Kletterspiegel
Transcrição
Kletterspiegel
Das Kletter-Nachrichtenmagazin Heft 2 Juli 2011 Kletterspiegel Reportagen Berichte Analysen | informativ hintergründig unterhaltend Gotthard Susten Avers Bouldereniz randler Lothar B Interview Interview urm Günter St w in der Sch reich k n a r f d ü +S r + St. Lége ies Baronn s e l s i u B + ‘Road ck‘n in USA: Blo n r e ld u o B Sommerklettern Interview Ausstieg Kühles Konglomerat in den Allgäuer Voralpen. Ideal für den heißen Sommer. Seite 36 Der Journalist hat über seine Boulderreise durch den Südwesten der USA ein Tagebuch geschrieben. Seite 72 Eine Entdeckung revolutioniert die Ernährung von Athleten Seite 78 Rottachberg Steffen Kern Schokoküsse als Power-Booster Einstieg Intern Rohrpost aus der Redaktion Der Name der Route 1. Licht und (ein wenig) Schatten W ir sind dankbar für jede Kritik, die uns zur ersten Ausgabe erreicht hat: Sie zeigt, dass der Kletterspiegel gelesen wird . Die erste Auflage hatte ca. 4000 Downloads. Auch die vielen Rückmeldungen zeigen, dass man sich um das noch junge Blatt Gedanken macht. Das tut man nur mit Dingen, die einem nicht ganz gleichgültig sind. Darüber freuen wir uns. Eine Anregung betraf die Lesbarkeit am Bildschirm. Eigentlich ist das Heftformat auf den Druck ausgerichtet; da es aber nunmal den Kletterspiegel vorerst nur im PDF-Format gibt, haben wir das Heftformat verkleinert und den Schriftgrad etwas erhöht. Dadurch kann man den Kletterspiegel nun am Bildschrim lesen, ohne zu zoomen. Gleichzeitig bleibt aber die Möglichkeit, den Kletterpiegel zu drucken. Wir hoffen, der Kompromiss zwischen Bildschirm und Print funktioniert. Chefredakteur und Herausgeber: Jochen Riegg 2. Journalistische Verstärkung G anz besonders freut mich, professionelle Verstärkung für den Kletterspiegel gewonnen zu haben. Kilian Neuwert studiert Journalisitik in Eichstätt und ist leidenschaftlicher Kletterer. Er passt somit haarscharf ins Konzept der noch jungen Kletterzeitschrift. Ich hoffe, er bleibt nicht die einzige Verstärkung. Denn auch zu zweit wird so ein Blatt auf Dauer kaum zu stemmen sein. Ziel wäre es, einen Stamm von etwa zehn Autoren zu gewinnen, die wie Korrespondenten aus allen Klettergebieten und über alle Kletterthemen der Welt berichten. Wer Lust hat zu recherchieren, nachzuforschen, Personen zu interviewen, zu schreiben – oder wer auch nur einfach spannende Reiseerlebnisse in packenden Geschichten erzählen will, die mit nützlichen Reiseinformationen angereichert sind, der möge sich bitte beim Kletterspiegel melden, so wie es Kilian getan hat. „Hasse-Brandler“ Große Zinne Nordwand Dolomiten Früher wurden die Routen nach ihren Erstbegehern benannt. So auch diese berühmte Dolomitenroute von 1958. Von Dietrich Hasse, Lothar Brandler, Sigi Löw und Jörg Lehne zum ersten Mal durchstiegen, hat sich jedoch die Bezeichnung „Hasse-Brandler“ tief ins kollektive Gedächtnis der Alpinisten eingegraben. Wer von diesem Namenspaar spricht, weiß, was gemeint ist. 3. Titelthema E Foto: Markus Stadler Im Interview mit Kilian Neuwert erzählt Lothar Brandler von den Hintergründen seiner Erstbegehung, die noch heute als eine sehr ernste alpine Unternehmung gilt. Seite 38 Foto: Markus Stadler www.stadler-markus.de 2 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel igentlich war als Titel eine Reportage mit Reinhold Messner über Spitzenkletterer als Berater in der Wirtschaft gedacht. Was kann ein Manager von einem Mann wie Reinhold Messner lernen, was wiederum könnte der Sport aus der Wirtschaft lernen. Interessiert hätten uns Strategien und Erfahrungen, langfristig erfolgreich zu sein, Risiken einzugehen und zu minimieren. Anfragen an das Pressebüro in Bozen blieben leider erfolglos – so mussten wir umdenken. Fünf Tage Bouldern in der Schweiz – alleine, aber nicht einsam. Eine einzigartige Erfahrung, die ich in einem kleinen Tagebuch festgehalten habe. Es enthält Eindrücke und Einschätzungen und jede Menge nützlicher Reiseinformationen. Zum Beispiel die gute Nachricht, dass es nächstes Jahr auf dem Parkplatz-Camping in Avers Duschen und Strom geben wird. Die Bouldergebiete Avers, Gotthard, Susten bilden hoffentlich einen würdigen Ersatz für das Titelthema. Einfach mal reinschauen. Dazu noch eine Buckritik über Steffen Kerns Tagebuch „Block‘n‘Road“ über seine USA-Boulderreise. Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 3 48 Bouldern in der Schweiz Foto: Jochen Riegg Foto: Jochen Riegg 22 Topgebiet St. Léger 10 Familienklettern in Buis Das Leben ist schön Der 7. Himmel und das 8. Paradies Buis-les-Familles Wenn sich im Tal die Hitze staut, sind die Schweizer Passgebiete Avers, Gotthard und Susten ein ideales Rückzugsgebiet. Auch im Sommer kann man zwischen 1250 m und 2100 m ausgiebig bouldern. Auf engstem Raum drängen sich Hunderte von Routen zwischen dem 7. und 8. französischen Grad: Das ist das Topgebiet St. Léger. Am Fuße des Mt. Ventoux in der Nähe von Orange kann man wochenlang schwer klettern, ohne das Gebiet wechseln zu müssen. Unweit von St. Léger liegt das klassische Klettertgebiet Buis-les-Baronnies. Das Bergsteigerdorf hat alles zu beiten, was es zum Familienklettern braucht: Leichte Routen, gute Absicherung, ausgiebige Freizeitangebote. In Verbindung mit St. Léger, das nur eine Viertel Autostunde entfernt ist, kommt die ganze Familie auf ihre Kosten. Von Jochen Riegg Von Jochen Riegg Foto: Kilian Neuwert Inhalt Foto: Jochen Riegg Inhalt 38 Lothar Brandler Der legendäre Bergfilmer und Alpinist im Interview Das Namenspaar Hasse-Brandler hat in Alpinistenkreisen einen legendären Klang: Lothar Brandler erzählt dem KletterspiegelRedakteur Kilian Neuwert, wie es zu der berühmten Erstbegehung an der Nordwand der Große Zinne vor über 50 Jahren kam. Von Kilian Neuwert Von Jochen Riegg Inhalt – Kletterspiegel 2 / Juli 2011 Persönlichkeiten 6Leserbriefe 38 Lothar Brandler Lob und Tadel zur ersten Ausgabe. Reise 10Buis-les-Familles Unbeschwertes Sportklettern in Südfrankreich mit der ganzen Familie. 22 Der 7. Himmel und das 8. Paradies Wer auf engem Raum viel und schwer klettern möchte, ist in St. Léger genau richtig. 36 Heiße Tage, kühles Klettern Am Rottachberg im Allgäu kann man auch bei Hitze sehr gut klettern. 4 Der legendäre Alpinist und Bergfilmer im Interview mit Kilian Neuwert. 42 Günter Sturm Der Gründer des DAV Summit Club im Interview mit Kilian Neuwert. Titel 72 Interview Steffen Kern Der Autor im Gespräch über sein Tagebuch. Ausstieg 76 Sehnsucht nach Ruhm Die allzu menschliche Begierde kann auch überstrapaziert werden. Foto: Kilian Neuwert Einstieg 78 Schwarzes Kreatin Schokoküsse sind der neue Power-Booster. 48 Das Leben ist schön Sommerbouldern in der Schweiz zwischen 1250 m und 2100 m. Buchkritik Rubriken 19Schwierigkeitsskala 70Block‘n‘Road Bouldertrip in den Südwesten der USA. Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel 42 Günter Sturm 7Impressum Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Der Gründer des Summit Club Interview mit Kilian Neuwert über die Geschichte des größten Alpin-Reiseclubs in Deutschland. Von Kilian Neuwert 5 Leserbriefe Gut recherchiert, weitere Infos zu Kreatin Hab mir dein Magazin herruntergeladen und ganz gelesen. Es hat mir gut gefallen, nicht zuletzt weil es zeigt, dass eine Magazinform jenseits von klettern und „climb!“ möglich ist. Ich habe auch alle anderen deutschsprachigen Veröffentlichungen im Abo (und einige englischsprachige) und finde die Entwicklung des Kletterprintmarktes echt interessant. Zu deinem Kreatinartikel: Gut recherchiert! Allerdings fehlt ein Aspekt: Es soll bei Kreatin Responder und NonResponder geben, also Leute bei denen es viel und Leute bei denen es gar nichts bringt. Deswegen sind Wirksamkeitsstudien widersprüchlich oder zeigen nur geringe Effekte. Bei den Respondern gibt es gewaltige Effekte. Ich bin Responder und setze Kreatin sehr überlegt und sparsam ein: immer nur für einzelne Tage, wenn ich voll austrainiert bin, um dann für einen Tag eine super Performance zu erzeugen: z.B. am letzten Tag eines Kletter- oder Boulderurlaubs oder zu einem Wettkampf. Hört sich komisch an, aber mit Kreatin kann ich vor allem sehr viele Wiederholungen von schweren Zügen machen, da ich mich sehr schnell erhole. Stärker wird man natürlich nicht. Nach so einem Tag bin ich dann völlig kaputt und brauche zwei Tage Pause. Für das Training setzte ich Kreatin eigentlich nie ein. Jochen Marx Pseudowissentschaftlich Muss ehrlich sagen mich haut‘s nicht so vom Hocker. Die erste Ausgabe dem Kreatin gewidmet? Hab noch nie von dem Problem im Klettern gehört. Irgendwie handelt das ganze Magazin von irgend welchen erzeugten Problemen, die dann eher pseudowissenschaftlich beantwortet werden. Mir gefällt‘s nicht. Außerdem find ich die Bilder jetzt auch nicht so den Wahnsinn. tom-tom, climbing.de Alles Gute Da es mir beim Lesen genauso geht wie Ihnen, und ich andere Kletterzeitungen schon vor mehreren Jahren abbestellt habe, wünsche ich für Ihr Projekt alles Gute! Ich konnte die Seiten bisher nur überfliegen, aber eines ist schon klar, es ist eine ganz neue inhaltliche Qualität! Ich würde mich sehr freuen, wenn das Projekt erfolgreich wird! Holger Seidel, Wolfenbüttel 6 Leserbriefe Wie ein regionales DAV-Heft Ich will jetzt nichts von vorne herein gut oder schlecht reden, ich denke das wird eher die Zukunft zeigen. Zu den einzelnen Punkten: Das Heft wirkt auf mich eher wie Stuttgarter Anzeiger, nicht böse gemeint! Es ist mir klar, dass man ja einen Aufhänger braucht, den man auch selbst gut beurteilen kann, denn nix Schlimmeres, als bei der ersten Ausgabe was machen, von dem man keine Ahnung hat. Trotzdem bleibt es eben hausbacken. Das ist nicht schlimm, darf aber halt nicht so weitergehen. Sonst hättest Du auch ein regionales DAV-Heft machen können. Die Sache mit dem Kreatin. Nun – kann man machen, muss man aber nicht. Jürgen Kremer, climbing.de Gut gefallen Nicht schlecht deine erste Zeitschrift, hat mir echt gut gefallen! Hast daneben überhaupt noch Zeit zum klettern? Philipp Ostmann, Stuttgart Zu großer Fokus auf Stuttgart Als ich das Vorwort las, dachte ich spontan: „Interessanter Ansatz“, aber vom Heft war ich dann doch stellenweise enttäuscht. Irgendwie steht zu sehr die eigene Person im Vordergrund. Damit meine ich nicht mal, dass fast jeder Artikel mit „Von Jochen Riegg“ überschrieben ist, sondern die Darstellung der eigenen Erstbegehungen und Projekte. Der extreme Fokus auf Stuttgart und Umgebung wirkt auch nicht gerade professionell. Die Kreatinwerbung soll wohl den Eigenkonsum verharmlosen. Am Schluss hätte nur noch ein Bestellschein gefehlt. Ganz gut waren die Brillen- und Topogeschichte, wobei beide auch wieder einen Stuttgarter Bezug haben. Die Bilder sind ziemlich amateurhaft. Jeder halbwegs ambitionierte Hobbyphotograf hat da Besseres vorzuweisen. Hoffen wir mal auf das nächste Heft. Harri, climbing.de Freiwillige Bezahlung Ich habe gerade die erste Ausgabe Ihres Magazins gelesen und mich sehr über die Abwechslung von der vorherrschenden Klettermagazin-Monokultur gefreut. Da Sie das Heft zum freien Download anbieten, bin ich spontan zu Ihrer Webseite zurückgekehrt, um nach einer Möglichkeit der freiwilligen Bezahlung zu suchen – um meiner Anerkennung Ihrer Arbeit Ausdruck zu verleihen und mich an einem Ausgleich der entstandenen Kosten zu beteiligen. Stefan Walter Magenschmerzen Erstmal Danke für so viel Eigeninitiative – ist doch schön, dass sich was tut auf dem Markt der deutschsprachigen Kletterzeitschriften. Ein paar Kleinigkeiten an Layout und Text kann man sicherlich noch verbessern. Zum Beispiel hatte ich bei der Schriftgröße am PC Probleme, das Ganze zu lesen, ohne so nah heranzuzoomen, dass der Überblick bzw. die Navigation problematisch wird, aber das kriegst du bestimmt hin. Wo ich allerdings doch ein paar Magenschmerzen bekomme, ist der Headliner Kreatin. Zum einen denke ich ähnlich wie Tom, dass die Fragestellung am Problem vorbei geht. Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, ob Kreatin legal oder illegal; schädlich oder unschädlich ist. Vielmehr könnte man auch daran denken, eine andere (und vielleicht nachhaltigere) Einstellung zu seinem Sport zu entwickeln, bei der das „Wie“ eben doch zählt und zur eigenen Zufriedenheit beiträgt. Deshalb werden ja – um bei deinem Beispiel zu bleiben – auch von vielen Profis keine Fersensporne mehr beim Eisklettern verwendet. Viel bedenklicher noch fand ich allerdings den recht unvoreingenommenen, fast werbenden Umgang mit dem Thema. Impressum Kletterspiegel, Heft 2, Juli 2011 Verlag: Der Kletterspiegel erscheint im Selbstverlag Anschrift: Jochen Riegg Sommerhofenstraße 176 71067 Sindelfingen Tel: 0711/656939-16 Email: [email protected] Herausgeber, Chefredakteur (ViSdP): Jochen Riegg Redaktion: Kilian Neuwert Grafik, Layout: Jochen Riegg Personen dieser Ausgabe: Lothar Brandler, Steffen Kern, Günter Sturm Bezug: Im Internet unter www.kletterspiegel.de Rechtliches: Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht die Meinung der Redaktion wieder. Veröffentlichung oder Nachdruck – auch auszugsweise – in sämtlichen Medien nur mit Genehmigung des Herausgebers. Titelbild: Der Block „Ecstacy“ am Gotthardpass Bild Jochen Riegg Phreak05, climbing.de Super Zeitung Hallo Leute, eine super Zeitung ist das. Macht weiter so. Leider muss aber bei der Schwierigkeitstabelle im Bereich französisch 5 was schief gelaufen sein. Die Sarstellung ist unlogisch. Michael Fangmeyer, Ertingen Viel Erfolg Hallo Jochen, wünsch dir auf diesem Weg viel Erfolg! Arnold Kaltwasser, climbing.de Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Die Redaktion hat einige Zuschriften gekürzt. Die vollständigen Kommentare von climbing.de sind zu erreichen unter: http://news.climbing.de/kletterspiegel-eine-neue-kletterzeitschrift/ Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 7 Impressionen Thomas Klemm bei abendlicher Sonne und aufgehendem Mond im „Breitendach“, 8, am Breitenstein im Frankenjura. Fotomontage: Jochen Riegg 8 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Kletterspiegel 2 / Juli 2011 9 Reise Klettern mit Familie BuislesFamilles Leichte Kletterrouten für Kinder, knöcheltiefe Flüsse zum Planschen, Reiten auf dem Reiterhof oder Rollerbladen auf der öffentlichen Freizeitanlage: Der südfranzösische Bergsteigerort Buis-les-Baronnies rund 50 Kilometer östlich von Orange bietet alles, was man zum Familienklettern braucht. Kletterspiegel 2 / Juli 2011 10 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Foto: Jochen Riegg Von Jochen Riegg Reise Buis-les-Baronnies nies -les-Baron is u B n o v ilometer ten Rounur vier K r mit leich , to iv k s e s s a n -M ie tterspaß mil e Rousse roßer Kle g teil ein Fa d in n e a – W t Am Baum n gerichte t im rechte tänden ein s b a entfernt, is n e k a urzen H der. ten und k er und Kin g n fä n A r fü vor allem sse Foto: Jochen Riegg ou Baume R 12 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 13 Buis-les-Baronnies Foto: Jochen Riegg Reise Ubrieux: Klettern driekt über dem Parkplatz Foto: Jochen Riegg D Sektor „Initiation“ von Baume Rousse: Kletterspaß auch für die Kleinsten (kleines Bild Babyplatte im linken Sektor) 14 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel ie Erinnerung ist ein seltsamer Zeitgenosse. Je weiter sie zurückblickt, desto unerklärlicher werden die Kategorien, nach denen sie das Erlebte aufbewahrt. Vor rund 30 Jahren war ich das erste und bis heute auch das einzige Mal in Buis-les-Baronnies. Ich erinnere mich an drei Dinge, der Rest ist wie mit dem Radiergummi ausgelöscht. Ich erinnere mich an eine Route am Rocher St. Julien, dem Hausberg von Buis-les-Baronnies. Ich klettere in einer sonnenbestrahlten Platte, senkrechte und waagrechte Griffe sind wie mit dem Kuchenmeser eingeschnitten. Es ist ein unbeschwertes Steigen im oberen fünften französischen Grad an an riesigen Griffen. Die zweite Erinnerung betrifft eine kurze Route am Wandfuß, dessen Einstieg zwei Varianten aufwies: die eine 6b, die andere 6c. Ich erinnere mich an eine abgeschmierte Platte, und daran, dass ich nach der 6b-Variante auch die 6c onsight kletterte. Für mein damaliges Niveau ein Highlight. Klassische südfranzösische 6b-Platten sind zum Teil technisch derart schwer, dass so manchem 10er-Hallenkletter das Blut in die Schläfen Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 schießen würde. Ich würde dann gerne in einem der Buchsbäume sitzen und das Fluchen der High-End-Artisten mit abfälligen Bemerkungen kommentieren. Denn das ist der einzige Trost, der mir noch bleibt, wenn ich sehe, was die jüngste Jugend heute an den Hallen-Kunstwänden und auch draußen an Leistungen vollbringt. Die dritte Erinnerung betrifft unser Nachtquartier: Im Freien am Rande des Friedhofs von Buis-les-Baronnies. Warum ich mich gerade an diese Übernachtungsszene erinnere, ist eines jener unerklärbaren Geheimnisse der Erinnerung: Es ist dort nichts Dramatisches geschehen, außer dass wir auf der Wiese vor dem Mauer in Schlafsäcken im Freien übernachtet haben. Es hat nicht geregnet, es hat nicht geschneit, es wurde einfach nur Nacht. Ich erinnere mich an Buis-les-Baronnies als ein Klettergebiet im südfranzösischen Departement Drôme, 50 km östlich von Orange, zwei Autostunden vom Mittelmeer entfernt, an dem es hauptsächlich leichte Routen im 5. und 6. französischen Grad gab, die nicht unerhebliches technisches Kletterkönnen erforderten. 15 Reise D er erste Fels, den wir ansteuern, ist der Anfängersektor im rechten Wandteil von Baume Rousse. Von Buis aus ist der Parkplatz unterhalb des Felsen in rund zehn Minuten mit dem Auto zu erreichen. Von dort steigt man einen kurzen, steilen Pfad in wenigen Minuten hoch zu den Felsen. Der geneigte und gestufte, etwa 30 Meter hohe graue Kalkfels ist ein ideales Terrain für junge und auch ältere Anfänger: Einige 4er- und 5er-Routen sind mit geklebten Haken in kurzen Abständen eingerichtet, so dass auch noch ungeübtere Kinder ihre ersten Vorstiegsversuche unternehmen können. Der Wandfuß ist von einem mal breiten, mal schmalen Weg gesäumt, an dem Kinder gut rasten und spielen können. Eine Gefahr ist jedoch in allen Gebieten vorhanden, die man nie aus den Augen verlieren darf: Steinschlag! Die Felsen sind zwar kompakt und fest, durch ihre Gestuftheit liegen aber immer wieder kleinere Steine auf den Absätzen, die sich durch Seilmanöver lösen können. Kinder (und auch Erwachsene) sollten sich deshalb nie direkt un16 ter den Kletternden aufhalten. Das ist selbst mit Helm zu gefährlich. Berücksichtigt man das, kann man am Baume Rousse sehr viel leichten Kletterspaß haben. Ca. 15 Routen ziehen durch den Fels, genügend Stoff für einige Nachmittage. Baume Rousse: Voller Genuss für Anfänger und kleine Fortgeschrittene Am linken Felssektor von Baume Rousse befindet sich eine Babyplatte: ca. 10 Meter lang, 45 Grad geneigt, voll bespickt mit Haken. Hier können die Drei- und Vierjährigen ihre ersten aufregenden Erfahrungen am Fels machen. Für die Eltern bleiben einige schöne 6a und 6b-Routen, die einiges an Fußtechnik erfordern, was nicht jedem farbjustierten Hallenjunkie gleich schmecken mag. Man muss sich auf die eigene Suche nach Tritten machen und eigene Bewegungsphantasien entwickeln. Das mag dem einen Spaß machen, dem anderen blamable Vorstellungen bescheren. Auf dem Weg von Buis nach Baume Rousse kommt nach nur zwei Autominuten entlang der Baches Ouvèze an Ubrieux vorbei. Man stellt das Auto direkt am Parkplatz unterhalb des Felsens ab. Ubrieux ist ein ungefähr ein Kilometer langer, vom Bach Ouvèze leicht ansteigender Kalkfelsriegel mit glatten, kompakten, teils abgespeckten Platten. Hier gibt es einige 6b- und 6c-Routen, die so schwer sind, dass man sich einen Übertrag in den 8. französischen Grad überhaupt nicht vorstellen kann. Der linke Teil des Sektors „Six Symbol“ bietet dagegen einige herrliche Anfängerrouten im 4., 5. und 6. französischen Grad. Der Wandfuß ist mit einem Holzpodest versehen, so dass man hier auch mit kleineren Kindern gut klettern kann. Die Hakendichte ist in manchen Routen anfängergerecht, so dass auch hier Sprösslinge ihre ersten Vorstiegsversuche unternehmen können. Was die Übernachtungsmöglichkeiten angeht, so gibt es in Buis-les-Baronnies einige Campingplätze, die zwei beliebtestem sind der „Camping Municipal“ direkt in Buis, neben dem sich auch das städtische Freibad befindet, und der Camping „Les Ephélides“, einem 3-Sterne-Platz einige Hundert Meter den Bach Ouvèze abwärts am Ortsrand von Buis. Wir quartierten uns in den zweiten ein, obwohl der noch zu hatte. Der normale Campingbetrieb geht dort erst Anfang Mai los, dafür bietet der Platz ungefähr zehn Chalets in einer Größe zwischen 25m2 und 35m2, die schon ab Anfang April buchbar sind. Ein solches kleines Häuschen mit Wohnzimmer, Küche, Dusche, WC, KinderzimHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Alle Fotos auf dieser Seite: Jochen Riegg Diese Erinnerungen waren der Grund, warum ich in den letzten Jahren ein großen Bogen und Buis-les-Baronnies machte: Ich war mittlerweile zu einem Felsathleten geworden, der gerne in überhängenden Grotten kletterte. Wo Routen einfach nur große Kraft erforderten, die auch ohne Angstschweiß ein Klettern im Bereich 7c und darüber ermöglichten. Ich legte daher die Erinnerungen an Buis-les-Baronnies unter „Plattengeschrubbe“ ab, an dem man keine reiche Ernte im französischen Grad 7 und 8 einfahren konnte. Zwei Dinge brachten mich zum Umdenken. Erstens ist man mit Familie und jungen Kindern oder gar Babys gezwungen, geeignete Felsen anzusteuern. Dazu eignet sich Buis-les-Baronnies ganz besonders. Denn zum Hausberg St. Julien kamen zwei weitere familientaugliche Gebiete in unmittelbarer Nähe hinzu: Baume Rousse und Ubrieux. Der zweite Grund ist das nur 20 Kilometer entfernte Gebiet St. Léger, in dem an sich im 7. und 8. französischen Grad bis zum Umfallen austoben kann. Beides zusammen, die Familiengebiete direkt in Buis und das HighEnd-Kletterdorado in St. Léger, machen Buisles-Baronnies zu einem idealen Stützpunkt für Familien, in denen sehr unterschiedliche Niveaus geklettert werden. Hinzu kommt, dass das malerische 2000-Seelen-Dorf Buis-les-Baronnies mit seinen alten südfranzösischen Steinhäusern neben Bäcker und Supermarkt nicht nur die wichtigste Logistik des Kletterers vorhält. sondern mit seinen Kneipen, seine Boule-Plätzen, seinem Wochenmarkt zudem echtes südfranzösisches Savoir-Vivre bietet. Buis-les-Baronnies Rocher St. Julien: Der Hausberg von Buis-les-Baronnies bietet mit 100 Metern Höhe auch leichte Mehrseillängen-Routen Hinweisschild am Parkplatz (li), Schatten unter Buxbäumen (re): Kletterer sind am St. Julien willkommen mer, Schlafzimmer, Kühlschrank und Veranda darf man sich im Alter von fast 50 Jahren dann doch gönnen. Nicht ganz billig, 390 Euro die Woche, dafür eine tolle Unterkunft, in der es Spaß macht, nachts draußen dem Regen zuzuhören. Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Ubrieux: Klettern am Parkplatz, Planschen in der Ouvèze Was Buis-les-Baronnies zudem als Familiengebiet besonders auszeichnet, ist das Pausenprogramm. Hier hat die kleine Stadt eine Menge 17 Reise Buis-les-Baronnies Reiten auf dem Reiterhof (li), Hofhund Flud (re): Abwechslung nach dem Klettern Rentner (li), Boule (re): Buis-les-Baronnies bietet originales französisches Savoir-Vivre anzubieten. Gleich neben dem Camping „Les Ephélides“ gibt es einen großen Reiterhof mit 35 kleinen und großen Pferden. Der Hof hat das ganze Jahr offen und bietet ständig Kurse zu günstigen Preisen an. Es empfiehlt sich, diese schon von daheim aus zu buchen, denn das Reiten ist hier unten sehr beliebt. Unsere Tochter musste sich eine halbe Woche lang gedulden, und das kann für ein Kind, das Pferde mag und das jeden Tag an diesen vorbeifahren muss, eine harte Probe sein. Eine professionelle Reitlehrerin gibt den jungen Aspiranten die notwendigen Tipps, damit das Pferd richtig um die Ecke läuft. Was ich mich aber die ganze Zeit Frage ist, warum nur Mädchen die Reitstunden besuchen und kein einziger Junge. In keinem anderen Sport sind die Rollen so klar verteilt: Mädchen finden Pferde toll, Jungs käslangweilig. Der Hof hat übrigens neben einer Reitbahn im Freien auch eine 1000m2 große Halle, in der auch bei schlechtem Wetter geritten werden kann. Der Bürgermeister von Buis wäre ein schlechter, wenn er nicht an das Wohlbefinden der abenteuerhungrigen Jungs denken würde. Und so liegt zwischen Reithof und Campingplatz eine Freizeitanlage mit Fussball-, Tennis- und BeachVolleyplatz, zu dem auch eine Rollerbladebahn gehört. Halfpipes und Rampen bieten sowohl dem Anfänger Spaß als auch dem Profi Möglichkeiten, sich auszutoben. Wir konnten einen jungen Franzosen bestaunen, der mit gekonnten Sprüngen über die Planken gebrettert ist. So waren wir froh, die Rollerblades dabeizuhaben und die Tochter so von dem langen Warten auf Reiten ein wenig ablenken zu können. Das klappte vorzüglich, wir waren fast jeden Abend nach dem Klettern noch ein wenig Rollerbladen. Der dritte Fels, der für Anfänger interessant ist, ist der Hausberg „Rocher St. Julien“, der gleich hinter Buis auffällig in den Himmel ragt. Der Fels ist eigentlich eine riesige, schief gestellte Platte, die im Süden eine Wand von fast 100 Metern Höhe präsentiert, während die nördliche Seite bis zur Hälfte etwa im französischen Jura steckt. Öffentliche Rollerbladebahn: Jeden Abend skaten Nostalgie: Alter R4 auf Wochenmarkt von Buis-les-Baronnies Wochenmarkt von Buis-les-Baronnies: Jeden Mittwoch werden auf fast 100 Ständen regionale Produkte angeboten V St. Julien: Mehrseillängen-Routen oder kurze Baseclimbs bis zum ersten Umlenker Der Rocher St. Julien hat eine stattliche Breite von fast einem Kilometer, er teilt sich grob in zwei Hauptsektoren auf. Einige Route haben mehrere Seillängen, man kann aber fast immer auch nur die erste machen und dann von guten Standplätzen umlenken. Der Wandfuß ist breit Alle Fotos auf dieser Seite: Jochen Riegg on Buis aus fährt man am Camping Municipal vorbei in südlicher Richtung auf einer geteerten Fahrstraße den Buchsbaumhang hoch, bis nach etwa zwei Kilometern rechts ein kleiner Parkplatz mit Hinweisschild kommt. Hier in Buis findet man fast an jedem größeren Felsen solche Hinweisschilder. Sie mahnen einerseits, sich richtig am Fels zu benehmen, die Natur zu respektieren und keinen Müll zu hinterlassen. Anderseits zeigen sie aber auch, dass Kletterer gern gesehene Gäste sind, denen man wichtige Informationen über den Felsen mitgeben möchte. Anders als in vielen Gebieten in Deutschland, wo Kletterer zuweilen so beliebt sind wie ein Pickel am Hintern. Das mag daran liegen, dass die Franzosen Platz und Felsen haben wie Sand am Meer, während sich in Deutschland zu viele in einem zu kleinen Sandkasten um die Natur streiten. Die Kletterer haben dabei zwar die stärkeren Unterar- me, nicht aber die stärkere Lobby. Der 20-minütige steile Aufstieg auf Trampelpfaden zwischen den Buchsbäumen hindurch kann in der prallen Sonne leicht zu Tortur werden. Buchsbäume haben sehr kleine, schmale Blätter, die nicht unbedingt einen guten Schutz vor Sonne, Wind und Regen bieten. Es regnet sehr schnell hindurch, wie wir noch erleben werden. 18 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 19 Reise Buis-les-Baronnies Reiseinfo Buis-les-Baronnies Schwierigkeitsgrade UIAA Foto: Jochen Riegg Anfahrt Camping Les Ephelides: Ruhig und gepflegt und flach, keine Absturzgefahr für Kinder, doch Obacht auch hier vor Steinschlag. Denn mein erster Kontakt mit dem Fels lässt mich schmerzlich erkennen, wie trügerisch manche Erinnerung ist. Ich steige in die Route „Le Gastronome de gris“ ein, die phantastisch fest und plattig aussieht, doch bei näherem Hingreifen klingen die Schuppen hohler als in manch brüchiger Dolomitenwand. Ich schiebe mich sehr behutsam die Platten höher, und zu der Brüchigkeit kommt noch ein 8-Meter-Runout mitten in der schwierigsten, vom Gestein her unzuverlässigsten Stelle. Ich fluche, was das Zeug hält, aber aufgeben will ich nicht, nicht in einer 6a. So dauert es und dauert, bis ich nach einer gefühlten Stunde endlich am Stand ankomme. Die Tochter am Wandfuß wird trotz Helm aus der Schusslinie beordert, ich traue hier keinem Griff. B evor der Leser diesen Felsen zu den Akten legt, will ich an dieser Stelle mit der negativen Schilderung enden. Ich sollte eben nicht bloß mein Zeug an den Einstieg pfeffern, zum Seil greifen wie ein Süchtiger nach Tabletten und mit dem Klettern loslegen wie von Honrissen getrieben, sondern mich erst mal in Ruhe orientieren. Dann wäre mir aufgefallen, dass ich wohl eine der wenigen unzuverlässigeren Stellen erwischt habe. Weiter rechts beginnen bombenfeste Platten, die großen Klettergenuß versprechen. Ich erkenne auch wieder meine 6c-Platte von vor dreißig Jahren. Insgesamt bietet der St. Julien eine etwas ernstere Kletterei als Baume Rousse oder Ubrieux, schon alleine weil die Möglichkeit von Mehrseilängen-Routen besteht. Aber wenn man ein wenig sucht, findet man tolle erste Seillängen und kürzere Routen, an denen auch Kinder ihren Spaß haben können. Es gibt sowohl in Ubrieux als auch in St. Julien einige Routen im Grad 7a und 7b. Das sind aber 20 derart spezielle Plattenklettereien, das vor allem Eidechsen Spaß daran haben dürften. Bei denen sieht das dann auch wesentlich eleganter aus. Würde man um Buis-les-Baronnies einen Kreis von 50 Kilometern ziehen, also rund eine Stunde Fahrt, würden neben den drei beschrieben Gebieten noch Orpierre und die Dentelles de Montmirail als Familliengebiete in Reichweite kommen, was Buis-les-Baronnies für mich zu einem idealen Stützpunkt macht. Gerade auch deswegen, weil mit St. Léger ein absolutes High-End-Gebiet nur einen Katzensprung weit weg ist, so dass die Kompromissfindung innerhalb der Famillie nicht zum Urlaub tötenden Streit eskalieren muss. Es erwischte uns noch ein Gewitter, allerdings am Einstieg, so dass wir unter den Buchsbäumen Schutz suchen können, die aber nach spätestens fünf Minuten ihr Wasser wie von lästiger Inkontinenz geplagt rasch von sich gaben. Es war nur ein Streifschuss einer einzelnen Wolke, nach zehn Minuten war der ganze Wasserspaß vorbei. Was mich wunderte war, dass keine einzige Seilschaft, die zahlreich in den Ständen der Gipfelzone hing und dem kurzen Unwetter schutzlos ausgeliefert war, laut fluchte. Stoisch ertrugen sie die Dusche, wie begossene Pudel mit triefenden Seilen kamen sie nach und nach aus der Wand. Zum Klettern mit Kind reicht es aber heute nicht mehr, die Felsen sind triefnass. Dafür steht morgen endlich das Reiten auf dem Programm. Als ich unsere Tochter daran erinnere, ist die kleine Strapaze des Aufstiegs und die kurze unpässliche Dusche rasch vergessen. Nach zehn Tagen ist der Urlaub schon wieder vorbei. Egal. Denn eines steht auch fest, liebe Erinnerung: Was Buis-les-Baronnies angeht, brauchst du dich in nächster Zeit um nichts zu kümmern. Ich werde wieder kommen, mit Mann und Maus, nicht erst in dreißig Jahren, vielleicht schon dieses, ganz sicher aber nächstes Jahr. ■ Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel F Bouldern USA Die Rhône-Autobahn (A7) bei Bollène verlassen und über diverse Landstraßen nach Buis-les-Baronnies (ca. 50 km). Gesamtstrecke Stuttgart – Buis 880 km 4 4 5.4 5- 5a 5.5 Ausgangsort 5 5b 5.6 Buis-les-Baronnies Office du Tourisme Boulevard Michel Eysséric 14, BP 18, 26170 Buis-les-Baronnies Tel 33 (0)4.75.28.04.59 [email protected] http://www.buislesbaronnies.com 5+ 5b+ 5.7 6- 5c Fb 4c 5.8 6 5c+ Fb 5a 5.9 6+ 6a Fb 5b 5.10a 7- 6a+ Fb 5b+ 5.10b Camping 7 6b Fb 5c 5.10c Camping Municipal Quartier le Jalinier Tel. 33 (0)4.75.28.04.96 Offen vom 01. 03. 2011 bis 11.11.2011 7+ 6b+ Fb 5c+ 5.10d 7+/8- 6c Fb 6a 5.11a 8- 6c+ Fb 6a+ 5.11b Camping Les Ephelides Allée des cerisiers Tel. 33 (0).4.75.28.10.15 www.ephelides.com [email protected] Weitere Plätze und Wohnungen beim Touristenbüro 8 7a Fb 6b 5.11c 8+ 7a+ Fb 6b+ 5.11d 8+/9- 7b Fb 6c 5.12a 9- 7b+ Fb 6c+ 5.12b 9 7c Fb 7a 5.12c 9/9+ 7c+ Fb 7a/7a+ 5.12d 9+ 7c+/8a Fb 7b 5.13a 9+/10- 8a Fb 7b+ 5.13b 10- 8a+ Fb 7b+/7c 5.13c 10 8b Fb 7c 5.13d 10+ 8b+ Fb 7c+ 5.14a 10+/11- 8c Fb 8a 5.14b 11- 8c+ Fb 8a+ 5.14c 11 9a Fb 8b 5.14d 11+ 9a+ Fb 8b+ 5.15a 11+/12- 9b Fb 8c 5.15b Zugang Ubrieux Buis-les-Baronnies in nordöstlicher Ruichtung auf der D546 verlassen, nach 2 km rechts Parkbucht. Zustieg: 0 min bins 10 min. Zugang Baume Rousse Wie Ubrieux, hinter der Brücke über den Bach Ouvèze links in die D108 einbiegen, nach 1,5 km wieder links den Berg hoch, nach 1 km rechts Parkbuchten. Zustieg: 5 min. Zugang Rocher St. Julien Im Zentrum von Buis über den Bach Richtung Camping Municipal, dann den Berg hoch, nach 2 km rechts Parkbucht. Zustieg: 40 min. Führer Verschiedene lokale Führer im Touristenbüro erhältlich, leider ohne ISBN-Nummer. Quelle: Kletterspiegel, www.kletterpiegel.de Rockfax: France Haute Provence ISBN 978 1 873341278 Jahreszeit ganzjährig Besonderheiten Buis-les-Baronnies ist ein wunderschöner Ort mit Supermärkten, Einkaufsläden, Restaurants und Kneipen. Idealer Standort für Familien, auch als Stützpunkt für die Gebiete St. Léger und Malaucene geeignet. Über den Pass nach Orpierre braucht man ca. 1 Stunde. Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 21 Kurzmeldungen Reise Vorgriff St. Léger Der 7. Himmel und das 8. Paradies Die Route „Azimut“, 7b+, am Sektor „Le coffres“, Foto: Jochen Riegg 22 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Kletterspiegel 2 / Juli 2011 23 Reise St. Léger dies as 8. Para d d n u l e m Der 7. Him Foto: Jochen Riegg am t St. Léger ie b e rg e tt le eiterten nzösische K rt in den erw liche ö Das südfra h e g x u to t. Ven e persön Fuße des M uropas. Ein E te ie b e g p Kreis der To g Annäherun Riegg Von Jochen St. Léger am Mt. Ventoux: Leichte bis stark überhägende Routen beherrschen die Kletterei in dem südfranzösischen Top-Klettergebiet. S eit einem halben Jahr weiß ich, dass ich an Ostern nach St. Leger fahre. Seit einem halben Jahr steige ich jeden Morgen auf diese gottverdammte Waage. Seit einem halben Jahr zeigt sie immer die gleiche Zahl an. Waren das noch Zeiten, als ich mit Strickleiter zum Klettern ging und eine Personenwaage so nützlich war wie ein Höhenmesser im Klettergarten. Die digitale Waage hat eine Memory-Funktion, die sich an das letzte Gewicht erinnert, und immer erst eine Abweichung von mehr als 300 Gramm als neues Gewicht ausgibt. Ich habe mir angewöhnt, zwei Mal auf die Waage zu stehen: Einmal stütze ich mich mit der Hand am Waschbecken ab, so dass die Waage ein geringeres Gewicht zur Messung bekommt. Anschließend stelle ich mich normal auf die Waage. So kann ich auch Abweichungen kleiner als 300 Gramm messen. Wie kaputt muss man sein, um sich sowas anzutun? Klettern ist zu einem Sport um Zahlen verkommen, um Gewichte und Grade, zu einem Jojo-Spiel im Kopf, auf der Waage, am Fels. Ge24 wicht rauf, Gewicht runter, Grad rauf, Grad runter, tagaus, tagein. St. Leger: Jeweils 100 Routen im französischen Grad 7 und 8 Ich war noch nie in St. Léger. Lapidar erzählte ein Freund, dass St. Léger ein überhangender Fels sei, der direkt an einem Bach liege, an dem es hauptsächlich schwere Routen gebe. Diese sorglose Nüchternheit verführte mich nicht zum Schwärmen. Ich dachte, gut, einen überhängenden Sektor mit schweren Routen gibt es an vielen Stellen dieser Welt, nichts Besonderes. Aber was ich dann zu sehen bekam, war eine bodenlose, böswillige Untertreibung! Ich finde, 77 Kilo sind zu viel, um eine 8a zu klettern. Das war mein erklärtes Ziel, von dem ich aber schon Anfang März Abschied genommen habe, nachdem die Waage einfach keine andere Zahl anzeigte. Ist es bloß kaputt und schon Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Die meisten Routen liegen im Bereich zwischen 7b bis 8b. Das Bild zeigt nur rund die Hälfte des gesamten Gebiets. der Anfang vom Irrsinn, wenn man jeden Tag auf die Waage steht und hofft, dass sich was ändert, obwohl es dazu keinen Grund gibt? Es gab schon Urlaube, an denen ich die Waage mitnahm. Das ist nun wirklich kaputt. Nein, nie wieder nehme ich eine Waage mit in den Urlaub, ich bin normal im Oberstübchen, obwohl man das bei Kletterern nie so genau weiß. D as Klettergebiet St. Léger liegt im breiten Flusstal des Toulourenc direkt unterhalb der Nordseite des Mt. Ventoux. Er erhebt sich fast 1500 Meter aus dem Rhônetal und hat auch bei schönstem Wetter immer eine weiße Wolkenmütze auf. Hebt er sie an, kommt auch im Mai oder Juni noch ein schneebedecktes Haupt zum Vorschein. Wenn es unten an den Felsen des Toulourenc zu heiß zum Klettern ist, können hoch droben durchaus Gewitterstürme mit Hagel toben, was das Wetter hier unberechenbar macht. An unserem heutigen ersten Klettertag haben die französischen Lokalblätter „Le Dauphine“ und „La Provence“, die durch ihre schrille AufKletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 machung so zuverlässig wirken wie ein abgesprengter Felsblock in den Dolomiten, instabiles Wetter vorausgesagt. Und es war den ganzen Tag keine Wolke am Himmel, bis auf das kleine Mützchen auf dem Ventoux. Welch ein Begriff von Instabilität! Vive la France! Ich war nach meinem Studium ein halbes Jahr lang in Marseille und da haben die Franzosen schon im September, als es noch 25 Grad am alten Hafen gab, dicke Herbstjacken übergestreift. Instabiles südfranzösisches Wetter ist, wenn in fünf Tagen die ersten Cirren den blauen Himmel trüben. Welch ein Begriff von Instabilität! Viva la France! Die beste Kletterzeit für St.Léger ist Frühling und Herbst Was für ein Tal! Was für Felsen! Mon dieu! Von Buis-les-Baronnies aus, unserem Standort fürs Familienklettern, ist man in zwanzig Minu25 St. Léger Foto: Jochen Riegg Reise „La farce tranquille“, 8a, in der gleichnamigen Grotte 26 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 27 St. Léger Foto: Jochen Riegg Foto: Jochen Riegg Reise Überhangende Sinterwand: Die Route „Indigo gallinacé“, 8a+, Sektor „FFMeuh“ Kleine Grotte für starke Leute: Die Route „Spit bouse“, 8a, Sektor „Le prince du lactique“ ten hier. Von Entrechaux, einem weiteren möglichen Standort, fährt man fünf Minuten weniger. Allerdings muss man dort auf fast allen Komfort verzichten, den Buis-les-Baronnies zu verzeichnen hat. Auch Malaucène ist ein möglicher Stützpunkt. Das Dorf liegt auf der Komfort-Skala zwischen Buis und Entrechaux. Dafür ist es weitesten entfernt, hat als Ausgleich aber ein eigenes Klettergebiet. Nicht nur das Gewicht nimmt im Alter zu, auch das Verlangen nach Komfort, so dass wir uns in ein Chalet in Buis eingemietet haben. Das mag die letzten Härte rauben, so dass ich mich heute in keiner meiner Dolomitenrouten mehr trauen würde; aber so dekadent wie eine Waage mit in den Urlaub zu nehmen, ist es nicht. Von Buis oder Entrechaux kommend geht es auf der Straße D40, die bei Mollans abzweigt, über einen kleinen Pass hinunter nach dem Ge- zwei Kilometer Länge leicht aufsteigend zum Horizont. Was für eine Untertreibung! Ein paar überhängende Felsen an einem Bach mit ein paar schweren Routen. Wie kann man nur so untertreiben? Das ist böse Absicht! Es ist das Paradies, das Paradies des siebten und achten französischen Grades. Wie ein langer Wurm reihen sich die einzelnen Sektoren mal dicker, mal dünner, bis sich am Horizont ein leuchtend orangener Kopf zum Himmel erhebt. Zwei Kilometer Felsen, Grotten, Wände, Überhänge, Platten, Sinterfahnen, Kanten, Verschneidungen. Pah! Hättest du mal abgenommen. Es ist immer das gleiche. Du hockst im Winter abends am Fernseher, die Projekte im Kopf sind so weit weg wie Grönland von den Alpen, es ist kalt, das Kamin- 28 höft St. Léger, einem gottverlassenen Kaff am Fuße des Ventoux; einen Kilometer davor biegt man rechts in einen geteerten Stichweg zur Bergerie ein, diesem folgt man bis zu deren Parkplatz. Dort gibt es Platz für etwa 25 Autos. Die Bergerie ist ein Gasthaus, das von einem Belgier liebevoll restauriert und zu einer Herberge mit Gästerzimmern für rund zwanzig Personen umgebaut wurde. Der Rasen vor dem Haus wird liebevoll gepflegt und ist akurat geschnitten wie ein Golfplatz. Da der Platz aber nur so groß ist wie ein verunglückter Abschlag, ist das ebenso sinnlos, wie eine Waage mit in den Urlaub zu nehmen. Mon dieu! Was für Felsen! Was für ein Tal! Vom Parkplatz an der Bergerie folgt man den Fluss Toulourenc einige Minuten, dann öffnet sich das Tal und rechts strebt ein Felsriegel von Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 feuer knistert, das Bier steht auf dem Tisch und daneben eine Tafel Schokolade. Morgen fange ich an, abzunehmen. Morgen, morgen, nur nicht heute, sagen alle faulen Leute. Man ist doch nicht faul, wenn man Bier trinkt und Schokolade isst? Hättest du mal abgenommen! S t. Léger gehört zu den europäischen Topklettergebieten mit der wohl größten Dichte an 8a-Routen und 8b-Routen. Kaum ein anderes Gebiet hat auf so engem Raum so viel Routen dieses Grades zu bieten: etwa 100 Routen sind 8a und schwerer, und nochmal so viele liegen im Bereich 7a bis 7c. Da kann man ein Leben lang die Kletterschuhe durchtreten, ohne sich jemals aus dem Tal des Toulourenc zu bewegen. Das gesamte Klettergebiet besteht aus ungefähr zehn Sektoren, die teilweise in weitere Einzelsektoren 29 Reise St. Léger sind sehr lang – zwischen 25 und 35 Meter – und erfordern mehr Ausdauer als Maximalkraft. So auch diese. Die ersten zehn Meter steigt man großen Griffen mäßig schwer die sich aufsteilende Wand hoch bis man den grauen Teil erreicht. Dort gehen die Schwierigkeiten los. Ich ruhe an einer Schuppe, von der aus ein schwieriger Kreuzzug die linke Hand in ein senkrechtes Zweifingerloch führt, dass man zuschrauben und durchziehen muss, bis für die rechte Hand oben ein guter Griff kommt. Die Wand hängt hier gut über, und die 77 Kilo ziehen mich nach unten, als ich hätte ich einen schweren Rucksack umgeschnallt. Hättest du mal abgenommen. Nun Griffwechsel und unübersichtlich an eine kleine Leiste neben dem nächsten Haken über mir, hinter dem die Wand sich wieder deutlich an hinten neigt. Die Schlüsselstelle. Onsight sehr schwer zu lesen. Der Blick geht nach links oben auf ein langes Tickmark, darüber befindet sich der Ausstiegshenkel aus dem überhängenden Teil. Normalerweise würde man sich nach links orientieren, wenn man den Trick mit dem kleinen Griff rechts nicht kennt und mit der rechten Hand vergeblich was zum Greifen suchen. Aber im zweiten Versuch weiß man das natürlich. An den Norwänden kann man auch im Sommer klettern Mir wird mir die 7a-Route „La Lévrotte“ empfohlen, sie sei ein absolutes Muss in diesem Grat. 35 Meter purer Klettergenuss. Das klingt wie aus einem Werbefilm. Die meisten Routen in Der Übergang aus dem überhängenden in den geneigten Teil ist schwer und auch hier würde man sich eher links in die flachere Zone orientieren, was aber wieder eine Sackgasse ist. Rechts ist es zwar ein wenig steiler, davor sorgen zwei versteckte waagrechte Leisten, dass man nach ein paar kräftigen Zügen auf dem Kopf des Überhangs steht. Jetzt noch 15 Meter 6b-Gelände, purer grauer Genuss, bis man den Umlenker erreicht. Wow! Die Werbung hatte nicht übertrieben. Der Körper ist zwar geschunden, aber das Glück verdrängt den Schmerz. Der Blick schweift an der Südwand entlang zum Toulourenc, von dort 1500 Meter höher zum 1900 Meter hohen Gipfel des Mt. Ventoux. Er hat zum Schutz vor der Sonne wieder sein Wolkenkäppi auf. Schon jetzt im April ist die Grenze erreicht, wo man gerade noch unter blauem Himmel in den Südwänden klettern kann. Man muss auf wolkige Tage hoffen. Das Panorama ist derweil so kitschig wie ein Roman von Ganghofer. Bei seinem Anblick muss man glauben, dass die Natur selbst den Kitsch erfunden hat und der Autor nur das wiedergibt, was er sieht. Eine Gruppe französischer Jugendlicher aus Traum in Schwarz-Orange 1: Die Route „Un monde à refaire“, 7a+, bietet 35m puren Klettergenuß 30 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Foto: Jochen Riegg maße, zehn Meter tief, zwanzig Meter hoch, mir werden die Arme schwer beim Hochschauen und auch der Bauchansatz zwickt am Rucksackgürtel. Obwohl der französische Kletterführer schreibt, dass St. Léger im Gegensatz zu Buoux oder den Dentelles de Montmirail eher überbewertet sei, kann ich mir eine 8a nicht vorstellen. Noch einmal geht er Blick hoch in die Grotte. Ich fühle mich klein, dick und hässlich. An der „Face Sud“, Sektor „Les coffres en bambou“, einer grauen, versinterten, leicht überhangenden Wand, werfen wir unsere Rucksäcke an den breiten, geschotterten Einstieg. Die Wandfüße in St. Léger sind durchwegs flach und bequem, so dass auch Kinder und Hunde ihren Spaß dort haben. Foto: Jochen Riegg unterteilt sind. Insgesamt erstreckt sich der komplette Felsriegel auf eine Länge von zwei Kilometern. Der Südteil ist bedeutend größer als der Nordteil, bei dem man allerdings auch im Sommer klettern kann. Die beste Jahreszeit ist Frühling und Herbst, die meisten Routeneinträge bei 8a.nu liegen im April und Oktober. Ich finde, ich habe einen Bauchansatz bekommen. Im Spiegel von vorne sieht man noch nichts, aber von der Seite sieht es schrecklich aus. Früher, in der Schule, war ich ein Strich in der Landschaft, mit 30 bekam ich Muskeln und jetzt mit 50 einen Bauch. Ich habe mich damals geschämt, als ich bei der Heimfahrt aus dem Fränkischen die Waage wieder einpackte. Ärgerlich war, dass ich in jenem Urlaub mit der Route „Chasin the train“ am Krottenseer Turm ein klassisches Highlight im 9. Grad klettern konnte. Ist es nicht peinlich, dass man dafür extra eine Waage mitnehmen muss? Hat man die Engstelle des Toulourenc, in dem man auch herrlich baden kann, an der Bergerie passiert, führt ein breiter Fussweg zu den ersten Felsen am Südteil. Der Felsenwurm ist ein ewiges Wechselspiel aus Grotten und deren Seitenwänden. Die Grotten haben beeindruckende Aus- St. Léger Traum in Schwarz-Orange 2: Vincent in der Schlüsselstelle „Un monde ...“, im Hintergrund der Felsriegel der Südwand Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 31 Reise St. Léger Colmar belagert zwei Routen rechts daneben die Route „Sale fée mal brossée“, wenn ich richtig gezählt habe, die in kürzester Zeit am öftesten begangenen 7b dieser Welt. „Allé Chantal, allé Julien“, schreit es stundenlang. Jeder, der oben ankommt, erhält wie im Dschungelcamp von RTL zur Belohnung eine Pizza für die ganze Gruppe. Das ganze dauert sicher drei Stunden, dann sind fünf Pizzen beieinander, der jüngste Eroberer ist nicht älter als 12 Jahre. Ich rede mir ein, dass ich mit 20 Jahren ein 8c geklettert hätte, wenn ich die Trainingsmöglichkeiten gehabt hätte wie die Jugend heute. Ich rede mir es immer und immer wieder ein. Ja, so wäre es gewesen. Auch ohne abzunehmen. Foto: Jochen Riegg I Traumfels: „Ni rire, ni pleurer ...“, 7b, Sektor „Les Coffres ...“ 32 Traumkante: „L‘œil du loup““, 6c, Sektor „Ça peut chémar“ Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel ch laufe den südlichen Felsriegel weiter hoch, um Fotos zu machen. Ich komme an der Kante der Route „L’œil du loup“ vorbei, einer rotschwarzen Kante wie aus dem Bilderbuch, 35 Meter 6c+, famos, gigantisch, der Irrsinn. Schließlich folgen Grotten, Wände, Grotten, Wände, ich kann sie gar nicht mehr zählen. Was für eine verschwenderische Anzahl! Wie der Bär, der in einem Fluss steht, einen Lachs nach dem anderen aus dem Wasser zieht, nur das Beste an ihm frisst und den Rest wegwirft, so kann sich der Kletterer in St. Léger das Beste an Routen aussuchen und hat immer noch das Beste stehen gelassen. In Buis gibt es mehrere Pizzerien, eine davon ist die Brasserie de L’Escale, die gerne von Kletterern besucht wird. Ich kann mir denken warum: Für neun Euro bekommt man hier eine Pizza so groß wie ein Straßenschild und Salate in tiefen Suppentellern, die eine Kompanie Meerschweinchen satt machen würden. Soll ich euch sagen, warum ich 77 Kilo wiege? Nach der Pizza und dem Salat gingen wir noch in unsere zweite Stammkneipe, die Brasserie de L’Etoile. Dort gibt es Chocolat liégois, einen Eisschokoladebecher, wie ihn die Welt noch nicht gesehen hat: drei Kugeln Schokoladeeis, eingebettet in Schokomilch mit Vanille- und Schokosauce, darüber eine Haube Sahne so groß wie der Eispilz des Cerro Torre. Vor der digitalen Waage hatte ich eine analoge mit Zeiger. Die zeigte immer zwei Kilo zu wenig an. Ich lebte ein halbes Leben lang in der Illusion, zwei Kilo weniger zu wiegen. Darum hasse ich digitale Waagen. Sie rauben einem mit ihrer Genauigkeit jede Illusion. Aber vielleicht ist diese digitale Genauigkeit auch nur eine Illusion und meine 77 Kilo sind auch nur ein Rechenfehler genauso wie der Eisengehalt beim Spinat. Ja, so muss es sein. Ganz sicher. Am letzten Tag ist es so heiß, dass wir auf die Nordseite zum Klettern gehen. Geht noch was? Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Vielleicht doch noch eine 7b oder 7c? Eine 6a+ zum Aufwärmen lässt Schlimmes vermuten. Hui. Aber ich bin es mittlerweile gewohnt, dass man in Südfrankreich in diesem Grad keine Lorbeeren erntet. Man kann nur allen raten, schnell über diese Grad hinauszukommen und in den 7er-Bereich vorzudringen. Dann eine weitere empfohlene 7a-Route. Danach werde ich warm sein. Die Route „La Chevauchée Fantastique“ beginnt kräftig an guten Griffen, nach zehn Metern steht man unter einem 6 Meter langen, fast halben Meter breiten RiesenTuffa. Dann beginnt die Suche mit dem Fernglas nach dem nächsten Haken. Normalerweise sind die Routen in St. Léger südfranzösisch gut gesichert, hier aber scheint jemand böswillig einen Haken vergessen zu haben. Ich bekam den Tipp, dass am Ende des Tuffas, auf der linken Seite, ein guter Untergriff sei. Der nächste Haken ist rechts davon ums Eck. Vorsicht, Suchtgefahr: St. Léger lädt zum ewigen Bleiben ein Puh, was für eine Strecke! Die Griffe sind zwar gut, aber unter mit verschwindet der letzte Haken unter dem Tuffa und der nächste wird erst zehn Meter unter mir wieder sichtbar. Ich trau‘s mich einfach nicht. Auf halber Strecke ist links drüben die Schlinge einer anderen Route, die nehm ich dazu, eine grausame Seilreibung ist die Folge. Im zweiten Durchstiegsversuch nehme ich mir fest vor, diese Schlinge auszulassen. Als ich wieder am Beginn des Tuffa stehe, kommt mir das Fracksaußen, weil einfach die Unterarme dick sind, ich hänge ein. Es ist eine erste kleine Niederlage. Dennoch presse ich mich den Tuffa hoch, Untergriff mit links, rechts drüben den Haken geklippt, durchatmen, doch was ist das? Ich erreiche weit rechts drüben den Seitgriff nicht, was aus dem Hängen heraus kein Problem war. Zwei Mal die Füße etwas weiter rechts auf den Tuffa gepresst, es geht nicht. Meine Unterarme sind so dick wie Schwimmreifen. Oh, Gott, wenn ich das hier auch noch vergeige. Ich muss mich schnell entscheiden. Das Blut pocht in den Schläfen, schnell, mach was. Ich blicke in die unbekannte Wandzone über mir, es hilft nichts, ich muss da durch. Einmal tief durchgeatmet und los. Fünf Meter Niemandsland im siebten Grad können die Hölle sein. Ich erreiche einen Absatz auf zwei Drittel der Wandhöhe mit letzter Kraft. Puh. Ich blicke hinüber zu Harry, der etwa in gleicher Höhe wie ich links drüben in der „Black Mamba“, 8a hängt. Wir sehen uns an. Ich denke, tja, Harry, du hängst schon, ich stehe noch. Was 33 St. Léger Foto: Jochen Riegg Reise Nordwand von St. Léger: Ergiebiges Klettern auch dann, wenn in den Südwanden die Hitze zu groß wird. für eine bodenlose Arroganz, mit 77 Kilo! Am Ende des Absatzes befindet sich eine riesige Wurzel, in die ich abwechselnd die Unterarme stopfe. Man kann sie nicht loslassen, dafür ist die Wand zu überhängend und die Tritte sind zu schlecht. Es vergeht eine kleine Ewigkeit, bis ich mich gefasst habe. Es wird nicht besser, die Kraft kommt nicht zurück. Also weiter. Eine steile kleingriffige Wand folgt, dann eine Reihe kleiner Tuffas, die Wand hängt immer weiter über. Noch drei Meter zum Stand, ich habe eine Reibung, wie wenn jemand auf dem Seil steht, dann endlich schnappt der Umlenkkarabiner zu. Von wegen warmgeklettert. Ich bin am Ende. Das mit der 8a wird nichts mehr. Wieder nicht. Wie lange muss ich in meinem Leben darauf noch warten? Jahre und Jahre kämpfe ich schon um diesen Grad. Ständig auf die Waage zu stehen, bringt aber auch nichts. So viel ist mir jetzt klar. Ob ich viel oder wenig wiege: Nur eine Badewanne voll Schweiß kann diesen Mangel beheben, gefüllt an endlosen, zermürbenden Trainigstagen. Derweil rinnen die Jahre dahin. Ob ich je nochmals die Energie aufbringe? St. Léger, au revoir, tschüss, auf Wiedersehen. Eigentlich hätte ich dich wie ein Aschenputtel beschreiben müssen. Klein, dick und hässlich. Damit dich niemand so begehrt wie ich. Aber ich bin nun mal geschwätzig wie ein Kind, und du weißt, Kinder und Betrunkene sagen die Wahrheit. Lass dich nicht durch die vielen Leute unterkriegen. Denn sobald irgendein anderer schöner Fels mit dem Hintern wackelt, wird die Karavane weiterziehen: Auf mich aber kannst du immer zählen. Adieu, ma chérie, je t‘aime. Ach ja, chérie, findest du nicht auch, 77 Kilo bei 182 Meter Größe sind viel zu viel für eine 8a? ■ Reiseinfo St. Léger Anfahrt Fahrt nach Buis-les-Baronnies wie auf Seite 21 beschrieben. Ausgangsort St. Léger / La Bergerie Bis auf die Bergerie gibt es in St. Léger selbst keine Übernachtungsmöglichkeiten Stützpunkte Buis-les-Baronnies *** (20 km) www.buislesbaronnies.com Entrechaux * (15 km) www.entrechaux.info Malaucène ** (20 km) www.malaucene.fr Zugang Von Buis-les-Baronnies: Die D5 in westlicher Richtung. Nach 10 km hinter Mollans links Richtung Entrechaux, nach 500 m wieder links auf D40 Richtung St. Léger. Über den Pass, nach ca. 10 km kurz vor St. Léger rechts Richtung „Bergerie“ einbiegen. Der Straße folgen bis zum Parkplatz der Bergerie. Dort Parken. Von Entrechaux/Malaucène: Auf der D13 Richtung Mollans, kurz vor Mollans rechts auf die D40 Richtung St. Léger, dann wie oben. Zustieg: Vom Parkplatz dem Fluß folgend in ca. 15 Minten auf breiten Wegen zu den einzelnen Sektoren. Übernachtung La Bergerie des Salamandres 84390 St. Léger Tel. 33 (0)4. 75.28.29.33 www.bergerie-des-salamandres.com Platz für 20 Personen in 2- bis 6-Bett-Zimmern Camping Les 3 Rivières Quartier des Jonches 84340 Entrechaux Tel 33 (0)4.90.46.01.72 www.camping-les3rivieres.com Weitere Campingplätze in Entrechaux, Buis-les-Baronnies und Malaucène Führer Escalade autour du Ventoux (St. Léger, Malaucène, Bedoin). Erhältlich in der Bergerie, keine ISBN, ca. 20 € Rockfax: France Haute Provence ISBN 978 1 873341278 Jahreszeit Foto: Jochen Riegg ganzjährig, bis auf die Sommermonate Juli und August Besonderheiten Topklettergebiet mit ca. 300 Routen, davon 200 über 7a+. Gute Absicherung, Wandfuß kindertauglich. Planschen und Baden im Bach Toulourenc. Der Fluss Toulourenc: Links und rechts des Baches befinden sich die Felsen von St. Léger. Kleines Bild re. zeigt die Bergerie. 34 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 35 Rottachberg Foto: Jochen Riegg Reise Engelbräu in Rettenberg: Lokale Spezialitäten bei selbst gebrautem Bier. Heiße Tage, kühles Klettern Der Rottachberg bei Rettenberg im Allgäu ist ein ideales Ausgleichsgebiet für die heiße Jahreszeit, wenn sich im überfüllten Frankenjura die Kletterer drängen. 36 Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Foto: Jochen Riegg Rottachberg (groß), Konglomerat (klein): Klettern im Sommer, wenn es anderswo zu heiß ist. Als Ouverture eine herzhafte Fleischbrühe mit Bier-Treber-Brätstrudel, danach ein LolloRosso-Vorspeisensalat mit Mais und Karotten in würziger Vinaigrette, dann Allgäuer Kasspatzen mit Bergkäse, Edamer und Weistaler von heimischen Kühen, obendrauf ein kleines Hütchen von gerösteten Zwiebeln, angerichtet in einer heißen Gußeisenpfännle auf einem Holzbrettl aus örtlicher Fichte, dazu ein Weizenbier vom Fass mit 13 Prozent Stammwürze aus der eigenen Brauerei, zum Ausklang ein Espresso aus echtem italienischen Kaffee, serviert von Kellnerinnen in lila Dirndln, darüber ein strahlend blauer Himmel, davor gelbblühende Almwiesen, im Hintergrund die verschneiten Berge des Allgäuer Hauptkammes mit dem Hochvogel in der Mitte, bei 20 Grad auf der Terrasse sitzend vor dem Gasthof Engelbräu. Der zweite Grund, nach Rettenberg ins Allgäu zu fahren, ist der Falkenstein, unter Kletterern auch bekannt als Rottachberg. Als Ouverture empfehlen sich einige leichte Routen in der Mitte der Konglomeratfelsen gegenüber dem Grünten. Der erste Blick, der sich auftut, wenn man von Hinterberg aus den Bergrücken des Falkenstein hochläuft und dann wieder Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel ein Stück ins Tal Richtung Rottach, bevor man nach 50 Metern nach links zu den Felsen abzweigt, ist schauerlich. Man sieht leicht bis stark überhängenden Felsen, im Schnitt 30 bis 40 Meter hoch, in den zwischen Lehm große und kleine Kiesel stecken, und ist hell erschrocken. Nach dem ersten kleinen Schock fühlt sich der Fels, sobald man die Abscheu überwunden und die Kletterschuhe übergestreift hat, aber erstaunlich fest an und er ist es auch. Die leichtesten Routen sind um 6b, die sind gar nicht mal so schlecht, es sind aber nur ein paar und deswegen reist man nicht zum Rottachberg an. Die richtige Musik fängt erst im Bereich 7a an, und da erhält man volles Orchester. Rund 70 Routen bis 8c bietet der kühle Nordwestfels, der auf über 1000 Meter unterhalb des Gipfelkammes des Falkensteins liegt. Das Klettern spielt sich an großen und kleinen Kieseln und deren schalenförmigen Ausbrüchen ab. Es wird eine tierische Ausdauer gefordert. Puristen werden am Rottachberg nicht glücklich: Ab und an sind Griffe geschlagen oder Kiesel hinzugeklebt, um unüberwindliche Stellen zu überbrücken. Das tut dem Gebiet keinen Abbruch, die Route „Krümelmonster“ 7a wäre so vielleicht gar nicht kletterbar und es würde der Kletterwelt eine der schönsten 8-er-Routen fehlen. Das ist keine Aufforderung zum Routenkleben, aber am Rottachberg hat man ganz gutes Augenmaß beweisen. Würde man den Kleb nicht sehen, würde man die ergänzten Kiesel von den anderen 5 Millionen nicht unterscheiden können. Die Jahreszeit des Rottachbergs ist sehr begrenzt. Je nach Feuchtigkeit ist es von Herbst bis Frühjahr sehr lange nass und kalt, so dass fast nur die Sommermonate zum Klettern in Frage kommen. Dann aber bietet sich dem fortgeschrittenen Sportkletterer ein herrlicher Spielplatz zum Austoben. Wer am Schluss die Jause und das Bier im Engelbräu versäumt, ist selber schuld. ■ (jr) 37 Persönlichkeit Lothar Brandler „Ein Bergfilm braucht echte Kletterer“ Lothar Brandler war als Erstbegeher zahlreicher schwerer Alpenrouten und als Bergfilmer ein Pionier. Kletterspiegel-Redakteur Kilian Neuwert hat ihn in München besucht und mit ihm über die Direttissima an der Großen Zinne und seine Arbeit als Bergfilmer gesprochen. Kletterspiegel: Der Sommer 1958 war Ihr großer Sommer. Aber die Direttissima in der Nordwand der großen Zinne geht auf eine Postkarte zurück, die Ihnen Dietrich Hasse schrieb. Brandler: Ja. Ich hatte 1957 Arbeit in der Schweiz und habe Seilbahnen gebaut. Da kam die Postkarte vom Hasse, ob ich nicht zur Zinne kommen könnte. Er hätte die Absicht die Nordwand direkt zu durchsteigen und brauchte einen zweiten Mann. Ich musste ihm absagen. Ich hatte Arbeit und verdiente gutes Geld. Genauso wichtig war aber, dass ich der Sache keine Chance gegeben habe. Für mich war die Wand undurchsteigbar. Kletterspiegel: Aber sie ließen sich trotzdem überreden? Brandler: Im Spätwinter 1957 kam wieder ein kurzer Brief vom Hasse. Ich habe ihm wieder abgesagt und habe ihm gesagt, dass ich mich jetzt der Musik widme, da ich am Konservatorium in München angenommen worden war. Im Frühsommer 1958 bin ich mit Luis Vigl in die Dolomiten gefahren und wir sind mal unter die Wand gegangen. Ich habe nur gesagt: Der Has- se spinnt. Aber Dieter Hasse hat nicht locker gelassen. Und das ist etwas Verrücktes an ihm. Er sieht die Wände und glaubt daran, dass sie durchsteigbar sind. Er hatte einfach eine Vision und hat mich doch breitgeklopft. Kletterspiegel: Bei der Erstbegehung waren dann noch Jörg Lehne und Dieter Löw dabei. Wieso stiegen sie zu viert in die Wand ein? Brandler: Die beiden haben ein Jahr vorher schon die ersten Versuche gemacht. Dieter Hasse hatte die beiden schon vorher angesprochen und war mit ihnen auch schon in der Wand gewesen. Alles andere war er mit Willi Zeller geklettert, der dann aber an der Fleischbank Ostwand verunglückt ist. Also fehlte Ihnen der vierte Mann. Kletterspiegel: Der waren Sie. Brandler: Ja, denn die Idee war es mit zwei Seilschaften einzusteigen, die sich dann auch gegenseitig helfen können. Ich bin dann am Vortag der Unternehmung mit Dieter Hasse in die Wand gestiegen um mir alles anzuschauen. Die anderen waren noch nicht da. Wir sind bis zur fünften Seillänge geklettert und mir erschien es auf ein- 38 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Foto: Kilian Neuwert Foto: Archiv Lothar Brandler Lothar Brandler, * 19.10.1936 Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Der Bergfilmer und Alpinist begann seine Kletterkarriere als 12-jähriger im Elbsandsteingebirge und kam wenige Jahre später ins bayerische Neuburg. Bekannt wurde er durch Erstbegehungen im Wilden Kaiser, im Wetterstein und in den Dolomiten. In fünf Tagen durchstieg er 1958 gemeinsam mit Dietrich Hasse, Jörg Lehne und Sigi Löw die Nordwand der großen Zinne. Später wurde Brandler als Filmemacher vielfach international ausgezeichnet und drehte als erster mit einer Kinokamera in einer großen Alpenwand. Heute lebt er in München. (Kilian Neuwert) 39 Persönlichkeit Lothar Brandler mal möglich. Je höher man kam, umso mehr begann sich die Wand aufzugliedern. Also haben wir mit Lehne und Löw auf der Hütte vereinbart, dass wir die ersten Längen klettern und dann biwakieren würden. Die beiden sollten dann nachkommen. Kletterspiegel: Die Zweitbegeher haben nochmal zahlreiche Haken geschlagen und heute wird die Wand frei begangen. Die Stände hat Alexander Huber für seine Solo-Begehung saniert. Brandler: Genau das hätte er nicht gebraucht. Die Standplätze waren immer das Beste an Haken in der gesamten Wand. Den Bohrhaken hat er zum Üben gebraucht. Er hat in jeder Seillänge ein Fixseil gespannt und ist an dem Fixseil gesichert, frei geklettert. Bis er überall weiß, wo jeder Griff sitzt. Das ist wie bei einem Zirkusartisten. Der tanzt auch auf dem Seil und unten ist das Netz. Erst wenn er genau kann, dann lässt er irgendwann aus Sensationsgründen das Netz weg. Bei der Erstbegehung habe ich dem Dieter noch gesagt, dass die Wand nach sächsischer Art frei zu klettern ist. Nur nicht mit unserem Hakenmaterial. Kletterspiegel: Im selben Jahr waren sie an der Rotwand erfolgreich und wurden außerdem zum Bergfilmfestival in Trient eingeladen. Ihr erster Kontakt zum Bergfilm? Brandler: Das ist der allererste Kontakt gewesen. Ich habe aber vorher einen Fernkurs über Drehbuchsreiben gemacht. Da kam jeden Monat ein Lehrheft. Im Grunde nichts Wertvolles. Einmal bin ich im November allein auf dem Stripsenjoch gewesen und habe dort angefangen ein Drehbuch über Hans Dülfer zu schreiben. In Trient habe ich dann Bergfilme gesehen, aber nicht die Idee gehabt Bergfilmer zu werden. Das auslösende Moment kam erst im Jahr danach durch meine Arbeit an „Phänomen Klettern“ Kletterspiegel: Sie haben dann angefangen für den Bayerischen Rundfunk zu arbeiten und nach und nach etlichen preisgekrönten Bergfilmen gedreht. Haben Sie dabei je mit Schauspielern gearbeitet? Brandler: Für einen richtigen Kletterfilm ist ein echter Bergsteiger das wichtigste. Ein Bergsteiger hat untrügliche Bewegungen beim Klettern. Ähnlich wie ein Tennisspieler typische Bewegungen haben. Man kann das Niemandem in ein paar Tagen lernen. Das ist auch der Fehler von zwei aktuellen Bergfilmen. Von „Nordwand“ und „Nanga Parbat“. Ich bekomme Magenschmerzen, wenn ich sehe, dass die nicht klettern können. Gerade bei Nanga Parbat. Da spielen sie die Messner Brüder und die konnten exzellent klettern. Man hätte zwei Bergsteiger nehmen müssen. Die müssten nur sich selbst spielen. Kletterspiegel: Und das Filmteam? Foto: Archiv Lothar Brandler Brandler: Auch das müssen Alpinisten sein. Dann sind sie in ihrem Metier und ein Film wird authentisch. Er muss nicht lang sein, aber er soll die Wirklichkeit zeigen. 40 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel 2 / Juli 2011 Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Kletterspiegel: Welchem Thema hätten Sie sich noch gerne angenommen? Brandler: Der Messner-Geschichte. Aber den hat Vilsmaier gemacht. ■ 41 Persönlichkeit Günter Sturm Am Anfang war Sturm Der Münchener Berg- und Skiführer Günter Sturm stand am Beginn so mancher Entwicklungen, die heute wie selbstverständlich wirken: Er baute die erste künstliche Kletteranlage, schrieb das erste Kletterlehrbuch und gründete 1970 mit dem DAV Summit Club den ersten Bergreiseveranstalter der Welt. Kletterspiegel-Redakteur Kilian Neuwert besuchte den 71-jährigen in der Nähe von München und sprach mit ihm über seine verwegenen Ideen und sein bewegtes Leben. Foto: Archiv Sturm Von Kilian Neuwert 42 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 43 Günter Sturm Foto: Archiv Sturm Persönlichkeit Kletterspiegel: Vor knapp 40 Jahren waren Sie mit ihrem Freund Hartwig Bauer am Burgsteinfelsen im Altmühltal. Dort haben sie eine Seilschaft im „Dolomitenweg“ beobachtet. Wenig später sind sie die Route ohne Seil geklettert, um sich ins Wandbuch einzutragen. Was haben Sie damals hineingeschrieben? Sturm: Was ich ins Wandbuch geschrieben habe weiß ich nicht mehr. Aber es war eine sehr spektakuläre Aktion. Wir waren im Rahmen eines Ausfluges mit der Sektion Eichstätt am Burgsteinfelsen. Ich habe meinem Freund Hartwig Bauer vorgeschlagen, eben diesen Dolomitenweg zu gehen. Nur durften wir das nicht. Also sind wir ein paar Tage später mit den Rädern zum Burgstein gefahren und dann ohne Seil und mit Turnschuhen den Dolomitenweg geklettert. Bis zum Standplatz, der sich am Beginn eines Quergangs befindet. Zuerst habe ich gequert und mich ins Buch eingetragen. Dann bin ich zurückgeklettert und Hartwig Bauer war an der Reihe. Nur hatte ich den Bleistift in der Hosentasche und musste ihn Hartwig über die acht Meter zuwerfen. Kletterspiegel: Also begann Ihre Kletterkarriere ohne Seil und ohne Ausbildung. Einige Jahre 44 später haben ausgerechnet Sie die erste künstliche Kletteranlage für Kurse entworfen. Sturm: Die Idee zu dem Klettergarten ist daher gekommen, dass ich im Hause Scheck eine Bergsteigerschule aufgebaut hatte, mit der wir in München Kletterkurse veranstalten wollten. Aber dort gab es einfach kein ideales Klettergelände. Der Klettergarten Buchenhain im Isartal war für Kurse nicht geeignet. Als Sportlehrer hatte ich natürlich auch andere Vorstellungen davon, wie man einen Kletterkurs durchführen sollte. Ich habe mich dann mit einem Architekten zusammengesetzt und dem von meiner Vision erzählt. Dann bin ich zum Chef von Sportscheck gegangen und habe gesagt: Ich habe eine tolle Idee – wir bauen einen künstlichen Klettergarten in München um junge Kletterer auszubilden. Der Kostenpunkt lag damals bei 30.000 DM. Ich war ganz überrascht, dass Scheck letzten Endes damit einverstanden war. Er hat nur gesagt: Wissen Sie, was das heißt – 30.000 DM? Wenn Sie das verantworten können, dann machen Sie das. Kletterspiegel: Was hielt der Alpenverein von der Idee? Immerhin hatte ein Sportgeschäft die Anlage finanziert. Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Sturm: Zur Eröffnung haben wir ein Sicherheitssymposium veranstaltet. Damals gab es nur die Schultersicherung und ich habe alle Experten, die sich mit diesem Thema beschäftigt haben eingeladen. Das waren Hasse, Schubert, Brahm und Sticht aus dem fränkischen. Der Alpenverein war auch eingeladen. Aber der hat abgelehnt und gesagt, für so ein Spektakel eines Sporthauses gebe man sich nicht her. Entsprechend kritisch hat die alpine Presse berichtet. Die Folge war, dass der Alpenverein nahezu die gleichen Leute wieder eingeladen hat und den Sicherheitskreis gegründet hat. Kletterspiegel: Warum das plötzliche Umdenken? Sturm: Weil die Medien klar gesagt haben, dass es hier um die Sicherheit der Bergsteiger geht. Das sollte die Aufgabe und Anliegen des Alpenvereins sein. Kletterspiegel: Sie erhielten wenig später vom DAV das Angebot zu wechseln und so die Gelegenheit, den bestehenden „Fahrtendienst“ auszubauen. Mit einer „wiederholbaren Auslandsbergfahrt“ sollte jeder Bergsteiger die MögKletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 lichkeit haben, die Berge der Welt zu erleben. Wie schwer war die Umsetzung dieser Idee in der Anfangszeit? Sturm: Das war schon schwierig. In den sechziger Jahren waren vor allem die Genehmigungen für Besteigungen ein Problem. Also habe ich angefangen, Kontakte nach Pakistan und Nepal, nach Peru und in andere Länder aufzubauen. Dort habe versucht Reiseagenturen zu finden, die die gesamte Logistik vor Ort übernehmen konnten. So haben wir das systematisch aufgebaut und schon 1970 die ersten Gruppen nach Chile, nach Peru und Nepal geschickt. Ich selbst habe 1970 in Pakistan die erste Tour gemacht. Allerdings mit einigen Hindernissen. Kletterspiegel: Was für Hindernisse? Sturm: In der Nähe von Tato – dem letzten Ort vor dem Rakhiot-Gletscher – sind auf einmal zehn oder zwölf bewaffnete Einheimische hinter Felsen aufgetaucht und haben uns den Weg versperrt. Ich habe dann herausgefunden, dass es daran lag, dass wir nur Träger aus dem HunzaGebiet beschäftigt hatten. Also haben wir noch ein paar Einheimische dazu genommen und ver45 Persönlichkeit Günter Sturm Kletterspiegel: Dort konnten sie sich selbst helfen. Aber stimmt es, dass ihnen später einmal Franz Josef Strauß zu einem Permit verhalf? Sturm: Der Strauß hat uns zu einem unserer schönsten alpinen Erfolge verholfen. Ich war mit einem CSU-Bundestagsabgeordneten beim Kletten in Berchtesgaden. Beim Abstieg hat er mich nach meinem ganz großen Ziel gefragt. Das war eine Besteigung in Tibet, wie die Shishapangma. Aber die war für uns gesperrt und es hatten sich 32 Nationen für eine Genehmigung beworben. Er meinte, das träfe sich gut, da er demnächst mit einer Delegation von Strauß nach China reisen würde. Ich sollte ein Gesuch schreiben, dass er Strauß mitgeben würde. Der könnte das weiterleiten. Es hat nicht lange gedauert, da bekam ich von der chinesischen Regierung ein Schreiben, dass wir die Genehmigung für die Shishapangma für 1980 bekommen. Kletterspiegel: War Ihr Angebot damals noch zu neu, um auf Kritik zu stoßen, wie sie heute gegenüber kommerziellem Bergsteigen geäußert wird? Sturm: Grad am Anfang der siebziger Jahre sind diese Reisen viel diskutiert worden. Es hieß man würde die Kultur und die Wälder der Zielländer zerstören, weil bei Trekking sehr viel Holz verschürt wird. Wir haben reagiert und nur noch mit Kerosin, später mit Gas gekocht. Kletterspiegel: Ihr Kundenstamm wuchs schnell. Schon in den ersten zwei Jahren hatten Sie 400 bis 500 Kunden. Gab es eine Vorauswahl hinsichtlich der Erfahrungen der Teilnehmer? Sturm: In den ersten Jahren waren die Kunden ausgesprochen tüchtige Bergsteiger, die wussten, was auf sie zukam. Für sie war es eine Chance, die großen Berge der Welt zu sehen. Das waren dann schnell richtige Stammkunden, die sozusagen immer von einem Trekking zum nächsten mitgezogen sind. Schwieriger ist es erst geworden als wir angefangen haben 6000er, 7000er und Ende der Siebziger Jahre auch 8000er ins Programm aufzunehmen. Jeder Teilnehmer musste dann einen entsprechenden Tourenbericht abgeben. Wenn sich aber einer beworben hat der sämtliche 4000er der Alpen bestiegen hatte, hat er einen Freibrief bekommen. Das sind genau die Alpinisten gewesen, die wir ansprechen wollten. Foto: Kilian Neuwert Foto: Kilian Neuwert Günther Sturm, * 09.01.1940 46 Günter Sturm ist in Eichstätt geboren. Mit 16 klettert er erste Alpentouren im Wilden Kaiser und in den Dolomiten. Später folgen ein Studium zum Sportlehrer und die Ausbildung zum Staatlich geprüften Berg- und Skiführer. 1967 wird Sturm Leiter der Bergsteigerschule und Bergsportabteilung von Sport Scheck in München, von wo aus er zum DAV wechselt. Dort überarbeitet er geltende Lehrkonzepte und bringt mit „Sicher klettern in Fels und Eis“ (BLV-Verlag) das erste Kletterlehrbuch heraus. Zudem ist Sturm geistiger Vater der ersten künstlichen Kletteranlage und erfolgreicher Expeditionsbergsteiger. Auf sein Konto gehen Zweitbegehungen von Kantsch (1975), Lhotse (1977) und Shishapangma (1980). Seit 2004 ist er im Ruhestand und wohnt mit seiner Familie in der Nähe von München. (Kilian Neuwert) Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel: Trotz erfahrener Kunden gab es zwei schwere Unglücke in der Geschichte des Summit-Clubs. Sturm: Das war für uns alle ein großer Schock. Vor allem der Unfall am Pisang-Peak, wo die komplette Gipfelmannschaft abgestürzt ist. Als mich unser Agent angerufen hat, dass die Gruppe seit eineinhalb Tagen überfällig ist, war mir sofort klar, dass etwas Schlimmes passiert sein musste. Wie sich herausgestellt hat war es ein Lawinenunfall. Ein kleines Schneebrett hatte sich gelöst und einen der obersten erwischt. Der ist gestürzt und hat die anderen Seilschaften mitgerissen. Kletterspiegel: Wie haben Sie als Geschäftsführer reagiert? Sturm: Ohne dass ich Details wusste, habe ich kurzfristig eine Pressemitteilung herausgegeben, dass die Teilnehmer verschollen sind. Mit den Angehörigen waren wir in laufendem Kontakt. Nachdem bekannt war, dass die Seilschaften abgestürzt sind, haben wir die Angehörigen zu einem ausführlichen Gespräch nach München eingeladen, bei dem auch alle anwesend waren, die die Bergung vorgenommen haben. Den Pisang- Peak haben wir dann aus dem Programm genommen. In der Ausbildung sind wir zudem darauf eingegangen, wie man mit mehreren Seilschaften gleichzeitig gehen kann und bessere Versicherungen baut. Kletterspiegel: Die tragischen Ereignisse konnten den Erfolg des Summit-Club nicht bremsen. Sehen Sie in den hohen Buchungszahlen heute einen Gegentrend zum selbstständigen Bergsteigen? Sturm: Das sehe ich nicht so. Im Prinzip war es ja immer die Prämisse zu sagen, wir bilden die Leute in unseren Kursen zu selbstständigen Bergsteigern aus. Kletterspiegel: Seit 2004 sind Sie im Ruhestand. Sind Sie noch in den Bergen unterwegs? Sturm: Meine letzte Reise war vor zwei Jahren mit Freunden in Nepal. Dabei habe ich mir sämtliche Bänder im linken Sprunggelenk gerissen. Nachts ist in einem Hotel der Strom ausgefallen und ich habe eine Stufe übersehen. Insgesamt bin ich aber bei weitem nicht mehr so viel unterwegs wie früher. ■ DAV Summit Club, * 1984 1957: Der DAV-Fahrtendienst wird gegründet, um auch kleinen Sektionen Ausbildungskurse und Tourenwochen zu ermöglichen. 1969: Günter Sturm wird zum Leiter berufen. Der Fahrtendienst wird in DAV Berg und Skischule umbenannt. 1977: Die Berg und Skischule wird in eine GmbH umgewandelt und ist somit selbstständige Körperschaft des DAV. 1984: Umbenennung in DAV-Summit-Club. Heute buchen etwa 12.000 Menschen jährlich Ausbildungskurse, Trekkingreisen und Expeditionen. (Kilian Neuwert) Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Foto: Archiv Sturm sprochen in Zukunft Träger aus Tato zu nehmen. So konnten wir passieren. 47 . n ö h c s t s i n e b e L Das Som m erbo ulder n in d Wenn er Sc hwei e z biete s im Tal zu Aver h e i ß s i st, sin , Got Ausw dd th eic Gesch hziele. Da ard und S ie Passges u ic „Swis hte eines 5 kurze Tage sten ideal e s corn b er“, Fb -Tage-Trips uch erzähl t die . Da 7b, am Gotth s Bild zeig ard. t die Von Joch e 48 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Foto: Jochen Riegg n Rie gg 49 Titel ession s Abend Schweiz Bouldern “ Wood c i g a m „M i 50 Foto: Jochen Riegg ten die bes t h ie z block an. Er te Bach charenweise is n n a k e Fb 7c b lt s h e Der b ic W e r r e e im B rer d en Boulde d 10 Boulder Mitte testet d n r u e bietet r oulderer in d a“, Fb 7c+. B r e N r ov 8b. D r „Supe e d g ie Ausst Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 51 Titel rs in Ave Schweiz Bouldern “) Wood c i g a („M , Bosna“ r e p u S oft ach, „ ektor B et erstaunlich S , 0 2 r biet ulde abDer Bo r feste Granit ouldern sehr iebe e B D ch Fb 6c. isten, die das n. Plattenges . Le ache ahme kleine euch m her die Ausn r s g n u ood“ e wechs agic W M „ im ist Foto: Jochen Riegg en Block 52 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 53 Titel Schweiz Bouldern I ch hatte mir eine schöne Einleitung zurechtgelegt: Im Zauberberg von Thomas Mann werden aus einem Besuch des Helden Hans Castorp bei seinem Cousin Joachim Ziemßen in einem Schweizer Sanatorium aus einigen Tagen Aufenthalt sieben Jahre. Beim Besuch des Bouldergebiets „Magic Wood“, dem Zauberwald am nördlichen Fuß des San Bernardino-Passes, sollte mich die Faszination des Unbekannten ebenso in den Bann ziehen, so dass ich mir schwören würde, die nächsten Jahre hier immer wieder zurückzukehren. Es kam anders. Donnerstag, 23. 6. 2011 Es regnet aus allen Kübeln im Tal. Avers ist das Chiffre für höchsten Bouldergenuss, hat in der Szene einen ebenso klangvollen Namen wie Fontainebleau oder Val die Mello. Allein der Klang des Namens lässt meine Erwartungen ins Unermessliche steigen. Dazu kommen die begeisterten Berichte, die ich aus der Kletterhalle 54 zu hören bekam. Ich war geblendet vom Glanz der Augen der Erzähler. Nun aber waren die Blöcke, die hier im engen, steilen Tal des noch sehr jungen Rheins an den südlichen Hängen wild verstreut und aufeinandergetürmt umherliegen, pitsche-patsche nass. Ich mache einen Spaziergang durch den Zauberwald, und ich komme mit Lehm verschmierten Hosen wieder zurück. Der Waldboden und die Wege durch das Steinlabyrinth sind erdig und moosig, alles ist nach dem ausgiebigen Stauregen an der Alpennordseite durchweicht. Zum Glück ist der Campingplatz „Foghi Camping“ direkt an der Straße nach Avers frisch mit Holzschnitzeln ausgelegt ist, so dass zwar die Zeltheringe schlecht halten, dafür aber bei Dauerregen der Platz recht sauber und trocken bleibt. Ich checke in der Rezeption ein. Für fünf Franken am Tag ist man willkommener Gast. Ich komme mit Micha, einem der beiden Betreiber des Campings, ins Gespräch. Noch hat es zwar bis auf die vier Chemieklos keine sanitären Anlagen auf dem Grund; doch nächstes Jahr soll es soweit sein. Die Gemeinde Außerferrera investiert Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Foto: Jochen Riegg Boulder 1, Sektor Bach, Magic Wood: Die Hangel der „Super Nova“, Fb 7c+, ist das Testpiece der starken Boulderer. Idylle am jungen Rhein: Der „Magic Wood“ mit Hunderten Blöcken befindet sich rechts des Flusses in kühlem Tannenwald. Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 55 Block 11, Sektor Bach, Magic Wood: Das Queren in „Madame Etoile“, Fb 6b+, verlangt viele Matten. weiter in den Platz, schließt Strom an, baut Duschen und Klos, und der Platz soll auf der anderen Straßenseite erweitert werden. Die Gemeinde hat erkannt, dass mit den Kletterern, auch wenn sie wie Freaks aussehen und so gar nicht recht in das Bild des gediegenen Touristen passen, Staat zu machen ist. Über den Besitzer des Hotels in Außerferrera scheiden sich in den abendlichen Gesprächen am Lagerfeuer die Geister. Er kann sich noch nicht recht mit der neuen Klientel in den abgewetzten Kletterhosen und den wilden Rastalocken anfreunden. Man ist sich sicher, er wird es noch schaffen. Viele Möglichkeiten bleibt ihm nicht: Außerferrera ist ein sehr kleiner Ort mit ungefähr zehn Dutzend Einwohnern; es liegt auf dem Weg nach Avers-Juf, dem 2100 Meter hoch gelegenen Aussichtsdorf, wohin es die meisten Touristen zieht. Obwohl das Bouldergebiet „Magic Wood“ in einem Naturschutzgebiet liegt, geht die Gemeinde auf die Kletterer aus wirtschaftlichen Gründen zu. Man will die Massen lenken, statt Verbote auszusprechen, die dann doch umgangen werden. Die ganze Nacht hindurch prasselt es aufs Autodach; erst gegen Morgen hört der Regen auf. Ich stopfe die Hörer meines MP3-Players ins Ohr und schalte Amy Mc Donalds Lied „Footboller’s Wife“ auf Endloswiederholung. Es löst in mir eine Beschwingtheit aus, die Gedanken fliegen 56 zu Gott und der Welt. So mag ich es am liebsten: Wenn beim Einschlafen die kalte Ratio des Tages den irrationalen Spinnereien der Nacht weicht, die niemand Rechenschaft ablegen müssen. Die Gedanken sind dabei viel zu abgehoben, um sie hier zu beschreiben. Doch ich verfluche den Tag, an dem es abends nicht mehr sprudelt wie aus einer Colaflasche, sich Assoziationen, Träume, Sehnsüchte nicht mehr zu einem wirren Knäuel realitätsfremder Gedanken zusammenbrauen dürfen. Wenn ich nur noch logisch denken darf, so wie ich es als Informatiker jeden Tag muss. Auch wenn ich diese abendliche Melancholie sichtlich genieße, sie pflege wie eine arrogante, blöde Marotte, heißt das nicht, dass ich an einem vorzeitigen Ausscheiden aus dem irdischen Aufenthalt auch nur einen Gedanken verschwenden würde. Im Gegenteil: Mein roter VW-Bus steht am Hang und schaut mit der Front zum Rhein hinunter, der 50 Meter weiter unten wild ins Tal braust. Ich reiße die Handbremse bis an den Anschlag an. Ich will morgen nicht als nasser Engel im Bodensee wieder aufwachen. Freitag, 24. 6. 2011 Langsam wühlt sich die Sonne durch die Wolken hindurch. Es hat aufgehört zu regnen. MeiHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Foto: Jochen Riegg Schweiz Bouldern Foto: Jochen Riegg Titel Camping „Bodhi“ am Parkplatz „Magic Wood“: Holzschnipsel halten den Platz auch bei starkem Regen sauber. ne nervende Übellaunigkeit weicht heiterer Zuversicht; aber wie bei einem Öltanker, der seine Richtung wechselt, benötigt die Aufheiterung einen längeren Anlauf. Auf dem halb vollen Platz herrscht aufgeregtes Geschwirre wie in einem Bienenstock, dessen Bewohner nach Regen ungeduldig Ausschau nach leckerem Nektar halten. Einige der Kletterbienen ziehen schon los, obwohl am Vormittag viele der Blöcke noch nass sind. Warum die Kletterer manchmal so uniform sind wie Bienen, ist mir ein Rätsel. Würde man ihnen eine einheitliche Schultracht verpassen, würden sie lauthals protestieren. Aber freiwillig sehen sie alle gleich aus: schlaksige Leinenhosen, Fließjacken, Bommelmützen. Eine Uniformität aber beeindruckt mich unter den Jungen: Wenn sie sich zur morgendlichen Wäsche am Brunnen die T-Shirts überstreifen, kommen fein gezeichnete, muskulöse Oberkörper zum Vorschein, die Michelangelo zur Vorlage getaugt hätten. Ich bin beeindruckt und schaue verdruckst auf meinen Bauchansatz, der seit St. Léger wenigstens etwas kleiner geworden ist; ich habe – fragt mich nicht wie – seither zwei Kilo abgenommen. Das Bouldergebiet von Avers (oder auch „Magic Wood“, wie es präziser heißt) liegt auf 1250 Meter Höhe, in einem dichten Tannenwald liegen auf einer Länge von etwa zwei Kilometern Hunderte von niedrigen und manchmal bis zu zehn Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Meter hohen Blöcken aus Granit verstreut oder übereinander getürmt – ideal für die heißen Sommermonate Juli und August, wo es anderswo viel zu heiß zum Bouldern ist. Es gibt wohl einiges im Bereich 6a bis 6c zu klettern, aber die Hauptmusik spielt in den oberen Graden. Vor allem für viele Kalkkletterer ist es angenehm, dass sich neben den üblichen Schiebereien im glatten Granit sehr viel an großen und kleinen Kanten abspielt. Der Fels ist erstaunlich griffig und leistig. Das sollte mir eigentlich liegen. N achmittags kommt dann die Sonne immer mehr durch und die freien Blöcke trocknen rasch ab. Nach einer Suppe mit Hochzeitsnudeln aus der Dose, die wie Spülwasser schmeckt und die ich deshalb grantig ins Gebüsch kippe, schultere ich die Matte und es geht hinein in den Zauberwald. Vom Camping erreicht man über eine Hängebrücke und einen ausgetretenen Waldweg in fünf Minuten die ersten Böcke. Nun, da schon wieder eine dicke Wolke den Himmel verdunkelt, kehrt für kurze Zeit meine Übellaunigkeit zurück. Die wird dadurch verstärkt, dass ich mich frage, was ich hier überhaupt mache: Ich drücke den Hintern in den feuchten Waldboden, um aus dem Sitzstart – was ist das? Alle meine alpinen Routen konnte ich aus dem Stehen beginnen – nach drei Zügen am Gipfelkreuz anzugelangen. Nach drei Zügen! Und 57 Titel Schweiz Bouldern Bouldern a uf der Alm Foto: Jochen Riegg Am Gotthardp ass liegen die Blöcke auf de Wiese wie He r uballen auf de m Acker. Auf 2100 m lässt sich auch im heißen Somm nocht gut bou er ldern. Mit run d 450 Problemen liegt das Gebiet auf Pla tz 2 nach Ave (600). rs 58 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 59 Schweiz Bouldern Foto: Jochen Riegg Foto: Jochen Riegg Titel Block „Scary Christmas“ am Gotthard: Steve in„Il prigioniero“, Fb 6a, der die volle Aufmerksamkeit der Spotter verlangt. Block „Scary Christmas“ am Gotthard: Dirk in dem gleichnamigen Boulder, Fb 8a. nicht mal die schaffe ich! Die 6b, unter die ich meine Matte geworfen habe, verlangt, dass ich meine überlangen Füße an die Wand am Boden presse, während ich meinen Hintern soweit unter die Fersen schiebe, bis mir die Knie an der Nase hängen. Dann versuche ich mich mit den Händen den Körper an die Wand zu ziehen; aber ich bewege mich so viel, wie wenn man gegen einen Sack Beton tritt. Dann zwickt auch noch die Hüfte, obwohl ich heute Morgen schon 200mg Diclofenac zu mir genommen habe. Verflucht, ich hocke hier auf dem Boden, meine Schuhe sind schmutzig, meine neue Hose ist schmutzig, ich komme nicht vom Fleck. Und ringsum gletscherüberwölbte Gipfel, an denen man lange Routen klettern könnte. Ich muss bescheuert sein. Ich fluche auf all diese beschönigenden Beschreibungen. Die Kletterer sind ein Lügenpack. Es mögen die letzten Bruchfelsen sein – nein, tolle Felsen, genial, muss du unbedingt hin; es mag geschüttet haben wie aus Rohren – nein, das Wetter war toll, wir haben immer oben ohne geklet- tivierende Stimmung. Soll ich noch einen Tag bleiben? Hans Castorp, Held aus Thomas Manns Zauberberg, gerne hätte ich es gemacht wie du: Nur kurz vorbeischauen in Avers, dann aber so gefesselt sein, dass ich sieben Jahre nicht nach Hause zurückkehre. So geht es mir aber nicht. Und zwar aus zwei Gründen: Der erste ist, dass ich ein unaustehlicher Griesgram bin, wenn es regnet, so wie jetzt auch beim Schreiben. Bei Regen drängt sich mir ein anderer Vergleich auf: „Einen dumpfen, dunklen, lautlosen Herbsttag lang, da die Wolken beklemmend tief am Himmel hingen, war ich alleine durch einen unsäglich tristen Landstrich geritten und erblickte endlich., als die Abendschatten sich niedersenkten, das schwermütige Haus Usher vor mir“. Ich denke an Untergang, an Katastrophe, an Flucht, verführt durch die Erinnerung an Edgar Allan Poe. Zweitens ist Avers eine geniale Spielwiese für Leute ab 7a und 7b aufwärts. Hier gibt es tolle Probleme. Das ist aber einfach zu schwer für mich. Was ebenso toll ist an Avers im Gegensatz zu 60 tert. Verlogenes Pack. Ich hasse euch! Warum wohl wird in Fontainebleau seit 100 Jahren gebouldert und in Avers erst seit zehn? Seit 200 Jahren gibt es Alpinismus: Die besten Linien, die besten Routen, die besten Gipfel sind bestiegen, denke ich, als ich meinen feuchten Hintern trocken reibe. W ie eine einzelne Wolke doch mein Gemüt beeinflusst. Ich packe die Matte und komme an einem belebten Block im Freien vorbei. Ich hock‘ mich auf einen Fels und schau dem Treiben zu. Einige Deutsche und zwei Slowenen versuchen sich an einer 6c, der „Super Bosna“. Komm, probier doch mal. Nach einigen Versuchen schaffe ich glatt den Boulder, ohne mich vorher aufgewärmt zu haben. Ich bin stolz. Die Sonne kommt zurück. Danach bin ich platt und es geht nicht mehr viel. Noch ein paar 6as, dann geh ich zum Bach und schaue einigen jungen Boulderern zu, die sich an der Hangel „Super Nova“, 7c+, versuchen. Eine lockere, gelöste, aber dennoch moHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 den jetzt folgenden Gebieten Gotthard- und Sustenpass, ist der zentrale Campingplatz. Hier trifft sich alles. Es gibt kaum eine andere Möglichkeit im Tal zu übernachten. Internationales Publikum ist garantiert: Spanier, Engländer, Franzosen, Slowenen, Österreicher, Schweizer, Deutsche. Man kann alleine anreisen und kann sich sicher sein, jemanden anzutreffen, dem man sich anschließen kann. Das fehlt am Gotthard und am Susten. Avers ist leider absolut ungeeignet für Kinder, es ist zu gefährlich. Durch die starke Verblockung gibt es schlecht einsehbare Hohlräume im Boden, die sehr tief sein können. Samstag, 25. 6. 2011 Fahrt an den Gotthardpass. 2100 Meter. Was für ein Gegensatz: Die Boulder liegen auf der Wiese wie Heuballen auf dem flachen Acker. Kein düsterer, dichter Tannenwald, der zum Schwermut verführt, offene, frische Almwiesen, 61 Titel Bou lder n Schweiz Bouldern in de Foto: Jochen Riegg n Be Der S rgen usten he m p a ss b it die T einzigarti ietet Klet raver g t se Fb em Ausb ern auf G grund l ras i c 6 m Hö das Klein c am Bloc k. Das Bil höe d h k liegt e. Das Bo Sustenho 11. Im H zeigt etwa i r n u n terl der mit auf 1 900 m gebiet „Su rund 330 0 stenb . rüggl i“ 62 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 63 Foto: Jochen Riegg Schweiz Bouldern Foto: Jochen Riegg Titel Sektor „Sustenbrüggli“ am Sustenpass: Boulderwiese in alpinem Kessel. Das Bild zeigt Block 16 mit „Kleinem Dach“, Fb 6b+ Jause „Sustenbrüggli“ am Sustenpass: Im Hintergrund Boulder 3 mit „Traumland“, Fb 8a und „Rêve de faire“, Fb 8b. wo die Gedanken fliegen wie ein Samenkorn im lauen Wind. Zeus, der griechische Wetterfrosch, griesgrämig geworden durch die Ereignisse in seiner Heimat, schickt uns am Nachmittag eine Wetterfront aus Andermatt herauf, die uns erneut einduscht. Regen, Regen, Regen, von drei Uhr nachmittags bis Nachts ums zehn. Ich treffe ein junges Pärchen aus Deutschland, die ich zum Kaffee zu mir in den Bus einlade. Abends treffen dann noch zwei weitere Autos mit Stuttgarter Boulderern ein. Eine kleine Wagenburg wird gebaut und eine Plane darüber gespannt. Wenigstens nicht alleine in dem Siff. Abends hält mich nichts mehr im Camp, dem großen Schotterparkplatz unterhalb des Gotthard-Stausees, der sich sehr gut zum Übernachten und als Ausgangspunkt der umliegenden Boulder eignet. Ich renne im Regen mit einem kaputten Schirm den Westhang hoch, nass und nässer werdend. Aber ich muss laufen, rennen, mich bewegen, sonst überfluten mich wieder die melancholischen Hormone und ich versinke vollends in düsterer Agonie. Patschnass nach zwei Stunden zurück von der Erkundung, nichts gesehen außer Nebel, nasse Wiesen und Sturzbä- Hatte Zeus, der griechische Wetterfrosch, von der Rettung Griechenlands erfahren oder warum war er so gut gelaunt? Schluss mit trüben Gedanken, nachdenklichen Philosophien! Auf zum Bouldern! Der Gotthard teilt sich in verschiedene Boulderzonen mit jeweils einigen Blöcken auf, die einige Hundert Meter, manchmal auch einige Kilometer auseinander liegen. Alle Gebiete liegen nördlich der Passhöhe. Der zentrale Teil am Gotthard-Stausee mit den Gebieten „Dark Side“, „Ectasy“ und „Scary Christmas“ umfassen mehr als die Hälfte aller Boulder am Gotthard. Sie sind zu Fuß vom Parkplatz am Stausee in einigen Minuten über ansteigende Almweisen gut zu erreichen. Mit über 400 Bouldern liegt der Gotthard hinter Avers mit 600 Bouldern auf Platz zwei der drei beschriebenen Gebiete. Vier Parteien, rund zehn Boulderinnen und Boulderer, packen die Sachen und rennen hoch zum ersten Block, dem „Dark Side“. Es ist ein herzliches Miteinander; und obwohl ich mit fast 50 der älteste bin, werde ich mit in die Gemeinde aufgenommen und angefeuert und gespottet wie jeder andere auch. Ich schäme mich, je schlecht 64 che. Aber reicher um eine kleine Allegorie, ein kleines Sinnbild: Während des Aufstiegs im weglosen Gelände häufte ich ab und zu kleine Steinmännchen auf. Denn während ich zurückblickte, erkannte ich, dass der Rückweg von oben völlig anders aussah als beim Blick nach oben. Ohne mir den Weg auch im Rückblick anzuschauen und kleine Wegmarken zu setzen, hätte ich in dem Nebel, den grauen Felsen und den eintönigen Wiesen den Rückweg nicht wieder gefunden. Und dadurch, dass ich mir schon beim Aufstieg den Rückweg einprägte, traute ich mich viel höher, als ich es sonst gewagt hätte. Ist es nicht im Leben auch so: Dass man immer mal wieder zurückblicken muss, um sich des Weges zu versichern, den man bisher gegangen ist, um dann umso kraftvoller und entschlossener den Weg nach vorne gehen zu können? Sonntag, 26. 6. 2011 Gigantisch! Ein Blau über uns wie aus Malkasten. Keine Wolke. Die nächsten beiden Tage. Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 über diese doch recht eigene Zunft der Boulderer gedacht zu haben; ich hielt sie für Dünnbrettbohrer, die aus ein paar Metern Kletterei einen Riesen Bohai machen; ich hielt sie für faule Säcke, die keine Rucksäcke zu Hütten hochschleppen wollen; ich hielt sie untauglich überhaupt für die Berge, weil sie Wetterzeichen nicht deuten können: dass zum Beispiel auflösende Kondensstreifen schönes Wetter voraussagen. Man hörte mir jedenfalls erstaunt zu, als ich diese alpine Binsenweisheit zum Besten gab, die keiner von denen kannte. Aber dann diese offene Herzlichkeit, voraussetzungslos, es wird ein wunderbarer Sonntag werden. Und Wolfgang Güllich kannten einige von denen auch nicht. Da wird mir plötzlich mein Alter bewusst. Ja, die runden Geburtstage; demnächst steht einer bevor. Der 30. Geburtstag war mir noch wurscht, mit dem 40. kokettierte ich, vor dem 50. habe ich Angst. Ja, ich habe Angst, 50 zu werden. Es ist eine komische Zahl. Eine, die wie ein Seil gespannt ist, hinter das man nicht mehr zurückkommt. Früher, mit zwanzig, da brauchte man auf Geburtstagsfesten mindestens zehn Kästen Bier, zehn Flaschen Wein und drei Flaschen 65 Schweiz Bouldern Foto: Jochen Riegg Titel Nichts gehts mehr: Jochen Riegg chillt unterm Block 16 am Sustenbrüggli.. Whiskey. Mit dreißig waren es noch fünf Kästen Bier, aber schon kein Schnaps mehr. Mit vierzig reichte ein Kasten Bier, die Hälfte Export, die andere Hälfte Weizen; und mit fünfzig, da gehen die Gäste um elf nach Hause, weil sie zu müde sind. Angriff! Matten ausgelegt unter der tollen Schieber-6c „Alinghi“ mit Sitzstart am Boulder „Dark Side“. Ranziehen vom Boden geht ganz gut an großen Untergriff, dann links eine Griffmulde, dann rechts haltend einen Hauch von Kante hoch. Das Problem sind die Tritte für den rechten Fuß an der glatten Wand. Es sind Krümel so groß wie Atome, auf denen der Schuh Halt finden muss. Mit meinem ausgelatschten Fiveten Velcro habe ich keine Chance. Bis mir das klar wird, sind schon zehn Versuche vergangen. Aber ich habe noch den alten roten Anasazi im Rucksack, von dem ich nie verstanden habe, warum dieser Schuh nicht mehr produziert wird. Es war mein jahrelanger verlässlicher Begleiter. Der grüne Nachfolger ist ein Graus, der weiße etwas besser, aber für meine Begriffe viel zu stoffig. Die alten roten übergestreift und peng! – ich bin oben. Geil, 6c! Ich freue mich. Schon geht es weiter zum nächsten Block. Am „Ecstacy“ werden unter dem gleichnamigen Boulder fünf Matten ausgelegt. Oh, die braucht man! Der Boulder ist ganz schön hoch (gut 6 Meter) und zu den Matten braucht man noch sehr aufmerksame Spotter. Foto: Jochen Riegg D Sustlihütte auf 2250 m: Der 50-minütige Aufstieg vom Bouldergebiet entschädigt mit Panorama, heißer Suppe und Slackline. 66 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel er Anblick der stumpfen, rechtwinkligen, in der Mitte geknickten Kante ist eine Augenweide. Der Boulder zieht einen förmlich an. Etwas links beginnt es im Stehen mit einem sehr feinen Riss für die linke Hand. Das erste Problem ist überhaupt stabil in den Boulder zu kommen und die Füße auf winzige Körnchen sauber zu positionieren. Zwei Züge am feinen Riss entlang, sehr schwer, dann muss die rechte Hand raus auf die Kante zum Knick greifen, wo sich an der glatten Wand ein etwa 1 cm großer Quarzkiesel befindet; die rechte Hand muss etwas über den Kiesel an der glatten Kante weiterrutschen, dann den rechten Fuß über den Kopf werfen, hoch auf den Kiesel, die linke Hand krallt sich in den feinen Riss, dann den gesamten Körper auf dem rechten Fuß aufrichten. Und jetzt kommt‘s: die linke Hand muss für kurze Zeit den Riss verlassen, um weiter oben neu einzuhaken. Beim Hochgreifen fängt der Körper an sich zu drehen. Wird der Schwung zu groß, hilft nur noch der Spotter, der einen beim Fallen und Drehen hoffentlich in Richtung Matte drückt. Schafft man den Schwung abzufangen, muss man den KörKletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 per vollends auf den Kiesel aufrichten, die linke Hand lösen und ganz sachte über der rechten auf die Kante setzen; ist man hier zu hastig, dreht es einen erneut aus der Kletterstellung heraus und man fällt. Ich brauchte sicher zehn Versuche, um die kurze Passage bis zum Kiesel mit der rechten Hand hinzubekommen. Hat man das automatisiert, geht diese Passage erstaunlich einfach. Das Aufrichten erfordert aber Kraft und Mut: Man steht schon gut vier Meter über dem Boden. Was haben die Leute mich hochgeschrien, als ich mich das zweite Mal auf dem Kiesel aufrichtete. Ich hätte längst aufgegeben, aber von unten schrien zehn Männlein und Weiblein aus vollen Rohren: Du schaffst es, allée, sieht gut aus, ja, ja, ja. Und jedes Ja gab mir Kraft dranzubleiben, es aus fast aussichtsloser Position, in der ich schon die Drehung und das Fallen in den Haaren spürte, weiter zu probieren. Ohne Pathos: Ohne diese mentale Unterstützung von unten hätte ich aufgegeben. Ich hätte nicht an mich geglaubt. So aber gab mit jeder Schrei Kraft und Mut weiter dranzubleiben. Langsam schob ich mich auf den rechten Fuß, ich spürte die Zehen nicht mehr, ich wusste gar nicht mehr, dass ich stand, aber die Schreie gaben mir Halt. Selten war Schreie so eine hilfreiche Stütze. Die linke Hand war über der rechten, der rechte Fuß nun endlich durchgestreckt, dass volle Gewicht drauf, und obwohl ich das Gefühl hatte, ich müsste unbedingt den Fuß nachjustieren, ging gar nichts, der Fuß war unbeweglich wie ein Lattenzaun. Jetzt oder nie! Ich löste die rechte Hand und griff mitten in die rechte Seitenwand auf eine kleine Leiste. Nun musste der rechte Fuß sein bequemes Lager aufgeben. Nochmals höchste mentale Anspannung: Ich fühle mich richtig hoch oben, gefühlte zehn Meter, obwohl es nur vier waren. Aber im neunten Grad sind vier Meter ganz schön viel. Zwei fehlen noch. Nicht mehr ganz so schwer, dafür umso eine größere Prüfung für den Mut. Einmal den guten Kiesel verlassen, dann war nichts mehr zu korrigieren. Rauf auf den rund 6 Meter hohen Block oder abtauchen und reinbrettern in die Matten. Im Film „Midnight Express“ gibt es gleich zu Beginn die berühmte Szene, wo man nur den Herzschlag des amerikanischen Touristen hört, der gerade dabei ist, einige Kilo Hasch am türkischen Flughafenzoll in Istanbul vorbei zu schmuggeln. Der Herzschlag wird schneller und lauter und man möchte aus den Kinositzen springen, so spannend ist die Szene. Genauso klopft mein Herz, nun fünf Meter über dem Boden, den Ausstiegsgriff im Visier wie der amerikanische Tourist das rettende Flugzeug. Während dieser 67 Titel aber auf der Gangway abgefangen wird und ihm ein jahrelanges Martyrium im türkischen Knast in Istanbul und Ankara bevorsteht, springe ich beherzt zum Ausstiegsgriff, ebenso wohlwissend, dass ich nur einen Versuch habe. Freiheit! Sieg! 7a! Was für ein Gefühl. Über mir der stahlblaue Schweizer Himmel, unter mir eine klatschende Menge junger Leute. Ich habe keine Tränen in den Augen, das wäre zu kitschig, aber ich bin stolz wie ein Gockel auf dem Misthaufen. Am Sonntag Abend fällt mir die Entscheidung nicht schwer, nicht doch noch am Gotthard zu bleiben. Denn meine Hochschreier, ohne die ich die 7a nicht geschafft hätte, müssen nach Deutschland zurück. Alleine will ich aber nicht auf dem Parkplatz am Stausee schlafen, so starte ich, nachdem ich nochmals das Klo im Passrestaurant für größere Geschäfte in Anspruch nahm, den Bus und fahre in 40 Minuten hinüber zum Sustenpass, zum Parkplatz des Sustenbrüggli, wo ich unter grandioser Alpenkulisse unterhalb des Sustenhorns mein letztes Nachtquartier beziehe. Montag, 27. 6. 2011 Wieder aufgewacht mit makellosem Wetter. Blauer Himmel, weiße Gipfel, grüne Wiesen, alles in übersättigten Farben. Ein tiefer Atemzug versucht, etwas von der heilen Welt in die Lungen zu saugen, vielleicht hilft es gegen meine andauernde Müdigkeit. Frisch auf! Letzter Tag! Das Bouldergebiet am Sustenpass liegt direkt hinter der Jause „Sustenbrüggli“, die sich in einer halben Kehre rund zwei Kilometer unterhalb des Sustenpasses in östlicher Richtung (Göschenen) befindet. Unterhalb der Jause befindet sich ein Aussichtsparkplatz, auf dem rund 20 Autos Platz finden; dort sollen die Boulderer parken; der Parkplatz an der Kneipe selbst ist für die Gäste bestimmt. Die Blöcke liegen in nördlicher Richtung gegen den Kessel des Wendenhorns (3300 m) und des Grassens (3200 m) direkt hinter der Kneipe. Wieder mitten in den Almwiesen, links und rechts des Sustenbaches. Ungefähr 150 Boulder sind auf einer Länge von einigen Hundert Metern zu klettern; genug Stoff für einige Tage. Ein Block, der die Routen „Traumland“ Fb 8a und „Reve de faire“, Fb 8b, enthält, liegt eine Minute von der Kneipe weg; wenn man will, kann man das Glas Bier auf dem Tisch stehen lassen, Bouldern gehen und anschließend weitertrinken. Sowohl der Gotthard als auch der Susten eignen sich gut für Kinder. Nicht, dass sie selbst bouldern könnten, das ist einfach zu schwer, aber 68 Schweiz Bouldern sie können gefahrlos mitgenommen werden. Am Sustenpass können sie sich zudem am Bach austoben, Dämme bauen oder darin baden und planschen. L etzter Tag, letzte Kraft. Ich bin arg geschunden. Die Finger brennen. Es geht nicht mehr viel. Ich treffe zwei Schweizer, der eine so alt wie ich, der andere etwa zehn Jahre jünger. Wir tun unsere Matten zusammen und machen uns am „Kleinen Dach“, Fb 6b+, am Hauptblock zu schaffen. Sieht harmlos aus, hat es aber in sich. Zuerst der Überhang. Die ersten Varianten taugen nicht. Wir kommen nicht an den Ausstiegshenkel an der Dachkante. Der ältere Schweizer hat eine neue Idee – zwei, drei Mal probiert, schon geht’s. Dann aber die große Ernüchterung: Dort ist es längst nicht vorbei, sondern jetzt kommt die eigentliche Schlüsselstelle. Von der Dachkante führt spiegelglatter, griffloser Gletscherschliff immer steiler werden zum Gipfel des Blockes. Man liegt auf der Kante, der eine Fuß hängt nach unten, der andere ist auf den Schliff gepresst, der ganze Körper – mit allem was dran ist – auf Reibung. Der Blick wandert aus vier Metern Höhe bedrohlich nach unten, die Matten werden sichtlich kleiner, die liegende Position ist so unnatürlich, dass die Angst, unkontrolliert abzuschmieren, ständig im Nacken sitzt. Rumms! Der ältere Schweizer knallt mit voller Wucht von der Kante auf die Matten, 85 Kilo bohren sich in den Schaumstoff, dann ein lauter Schrei: Der linke Arm ist zwischen die Matten geraten und auf dem harten Schotter aufgeschlagen. Ich denke, die Elle ist gebrochen. Dann rappelt er sich auf, der Arm blutet. Er will, so hat er es mir fünf Minuten vorher mit Stolz erzählt, diese Woche noch an den Walkerpfeiler fahren und diesen nach 25 Jahren endlich machen. Oje, hoffentlich nichts Schlimmes mit dem Arm. Entwarnung! Der Arm ist nicht gebrochen. Nach zehn Minuten Sammeln fasst er sich ein Herz, wie ein wütender Stier, der sich am Torero rächen will, greift er an, ist wieder an der Kante; es schreit runter, dass wir diesmal besser aufpassen sollen. Wir sind aufmerksam wie Kinder beim Geschichtenerzählen, starren mit ausstreckten Armen nach oben. Millimeter um Millimeter, wie ein Walross, das sich auf eine Klippe wälzt, rutscht er mit dem Körper nach hinten und verschwindet schließlich ganz aus unserem Blick. Dann ein Schrei. Nein zwei. Nein drei. Dieses Mal aber aus Freude. Chapeau! Respekt! Glückwunsch! Wir klatschen uns wie richtige Boulderer mit den Fäusten ab. Einer nach dem anderen schafft es. Ich bin durch. Zum Abschluss Aufstieg in 50 Minuten zur Sustlihütte auf 2250 Meter. Welch Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel ein Ausblick, welch ein Panaroma! Ich drehe mich wie ein fest installiertes Fernglas einmal um die eigene Achse und bin berauscht von der wilden Schönheit des Hochgebirges. Ich schlürfe eine heiße Tomatensuppe, dazu Würstl mit Senf. Köstlich. Tut das gut. Ich frage die Hüttenwirtin, was sie eigentlich macht, wenn die Hütte geschlossen ist, also von Mitte Oktober bis Mitte Mai. Sie antwortet, ihr Mann arbeite als Bergführer. Im Winter gebe er dann Skikurse und sie sei daheim bei den Kindern. Sie fragt nach meinem Beruf: Sie ist entsetzt, als ich sage, dass ich programmiere. Um Himmels willen, das wäre nichts für sie. Als ich die Schuhe schnüre und den Abstieg antrete, schüttelt die Hüttenwirtin die Betten aus, hängt sie über den Fenstersims im ersten Stock, während der Mann hinter der Hütte die Steigeisen mit einer Feile schärft. Hier oben stimmt die Welt noch. Die Frau macht die Betten, der Mann richtet die Steigeisen, und der Grassen hat eine Eiskappe. Das war schon immer so. Jeder hat seine Rolle. Und dazu kein Handy, kein Internet, kein Facebook, kein Google. Das Leben ist einfach. Das Leben ist schön. Während ich ins Tal stolpere, bin ich mir sicher: In zehn Jahren wird Facebook längst den Sustenbach hinuntergespült sein, während hier alles noch beim Alten ist. Als ich aber den kümmerlichen Gletscher unter dem Kleinen Sustenhorn erblicke, ahne ich, dass die heile Welt auch hier bedroht ist. ■ P.S. Die Nummern der Boulderblöcke entsprechen den Nummern des Führers „Swiss Bloc“ von Harald und Uli Röker. Reiseinfo Schweiz Bouldern Avers („Magic Wood“) Anfahrt Von Chur auf der A13 Richtung San Bernardino-Pass. Nach dem Bärenburgtunnel Ausfahrt nehmen. Links hoch Richtung „Avers-Juf“. Nach ca. 1,5 km kommt rechts der Parkplatz „Magic Wood“. Übernachtung Auf dem Camping-Platz, 5 SFr pro Nacht. www.bodhi.ch Zugang Vom Camping über eine Hangebrücke zu den Blöcken in ca. 5 bis 10 Minuten. Charakter Granit, sehr stark verblockt. Die Blöcke verteilen sich auf eine große Fläche in einem dichten Tannenwald am Hang. Alles zu Fuß zu erreichen. Völlig ungeeignet für Kinder. Einige leichte Boulder, hautptsächlich jedoch schwere Boulder ab Fb 7a. Meereshöhe ca. 1250 m. Gotthardpass Anfahrt Passhöhe Gotthard Übernachtung Im Auto oder Bus am Schotterparkplatz des GotthardStaussees. Campingplatz in Andermatt. Zugang Die verschiedenen Sektoren sind auf einige Kilometer entlang der Passstraße verteilt. Mit Auto oder zu Fuß. Charakter Granitblöcke in Almwiesen. Meereshöhe 2100m. Kindertauglich. Leichte und schwere Boulder gemischt. Sutenpass Anfahrt Von Göschenen den Sustenpass hoch, ca. 2 km unterhalb der Passhöhe am „Sustenbrüggli“ parken. Zugang Die Boulder sind direkt hinter dem Restaurant in 5 Minuten zu erreichen. Charakter Granitblöcke in Almwiesen. Meereshöhe 1950 m. Kindertauglich mit Spielmöglichkeit am Bach. Leichte und schwere Boulder gemischt. Führer Swiss Bloc, Ulrich und Harald Röker, ISBN 978-3-938680-13-1 Alpen en bloc 1, Panico-Verlag ISBN 978-3-936740-69-1 Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 69 Buchkritik Block‘n‘Road Geschafft!: Der Autor Steffen Kern in der Ironman-Traverse, V4, Bishop; Foto: Kern „Ich werde es definitiv wiedertun“ So lautet der letzte Satz in Steffen Kerns Tagebuch über seine Boulderreise in den Südwesten der USA. Ob es dem Leser mit dem Lesen ebenso ergeht, ergründet Jochen Riegg Das Tagebuch erzählt die Geschichte eines achtwöchigen USA-Aufenthalts in den bekanntesten Bouldergebieten im Südwesten. Die Reise beginnt in San Francisco, führt ins Yosemite an die Blöcke entlang des Merced-Rivers vor fulminanter Kulisse, geht weiter zu den einsamen Blöcken in gottverlassenen Landschaften von Ibex in Utah, über Joe‘s Valley und Big Bend in den Süden zu den irren Felsformationen von Hueco Tanks, Texas, zurück in den Westen nach Bishop, dem Weltboulder-Mekka am Owen‘s River mit seinen vielfältigen Gebieten und Gesteinen, schließlich endet der Trip im Garten Eden des Joshua-Tree-Nationalparks mit seinen eigenartigen Palmlilien zwischen Tausenden von goldgelben Granitblöcken. Recht schnell stellt sich beim Lesen der Tagesszenen und beim Betrachten der spannenden Bilder der Neid ein. Warum hocke ich jetzt am Rechner und bin nicht eben dort, in den wilden Landschaften der amerikanischen Nationalparks. Nachdem das Gepäck des Autors verspätet in San Francisco eingetroffen ist, geht es in schneller, direkter, praller Sprache hinein in die Boulderwelt aus einsamen Blöcken, störrischen Problemen und coolen Kletterbekanntschaften. Steffen Kern gelingt es, die Tagebuch-Form nicht zur Gefühlsduselei zu missbrauchen, sondern den Leser durch hellwaches Beobachten und durch eine ungefilterte Sprache mitten ins Geschehen hineinzuziehen. Er entwickelt dabei einen ganz eigenen Stil, der dem Leser das Tagesgeschehen in lebhaften Episoden und sprühender Sprache vor Augen führt. Manchmal fehlt durch die Tagebuchform etwas Spannung. Das macht der Autor aber durch bewegende Actionbilder und geniale Landschaftsaufnahmen – um Steffen Kerns Liebliegswort „genial“ aufzunehmen – mehr als wett. Diese faszinieren durch Spannung zwischen extremen 70 Landschaften und extremen Boulderszenen. Die Farbigkeit der Prärien, Wüsten und Gebirge des amerikanischen Westens unterstützen zudem die erzählenden Bildwelten des Autors. Hier ist er nicht mehr weit von Reinhard Karl entfernt. Deshalb würden die Texte nicht ohne die Bilder und die Bilder nicht ohne die Texte funktionieren. Das ganze Buch ist stimmig. Das ganze als Tagebuch zu bezeichnen halte ich dennoch für eine unglückliche Entscheidung. Denn erstens: Wer liest gerne Tagebücher. Zweitens stimmt das gerade für dieses Buch nicht. Und drittens: Es ist weitaus mehr. Es ist ebenso ein Band mit beeindruckenden Bildern, und es kann auch als Reiseführer benutzt werden. Im Anhang werden die einzelnen Gebiete ausgiebig dargestellt: Mit ausführlichen Infos, Tipps und Karten. Ich kann nur jedem raten, der eine ähnliche Reise plant, sich dieses Buch vorher anzuschauen, es bestenfalls gleich mitzunehmen. Es animiert zum Nachreisen und zum Nachleben. Ich bin gespannt auf das nächste Buch, auch wenn der Autor sich dazu im Interview noch in Schweigen hüllt. ■ Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Steffen Kern este den Südw s durch uldertrip eines Bo Tagebuch Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 A n der US ern teffen K s durch den S – d a rtrip ‘Ro Block‘n h eines Boulde c Tagebu n der USA te s e w d ü g S st-Verla 32595-3 e u 0 Geoq 0 0 3 8 ISBN 97 € 33,00 71 Interview „Ich bin ein Schreiber“ Steffen Kern, Autor von „Block‘n‘Road“, im Gespräch mit Herausgeber Jochen Riegg über die Entstehung des Tagebuchs, euphorische Momente und seine Zukunftspläne Kletterspiegel: Steffen, du bist Redakteur bei „klettern“ und normalerweise auf der anderen Seite des Mikrofons. Wie fühlst du dich? Kern: Das ist tatsächlich das erste Mal, dass ich interviewt werde. Bin gespannt, ob ich was zu sagen habe. Kletterspiegel: Kannst du kurz schildern, wie man darauf kommt, ein Tagebuch über einen Bouldertrip durch die USA zu schreiben? Geplant waren die acht Wochen im Herbst 2009 doch als ganz normaler Urlaub. Kern: Das war auch so nicht geplant. Ich hatte mein altes Laptop dabei, um Fotos zu archivieren, vielleicht gleich vor Ort einen Artikel für „klettern“ zu schreiben und vor allem um Kontakt mit der Heimat zu halten. Und damit hat alles begonnen. Nachdem bei meiner Ankunft meine Reisetasche nicht angekommen war und ich anschließend einen größeren und deutlich teureren Mietwagen nehmen musste, weil mein Crashpad zu groß war, hatte ich echt schlechte Laune. Und da habe ich gleich am ersten Abend auf der Dachterrasse meines Hostels eine „Abkotz“-Rundmail an vielleicht 40 Freunde geschickt. Acht Tage später hatte die Rundmail dann schon einen 15-seitigen Anhang, ein grob layoutetes PDF mit vielen Fotos und Texten. Bei der dritten Mail aus Hueco Tanks war das PDF feiner ausgearbeitet und hatte 44 Seiten. Es strömten so viele Eindrücke auf mich ein, und es machte einfach Spaß, diese niederzuschreiben. Ich bin eben ein Schreiber, wahrscheinlich kann ich nicht raus aus meiner Haut. Und dann habe ich auch gemerkt, dass ich beim Fotografieren viel ambitionierter und kreativer bin als bei einem normalen Bouldertrip nach Bleau oder ins Tessin. Ich finde nach wie vor, das kann sich sehen lassen. Auf meine dritte Rundmail schrieb mir dann ein alter Freund: 72 Steffen Kern Wenn du daraus kein Buch machst, dann mach‘s ich! Tja, und da war mir sofort klar, dass er Recht hat, ab da war das Buch im Kopf. Kletterspiegel: Hast du jeden Tag geschrieben? Nach den harten Bouldern, die du tagsüber gemacht hast, wäre jeder andere abends todmüde ins Bett gefallen. Kern: In Hueco Tanks hat einer mal gemeint, ich arbeite zu viel. Recht hatte er, für einen Urlaub war‘s definitiv zu viel! Im Durchschnitt habe ich bestimmt fünf Stunden pro Tag gearbeitet, geschrieben, Fotos bearbeitet, layoutet. An Ruhetagen waren‘s auch mal zwölf Stunden. Aber es kam mir nicht vor wie Arbeit, ich musste es quasi tun! Kletterspiegel: Und wie kam es dann zum Kontakt mit dem Geoquest-Verlag? Kern: Schon am zweiten Tag im Yosemite habe ich Christiane Hupe beim Bouldern kennengelernt, ein Tag später auch Gerald Krug, als er vom El Cap zurück war. Und damit kannte ich den Geoquest-Verlag. Ich habe sie dann in meinen Mail-Verteiler aufgenommen und als ich drei Monate nach meiner Rückkehr ein erstes Layout für das Buch gebastelt hatte, habe ich auch ihnen ein PDF geschickt. Ich glaube, drei Tage später hatte ich ihre Zusage. Kletterspiegel: Und der Rest war dann Verlagssache? Kern: Nein, ich habe das Layout und die Bildbearbeitung quasi bis zur Druckabgabe gemacht. Jakob Schlademann, der Grafiker des Verlags, hat dann den Umschlag übernommen. Insgesamt habe ich nach der Reise fast noch ein dreiviertel Jahr daran gearbeitet. Und nicht selten folgten auf acht Stunden Redaktion noch acht Stunden Arbeit am Buch. Kletterspiegel: Du hast viele Zitate von Adorno in deinem Buch. Dein Lieblingsphilosoph? band mit tollen Action-Szenen ist. Und genauso gut hätte man das ganze auch als Auswahlführer gestalten können, denn es enthält im Anhang sehr viele nützliche Informationen. Oder man hätte wie Messner und Karl es tun, mehr konstruieren und dramatisieren können. Kern: Ja, das hätte man alles machen können, aber das wollte ich nicht. Ich bin kein Führerautor. Mir liegt viel mehr am literarischen Schreiben und weniger am nüchternen Dokumentieren. Das sollen andere machen. Die Texte sind ja spätestens am Tag danach entstanden, dadurch sind sie meines Erachtens sehr authentisch. Von daher passt Tagebuch schon. Ob das jetzt unter verkäuferischen Gesichtspunkten Sinn macht, kann ich nicht beurteilen. Für mich hört sich Tagebuch jedenfalls deutlich interessanter an als sowas Abgedroschenes wie „Impressionen“. In den ursprünglichen Dokumenten wollte ich meine Freunde meine Reise ein wenig miterleben lassen, wenn‘s optimal läuft, ihnen zu einer Reise im Kopf zu verhelfen. Und diesen Anspruch hatte ich auch beim Buch: dem Leser zu einer Reise im Kopf zu verhelfen – durch Anekdoten und Essays, und selbstverständlich über die vielen großformatigen Fotos. Klar, es ist genauso ein Bildband wie ein Tagebuch, aber soll ich auf dem Titel denn als Unterzeile „Bildband eines Bouldertrips durch den Südwesten der USA“ schreiben. Nein, „Tagebuch“ passt. über Gefahren nicht so viel Gedanken gemacht habe. Kletterspiegel: Ist es nicht gefährlich, auf irgendwelchen gottverlassenen Plätzen im Auto zu schlafen, einsam, alleine, fernab jeder Polizeistation? Plötzlich steht nachts jemand da, hält dir die Knarre unter die Nase und keiner kann dir helfen. Kern: Gut, so was habe ich nicht gemacht. Auf meinen Zwischenstopps habe ich immer in Motels übernachtet und in den Klettergebieten auf den Campgrounds. Da waren auch immer Leute da. Also beim Reisen hatte ich keine Angst. Kletterspiegel: Und giftige Schlangen? Kletterspiegel: Es fällt auf, dass in deinen Texten ein Wort nie vorkommt. Hattest du zum Beispiel nie Angst, überfallen zu werden? Kern: Echt? Das war mir gar nicht bewusst, dass ich nie „Angst“ verwende. Mir war‘s schon manchmal unheimlich, etwa auf der Fahrt nach Ibex, wo mir gerademal fünf Autos auf 800 Kilometern begegnet sind und meine Info war, dass ich in diesem Gebiet am Ende der Welt garantiert keinen Menschen treffen werde. Und dann hat es in Ibex keine fünf Minuten bis zur ersten Unterhaltung gedauert. So lief es fast immer, und das hat mich wohl so positiv gestimmt, dass ich mir Kern: Einer meiner Lieblingsphilosophen. Aber seine „Minima Moralia“, aus denen die meisten Zitate stammen, ist auf jeden Fall mein philosophisches Lieblingsbuch. Da sind viele berühmte Sätze drin wie „Es gibt kein richtiges Leben im falschen“ oder „Das Ganze ist das Unwahre“. Kletterspiegel: Beim Lesen hat man den Eindruck, dass es neben den authentischen Geschichten mindestens ebenso ein ausführlicher BildHeft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Foto: Steffen Kern Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 73 Interview Kern: Ich habe gelesen, dass es es in Bishop nur im Frühjahr Klapperschlangen gibt. Den Eindruck hatte ich aber auch in allen anderen Gebieten. Kletterspiegel: Gibt es ein Gebiet, dass du besonders empfehlen kannst? Kern: Das ist schwierig, alle Gebiete, die ich besucht habe, waren großartig! Trotzdem, vom Gesamteindruck würde ich sagen: Bishop. Die heißen Quellen, die schneebedeckten Berge der Sierra, die Infrastruktur, das ist schon super. Und die Bouldergebiete sind der absolute Hammer: vor allem die Buttermilks, aber auch die anderen Gebiete. Bishop steht bei mir seither auf einer Stufe mit Bleau – und das will bei mir etwas heißen! Hueco Tanks ist aber auch super, Yosemite, Joshua Tree, Joe‘s Valley auch, und in diese Mondlandschaft von Ibex möchte ich unbedingt auch noch mal! Kletterspiegel: Du hast mit „Ironfly“ deine erste V9 geklettert, übersetzt der 10. Grad. War es das wirklich? Du schreibst in deinem Buch, dass die Schwierigkeitsgrade manchmal sehr individuell und unterschiedlich sind. Kern: Ich kann das schwer beurteilen. Aber auf 8a.nu geben rund 45 von 50 Begehern „Ironfly“ als 7c an, ich denke das gilt als solide 7c. Das kann man aber trotzdem nicht mit einem Zehner vergleichen! Andersrum musst du in den wenigsten Zehnern einen 7c-Boulder klettern. Kletterspiegel: Kletterst du eigentlich auch noch mit Seil oder bist du vollständig zum Boulderer konvertiert? Kern: Bouldern macht mir seit längerem am meisten Spaß. Normalerweise mache ich im Sommer noch drei bis fünf alpine Klettereien pro Jahr, wenn ich nicht krankheitsbedingt ausfalle wie letztes Jahr. 2009 war ich mit einem Freund im Berner Oberland unterwegs. Ich stehe offensichtlich gern oben – auf einem Gipfel oder einem Block. Sportkletterer war ich noch nie richtig, ich nehm‘s mir zwar immer wieder vor, aber dann gehe ich doch lieber bouldern! Kletterspiegel: Dass das Wort „Angst“ nie vorkam, hatten wir schon. Dafür kommt das Wort „genial“ öfter vor. Kommt einem das automatisch in den Sinn, wenn man diese bombastischen Landschaften im Südwesten der USA sieht? Kern: Genial waren nicht nur die grandiosen Landschaften, sondern dass sich auf der ganzen 74 Steffen Kern Reise einfach alles so prima gefügt hat – abgesehen von der Ankunft. Die langen Fahrten allein haben prima funktioniert, ich konnte fotografieren wann und so oft ich wollte, in Gebieten habe ich immer sofort Kontakt zu anderen Boulderern gefunden. Es hat einfach alles geklappt. Wahrscheinlich habe ich deshalb so oft „genial“ verwendet. Foto: Steffen Kern (aus seinem Tagebuch) Kletterspiegel: Wie schafft man es, acht Wochen Urlaub zu bekommen? Da kann man ja richtig neidisch werden. Kern: Unsere Produktionszyklen sind im Herbst länger, weil da weniger Ausgaben erscheinen. Deshalb kann ich da auch mal länger weg – und weil ich so viel Urlaub und Überstunden habe, muss ich es diesen Herbst schon wieder. Anordnung von oben. Kletterspiegel: Gibt es schon Pläne für ein neues Buch? Kern: Nach meiner Rückkehr habe ich ja durch meine gesundheitsbedingte Zwangspause 15 Monate nicht klettern können. Ich war dementsprechend kaum unterwegs. Jetzt will ich erst mal wieder was erleben, das mit dem Schreiben kommt dann von allein. Es ist ja auch nicht so, dass ich nichts schreibe. Da gibt‘s ja noch meinen Job als Redakteur bei klettern. Ich tue nichts anderes als schreiben! Und deshalb erstmal wieder bouldern und leben, statt nur zu arbeiten. Kletterspiegel: Steffen, vielen Dank für das Gespräch. ■ Steffen Kern *1970 Geboren 1970 in Aalen auf der rauen Ostalb, aufgewachsen in Bopfingen am schönen Ipf. In der Kindheit war er oft mit seinen Eltern in den Dolomiten, zu klettern begann er 1991 an den Wänden des Rosensteins und im Eselburger Tal. Es folgten zwölf alpine Jahre, mit vielen Pause-Touren und über 200 Routen in Fels und Eis. 2003 vollzog der Autor eine vertikale Kehrtwende: Nach einem Wochenende im Magic Wood im Averstal mutierte er immer mehr zum Boulderer. Steffen Kern studierte in Tübingen Allgemeine Rhetorik, Philosophie und Neuere deutsche Literatur. Seit 2002 arbeitet er als Redakteur beim „klettern“-Magazin. Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel Perfekte Linie: Bouldersession an der „Atari“, V6, Happy Boulders, Bishop Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 75 Betrachtung Betrachtung Foto: Oleg Gekman, Fotolia Walter Bonatti, Wolfgang Güllich, Adam Ondra Sehnsucht nach Ruhm Es ist allzu menschlich, sich nach Ruhm zu sehen. Wenn es die einzige Triebfeder ist, besteht die Gefahr, seinen Mitmenschen auf die Nerven gehen. Eine Betrachtung von Jochen Riegg 76 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel D ie Leidenschaft zum Klettern flackert manchmal wie glühende Kohlen im Wind. Mal ist sie stärker, mal schwächer. Ist sie schwächer, vergisst du, wofür du eigentlich lebst. Deine Pflichten nehmen dich in Anspruch: Arbeiten gehen, sich um die Familie kümmern, Haus und Hof bestellen. Nichts scheint dir zu fehlen. Und während du bügelst, die Wände streichst, oder das Unkraut jätest, siehst du in der Ferne eine seltsam geformte Wolke aufziehen, die dich unterbricht in den automatisierten Abläufen deines Lebens. Plötzlich ist es wieder da, dieses Flackern, dieses Glühen, diese Sehnsucht. Aber nach was eigentlich? Dass ein trainierter Kletterkörper nach Leistung dürstet, dass er dieses Spiel zwischen Abnutzung und Erholung so sehr braucht wie der Süchtige die Drogen, ist physiologisch erklärbar. Aber er will nicht Tennis spielen, Squash oder Federball, er begibt sich in Gefahr, in der er droht, umzukommen. Es ist, als ob eine Bakterie seinen Wirt tötet. Während du den Berg hinaufsteigst, läuft in deinem MP3-Player das Stück „Footballer’s Wife“ von Amy McDonald. Es ist auf Endloswiederholung gestellt und ehe du am Einstieg bist, hast du es 30 Mal gehört. Und du beginnst, den Text zu verstehen. Da ist die geifernde Hausfrau eines namenlosen Fußballspielers, die vorgibt, berühmt zu sein wie James Dean oder Marilyn Monroe. Aber alles, was sie kann, ist zu streiten und ihre Zeitgenossen mit ihrem protzigen Leben auf die Nerven zu gehen. Und die Berühmtheiten, denen du nacheiferst, heißen nicht James Dean oder Marilyn Monroe, sondern Walter Bonatti, Wolfgang Güllich, Adam Ondra. Je höher du steigst, je mühevoller und gefährlicher die Risse, Kanten und Verschneidungen sind, die dich deinem Ruhm näherbringen sollen, je sinnloser erscheint dir das Unterfangen, mit dem Namen der Route von dem Ruhm des Erstbegehers etwas abzubekommen. Gloria in excelsis Deo – Ruhm sei Gott in der Höhe. Man kann hinzufügen, nur. Mit jedem Meter, den du dich höher schindest, erkennst du die Sinnlosigkeit des Eifers nach Ruhm. Je näher das Gipfelkreuz rückt, desto frustrierender die Erkenntnis, dass dich oben kein Ruhm erwartet, sondern die Enttäuschung des falschen Eifers. Du bist endlich oben und doch ist alles beim Alten. Und du gehst deinen Zeitgenossen auf die Nerven, wenn du von den großen Namen sprichst, die du gesammelt hast, als wärst du einer von ihnen, dabei bist und bleibst doch nur die prahlende Frau eines namenlosen Fußballspielers. Du steigst ab, gehst zurück in dein normales Leben, in den Garten und harkst wieder Unkraut. Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 Wenn dann wieder diese seltsam geformte Wolke am Himmel auftaucht und du fort musst, dann tu es, um deine eigenen Ideen unbeirrt zu verwirklichen. Irgendwann einmal wird man nicht mehr der geifernden Hausfrau des Fußballspielers zuhören, die unablässig von berühmten Personen redet, als wäre sie eine von ihnen. Irgendwann einmal wird man dir zuhören. Mag sein, dass das eine romantische Vorstellung ist. Nicht der Sehnsucht nach Ruhm zu erliegen. Natürlich darfst du berühmte Namen sammeln so wie andere Wimpel von Fußballvereinen. Es ist deine persönliche Vitrine, in der etwas vom Glanz deiner Vergangenheit aufbewahrt ist. Wenn du aber immer nur die Wimpel der anderen Vereine sammelst, ist das Regal bald vollgestopft mit fremden Trophäen, und die Etage mit den eigenen Errungenschaften ist leer. Du wedelst dann mit den Wimpeln wie die Hausfrau des Fußballspielers mit prominenten Namen und gehst deinen Zeitgenossen auf die Nerven. Ob deine eigenen Spuren jemals berühmt werden, scher dich nicht drum. Glaubst du, James Dean und Marilyn Monroe hätten sich je um ihre Berühmtheit geschert? Sie haben das gemacht, was sie immer tun wollten. Zum Berühmtsein gehört mehr dazu, als bloß berühmt sein zu wollen, heißt es in Footballer’s Wife von Amy McDonald. Ein Kletterer erzählte den ganzen Abend von Routen, und immer wenn das Wort berühmt fiel - und es fiel so oft als hätte die CD einen Sprung - musste ich an die Frau des Fußballspielers denken. Dabei hatte er für seine Verhältnisse etwas geschafft und erreicht, wovor ich allergrößten Respekt habe. Ich freute mich für ihn, weil er nicht aufgegeben hatte, an sich zu glauben. Er hat sich geschunden, um etwas zu erreichen, wofür andere sich nicht mal anstrengen mussten. Aber in diesem Augenblick zählte der nur einmalige Wille, der Glaube, die Sturheit, die ihn dort hingetragen hat. Jetzt aber verspielte er die Zuneigung durch das ständige Gerede vom Berühmtsein. Sehnsucht nach Ruhm? Warum nicht! Ohne diese Triebfeder würde man den Menschen nicht verstehen. Ja, Sehnsucht nach Ruhm, die braucht es. Wenn es aber die einzige Kraft bleibt, läuft man Gefahr, die streitsüchtige Hausfrau eines namenlosen Fußballspielers zu werden, die allen auf die Nerven geht. Und statt der Namen von berühmten Personen kann man auch die Zahlen von Schwierigkeitsgraden setzen. Und indem ich ständig über Schwierigkeitsgrade rede und streite, komme ich mir manchmal selbst vor wie die geifernde Hausfrau eines namenlosen Fußballspielers, die unablässig vom Ruhm redet und alle nervt. ■ 77 Ausstieg Ausstieg I 9 mal 25 Gramm schwarzes Kreatin Foto: Andreas F., Fotolia Eine wahrhaft krude Entdeckung könnte das Ernährungsprogramm von Spitzenkletterern radikal ändern. Jochen Riegg 78 Heft 2, Juli 2011 – Kletterspiegel ch habe schon länger vor, eine 8a zu klettern. Letztes Jahr habe ich auf Kreatin gesetzt. Nach einer Zwangspause aus gesundheitlichen Gründen habe ich das Zeug nicht mehr genommen. Es war eh egal. Ob mit oder ohne: mehr als 7a ging einfach nicht. Ich habe schon mal 68 Kilo gewogen, nach der Pause ging‘s hoch auf 77 Kilo. Nach St. Léger habe ich dann beschlossen, die x-te Diät zu machen und wieder ein paar Kilo abzuspecken. Als ich unter 70 hatte, war ich zwar auch nicht besser, aber ein bisschen weniger Speck auf den Rippen kann auf keinen Fall schaden. Ich ließ es gemächlich angehen, vielleicht so ein halbes Kilo im Monat. Nach vieren hatte ich wieder 75. Damit ich habe ich vor zwei Jahren 9 geklettert. Gut, noch ein Bitzelchen mehr, das heißt weniger, könnte mich doch der 8a den entscheidenden Schritt näher bringen, es müssen ja nicht gleich wieder 68 sein. Ein schwerwiegender Fehler – einen Tag lang nichts zu essen – erschütterte meine bisherige Ernährungssicht so grundlegend, dass ich vor lauter Verwirrtheit den Himmel um Beistand bitte möchte. Ich weiß nicht mehr, wo vorne und hinten ist. Mit einem Bärenhunger machte ich auf dem Weg zur Kletterhalle kurz Halt im Supermarkt. Im Haushalt fehlte noch dies und das, nicht viel, eine schnelle Erledigung im Vorbeigehen. Mit den Gedanken war ich schon beim Klettern. Den Weg durch den Supermarkt kenne ich so gut wie den Aufstieg zu den Felsen der Schwäbischen Alb: alles wohl vertraut, alles immer am selben Fleck. Als ich mit dem Einkaufswagen um die Kurve fuhr, mit einem kräftigen Knurren im Magen, kam es mir in den Sinn. Wir kommen gleich an die Stelle, wo sie immer sind. Letztes Mal waren zwar keine mehr da, aber vielleicht ist das Regal wieder aufgefüllt. Ja, es ist aufgefüllt: Sie sind wieder da. Sogar die Packung mit den großen, neun Stück, 240 Gramm allersüßeste, giftigste Leckerei. Mit dem Abnehmen bin ich doch ganz gut vorangekommen. Der Magen fühlt sich dagegen an wie eine leere Plastiktüte. Einmal, nur einmal, dann wieder die Diät. Man muss sich was gönnen dürfen. So hat es auch Tennisprofi Martina Navratilova gemacht: Diät, und alle zwei Wochen durfte sie essen, so viel sie wollte. Und ich ess ja nicht so viel ich will, sondern es wäre ja nur die eine Packung, und dann nur einen oder zwei, den Rest teile ich mit Frau und Kind. Macht also maximal drei Stück. Also mitgenommen im Einkaufswagen, Ehrenplatz ganz oben. Zur Halle sind es noch 20 Minuten. Die Packung liegt neben mir auf dem Beifahrersitz. Autobahn, freie Fahrt, Konzentration nicht gefordert. Blick Kletterspiegel – Heft 2, Juli 2011 also zur Schachtel, einen könnten man ja schon mal essen. Packung auf den Schoß, Blick zum Verkehr, nichts los, aufgemacht, Zugriff auf den ersten Schokukuss. Ich weiß nicht, was physiologisch im Körper passiert, wenn man völlig unterzuckert einen Schokokuss isst. Jedenfalls dachte ich, mit dem einen hätte ich den brüllenden Magen ausreichend besänftigt. Schließlich war es ja nicht ein trockenes fahles Rippchen Schokolade, sondern ein besonders himmlisch leckeres, cremig weiches Schokozuckertörtchen. Aber schon nach einer Minute kam der heiße Hunger zurück, ich sagte mir, gut sind es eben zwei, danach ist Schluss. Ich habe mich im Griff. Mit dem dritten überfiel mich eine große Gier, und ich stopfte die restlichen sechs auch noch hinein, zerfleischte die süßen kleinen Dinger in weniger als fünf Minuten. Ich fiel in tiefe Traurigkeit und wurde von beißendem Zweifel gequält. Wieder bei Sinnen bog ich in den Parkplatz der Kletterhalle ein. Beim Warmqueren fühlte sich der Magen an, als ob ich ein Fass Uhu geschluckt hätte. Alles klebte schrecklich. Spucken musste ich zwar nicht, aber der Magen befand sich in einer schwer einzuschätzenden Schwebe zwischen Sättigung und Erbrechen. Dann ans Campusboard. Linke Reihe, die kleinsten Leisten. So groß wie eine halbe Fingerkuppe. Also ziemlich klein. Es sind acht Leisten. Fünf habe ich in meiner besten Zeit, als ich eine 7c+ kletterte, geschafft. Mehr noch nie. Beim ersten Hangeln komme ich drei Leisten weit. Der Magen klebt immer mehr. Schlechtes Gewissen plagt mich: Frau und Kind kriegen nichts, ich habe sie alle weggefressen. Beim zweiten Mal Hangeln schaffe ich fünf Leisten Ich gehe raus vor die Türe, hole tief Luft, ziemlich stickig heute. Konzentration, Magengrimmen, Durchatmen. Plötzlich eine Kraft in den Fingern, ein Pump in den Armen, ein Wille zum Siegen. Eins, zwei, drei, vier, fünf – sechs, sieben! Ich schreie vor Freude, dass in Italien die Teller aus den Regalen fallen. Ich habe meinen eigenen Rekord geknackt. Mit neun fetten, klebrigen Schokoküssen im Bauch. Kreatin bringt nichts, Trainieren bringt nichts – neun dicke fette Schokoküsse bringen dir dagegen so viel Schub, dass du plötzlich lang ersehnte Projekte hochkommst. Kann mir da draußen irgendjemand erklären, was ich verdammt nochmal all die Jahre falsch mache? Diät, Training, rechtzeitig ins Bett, nichts. Dann haust du dir ungesundes Essen rein, neun Schokoküsse auf einmal – paff, oben! Ich werde noch irre. ■ 79 Automatisieren Sie Ihren Katalog: XML Publishing mit Pagino und Adobe InDesign Katalogautomatisierung mit Pagino und Adobe InDesign – ein unschlagbares Team. Kataloge, Preislisten, Datenblätter, Flyer, Verzeichnisse: vom einseitigen Datenblatt bis zum 1000-seitigen Preiskatalog. Nutzen Sie das umfangreiche, langjährige Know how von Pagino, um Ihre Katalogdaten über XML automatisch in Adobe InDesign zu setzen. Rufen Sie noch heute an. Ihr Ansprechpartner: Jochen Riegg +49 (0)7031 805936 pagino publishing e.K. www.pagino.de ©