die Wand am Boden
presse, während ich meinen Hintern soweit unter
die Fersen schiebe, bis mir die Knie an der Nase
hängen. Dann versuche ich mich mit den Händen
den Körper an die Wand zu ziehen; aber ich bewege mich so viel, wie wenn man gegen einen
Sack Beton tritt.
Dann zwickt auch noch die Hüfte, obwohl ich
heute Morgen schon 200mg Diclofenac zu mir
genommen habe. Verflucht, ich hocke hier auf
dem Boden, meine Schuhe sind schmutzig, meine
neue Hose ist schmutzig, ich komme nicht vom
Fleck. Und ringsum gletscherüberwölbte Gipfel,
an denen man lange Routen klettern könnte. Ich
muss bescheuert sein.
Ich fluche auf all diese beschönigenden Beschreibungen. Die Kletterer sind ein Lügenpack.
Es mögen die letzten Bruchfelsen sein – nein, tolle Felsen, genial, muss du unbedingt hin; es mag
geschüttet haben wie aus Rohren – nein, das Wetter war toll, wir haben immer oben ohne geklet-
tivierende Stimmung. Soll ich noch einen Tag
bleiben?
Hans Castorp, Held aus Thomas Manns Zauberberg, gerne hätte ich es gemacht wie du: Nur
kurz vorbeischauen in Avers, dann aber so gefesselt sein, dass ich sieben Jahre nicht nach Hause zurückkehre. So geht es mir aber nicht. Und
zwar aus zwei Gründen: Der erste ist, dass ich
ein unaustehlicher Griesgram bin, wenn es regnet, so wie jetzt auch beim Schreiben. Bei Regen
drängt sich mir ein anderer Vergleich auf: „Einen
dumpfen, dunklen, lautlosen Herbsttag lang, da
die Wolken beklemmend tief am Himmel hingen, war ich alleine durch einen unsäglich tristen
Landstrich geritten und erblickte endlich., als die
Abendschatten sich niedersenkten, das schwermütige Haus Usher vor mir“. Ich denke an Untergang, an Katastrophe, an Flucht, verführt durch
die Erinnerung an Edgar Allan Poe. Zweitens ist
Avers eine geniale Spielwiese für Leute ab 7a
und 7b aufwärts. Hier gibt es tolle Probleme. Das
ist aber einfach zu schwer für mich.
Was ebenso toll ist an Avers im Gegensatz zu
60
tert. Verlogenes Pack. Ich hasse euch!
Warum wohl wird in Fontainebleau seit 100
Jahren gebouldert und in Avers erst seit zehn?
Seit 200 Jahren gibt es Alpinismus: Die besten
Linien, die besten Routen, die besten Gipfel sind
bestiegen, denke ich, als ich meinen feuchten
Hintern trocken reibe.
W
ie eine einzelne Wolke doch mein Gemüt
beeinflusst. Ich packe die Matte und komme an einem belebten Block im Freien vorbei.
Ich hock‘ mich auf einen Fels und schau dem
Treiben zu. Einige Deutsche und zwei Slowenen
versuchen sich an einer 6c, der „Super Bosna“.
Komm, probier doch mal. Nach einigen Versuchen schaffe ich glatt den Boulder, ohne mich
vorher aufgewärmt zu haben. Ich bin stolz. Die
Sonne kommt zurück.
Danach bin ich platt und es geht nicht mehr
viel. Noch ein paar 6as, dann geh ich zum Bach
und schaue einigen jungen Boulderern zu, die
sich an der Hangel „Super Nova“, 7c+, versuchen. Eine lockere, gelöste, aber dennoch moHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
den jetzt folgenden Gebieten Gotthard- und Sustenpass, ist der zentrale Campingplatz. Hier trifft
sich alles. Es gibt kaum eine andere Möglichkeit
im Tal zu übernachten. Internationales Publikum
ist garantiert: Spanier, Engländer, Franzosen, Slowenen, Österreicher, Schweizer, Deutsche. Man
kann alleine anreisen und kann sich sicher sein,
jemanden anzutreffen, dem man sich anschließen kann. Das fehlt am Gotthard und am Susten.
Avers ist leider absolut ungeeignet für Kinder, es
ist zu gefährlich. Durch die starke Verblockung
gibt es schlecht einsehbare Hohlräume im Boden,
die sehr tief sein können.
Samstag, 25. 6. 2011
Fahrt an den Gotthardpass. 2100 Meter. Was
für ein Gegensatz: Die Boulder liegen auf der
Wiese wie Heuballen auf dem flachen Acker.
Kein düsterer, dichter Tannenwald, der zum
Schwermut verführt, offene, frische Almwiesen,
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Titel
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Foto: Jochen Riegg
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
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Foto: Jochen Riegg
Schweiz Bouldern
Foto: Jochen Riegg
Titel
Sektor „Sustenbrüggli“ am Sustenpass: Boulderwiese in alpinem Kessel. Das Bild zeigt Block 16 mit „Kleinem Dach“, Fb 6b+
Jause „Sustenbrüggli“ am Sustenpass: Im Hintergrund Boulder 3 mit „Traumland“, Fb 8a und „Rêve de faire“, Fb 8b.
wo die Gedanken fliegen wie ein Samenkorn im
lauen Wind. Zeus, der griechische Wetterfrosch,
griesgrämig geworden durch die Ereignisse in
seiner Heimat, schickt uns am Nachmittag eine
Wetterfront aus Andermatt herauf, die uns erneut einduscht. Regen, Regen, Regen, von drei
Uhr nachmittags bis Nachts ums zehn. Ich treffe
ein junges Pärchen aus Deutschland, die ich zum
Kaffee zu mir in den Bus einlade. Abends treffen dann noch zwei weitere Autos mit Stuttgarter
Boulderern ein. Eine kleine Wagenburg wird gebaut und eine Plane darüber gespannt. Wenigstens nicht alleine in dem Siff.
Abends hält mich nichts mehr im Camp,
dem großen Schotterparkplatz unterhalb des
Gotthard-Stausees, der sich sehr gut zum Übernachten und als Ausgangspunkt der umliegenden
Boulder eignet. Ich renne im Regen mit einem
kaputten Schirm den Westhang hoch, nass und
nässer werdend. Aber ich muss laufen, rennen,
mich bewegen, sonst überfluten mich wieder
die melancholischen Hormone und ich versinke vollends in düsterer Agonie. Patschnass nach
zwei Stunden zurück von der Erkundung, nichts
gesehen außer Nebel, nasse Wiesen und Sturzbä-
Hatte Zeus, der griechische Wetterfrosch, von der
Rettung Griechenlands erfahren oder warum war
er so gut gelaunt?
Schluss mit trüben Gedanken, nachdenklichen
Philosophien! Auf zum Bouldern!
Der Gotthard teilt sich in verschiedene Boulderzonen mit jeweils einigen Blöcken auf, die
einige Hundert Meter, manchmal auch einige
Kilometer auseinander liegen. Alle Gebiete liegen nördlich der Passhöhe. Der zentrale Teil am
Gotthard-Stausee mit den Gebieten „Dark Side“,
„Ectasy“ und „Scary Christmas“ umfassen mehr
als die Hälfte aller Boulder am Gotthard. Sie sind
zu Fuß vom Parkplatz am Stausee in einigen Minuten über ansteigende Almweisen gut zu erreichen. Mit über 400 Bouldern liegt der Gotthard
hinter Avers mit 600 Bouldern auf Platz zwei der
drei beschriebenen Gebiete.
Vier Parteien, rund zehn Boulderinnen und
Boulderer, packen die Sachen und rennen hoch
zum ersten Block, dem „Dark Side“. Es ist ein
herzliches Miteinander; und obwohl ich mit fast
50 der älteste bin, werde ich mit in die Gemeinde
aufgenommen und angefeuert und gespottet wie
jeder andere auch. Ich schäme mich, je schlecht
64
che. Aber reicher um eine kleine Allegorie, ein
kleines Sinnbild: Während des Aufstiegs im weglosen Gelände häufte ich ab und zu kleine Steinmännchen auf. Denn während ich zurückblickte,
erkannte ich, dass der Rückweg von oben völlig
anders aussah als beim Blick nach oben. Ohne
mir den Weg auch im Rückblick anzuschauen
und kleine Wegmarken zu setzen, hätte ich in
dem Nebel, den grauen Felsen und den eintönigen Wiesen den Rückweg nicht wieder gefunden.
Und dadurch, dass ich mir schon beim Aufstieg
den Rückweg einprägte, traute ich mich viel
höher, als ich es sonst gewagt hätte. Ist es nicht
im Leben auch so: Dass man immer mal wieder
zurückblicken muss, um sich des Weges zu versichern, den man bisher gegangen ist, um dann
umso kraftvoller und entschlossener den Weg
nach vorne gehen zu können?
Sonntag, 26. 6. 2011
Gigantisch! Ein Blau über uns wie aus Malkasten. Keine Wolke. Die nächsten beiden Tage.
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
über diese doch recht eigene Zunft der Boulderer
gedacht zu haben; ich hielt sie für Dünnbrettbohrer, die aus ein paar Metern Kletterei einen Riesen Bohai machen; ich hielt sie für faule Säcke,
die keine Rucksäcke zu Hütten hochschleppen
wollen; ich hielt sie untauglich überhaupt für
die Berge, weil sie Wetterzeichen nicht deuten
können: dass zum Beispiel auflösende Kondensstreifen schönes Wetter voraussagen. Man hörte
mir jedenfalls erstaunt zu, als ich diese alpine
Binsenweisheit zum Besten gab, die keiner von
denen kannte. Aber dann diese offene Herzlichkeit, voraussetzungslos, es wird ein wunderbarer
Sonntag werden.
Und Wolfgang Güllich kannten einige von denen auch nicht. Da wird mir plötzlich mein Alter
bewusst. Ja, die runden Geburtstage; demnächst
steht einer bevor. Der 30. Geburtstag war mir
noch wurscht, mit dem 40. kokettierte ich, vor
dem 50. habe ich Angst. Ja, ich habe Angst, 50 zu
werden. Es ist eine komische Zahl. Eine, die wie
ein Seil gespannt ist, hinter das man nicht mehr
zurückkommt. Früher, mit zwanzig, da brauchte
man auf Geburtstagsfesten mindestens zehn Kästen Bier, zehn Flaschen Wein und drei Flaschen
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Schweiz Bouldern
Foto: Jochen Riegg
Titel
Nichts gehts mehr: Jochen Riegg chillt unterm Block 16 am Sustenbrüggli..
Whiskey. Mit dreißig waren es noch fünf Kästen Bier, aber schon kein Schnaps mehr. Mit
vierzig reichte ein Kasten Bier, die Hälfte Export, die andere Hälfte Weizen; und mit fünfzig, da gehen die Gäste um elf nach Hause,
weil sie zu müde sind.
Angriff! Matten ausgelegt unter der tollen
Schieber-6c „Alinghi“ mit Sitzstart am Boulder „Dark Side“. Ranziehen vom Boden geht
ganz gut an großen Untergriff, dann links eine
Griffmulde, dann rechts haltend einen Hauch
von Kante hoch. Das Problem sind die Tritte
für den rechten Fuß an der glatten Wand. Es
sind Krümel so groß wie Atome, auf denen der
Schuh Halt finden muss. Mit meinem ausgelatschten Fiveten Velcro habe ich keine Chance. Bis mir das klar wird, sind schon zehn Versuche vergangen. Aber ich habe noch den alten
roten Anasazi im Rucksack, von dem ich nie
verstanden habe, warum dieser Schuh nicht
mehr produziert wird. Es war mein jahrelanger
verlässlicher Begleiter. Der grüne Nachfolger
ist ein Graus, der weiße etwas besser, aber für
meine Begriffe viel zu stoffig.
Die alten roten übergestreift und peng! – ich
bin oben. Geil, 6c! Ich freue mich. Schon geht
es weiter zum nächsten Block. Am „Ecstacy“
werden unter dem gleichnamigen Boulder
fünf Matten ausgelegt. Oh, die braucht man!
Der Boulder ist ganz schön hoch (gut 6 Meter)
und zu den Matten braucht man noch sehr aufmerksame Spotter.
Foto: Jochen Riegg
D
Sustlihütte auf 2250 m: Der 50-minütige Aufstieg vom Bouldergebiet entschädigt mit Panorama, heißer Suppe und Slackline.
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Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
er Anblick der stumpfen, rechtwinkligen,
in der Mitte geknickten Kante ist eine Augenweide. Der Boulder zieht einen förmlich
an. Etwas links beginnt es im Stehen mit einem
sehr feinen Riss für die linke Hand. Das erste
Problem ist überhaupt stabil in den Boulder zu
kommen und die Füße auf winzige Körnchen
sauber zu positionieren. Zwei Züge am feinen
Riss entlang, sehr schwer, dann muss die rechte Hand raus auf die Kante zum Knick greifen,
wo sich an der glatten Wand ein etwa 1 cm
großer Quarzkiesel befindet; die rechte Hand
muss etwas über den Kiesel an der glatten
Kante weiterrutschen, dann den rechten Fuß
über den Kopf werfen, hoch auf den Kiesel,
die linke Hand krallt sich in den feinen Riss,
dann den gesamten Körper auf dem rechten
Fuß aufrichten. Und jetzt kommt‘s: die linke
Hand muss für kurze Zeit den Riss verlassen,
um weiter oben neu einzuhaken. Beim Hochgreifen fängt der Körper an sich zu drehen.
Wird der Schwung zu groß, hilft nur noch der
Spotter, der einen beim Fallen und Drehen hoffentlich in Richtung Matte drückt. Schafft man
den Schwung abzufangen, muss man den KörKletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
per vollends auf den Kiesel aufrichten, die linke
Hand lösen und ganz sachte über der rechten auf
die Kante setzen; ist man hier zu hastig, dreht es
einen erneut aus der Kletterstellung heraus und
man fällt.
Ich brauchte sicher zehn Versuche, um die kurze Passage bis zum Kiesel mit der rechten Hand
hinzubekommen. Hat man das automatisiert,
geht diese Passage erstaunlich einfach. Das Aufrichten erfordert aber Kraft und Mut: Man steht
schon gut vier Meter über dem Boden.
Was haben die Leute mich hochgeschrien, als
ich mich das zweite Mal auf dem Kiesel aufrichtete. Ich hätte längst aufgegeben, aber von unten
schrien zehn Männlein und Weiblein aus vollen
Rohren: Du schaffst es, allée, sieht gut aus, ja,
ja, ja.
Und jedes Ja gab mir Kraft dranzubleiben, es
aus fast aussichtsloser Position, in der ich schon
die Drehung und das Fallen in den Haaren spürte, weiter zu probieren. Ohne Pathos: Ohne diese
mentale Unterstützung von unten hätte ich aufgegeben. Ich hätte nicht an mich geglaubt. So
aber gab mit jeder Schrei Kraft und Mut weiter
dranzubleiben. Langsam schob ich mich auf den
rechten Fuß, ich spürte die Zehen nicht mehr, ich
wusste gar nicht mehr, dass ich stand, aber die
Schreie gaben mir Halt. Selten war Schreie so
eine hilfreiche Stütze.
Die linke Hand war über der rechten, der rechte Fuß nun endlich durchgestreckt, dass volle
Gewicht drauf, und obwohl ich das Gefühl hatte,
ich müsste unbedingt den Fuß nachjustieren, ging
gar nichts, der Fuß war unbeweglich wie ein Lattenzaun. Jetzt oder nie! Ich löste die rechte Hand
und griff mitten in die rechte Seitenwand auf eine
kleine Leiste. Nun musste der rechte Fuß sein
bequemes Lager aufgeben. Nochmals höchste
mentale Anspannung: Ich fühle mich richtig hoch
oben, gefühlte zehn Meter, obwohl es nur vier
waren. Aber im neunten Grad sind vier Meter
ganz schön viel. Zwei fehlen noch. Nicht mehr
ganz so schwer, dafür umso eine größere Prüfung
für den Mut. Einmal den guten Kiesel verlassen,
dann war nichts mehr zu korrigieren. Rauf auf
den rund 6 Meter hohen Block oder abtauchen
und reinbrettern in die Matten.
Im Film „Midnight Express“ gibt es gleich
zu Beginn die berühmte Szene, wo man nur den
Herzschlag des amerikanischen Touristen hört,
der gerade dabei ist, einige Kilo Hasch am türkischen Flughafenzoll in Istanbul vorbei zu
schmuggeln. Der Herzschlag wird schneller und
lauter und man möchte aus den Kinositzen springen, so spannend ist die Szene. Genauso klopft
mein Herz, nun fünf Meter über dem Boden, den
Ausstiegsgriff im Visier wie der amerikanische
Tourist das rettende Flugzeug. Während dieser
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Titel
aber auf der Gangway abgefangen wird und ihm
ein jahrelanges Martyrium im türkischen Knast
in Istanbul und Ankara bevorsteht, springe ich
beherzt zum Ausstiegsgriff, ebenso wohlwissend,
dass ich nur einen Versuch habe.
Freiheit! Sieg! 7a! Was für ein Gefühl. Über
mir der stahlblaue Schweizer Himmel, unter mir
eine klatschende Menge junger Leute. Ich habe
keine Tränen in den Augen, das wäre zu kitschig,
aber ich bin stolz wie ein Gockel auf dem Misthaufen.
Am Sonntag Abend fällt mir die Entscheidung nicht schwer, nicht doch noch am Gotthard
zu bleiben. Denn meine Hochschreier, ohne die
ich die 7a nicht geschafft hätte, müssen nach
Deutschland zurück. Alleine will ich aber nicht
auf dem Parkplatz am Stausee schlafen, so starte
ich, nachdem ich nochmals das Klo im Passrestaurant für größere Geschäfte in Anspruch nahm,
den Bus und fahre in 40 Minuten hinüber zum
Sustenpass, zum Parkplatz des Sustenbrüggli, wo
ich unter grandioser Alpenkulisse unterhalb des
Sustenhorns mein letztes Nachtquartier beziehe.
Montag, 27. 6. 2011
Wieder aufgewacht mit makellosem Wetter.
Blauer Himmel, weiße Gipfel, grüne Wiesen,
alles in übersättigten Farben. Ein tiefer Atemzug versucht, etwas von der heilen Welt in die
Lungen zu saugen, vielleicht hilft es gegen meine
andauernde Müdigkeit. Frisch auf! Letzter Tag!
Das Bouldergebiet am Sustenpass liegt direkt
hinter der Jause „Sustenbrüggli“, die sich in einer
halben Kehre rund zwei Kilometer unterhalb des
Sustenpasses in östlicher Richtung (Göschenen)
befindet. Unterhalb der Jause befindet sich ein
Aussichtsparkplatz, auf dem rund 20 Autos Platz
finden; dort sollen die Boulderer parken; der
Parkplatz an der Kneipe selbst ist für die Gäste
bestimmt.
Die Blöcke liegen in nördlicher Richtung gegen den Kessel des Wendenhorns (3300 m) und
des Grassens (3200 m) direkt hinter der Kneipe. Wieder mitten in den Almwiesen, links und
rechts des Sustenbaches. Ungefähr 150 Boulder
sind auf einer Länge von einigen Hundert Metern zu klettern; genug Stoff für einige Tage. Ein
Block, der die Routen „Traumland“ Fb 8a und
„Reve de faire“, Fb 8b, enthält, liegt eine Minute
von der Kneipe weg; wenn man will, kann man
das Glas Bier auf dem Tisch stehen lassen, Bouldern gehen und anschließend weitertrinken.
Sowohl der Gotthard als auch der Susten eignen sich gut für Kinder. Nicht, dass sie selbst
bouldern könnten, das ist einfach zu schwer, aber
68
Schweiz Bouldern
sie können gefahrlos mitgenommen werden. Am
Sustenpass können sie sich zudem am Bach austoben, Dämme bauen oder darin baden und planschen.
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etzter Tag, letzte Kraft. Ich bin arg geschunden. Die Finger brennen. Es geht nicht mehr
viel. Ich treffe zwei Schweizer, der eine so alt
wie ich, der andere etwa zehn Jahre jünger. Wir
tun unsere Matten zusammen und machen uns
am „Kleinen Dach“, Fb 6b+, am Hauptblock zu
schaffen. Sieht harmlos aus, hat es aber in sich.
Zuerst der Überhang. Die ersten Varianten taugen
nicht. Wir kommen nicht an den Ausstiegshenkel an der Dachkante. Der ältere Schweizer hat
eine neue Idee – zwei, drei Mal probiert, schon
geht’s. Dann aber die große Ernüchterung: Dort
ist es längst nicht vorbei, sondern jetzt kommt
die eigentliche Schlüsselstelle. Von der Dachkante führt spiegelglatter, griffloser Gletscherschliff
immer steiler werden zum Gipfel des Blockes.
Man liegt auf der Kante, der eine Fuß hängt nach
unten, der andere ist auf den Schliff gepresst, der
ganze Körper – mit allem was dran ist – auf Reibung. Der Blick wandert aus vier Metern Höhe
bedrohlich nach unten, die Matten werden sichtlich kleiner, die liegende Position ist so unnatürlich, dass die Angst, unkontrolliert abzuschmieren, ständig im Nacken sitzt.
Rumms! Der ältere Schweizer knallt mit voller Wucht von der Kante auf die Matten, 85 Kilo
bohren sich in den Schaumstoff, dann ein lauter
Schrei: Der linke Arm ist zwischen die Matten
geraten und auf dem harten Schotter aufgeschlagen. Ich denke, die Elle ist gebrochen. Dann rappelt er sich auf, der Arm blutet. Er will, so hat
er es mir fünf Minuten vorher mit Stolz erzählt,
diese Woche noch an den Walkerpfeiler fahren
und diesen nach 25 Jahren endlich machen. Oje,
hoffentlich nichts Schlimmes mit dem Arm.
Entwarnung! Der Arm ist nicht gebrochen.
Nach zehn Minuten Sammeln fasst er sich ein
Herz, wie ein wütender Stier, der sich am Torero
rächen will, greift er an, ist wieder an der Kante; es schreit runter, dass wir diesmal besser aufpassen sollen. Wir sind aufmerksam wie Kinder
beim Geschichtenerzählen, starren mit ausstreckten Armen nach oben. Millimeter um Millimeter,
wie ein Walross, das sich auf eine Klippe wälzt,
rutscht er mit dem Körper nach hinten und verschwindet schließlich ganz aus unserem Blick.
Dann ein Schrei. Nein zwei. Nein drei. Dieses
Mal aber aus Freude. Chapeau! Respekt! Glückwunsch! Wir klatschen uns wie richtige Boulderer mit den Fäusten ab. Einer nach dem anderen
schafft es.
Ich bin durch. Zum Abschluss Aufstieg in 50
Minuten zur Sustlihütte auf 2250 Meter. Welch
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
ein Ausblick, welch ein Panaroma! Ich drehe
mich wie ein fest installiertes Fernglas einmal
um die eigene Achse und bin berauscht von der
wilden Schönheit des Hochgebirges. Ich schlürfe
eine heiße Tomatensuppe, dazu Würstl mit Senf.
Köstlich. Tut das gut. Ich frage die Hüttenwirtin,
was sie eigentlich macht, wenn die Hütte geschlossen ist, also von Mitte Oktober bis Mitte
Mai. Sie antwortet, ihr Mann arbeite als Bergführer. Im Winter gebe er dann Skikurse und sie sei
daheim bei den Kindern. Sie fragt nach meinem
Beruf: Sie ist entsetzt, als ich sage, dass ich programmiere. Um Himmels willen, das wäre nichts
für sie.
Als ich die Schuhe schnüre und den Abstieg
antrete, schüttelt die Hüttenwirtin die Betten aus,
hängt sie über den Fenstersims im ersten Stock,
während der Mann hinter der Hütte die Steigeisen mit einer Feile schärft.
Hier oben stimmt die Welt noch. Die Frau
macht die Betten, der Mann richtet die Steigeisen, und der Grassen hat eine Eiskappe. Das war
schon immer so. Jeder hat seine Rolle. Und dazu
kein Handy, kein Internet, kein Facebook, kein
Google. Das Leben ist einfach. Das Leben ist
schön.
Während ich ins Tal stolpere, bin ich mir sicher: In zehn Jahren wird Facebook längst den
Sustenbach hinuntergespült sein, während hier
alles noch beim Alten ist. Als ich aber den kümmerlichen Gletscher unter dem Kleinen Sustenhorn erblicke, ahne ich, dass die heile Welt auch
hier bedroht ist. ■
P.S. Die Nummern der Boulderblöcke entsprechen den Nummern des Führers „Swiss Bloc“
von Harald und Uli Röker.
Reiseinfo Schweiz Bouldern
Avers („Magic Wood“)
Anfahrt
Von Chur auf der A13 Richtung San Bernardino-Pass.
Nach dem Bärenburgtunnel Ausfahrt nehmen. Links
hoch Richtung „Avers-Juf“. Nach ca. 1,5 km kommt
rechts der Parkplatz „Magic Wood“.
Übernachtung
Auf dem Camping-Platz, 5 SFr pro Nacht.
www.bodhi.ch
Zugang
Vom Camping über eine Hangebrücke zu den Blöcken in
ca. 5 bis 10 Minuten.
Charakter
Granit, sehr stark verblockt. Die Blöcke verteilen sich
auf eine große Fläche in einem dichten Tannenwald am
Hang. Alles zu Fuß zu erreichen. Völlig ungeeignet für
Kinder. Einige leichte Boulder, hautptsächlich jedoch
schwere Boulder ab Fb 7a. Meereshöhe ca. 1250 m.
Gotthardpass
Anfahrt
Passhöhe Gotthard
Übernachtung
Im Auto oder Bus am Schotterparkplatz des GotthardStaussees. Campingplatz in Andermatt.
Zugang
Die verschiedenen Sektoren sind auf einige Kilometer
entlang der Passstraße verteilt. Mit Auto oder zu Fuß.
Charakter
Granitblöcke in Almwiesen. Meereshöhe 2100m. Kindertauglich. Leichte und schwere Boulder gemischt.
Sutenpass
Anfahrt
Von Göschenen den Sustenpass hoch, ca. 2 km unterhalb der Passhöhe am „Sustenbrüggli“ parken.
Zugang
Die Boulder sind direkt hinter dem Restaurant in 5 Minuten zu erreichen.
Charakter
Granitblöcke in Almwiesen. Meereshöhe 1950 m. Kindertauglich mit Spielmöglichkeit am Bach. Leichte und
schwere Boulder gemischt.
Führer
Swiss Bloc, Ulrich und Harald Röker,
ISBN 978-3-938680-13-1
Alpen en bloc 1, Panico-Verlag
ISBN 978-3-936740-69-1
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
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Buchkritik
Block‘n‘Road
Geschafft!: Der Autor Steffen Kern in der Ironman-Traverse, V4, Bishop; Foto: Kern
„Ich werde es
definitiv wiedertun“
So lautet der letzte Satz in Steffen Kerns Tagebuch über
seine Boulderreise in den Südwesten der USA. Ob es dem
Leser mit dem Lesen ebenso ergeht,
ergründet Jochen Riegg
Das Tagebuch erzählt die Geschichte eines
achtwöchigen USA-Aufenthalts in den bekanntesten Bouldergebieten im Südwesten. Die Reise
beginnt in San Francisco, führt ins Yosemite an
die Blöcke entlang des Merced-Rivers vor fulminanter Kulisse, geht weiter zu den einsamen Blöcken in gottverlassenen Landschaften von Ibex
in Utah, über Joe‘s Valley und Big Bend in den
Süden zu den irren Felsformationen von Hueco
Tanks, Texas, zurück in den Westen nach Bishop, dem Weltboulder-Mekka am Owen‘s River
mit seinen vielfältigen Gebieten und Gesteinen,
schließlich endet der Trip im Garten Eden des
Joshua-Tree-Nationalparks mit seinen eigenartigen Palmlilien zwischen Tausenden von goldgelben Granitblöcken.
Recht schnell stellt sich beim Lesen der Tagesszenen und beim Betrachten der spannenden
Bilder der Neid ein. Warum hocke ich jetzt am
Rechner und bin nicht eben dort, in den wilden
Landschaften der amerikanischen Nationalparks. Nachdem das Gepäck des Autors verspätet in San Francisco eingetroffen ist, geht es in
schneller, direkter, praller Sprache hinein in die
Boulderwelt aus einsamen Blöcken, störrischen
Problemen und coolen Kletterbekanntschaften.
Steffen Kern gelingt es, die Tagebuch-Form nicht
zur Gefühlsduselei zu missbrauchen, sondern den
Leser durch hellwaches Beobachten und durch
eine ungefilterte Sprache mitten ins Geschehen
hineinzuziehen. Er entwickelt dabei einen ganz
eigenen Stil, der dem Leser das Tagesgeschehen
in lebhaften Episoden und sprühender Sprache
vor Augen führt.
Manchmal fehlt durch die Tagebuchform etwas
Spannung. Das macht der Autor aber durch bewegende Actionbilder und geniale Landschaftsaufnahmen – um Steffen Kerns Liebliegswort
„genial“ aufzunehmen – mehr als wett. Diese
faszinieren durch Spannung zwischen extremen
70
Landschaften und extremen
Boulderszenen. Die Farbigkeit der Prärien, Wüsten und
Gebirge des amerikanischen
Westens unterstützen zudem
die erzählenden Bildwelten
des Autors. Hier ist er nicht
mehr weit von Reinhard Karl
entfernt. Deshalb würden die
Texte nicht ohne die Bilder
und die Bilder nicht ohne
die Texte funktionieren. Das
ganze Buch ist stimmig.
Das ganze als Tagebuch
zu bezeichnen halte ich dennoch für eine unglückliche
Entscheidung. Denn erstens:
Wer liest gerne Tagebücher.
Zweitens stimmt das gerade
für dieses Buch nicht. Und
drittens: Es ist weitaus mehr.
Es ist ebenso ein Band mit
beeindruckenden
Bildern,
und es kann auch als Reiseführer benutzt werden. Im
Anhang werden die einzelnen Gebiete ausgiebig dargestellt: Mit ausführlichen
Infos, Tipps und Karten.
Ich kann nur jedem raten, der eine ähnliche Reise
plant, sich dieses Buch vorher anzuschauen, es bestenfalls gleich mitzunehmen.
Es animiert zum Nachreisen
und zum Nachleben. Ich bin
gespannt auf das nächste
Buch, auch wenn der Autor
sich dazu im Interview noch
in Schweigen hüllt. ■
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
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Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
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ISBN 97
€ 33,00
71
Interview
„Ich bin ein
Schreiber“
Steffen Kern, Autor von
„Block‘n‘Road“, im Gespräch mit
Herausgeber Jochen Riegg über
die Entstehung des Tagebuchs,
euphorische Momente und seine
Zukunftspläne
Kletterspiegel: Steffen, du bist Redakteur bei
„klettern“ und normalerweise auf der anderen
Seite des Mikrofons. Wie fühlst du dich?
Kern: Das ist tatsächlich das erste Mal, dass
ich interviewt werde. Bin gespannt, ob ich was
zu sagen habe.
Kletterspiegel: Kannst du kurz schildern,
wie man darauf kommt, ein Tagebuch über einen
Bouldertrip durch die USA zu schreiben? Geplant
waren die acht Wochen im Herbst 2009 doch als
ganz normaler Urlaub.
Kern: Das war auch so nicht geplant. Ich hatte
mein altes Laptop dabei, um Fotos zu archivieren, vielleicht gleich vor Ort einen Artikel für
„klettern“ zu schreiben und vor allem um Kontakt mit der Heimat zu halten. Und damit hat alles
begonnen. Nachdem bei meiner Ankunft meine
Reisetasche nicht angekommen war und ich anschließend einen größeren und deutlich teureren
Mietwagen nehmen musste, weil mein Crashpad
zu groß war, hatte ich echt schlechte Laune. Und
da habe ich gleich am ersten Abend auf der Dachterrasse meines Hostels eine „Abkotz“-Rundmail
an vielleicht 40 Freunde geschickt. Acht Tage
später hatte die Rundmail dann schon einen
15-seitigen Anhang, ein grob layoutetes PDF mit
vielen Fotos und Texten. Bei der dritten Mail aus
Hueco Tanks war das PDF feiner ausgearbeitet
und hatte 44 Seiten. Es strömten so viele Eindrücke auf mich ein, und es machte einfach Spaß,
diese niederzuschreiben. Ich bin eben ein Schreiber, wahrscheinlich kann ich nicht raus aus meiner Haut. Und dann habe ich auch gemerkt, dass
ich beim Fotografieren viel ambitionierter und
kreativer bin als bei einem normalen Bouldertrip
nach Bleau oder ins Tessin. Ich finde nach wie
vor, das kann sich sehen lassen. Auf meine dritte Rundmail schrieb mir dann ein alter Freund:
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Steffen Kern
Wenn du daraus kein Buch machst, dann mach‘s
ich! Tja, und da war mir sofort klar, dass er Recht
hat, ab da war das Buch im Kopf.
Kletterspiegel: Hast du jeden Tag geschrieben? Nach den harten Bouldern, die du tagsüber
gemacht hast, wäre jeder andere abends todmüde
ins Bett gefallen.
Kern: In Hueco Tanks hat einer mal gemeint,
ich arbeite zu viel. Recht hatte er, für einen Urlaub war‘s definitiv zu viel! Im Durchschnitt
habe ich bestimmt fünf Stunden pro Tag gearbeitet, geschrieben, Fotos bearbeitet, layoutet.
An Ruhetagen waren‘s auch mal zwölf Stunden.
Aber es kam mir nicht vor wie Arbeit, ich musste
es quasi tun!
Kletterspiegel: Und wie kam es dann zum
Kontakt mit dem Geoquest-Verlag?
Kern: Schon am zweiten Tag im Yosemite
habe ich Christiane Hupe beim Bouldern kennengelernt, ein Tag später auch Gerald Krug, als
er vom El Cap zurück war. Und damit kannte ich
den Geoquest-Verlag. Ich habe sie dann in meinen Mail-Verteiler aufgenommen und als ich drei
Monate nach meiner Rückkehr ein erstes Layout
für das Buch gebastelt hatte, habe ich auch ihnen
ein PDF geschickt. Ich glaube, drei Tage später
hatte ich ihre Zusage.
Kletterspiegel: Und der Rest war dann Verlagssache?
Kern: Nein, ich habe das Layout und die Bildbearbeitung quasi bis zur Druckabgabe gemacht.
Jakob Schlademann, der Grafiker des Verlags,
hat dann den Umschlag übernommen. Insgesamt
habe ich nach der Reise fast noch ein dreiviertel
Jahr daran gearbeitet. Und nicht selten folgten
auf acht Stunden Redaktion noch acht Stunden
Arbeit am Buch.
Kletterspiegel: Du hast viele Zitate von Adorno in deinem Buch. Dein Lieblingsphilosoph?
band mit tollen Action-Szenen ist. Und genauso
gut hätte man das ganze auch als Auswahlführer
gestalten können, denn es enthält im Anhang sehr
viele nützliche Informationen. Oder man hätte
wie Messner und Karl es tun, mehr konstruieren
und dramatisieren können.
Kern: Ja, das hätte man alles machen können,
aber das wollte ich nicht. Ich bin kein Führerautor. Mir liegt viel mehr am literarischen Schreiben und weniger am nüchternen Dokumentieren.
Das sollen andere machen. Die Texte sind ja spätestens am Tag danach entstanden, dadurch sind
sie meines Erachtens sehr authentisch. Von daher
passt Tagebuch schon. Ob das jetzt unter verkäuferischen Gesichtspunkten Sinn macht, kann ich
nicht beurteilen. Für mich hört sich Tagebuch jedenfalls deutlich interessanter an als sowas Abgedroschenes wie „Impressionen“. In den ursprünglichen Dokumenten wollte ich meine Freunde
meine Reise ein wenig miterleben lassen, wenn‘s
optimal läuft, ihnen zu einer Reise im Kopf zu
verhelfen. Und diesen Anspruch hatte ich auch
beim Buch: dem Leser zu einer Reise im Kopf
zu verhelfen – durch Anekdoten und Essays, und
selbstverständlich über die vielen großformatigen Fotos. Klar, es ist genauso ein Bildband wie
ein Tagebuch, aber soll ich auf dem Titel denn als
Unterzeile „Bildband eines Bouldertrips durch
den Südwesten der USA“ schreiben. Nein, „Tagebuch“ passt.
über Gefahren nicht so viel Gedanken gemacht
habe.
Kletterspiegel: Ist es nicht gefährlich, auf irgendwelchen gottverlassenen Plätzen im Auto zu
schlafen, einsam, alleine, fernab jeder Polizeistation? Plötzlich steht nachts jemand da, hält dir die
Knarre unter die Nase und keiner kann dir helfen.
Kern: Gut, so was habe ich nicht gemacht. Auf
meinen Zwischenstopps habe ich immer in Motels übernachtet und in den Klettergebieten auf
den Campgrounds. Da waren auch immer Leute
da. Also beim Reisen hatte ich keine Angst.
Kletterspiegel: Und giftige Schlangen?
Kletterspiegel: Es fällt auf, dass in deinen
Texten ein Wort nie vorkommt. Hattest du zum
Beispiel nie Angst, überfallen zu werden?
Kern: Echt? Das war mir gar nicht bewusst,
dass ich nie „Angst“ verwende. Mir war‘s schon
manchmal unheimlich, etwa auf der Fahrt nach
Ibex, wo mir gerademal fünf Autos auf 800 Kilometern begegnet sind und meine Info war, dass
ich in diesem Gebiet am Ende der Welt garantiert
keinen Menschen treffen werde. Und dann hat es
in Ibex keine fünf Minuten bis zur ersten Unterhaltung gedauert. So lief es fast immer, und das
hat mich wohl so positiv gestimmt, dass ich mir
Kern: Einer meiner Lieblingsphilosophen.
Aber seine „Minima Moralia“, aus denen die
meisten Zitate stammen, ist auf jeden Fall mein
philosophisches Lieblingsbuch. Da sind viele
berühmte Sätze drin wie „Es gibt kein richtiges
Leben im falschen“ oder „Das Ganze ist das Unwahre“.
Kletterspiegel: Beim Lesen hat man den Eindruck, dass es neben den authentischen Geschichten mindestens ebenso ein ausführlicher BildHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Foto:
Steffen Kern
Kletterspiegel
– Heft 2, Juli 2011
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Interview
Kern: Ich habe gelesen, dass es es in Bishop
nur im Frühjahr Klapperschlangen gibt. Den Eindruck hatte ich aber auch in allen anderen Gebieten.
Kletterspiegel: Gibt es ein Gebiet, dass du besonders empfehlen kannst?
Kern: Das ist schwierig, alle Gebiete, die ich
besucht habe, waren großartig! Trotzdem, vom
Gesamteindruck würde ich sagen: Bishop. Die
heißen Quellen, die schneebedeckten Berge der
Sierra, die Infrastruktur, das ist schon super. Und
die Bouldergebiete sind der absolute Hammer:
vor allem die Buttermilks, aber auch die anderen
Gebiete. Bishop steht bei mir seither auf einer
Stufe mit Bleau – und das will bei mir etwas heißen! Hueco Tanks ist aber auch super, Yosemite, Joshua Tree, Joe‘s Valley auch, und in diese
Mondlandschaft von Ibex möchte ich unbedingt
auch noch mal!
Kletterspiegel: Du hast mit „Ironfly“ deine
erste V9 geklettert, übersetzt der 10. Grad. War
es das wirklich? Du schreibst in deinem Buch,
dass die Schwierigkeitsgrade manchmal sehr individuell und unterschiedlich sind.
Kern: Ich kann das schwer beurteilen. Aber
auf 8a.nu geben rund 45 von 50 Begehern „Ironfly“ als 7c an, ich denke das gilt als solide 7c. Das
kann man aber trotzdem nicht mit einem Zehner
vergleichen! Andersrum musst du in den wenigsten Zehnern einen 7c-Boulder klettern.
Kletterspiegel: Kletterst du eigentlich auch
noch mit Seil oder bist du vollständig zum Boulderer konvertiert?
Kern: Bouldern macht mir seit längerem am
meisten Spaß. Normalerweise mache ich im
Sommer noch drei bis fünf alpine Klettereien pro
Jahr, wenn ich nicht krankheitsbedingt ausfalle
wie letztes Jahr. 2009 war ich mit einem Freund
im Berner Oberland unterwegs. Ich stehe offensichtlich gern oben – auf einem Gipfel oder einem Block. Sportkletterer war ich noch nie richtig, ich nehm‘s mir zwar immer wieder vor, aber
dann gehe ich doch lieber bouldern!
Kletterspiegel: Dass das Wort „Angst“ nie
vorkam, hatten wir schon. Dafür kommt das Wort
„genial“ öfter vor. Kommt einem das automatisch in den Sinn, wenn man diese bombastischen
Landschaften im Südwesten der USA sieht?
Kern: Genial waren nicht nur die grandiosen
Landschaften, sondern dass sich auf der ganzen
74
Steffen Kern
Reise einfach alles so prima gefügt hat – abgesehen von der Ankunft. Die langen Fahrten allein
haben prima funktioniert, ich konnte fotografieren wann und so oft ich wollte, in Gebieten habe
ich immer sofort Kontakt zu anderen Boulderern
gefunden. Es hat einfach alles geklappt. Wahrscheinlich habe ich deshalb so oft „genial“ verwendet.
Foto: Steffen Kern (aus seinem Tagebuch)
Kletterspiegel: Wie schafft man es, acht Wochen Urlaub zu bekommen? Da kann man ja richtig neidisch werden.
Kern: Unsere Produktionszyklen sind im
Herbst länger, weil da weniger Ausgaben erscheinen. Deshalb kann ich da auch mal länger weg
– und weil ich so viel Urlaub und Überstunden
habe, muss ich es diesen Herbst schon wieder.
Anordnung von oben.
Kletterspiegel: Gibt es schon Pläne für ein
neues Buch?
Kern: Nach meiner Rückkehr habe ich ja
durch meine gesundheitsbedingte Zwangspause
15 Monate nicht klettern können. Ich war dementsprechend kaum unterwegs. Jetzt will ich erst
mal wieder was erleben, das mit dem Schreiben
kommt dann von allein. Es ist ja auch nicht so,
dass ich nichts schreibe. Da gibt‘s ja noch meinen
Job als Redakteur bei klettern. Ich tue nichts anderes als schreiben! Und deshalb erstmal wieder
bouldern und leben, statt nur zu arbeiten.
Kletterspiegel: Steffen, vielen Dank für das
Gespräch. ■
Steffen Kern *1970
Geboren 1970 in Aalen auf der rauen Ostalb,
aufgewachsen in Bopfingen am schönen Ipf.
In der Kindheit war er oft mit seinen Eltern in
den Dolomiten, zu klettern begann er 1991 an
den Wänden des Rosensteins und im Eselburger Tal. Es folgten zwölf alpine Jahre, mit vielen
Pause-Touren und über 200 Routen in Fels und
Eis. 2003 vollzog der Autor eine vertikale Kehrtwende: Nach einem Wochenende im Magic
Wood im Averstal mutierte er immer mehr zum
Boulderer. Steffen Kern studierte in Tübingen
Allgemeine Rhetorik, Philosophie und Neuere
deutsche Literatur. Seit 2002 arbeitet er als Redakteur beim „klettern“-Magazin.
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
Perfekte Linie: Bouldersession an der „Atari“, V6, Happy Boulders, Bishop
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
75
Betrachtung
Betrachtung
Foto: Oleg Gekman, Fotolia
Walter Bonatti,
Wolfgang Güllich,
Adam Ondra
Sehnsucht nach Ruhm
Es ist allzu menschlich, sich nach Ruhm zu sehen. Wenn es die einzige
Triebfeder ist, besteht die Gefahr, seinen Mitmenschen auf die
Nerven gehen. Eine Betrachtung von Jochen Riegg
76
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
D
ie Leidenschaft zum Klettern flackert
manchmal wie glühende Kohlen im Wind.
Mal ist sie stärker, mal schwächer. Ist sie
schwächer, vergisst du, wofür du eigentlich lebst.
Deine Pflichten nehmen dich in Anspruch: Arbeiten gehen, sich um die Familie kümmern, Haus
und Hof bestellen. Nichts scheint dir zu fehlen.
Und während du bügelst, die Wände streichst,
oder das Unkraut jätest, siehst du in der Ferne
eine seltsam geformte Wolke aufziehen, die dich
unterbricht in den automatisierten Abläufen deines Lebens. Plötzlich ist es wieder da, dieses Flackern, dieses Glühen, diese Sehnsucht.
Aber nach was eigentlich?
Dass ein trainierter Kletterkörper nach Leistung dürstet, dass er dieses Spiel zwischen Abnutzung und Erholung so sehr braucht wie der
Süchtige die Drogen, ist physiologisch erklärbar. Aber er will nicht Tennis spielen, Squash
oder Federball, er begibt sich in Gefahr, in der er
droht, umzukommen. Es ist, als ob eine Bakterie
seinen Wirt tötet.
Während du den Berg hinaufsteigst, läuft in
deinem MP3-Player das Stück „Footballer’s
Wife“ von Amy McDonald. Es ist auf Endloswiederholung gestellt und ehe du am Einstieg bist,
hast du es 30 Mal gehört. Und du beginnst, den
Text zu verstehen.
Da ist die geifernde Hausfrau eines namenlosen Fußballspielers, die vorgibt, berühmt zu sein
wie James Dean oder Marilyn Monroe. Aber alles, was sie kann, ist zu streiten und ihre Zeitgenossen mit ihrem protzigen Leben auf die Nerven
zu gehen.
Und die Berühmtheiten, denen du nacheiferst,
heißen nicht James Dean oder Marilyn Monroe,
sondern Walter Bonatti, Wolfgang Güllich, Adam
Ondra. Je höher du steigst, je mühevoller und gefährlicher die Risse, Kanten und Verschneidungen sind, die dich deinem Ruhm näherbringen
sollen, je sinnloser erscheint dir das Unterfangen,
mit dem Namen der Route von dem Ruhm des
Erstbegehers etwas abzubekommen.
Gloria in excelsis Deo – Ruhm sei Gott in der
Höhe. Man kann hinzufügen, nur. Mit jedem
Meter, den du dich höher schindest, erkennst du
die Sinnlosigkeit des Eifers nach Ruhm. Je näher
das Gipfelkreuz rückt, desto frustrierender die
Erkenntnis, dass dich oben kein Ruhm erwartet,
sondern die Enttäuschung des falschen Eifers. Du
bist endlich oben und doch ist alles beim Alten.
Und du gehst deinen Zeitgenossen auf die Nerven, wenn du von den großen Namen sprichst,
die du gesammelt hast, als wärst du einer von ihnen, dabei bist und bleibst doch nur die prahlende
Frau eines namenlosen Fußballspielers.
Du steigst ab, gehst zurück in dein normales
Leben, in den Garten und harkst wieder Unkraut.
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
Wenn dann wieder diese seltsam geformte Wolke
am Himmel auftaucht und du fort musst, dann tu
es, um deine eigenen Ideen unbeirrt zu verwirklichen. Irgendwann einmal wird man nicht mehr
der geifernden Hausfrau des Fußballspielers zuhören, die unablässig von berühmten Personen
redet, als wäre sie eine von ihnen. Irgendwann
einmal wird man dir zuhören.
Mag sein, dass das eine romantische Vorstellung ist. Nicht der Sehnsucht nach Ruhm zu
erliegen. Natürlich darfst du berühmte Namen
sammeln so wie andere Wimpel von Fußballvereinen. Es ist deine persönliche Vitrine, in der
etwas vom Glanz deiner Vergangenheit aufbewahrt ist. Wenn du aber immer nur die Wimpel
der anderen Vereine sammelst, ist das Regal bald
vollgestopft mit fremden Trophäen, und die Etage mit den eigenen Errungenschaften ist leer. Du
wedelst dann mit den Wimpeln wie die Hausfrau
des Fußballspielers mit prominenten Namen und
gehst deinen Zeitgenossen auf die Nerven.
Ob deine eigenen Spuren jemals berühmt werden, scher dich nicht drum. Glaubst du, James
Dean und Marilyn Monroe hätten sich je um ihre
Berühmtheit geschert? Sie haben das gemacht,
was sie immer tun wollten. Zum Berühmtsein
gehört mehr dazu, als bloß berühmt sein zu wollen, heißt es in Footballer’s Wife von Amy McDonald.
Ein Kletterer erzählte den ganzen Abend von
Routen, und immer wenn das Wort berühmt fiel
- und es fiel so oft als hätte die CD einen Sprung
- musste ich an die Frau des Fußballspielers denken. Dabei hatte er für seine Verhältnisse etwas
geschafft und erreicht, wovor ich allergrößten
Respekt habe. Ich freute mich für ihn, weil er
nicht aufgegeben hatte, an sich zu glauben. Er hat
sich geschunden, um etwas zu erreichen, wofür
andere sich nicht mal anstrengen mussten. Aber
in diesem Augenblick zählte der nur einmalige
Wille, der Glaube, die Sturheit, die ihn dort hingetragen hat. Jetzt aber verspielte er die Zuneigung durch das ständige Gerede vom Berühmtsein.
Sehnsucht nach Ruhm? Warum nicht! Ohne
diese Triebfeder würde man den Menschen nicht
verstehen. Ja, Sehnsucht nach Ruhm, die braucht
es. Wenn es aber die einzige Kraft bleibt, läuft
man Gefahr, die streitsüchtige Hausfrau eines
namenlosen Fußballspielers zu werden, die allen
auf die Nerven geht. Und statt der Namen von
berühmten Personen kann man auch die Zahlen
von Schwierigkeitsgraden setzen. Und indem ich
ständig über Schwierigkeitsgrade rede und streite, komme ich mir manchmal selbst vor wie die
geifernde Hausfrau eines namenlosen Fußballspielers, die unablässig vom Ruhm redet und alle
nervt. ■
77
Ausstieg
Ausstieg
I
9 mal 25 Gramm
schwarzes Kreatin
Foto: Andreas F., Fotolia
Eine wahrhaft krude Entdeckung könnte das Ernährungsprogramm von Spitzenkletterern radikal ändern.
Jochen Riegg
78
Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel
ch habe schon länger vor, eine 8a zu klettern.
Letztes Jahr habe ich auf Kreatin gesetzt.
Nach einer Zwangspause aus gesundheitlichen Gründen habe ich das Zeug nicht mehr genommen. Es war eh egal. Ob mit oder ohne: mehr
als 7a ging einfach nicht.
Ich habe schon mal 68 Kilo gewogen, nach der
Pause ging‘s hoch auf 77 Kilo. Nach St. Léger
habe ich dann beschlossen, die x-te Diät zu machen und wieder ein paar Kilo abzuspecken. Als
ich unter 70 hatte, war ich zwar auch nicht besser,
aber ein bisschen weniger Speck auf den Rippen
kann auf keinen Fall schaden.
Ich ließ es gemächlich angehen, vielleicht so
ein halbes Kilo im Monat. Nach vieren hatte ich
wieder 75. Damit ich habe ich vor zwei Jahren
9 geklettert. Gut, noch ein Bitzelchen mehr, das
heißt weniger, könnte mich doch der 8a den entscheidenden Schritt näher bringen, es müssen ja
nicht gleich wieder 68 sein.
Ein schwerwiegender Fehler – einen Tag lang
nichts zu essen – erschütterte meine bisherige
Ernährungssicht so grundlegend, dass ich vor
lauter Verwirrtheit den Himmel um Beistand bitte möchte. Ich weiß nicht mehr, wo vorne und
hinten ist.
Mit einem Bärenhunger machte ich auf dem
Weg zur Kletterhalle kurz Halt im Supermarkt.
Im Haushalt fehlte noch dies und das, nicht viel,
eine schnelle Erledigung im Vorbeigehen. Mit
den Gedanken war ich schon beim Klettern.
Den Weg durch den Supermarkt kenne ich so
gut wie den Aufstieg zu den Felsen der Schwäbischen Alb: alles wohl vertraut, alles immer am
selben Fleck. Als ich mit dem Einkaufswagen um
die Kurve fuhr, mit einem kräftigen Knurren im
Magen, kam es mir in den Sinn. Wir kommen
gleich an die Stelle, wo sie immer sind. Letztes
Mal waren zwar keine mehr da, aber vielleicht ist
das Regal wieder aufgefüllt.
Ja, es ist aufgefüllt: Sie sind wieder da. Sogar
die Packung mit den großen, neun Stück, 240
Gramm allersüßeste, giftigste Leckerei. Mit dem
Abnehmen bin ich doch ganz gut vorangekommen. Der Magen fühlt sich dagegen an wie eine
leere Plastiktüte. Einmal, nur einmal, dann wieder die Diät. Man muss sich was gönnen dürfen.
So hat es auch Tennisprofi Martina Navratilova
gemacht: Diät, und alle zwei Wochen durfte sie
essen, so viel sie wollte.
Und ich ess ja nicht so viel ich will, sondern es
wäre ja nur die eine Packung, und dann nur einen
oder zwei, den Rest teile ich mit Frau und Kind.
Macht also maximal drei Stück. Also mitgenommen im Einkaufswagen, Ehrenplatz ganz oben.
Zur Halle sind es noch 20 Minuten. Die Packung
liegt neben mir auf dem Beifahrersitz. Autobahn,
freie Fahrt, Konzentration nicht gefordert. Blick
Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011
also zur Schachtel, einen könnten man ja schon
mal essen. Packung auf den Schoß, Blick zum
Verkehr, nichts los, aufgemacht, Zugriff auf den
ersten Schokukuss.
Ich weiß nicht, was physiologisch im Körper
passiert, wenn man völlig unterzuckert einen
Schokokuss isst. Jedenfalls dachte ich, mit dem
einen hätte ich den brüllenden Magen ausreichend besänftigt. Schließlich war es ja nicht ein
trockenes fahles Rippchen Schokolade, sondern
ein besonders himmlisch leckeres, cremig weiches Schokozuckertörtchen.
Aber schon nach einer Minute kam der heiße
Hunger zurück, ich sagte mir, gut sind es eben
zwei, danach ist Schluss. Ich habe mich im
Griff. Mit dem dritten überfiel mich eine große
Gier, und ich stopfte die restlichen sechs auch
noch hinein, zerfleischte die süßen kleinen Dinger in weniger als fünf Minuten. Ich fiel in tiefe
Traurigkeit und wurde von beißendem Zweifel
gequält.
Wieder bei Sinnen bog ich in den Parkplatz
der Kletterhalle ein. Beim Warmqueren fühlte sich der Magen an, als ob ich ein Fass Uhu
geschluckt hätte. Alles klebte schrecklich. Spucken musste ich zwar nicht, aber der Magen
befand sich in einer schwer einzuschätzenden
Schwebe zwischen Sättigung und Erbrechen.
Dann ans Campusboard. Linke Reihe, die
kleinsten Leisten. So groß wie eine halbe Fingerkuppe. Also ziemlich klein. Es sind acht
Leisten. Fünf habe ich in meiner besten Zeit, als
ich eine 7c+ kletterte, geschafft. Mehr noch nie.
Beim ersten Hangeln komme ich drei Leisten
weit. Der Magen klebt immer mehr. Schlechtes
Gewissen plagt mich: Frau und Kind kriegen
nichts, ich habe sie alle weggefressen. Beim
zweiten Mal Hangeln schaffe ich fünf Leisten
Ich gehe raus vor die Türe, hole tief Luft,
ziemlich stickig heute. Konzentration, Magengrimmen, Durchatmen. Plötzlich eine Kraft in
den Fingern, ein Pump in den Armen, ein Wille
zum Siegen.
Eins, zwei, drei, vier, fünf – sechs, sieben!
Ich schreie vor Freude, dass in Italien die Teller aus den Regalen fallen. Ich habe meinen eigenen Rekord geknackt. Mit neun fetten, klebrigen Schokoküssen im Bauch.
Kreatin bringt nichts, Trainieren bringt nichts
– neun dicke fette Schokoküsse bringen dir dagegen so viel Schub, dass du plötzlich lang ersehnte Projekte hochkommst.
Kann mir da draußen irgendjemand erklären, was ich verdammt nochmal all die Jahre
falsch mache? Diät, Training, rechtzeitig ins
Bett, nichts. Dann haust du dir ungesundes Essen rein, neun Schokoküsse auf einmal – paff,
oben! Ich werde noch irre. ■
79
Automatisieren Sie
Ihren Katalog:
XML Publishing mit Pagino
und Adobe InDesign
Katalogautomatisierung mit Pagino und
Adobe InDesign – ein unschlagbares Team.
Kataloge, Preislisten, Datenblätter, Flyer,
Verzeichnisse: vom einseitigen Datenblatt bis
zum 1000-seitigen Preiskatalog.
Nutzen Sie das umfangreiche, langjährige
Know how von Pagino, um Ihre Katalogdaten
über XML automatisch in Adobe InDesign
zu setzen.
Rufen Sie noch heute an. Ihr Ansprechpartner:
Jochen Riegg
+49 (0)7031 805936
pagino publishing e.K.
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