Libro de buen amor: Zusammenfassung (H.U.Gumbrecht)
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Libro de buen amor: Zusammenfassung (H.U.Gumbrecht)
Libro de buen amor: Zusammenfassung (H.U.Gumbrecht) Der Text setzt ein mit dem Klagegebet eines Gefangenen. Den Ort seines (allegorischen oder wirklichen?) Gefängnisses gibt er nicht an, und in der wichtigsten der drei überlieferten Handschriften wird er mit jenem textimmanenten Erzähler und Ich-Protagonisten identifiziert, der sich in späteren Passagen des öfteren ›Juan Ruiz, Arcipreste de Hita‹ nennt. Das Werk wird also durch eine autobiografische Erzählsituation zusammengehalten, über deren Wirklichkeitsentsprechung wir nichts Genaues sagen können; klar ist aber, dass wir es nicht mit ernst zu nehmenden Memoiren eines Geistlichen, sondern mit einer Mischung aus Lebenswirklichkeit und überliefertem Bildungsgut zu tun haben. Auf die zehn, in cuaderna via artikulierten Strophen seiner Klage folgt ein Prolog, der Bitte um Gottes Hilfe bei der Vollendung des Werks und zwei Cantigas über die sieben Freuden Mariä. Anschließend wird das schon im Prosa-Prolog präludierte Leitthema vom mehrfachen Textsinn erneut wieder in cuaderna via - artikuliert; nun allerdings nicht unter theologischen Vorzeichen, sondern im Rahmen einer burlesken Exempel-Erzählung vom wechselseitigen Mißverstehen im Zweikampf zwischen einem Griechen und einem Römer. Von dieser Stelle an bis hin zur Strophe 949 dominiert dann die Schilderung von Liebesabenteuern des sündigen Arcipreste de Hita, die meist durch die Kupplerin Trotaconventos befördert werden. Die Einheit dieses zweiten Textteils liegt weniger in seinem Thema (das er mit den folgenden Passagen teilt) als in der Zugehörigkeit seiner Darstellungsformen zur Gelehrtenkultur des Mittelalters: der Sinn der Einzelepisoden wird entweder durch einzelne Exempla fixiert oder durch Exempel-Serien in eine Deutungs-Pluralität überführt. Der Protagonist selbst zieht dort widersprüchliche Lehren aus seinen Liebesabenteuern - und zwar sowohl im Rückgriff auf den Sinnhorizont der Astrologie als auch in nächtlichen Dialogen mit den allegorischen Protagonisten Amor und Venus. Den Rahmen für den dritten Textteil gibt eine Reiseerzählung ab. Nach einem letzten Treffen mit der Kupplerin bricht der Arcipreste zu einer Wanderung ins Gebirge (›sierra‹) auf, welche ihn zunächst in die Arme von vier Gebirgsbäuerinnen (›serranas‹) führt. Hier steht die Erzählung in der Tradition der serranillas, von denen bereits die Rede war, und greift auch metrisch volkstümliche Formen auf. Auf dem Heimweg kehrt der Erzpriester dann in einem Marien-Wallfahrtsort ein und widmet der Gottesmutter zwei Passionsgedichte in der arabischen Strophenform des Zejel. Mit dem Thema der Passion ist eine Brücke der Semantik und der fiktionalen Zeit zum vierten Textteil geschlagen. Am Donnerstag vor Aschermittwoch empfängt der Protagonist (er heißt nun vorübergehend nicht mehr ›Juan Ruiz, Arcipreste de Hita‹, sondern ›Don Carnal‹) beim Essen einen Herausforderungsbrief von ›Doña Quaresma‹ zum Kampf. Die allegorischen Namen zeigen, dass es hier um den Widerstreit zwischen Fleischeslust (carnal) und Fasten (cuaresma) geht. Es folgen der Aufmarsch des aus Fleischspeisen aller Art rekrutierten Heers von Don Carnal, seine Niederlage gegen das Heer der die Fastenzeit konnotierenden Fischgerichte, die sich just am Aschermittwoch vollzieht, die Gefangennahme von Don Carnal, und seine Flucht, die ihn durch Regionen führt, die durch ihre Viehzucht berühmt sind, und in Städte mit großen jüdischen Gemeinden: nur hier kann er während der Fastenzeit Fleisch essen und überleben. Der Ostermorgen ist die Szenerie des triumphalen Auftritts von Don Amor, der jetzt die Protagonistenrolle einnimmt. Doch schon bald markiert das Wiedererscheinen des Protagonistennamens ›Arcipreste‹ und seiner Kupplerin den Beginn eines fünften Textteils, der als Reihung von Liebesabenteuern deutlich dem zweiten Textteil ähnelt. Seine Einheit ist diesmal aber nicht nur durch Vorgaben aus der Gelehrtenkultur fundiert, sondern ›volkssprachlich-gegenkulturell‹. Wir finden die Motive von der Meßgemeinde als Liebesmarkt, von der Liebe des Klerikers zu einer Nonne und des Christen zu einer Araberin. Diesen Episoden stehen gegenüber ein Katalog der idealen weiblichen Schönheitsattribute, ein Repertoire von mehr als vierzig Aphrodisiaka, eine Gegenüberstellung christlicher und arabischer Musikinstrumente. Mit dem Tod der Kupplerin finden die im zweiten Teil des Libro de buen amor aufgenommenen Variationen über das Liebesthema ein vorläufiges Ende. In seiner Doppelrolle als Sprachhandlungs-Subjekt und Protagonist der Erzählung widmet ihr der Arcipreste zwei Grabinschriften, in denen die beiden mittelalterlichen Erfahrungsweisen des Memento mori entfaltet werden: das für die Menschen unausweichliche Schicksal des Todes kann sowohl eine frenetische Steigerung des Diesseits-Genusses als auch Askese motivieren. Ähnlich heterogen wie der Einleitungsteil wirkt das Ende des Libro. Einer Aufzählung vielfacher Eigenschaften, welche ›Frauen von kleiner Gestalt‹ für die Liebe prädestinieren sollen, folgt der Lasterkatalog des tolpatschigen Dieners, der die Rolle von Trotaconventos übernommen. An neuerliche Anweisungen zur Rezeption schließt sich eine Textserie aus Liedern an. Der narrative Bogen des Libro de buen amor endet mit einer in ihrer Direktheit überraschenden Referenz aus der kastilischen Sittengeschichte des XIV. Jahrhunderts: in der Cántica de los clérigos de Talauera beklagen sich die Geistlichen über ein durch den Erzbischof von Toledo verhängtes Konkubinatsverbot. Tatsächlich ist ein solches Verbot auf einer in Toledo während der zwanziger Jahre des XIV. Jahrhunderts abgehaltenen Synode ausgesprochen worden - es war in Kastilien eine der ersten Maßnahmen zur Eindämmung des im Spätmittelalter sprichwörtlichen ›Sittenverfalls‹ der Priester.