Gesundes Kommissionieren durch ergonomische
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Gesundes Kommissionieren durch ergonomische
Gesundes Kommissionieren durch ergonomische Lagerfachbelegung Die Kommissionierung ist von körperlich belastenden Tätigkeiten geprägt. Vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung stellt dies für viele ältere Mitarbeiter eine wachsende Herausforderung dar. Ursache ist nicht das Alter als solches, sondern die permanente körperliche Belastung der Mitarbeiter die langfristig die Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter reduziert. Für die gewachsenen und meist schwer veränderlichen Lagerstrukturen hat der Lehrstuhl fml ein Konzept zur ergonomischen Lagerplatzbelegung entwickelt, das mit geringem Aufwand eine Entlastung der Kommissionierer herbeiführt. Die demographische Entwicklung in Deutschland ist nicht aufzuhalten. Geringe Geburtenzahlen und Zuwanderung gepaart mit höherer Lebenserwartung führen zur Alterung der Gesellschaft, die in den kommenden Jahren durch das Älterwerden der BabyboomGeneration ihren Hohepunkt erreicht. Diese Veränderung der Altersstruktur schlägt sich eins zu eins auch auf die Mitarbeiter in der Intralogistik nieder (Abbildung 1). Während der Anteil der Altersgruppe der 35 bis 50-jährigen konstant bleibt, ist eine Verschiebung des Verhältnisses von jüngeren Logistikern zugunsten älterer Mitarbeiter festzustellen. 100% 90% 21,2% 29,6% 80% 70% 60% 45,1% 50% 46,0% 35 bis unter 50 Jahre 40% 25 bis unter 35 Jahre 30% 20% 50 Jahre und älter Unter 25 Jahre 26,6% 18,4% 10% 0% 7,1% 5,9% 1999 2000 2001 2002 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 Jahr Abbildung 1: Veränderung der Altersstruktur in den Berufsgruppen der Intralogistik Im Zusammenhang mit der Alterung der Gesellschaft hält sich seit langem das Defizitmodell, das von einer generellen Abnahme der (beruflichen) Leistungsfähigkeit der Mitarbeiter mit zunehmendem Alter ausgeht. Das Defizitmodell entstand vor allem vor dem Hintergrund früherer Intelligenztests und gilt seit Längerem als überholt [1]. Daraus entwickelte sich die allgemeine Ansicht, Ältere seien weniger leistungsfähig und weniger belastbar [2]. Paradox an dieser Betrachtung der Leistungsfähigkeit ist, dass beim isolierten Testen von Einzelfunktionen Ältere schlechter abschneiden, während die Arbeitsleistung nicht generell abnimmt [3]. Als Grund hierfür wird meist die Kompensation von rücklaufenden Fähigkeiten durch zunehmende Erfahrung genannt [4]. Eine Befragung unter 32 Führungskräften der operativen Logistik zeigt, dass sich in der Praxis nach wie vor die Vorbehalte gegenüber älteren Arbeitnehmern halten. Auf die Frage, welches die drei größten Probleme einerseits für jüngere (< 45 Jahre) und andererseits für ältere (≥ 45 Jahre) Logistikmitarbeiter mit ihrer Arbeit darstellen, gaben die Befragten ihre Einschätzung ab (Abbildung 2). 60 50 Punktezahl 40 30 20 10 0 < 45 Jahre > 45 Jahre Abbildung 2: Einschätzung von Führungskräften der operativen Logistik im Hinblick auf Probleme ihrer jüngeren und älteren Logistikmitarbeiter (nach Rangfolge der Nennung gewichtet) Zu den häufigsten Nennungen der Probleme jüngerer Logistikmitarbeiter zählen die fehlende Motivation sowie der Umgang mit Zeit- und Leistungsdruck. Steigender Erwartungsdruck von Gesellschaft und Unternehmen, aber auch Familien- und Freizeitorientierung aufgrund geringer Aufstiegsmöglichkeiten in der operativen Logistik können Gründe für die fehlende Motivation sein. Jedoch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass es gerade die Aufgabe der Führungskräfte ist, für die Motivation der Mitarbeiter zu sorgen. Gut zwei Drittel der befragten Führungskräfte sieht bei älteren Logistikmitarbeitern Probleme im Umgang mit Veränderungen. Dies wird lediglich durch Probleme in Bezug auf die körperliche Belastbarkeit übertroffen, welche oft im Zusammenhang mit einer Leistungsabnahme genannt wird. Dabei ist nicht das Altern an sich verantwortlich sondern steht diese Art der Leistungsabnahme nachweislich im Zusammenhang mit Fehlbeanspruchungen und -belastungen im Arbeitsprozess. Eine am Lehrstuhl fml durchgeführte Feldstudie an Arbeitsanalysen in der Kommissionierung konnte hier die entscheidenden körperlichen Belastungen identifizieren, die es für eine alternsgerechte Arbeitsgestaltung der operativen Logistik zu vermeiden gilt. Die Analyse von fünfzehn typischen Kommissioniersystemen bestätigt das Bild einer hohen körperlichen Belastung der Mitarbeiter (Abbildung 3). Das Heben und Tragen von Lasten in Kombination mit der dabei eingenommenen Körperhaltung (Rumpfbeugung und -verdrehung) stellen für die Kommissionierer die entscheidenden Belastungsfaktoren dar. 40 % der untersuchten Systeme weisen Belastungen auf, die ein erhöhtes Risiko für Gesundheitsschäden der Kommissionierer aufweisen. Weiterhin stellt der hohe Anteil an Tätigkeiten im Gehen und Stehen eine Belastung mit möglichem Risiko dar, da hier selten ein Belastungsausgleich durch Arbeiten im Sitzen erfolgt. nicht gefordert niedriges Risiko 0% mögliches Risiko erhöhtes Risiko 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100% Nacken Überkopfarbeit Rumpf Arme und Schultergelenk (Beweglichkeit) Arme und Schultergürtel (Schieben/Ziehen) Unterarme und Handgelenke Finger Kniegelenke Verteilung Gehen, Stehen, Sitzen Heben und Tragen Abbildung 3: Typische körperliche Belastung in der manuellen Kommissionierung ( n = 15) Als Folge der hohen, über das Erwerbsleben des Kommissionierers wirkenden körperlichen Belastung entstehen Muskel-Skelett-Erkrankungen. Diese machen bekanntlich ein Viertel der Arbeitsunfähigkeitstage der Mitarbeiter aus und steigen unter anderem aufgrund unergonomischer Arbeitsbedingungen mit zunehmendem Alter stark an (Abbildung 4). AU‐Tage je 100 Pflichtmitglieder ‐ Bundesgebiet 2005 1000 900 800 700 600 500 400 300 200 100 0 <20 20‐ 25‐ 30‐ 35‐ 40‐ 45‐ 50‐ Herz/Kreislauf Verletzungen Muskeln/Skelett Atmungssystem Verdauungssystem Psych. Störungen 55‐ 60‐64 Abbildung 4: Altersabhängigkeit der Arbeitsunfähigkeitstage verursachenden Krankheiten [5] Für die manuelle Kommissionierung – als eine der zentralen Funktionen der operativen Logistik – stellt dieser Tatbestand vor dem Hintergrund der demographischen Entwicklung ein schwerwiegendes Problem dar. Technische Ansätze zur Lösung des Problems sind oft nur für Kleinteile geeignet, führen zu einseitiger Belastung oder sind mit hohen Investitionen verbunden (z. B. stationärer Arbeitsplatz mit ergonomischer Bereitstellung über Fördertechnik). Ansätze ergonomischer Optimierung für die oft vorherrschenden, gewachsenen Lagerstrukturen sind rar gesät und ebenso mit hohem (finanziellen) Aufwand verbunden. Der Lehrstuhl fml fokussiert sich auf arbeitsorganisatorische Ansätze, um eine gesunde körperliche Belastung in der Kommissionierung mit geringem Aufwand zu erzielen. Durch die Integration der für die Belastungsermittlung in der Kommissionierung erweiterten Leitmerkmalmethode [6] in das Warehouse Management System ließ sich eine ergonomische Lagerfachbelegung realisieren. Basierend auf Vergangenheitsdaten an Zugriffshäufigkeiten auf das Artikelspektrum können die Lagerfächer so belegt werden, dass eine theoretisch geringstmögliche körperliche Belastung für den Kommissionierer entsteht. Die Artikel werden in Abhängigkeit der Zugriffshäufigkeit, ihres Gewichts und ihrer ergonomischen Greifbarkeit so für den Kommissionierer bereitgestellt, dass dieser das geringstmögliche Risiko an Gesundheitsschäden erfährt. Für die Lösung dieses Optimierungsproblems (Abbildung 5) ist es beispielsweise erforderlich, schwere Artikel mit hoher Zugriffshäufigkeit so einzulagern, dass sie ohne Rumpfbeugung ergonomisch günstig zu entnehmen sind. Artikel mit niedrigem Gewicht und geringer Zugriffshäufigkeit werden in noch verfügbare Lagerplätze mit schlechterer Zugänglichkeit bereitgestellt (Beugen bzw. Bücken bei der Entnahme bzw. hohes Gewicht). Die ergonomische Lagerfachbelegung ermöglicht es auch in bereits bestehende Kommissioniersysteme mit geringem Aufwand eine ergonomische Optimierung zu erreichen, die zum Erhalt der Leistungsfähigkeit von jung und alt beiträgt. Belastung durch Körperhaltung Eigenschaften der Kommissionier‐ systemelemente Warehouse Management System KLT #1 KLT #9 KLT #2 KLT #5 KLT #11 KLT #12 KLT #6 KLT #10 Belastungs‐ faktoren KLT #4 9kg 19 picks/day 12kg 9 picks/day 28kg 6 picks/day 10kg 16 picks/day 12kg 3 picks/day 18kg 3,2 picks/day Eigenschaften der Artikel KLT #3 KLT #7 KLT #8 Abbildung 5: Lösung des Optimierungsproblems für eine ergonomische Lagerfachbelegung Fazit: Die demographische Entwicklung macht auch vor der operativen Logistik nicht halt. Dabei stellt nicht das kalendarische Altern der Belegschaft ein Problem für die Unternehmen dar. Vielmehr sind oftmals schlechte Arbeitsbedingungen mit hoher körperlicher Belastung die Ursache für die Zunahme an Muskel-Skelett-Erkrankungen und der Abnahme der Leistungsfähigkeit mit zunehmendem Alter verantwortlich. Die gewachsenen Lagerstrukturen der Kommissionierung sind diesbezüglich durch hohe Belastung in Form des Hebens von Lasten gekennzeichnet. Über die ergonomische Lagerfachbelegung kann das Risiko an Gesundheitsschäden minimiert werden. Diese neue Belegungsstrategie von Lagerplätzen lässt sich auch in bestehende Kommissioniersysteme integrieren, um über eine wirtschaftliche Belegungsstrategie hinaus die körperliche Belastung in einem gesunden Maß zu halten und so zum Erhalt der Leistungsfähigkeit von jung und alt beizutragen. Literatur: [1] Steiner, W.: Personalentwicklung – Gedanken zu einem lebenslangen Prozess. In: Kompetenz der Erfahrung. Personalmanagement im Zeichen demographischen Wandels, Neuwied, 1997 [2] Länge, T. W.; Menke, B.: Generation 40plus. W. Bertelsmann Verlag, Bielefeld, 2007 [3] Hacker, W.: Leistungsfähigkeit und Alter. Online: http://doku.iab.de, 2010 [4] Baltes, P. B.; Baltes, M. M.: Psychological perspectives on successful aging. In: Successful aging, New York, 1990 [5] Hernold, P.; König, C.; Schulte, S.; Chruscz, D.; Großmann, A.: BKK Gesundheitsreport 2006. Buchdruckerei P. Dobler GmbH & Co KG, Alfeld, BKK Bundesverband, 2006 [6] Walch, D.; Günthner, W. A.: Belastungsermittlung für Handhabungsprozesse in der Logistik – Ein Beitrag zur alternsgerechten Arbeitsgestaltung. Industrial Engineering – Fachzeitschrift des REFA-Verbandes, 62.Jahrgang, Ausgabe 3-2009, Darmstadt, 2009 Autoren: Dipl.-Ing. Dennis Walch (wissenschaftlicher Angestellter) Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik Technische Universität München Boltzmannstraße 15 85748 Garching b. München Prof. Dr.-Ing. Dipl.-Wi.-Ing. Willibald A. Günthner (Ordinarius) Lehrstuhl für Fördertechnik Materialfluss Logistik Technische Universität München Boltzmannstraße 15 85748 Garching b. München