Sex in der verbotenen Zone
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Sex in der verbotenen Zone
Peter Rutter Sex in der verbotenen Zone Wie Männer mit Macht das Vertrauen von Frauen mißbrauchen Aus dem Englischen übersetzt von Veronika Akerberg Arbor Verlag Freiamt im Schwarzwald Lassen Sie uns immer daran denken: Was Opfer am meisten schmerzt, ist nicht die Grausamkeit des Unterdrückers, sondern das Schweigen der Zuschauer. Elie Wiesel In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und jeder Schädigung und den Werken der Lust an den Leibern von Frauen und Männern, Freien und Sklaven. Aus dem hippokratischen Eid Copyright © der deutschen Ausgabe: 2002 by Arbor Verlag, Freiamt Copyright © 1989 by Peter Rutter Titel der amerikanischen Originalausgabe: „Sex in the Forbidden Zone“ 1 2 3 4 5 02 03 04 05 06 Auflage Erscheinungsjahr Korrektorat: Eva Bachmann Druck und Verarbeitung: Fuldaer Verlagsagentur Dieses Buch wurde auf holz-, chlor- und säurefreiem Papier gedruckt und ist alterungsbeständig. Alle Rechte vorbehalten www.arbor-verlag.de ISBN 3-924195-81-1 Inhalt Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Eine persönliche Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Darstellung des Themas: Terminologie, Statistiken und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sex in der verbotenen Zone: Die Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . . 27 33 1. Kapitel Beziehungen von unschätzbarem Wert: Der psychologische Kern der verbotenen Zone . . . . . . . . . . Unschätzbarer Wert für Frauen: Neue und unbegrenzte Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unschätzbarer Wert für Männer: Die Suche nach sexueller Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Männlicher Neid auf verbotenen Sex: Eine Erklärung für ihre Verschwiegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der männliche Mythos vom weiblichen Geschlecht: Unterwerfung, Sexualität und Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . . 51 54 59 64 66 7 2. Kapitel Wunden der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Physische und psychologische Überwältigung: Auf der Suche nach etwas anderem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tiefgreifende Einsamkeit: Das unerkannte innere Ich . . . . . . . . . Ausgebeutetes Mitleid: Die sexuelle Heilung von Männern . . . . . Vermindertes äußeres Wirkungsvermögen: Weiblichkeit, die sich gegen sich selbst richtet . . . . . . . . . . . . . . Die Schädigung durch sexuellen Betrug: Parallelen zu Vergewaltigung und Inzest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 76 78 82 84 88 3. Kapitel Wunden der Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Wunden durch die Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Wunden durch den Vater: Mangel an Intimität im Vater-Sohn-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . 102 Wunden durch die Mutter: Zu enge emotionale Bindung, Gefühlskälte, die Opferrolle . . . . . 106 4. Kapitel Frauen im verbotenen Bereich: Stationen getäuschter Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Hoffnungsphantasien: Innere Vorstellungen von Männern . . . . . Kontaktsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Bedürfnis, sich als etwas Besonderes zu empfinden . . . . . . . Enthüllung des weiblichen Kerns: Verwirrung zwischen erotischer und unerotischer Beziehung . . . . Aufhebung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 114 117 120 123 126 Widersprüchliche Gefühle zwischen Anziehung und Abscheu . . . 129 Der Moment der sexuellen Berührung: Ohnmacht in der Gefahr 130 »Ich muß ihn heilen«: Versuche, sich der Destruktivität anzupassen . . . . . . . . . . . . . . . 132 5. Kapitel Männer im verbotenen Bereich: Momentaufnahmen eines Mannes, der die Grenze überschreitet . . . . . . . . . . . . 135 Entwurf eines Porträts: Psychologische Momentaufnahmen vom Verhalten eines Mannes . . . . . . . . . . . 135 Die positive Seite der männlichen Psyche: Widersprüchliche Gefühle und Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . 151 6. Kapitel Eine Anleitung für Frauen: Beachtung der sexuellen Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 Erkennen der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überwachung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gestaltung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verteidigung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Weshalb kann ich mich nicht wehren? Eine Zusammenfassung der psychologischen Fallen . . . . . . . . . . In Wut geraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Anleitung für Frauen als Mütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 159 161 164 170 171 174 9 7. Kapitel Eine Anleitung für Männer: Frauen auf neue Art begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Wenn Sie im Begriff sind, die Grenze zu überschreiten: Halten Sie an, und lassen Sie sich helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn Sie die Grenze übertreten haben: Wie können Sie Schadenersatz leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wenn Sie die Grenze nicht übertreten haben: Seien Sie ehrlich zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine Anleitung für Männer als Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 184 186 188 Der heilende Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Epilog von Katharina Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Nachwort von Sylvia Wetzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 10 Danksagungen I mmerwährenden Dank an Donald Sander, John Bebe, Spiro Kostof, Jean Bolen, Jonathan Harris, Joel Braziller, Robert Caserio, Lynn Franco, Margaret Skinner, John Steiner, Richard Hutson, Dennis Turner und William McGuire, weil sie mich zu Beginn dieses Projekts ermutigt und während der Arbeit daran immer mit wertvollen Ratschlägen unterstützt haben. An Gamille LeGrand, Loren Pedersen, Teresa Bernardez, Jeffrey Kottler, Jane Vinson, Nadine Taub, Cani Lenahan und Gary Schoener, die mir durch ihre eigenen Arbeiten Mut gemacht haben. An Jean Nagger, meinen Literaturagenten, dafür, daß er stets für mich da war. An meinen Herausgeber, Connie Zweig, der eine alchimistische »sonor mystica« wurde, und an meinen Verleger, Jeremy Tarcher, den als symbolischer Vater eine verläßliche Quelle der Hilfe und Hoffnung war. Aber am meisten Dank an meine Frau, Virginia Beane Rutter, und an unsere Kinder für ihre Geduld und ihre Liebe. 11 Eine persönliche Anmerkung V or zwanzig Jahren begann ich meine psychiatrische Praxis mit der festen Überzeugung, daß Sex mit Patienten überhaupt kein Thema wäre. Ich vertraute in meiner Naivität darauf, daß unüberwindbare sexuelle Barrieren, wie es sie seit Hippokrates seit fast 2500 Jahren gibt, die Grundvoraussetzung für die Beziehung zwischen Arzt und Patienten bestimmen. Ich ging davon aus, daß jeder in meiner Berufsgruppe diese unsichtbaren Grenzen einhält. Die wenigen Ärzte und Therapeuten, von denen ich wußte, daß sie sexuelle Beziehungen zu Patienten hatten, gehörten für mich in den Randbezirk der Kriminellen oder Geistesgestörten. So der Chirurg, der seine Patientinnen sexuell mißbrauchte, nachdem er sie anästhesiert hatte, oder der Therapeut, der eine Selbsthilfegruppe gründete – für Frauen, die bereit waren, seine Sexualpartner zu sein. Es dauerte fast zehn Jahre, bis ich aufhörte, an den Mythos vom guten Onkel Doktor zu glauben. Statt dessen fand ich heraus, daß sexuelle Ausbeutung von Frauen durch Männer, in deren Behandlung sie waren oder unter deren Leitung sie arbeiteten, nicht ungewöhnlich, sondern tatsächlich eher normal war. Darüber hinaus stellte ich ein bemerkenswert ähnliches Verhaltensmuster auch bei Geistlichen, Anwälten, Lehrern und Ausbildern fest. Jede Position, in der Frauen sich physisch oder psychisch Männern anvertrauen, birgt die Gefahr, daß sich das Abhängigkeitsverhältnis in einen Bereich ausweitet, der unüberschaubar und unkontrollierbar ist. Ich fand heraus, daß Männer, die sexuelle Beziehungen zu ihren Patientinnen, Mandantinnen, Gemeindemitgliedern, Studentinnen oder Schützlingen haben, nicht zu der Minderheit gehören, die gele- 13 gentlich Schlagzeilen macht; vielmehr handelt es sich um fähige Professoren, bewunderte Führer der Gemeinde und respektierte Fami-ienväter, die wir normalerweise selbstverständlich für integer halten. Heute weiß ich, daß sexueller Mißbrauch von Vertrauen eine Epidemie ist, ein bedeutendes Problem, das ein weiteres Mißverhältnis in der Chancengleichheit zwischen Mann und Frau darstellt. Daß sich meine Ansicht so radikal veränderte, ist auf zwei Episoden zurückzuführen. Die erste ist eine Liaison, in die ich fast mit einer Patientin hineingeraten wäre. Dieses Erlebnis zwang mich dazu, meine eigene verborgene Sehnsucht nach einer solchen verbotenen Affäre zu erkennen. Es machte mir deutlich, wie es dazu kommen kann, daß selbst moralisch integere Männer die sexuellen Fehltritte weniger lauterer Kollegen heimlich entschuldigen. Den zweiten Anstoß zum Umdenken gab mir ein Psychiater, der mein Mentor und Vorbild gewesen war und der, wie ich herausfand, mehrere Jahre hindurch sexuelle Beziehungen zu vielen seiner Patientinnen unterhalten hatte. Diese Erkenntnis erschütterte mich so sehr, daß ich mich dazu gezwungen sah, mein Verständnis der Realität zu überprüfen, indem ich das Problem so gründlich wie möglich durchleuchtete. Aus dieser Untersuchung resultieren Antworten, die Aufschluß darüber geben, warum so viele Männer und Frauen in diese komplizierten sexuellen Beziehungen hineingeraten. Meine Begegnung mit Mia Meine »Beinahe-Affäre« begann plötzlich und völlig unerwartet in dem geschlossenen Zimmer meiner psychiatrischen Praxis. Ich fühlte, wie die psychologischen Barrieren, die mich vor verbotenem Sex geschützt hatten, zusammenbrachen. Das geschah an einem dunklen, regnerischen Abend Anfang Dezember, als eine Patientin, die ich Mia nennen werde, zu unserem Termin mit der unausgesprochenen, ungeplanten, aber äußerst überwältigenden Absicht erschien, sich mir sexuell anzubieten. Mia war eine hochgewachsene, dunkelhaarige, fünfundzwanzig Jahre alte Frau, deren leuchtendfarbige Kleidung und zur Schau gestellte Dynamik eine schwere, chronische Depression maskierten. 14 Obwohl ihr bisheriges Leben ihr nur Entbehrungen und Verluste gebracht hatte, hatte sie die Hoffnung auf Glück noch nicht aufgegeben. Ihre Eltern waren nach wiederholten Anfällen von Depressionen und Alkoholismus kurz vorher verstorben; und sie hatte einen älteren Bruder, mit dem sie verschwommene Erinnerungen an sexuelle Belästigungen verband. Nachdem sie als Teenager auf die Straße gegangen und in die Drogenszene abgerutscht war, versuchte Mia nun, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie war nicht mehr süchtig, arbeitete als Empfangsdame bei einem Schönheitschirurgen und begann, Interesse für Psychologie zu entwickeln. Während der fünf Monate Therapie hatten Mia und ich ihr Verhaltensmuster herausgefunden, nach dem sie dazu neigte, mit Männern schnell sexuell intim zu werden, weil sie befürchtete, daß diese sonst das Interesse an ihr verlieren würden. Trotzdem hatte sie sich mir gegenüber nie verführerisch verhalten. An diesem Abend jedoch spürte ich, daß sich ihre Sexualität auf mich richtete, und dies mit einer Intensität, wie ich sie in meiner siebenjährigen Praxis als Psychiater niemals auch nur annähernd so stark erlebt hatte. Mia ging zum Patientenstuhl, aber da blieb sie nicht. Während sie mir weinend von einer demütigenden Abfuhr durch einen Mann erzählte, mit dem sie am Abend zuvor verabredet gewesen war, ließ sie sich langsam vom Stuhl auf den Fußboden gleiten und setzte sich mit überkreuzten Beinen vor mich hin. Die erotisch herausfordernde Art ihres Benehmens steigerte sich, als sie mich flehentlich ansah. Unter Tränen wollte sie wissen, ob Männer sie immer nur benutzen und dann wegwerfen würden. In dem verzweifelten Bedürfnis nach Trost begann Mia, sich mir allmählich zu nähern. Sie streifte meine Beine mit ihren Brüsten und vergrub ihren Kopf in meinem Schoß. Die Wahrscheinlichkeit, daß ich in dieser sexuellen Szenerie mitwirken würde, war um so größer, als ich in meinem Privatleben Verluste gehabt hatte und den Winter hindurch ziemlich deprimiert gewesen war. An diesem Abend erwartete mich nichts außer einem leeren Haus, in dem ich alleine lebte. Mia war die letzte Patientin auf meinem Terminkalender. Draußen war es schon lange dunkel geworden, während wir in meiner warmen Praxis saßen und den kalten Regen prasseln hörten. Ich wußte, daß wir die letzten waren, die sich noch in diesem Bürogebäude aufhielten. 15 Durch meine berufliche Erfahrung war ich in keiner Weise auf diesen Moment vorbereitet. Als Mia sich mir weiter näherte, saß ich wie erstarrt da; ich ermutigte sie nicht, aber ich wies sie auch nicht ab. Eine berauschende Mischung von Gefühlen zeitloser Freiheit und erregender Gefahr befiel mich, wie sie Männer bei verbotenen sexuellen Spielen empfinden. Die Freiheit beruht auf der Illusion in solchen Momenten, in denen ein Mann sich einreden kann, daß nichts mehr zählt – nur die sexuelle Verschmelzung mit dem weiblichen Körper und Geist. Er verschließt sich gegenüber Vergangenheit und Zukunft und denkt weder über seine Motivation noch die Konsequenzen seines Handelns nach. In diesem Moment, als ich mich entscheiden mußte, die Grenze zu überschreiten oder nicht, fühlte ich mich außerordentlich stark und gleichzeitig sehr, sehr verwundbar. Eine andere Seite von mir blieb völlig unberührt von dieser Szene. Ein Teil von mir versuchte zu verstehen, was in Mia vorging, und bemühte sich, einen Weg zu finden, ihr zu helfen. Dieser Teil von mir selbst wußte, daß eine sexuelle Verbindung absolut verboten und unmöglich war. Ich wußte, wenn ich gar nichts täte, würde ich Mia einfach erlauben, mich auf eine Art und Weise zu berühren, die sicher sexuell sein würde. Ich hätte passiv auf ihre Absicht eingehen, hätte meine eigene Depression ihre widerspiegeln lassen und uns damit erlauben können, gemeinsam verwundete Patienten zu sein. Als gut trainiertes Opfer würde Mia es wahrscheinlich ablehnen, mein sexuelles Verhalten als Mißhandlung anzusehen; falls ich ihr erklären würde, daß sexueller Kontakt ein legitimer Bestandteil der Therapie sei, würde sie das glauben, oder sie würde mit mir zusammenwirken und hinterher vorgeben, daß nie etwas vorgefallen sei. In jedem Fall war es äußerst unwahrscheinlich, daß ich mich jemals anderen gegenüber rechtfertigen müßte. In diesem Moment faßte ich einen Entschluß; ich sagte Mia, sie solle zu ihrem Stuhl zurückkehren. Sie tat es, ohne zu zögern. Von unseren eigenen Stühlen aus konnten wir nun die therapeutische Untersuchung durchführen, warum sie sich bei ihrer verzweifelten Suche nach Wärme und Trost immer wieder Männern anbietet. Da ich mich von ihr nicht hatte verführen lassen, konnten wir darüber 16 sprechen. Schließlich hatte Mia nichts anderes getan, als mir ihr selbstzerstörerisches Verhalten erklärt – auf die einzige Art, die sie kannte: Indem sie es mir in diesem Zimmer vorführte. Während dieser Episode wurde mir klar, daß ich sie – wie andere es getan hatten – zum Opfer machen oder ihr helfen konnte, einen neuen Weg zu finden. In diesem kritischen Moment lag es ganz allein an mir, den richtigen Weg zu weisen. Ich mußte die typisch männlichen Komponenten meiner Sexualität unterdrücken, die nur zu bereit waren, Mias selbstzerstörerisches Angebot zu akzeptieren. Ich erschaudere noch, wenn ich daran denke, wie nahe ich daran gewesen war, uns beiden zu schaden. Diese Erfahrung zeigte mir unmittelbar, wie leidenschaftlich und zersetzend die erotische Atmosphäre in einer Beziehung werden kann, in der der Mann Einfluß auf die Frau hat, die ihm Vertrauen und Hoffnung entgegenbringt. Jegliche Illusion, daß ich gegen diese verführerische Intensität immun sei, war vorbei. Mir wurde plötzlich klar, daß Sex mit Patienten durchaus nicht unmöglich war. Vielmehr war die Vorstellung nicht nur möglich, sondern sehr viel verlockender, als ich mir bis dahin eingestanden hatte. Die Verlockung des Verbotenen ist nicht nur ein zentrales Thema dieses Buches, sondern auch der Psychologie männlicher Sexualität. Sie ist in der Praxis des Therapeuten und jeder Vertrauensbeziehung vorhanden, in der ein Mann Einfluß auf die intimen Sehnsüchte einer Frau hat. Tag für Tag sitzen wir Männer unter vier Augen mit Frauen zusammen, die uns vertrauen, uns bewundern und sich auf uns verlassen; dadurch entsteht der zunehmende Drang nach größerer Intimität. Geschäftsleute reisen mit ihren weiblichen Untergebenen, verbringen viele Stunden zusammen in Flugzeugen und nebeneinanderliegenden Hotelzimmern in weit entfernten Städten. Frauen, die ihre Anwälte aufsuchen, offenbaren ihnen – besonders in Scheidungs- und Sorgerechtsfällen – meistens die intimsten Details ihres Lebens. Lehrer an Oberschulen, Colleges oder an Universitäten können das Vertrauen von Frauen durch ihre Fähigkeit erwerben, diese Frauen in ihrer intellektuellen, beruflichen oder geistigen Entwicklung zu fördern. Ein Arzt hat sofortigen Zugang zu dem unbekleideten Körper 17 einer Frau. Wenn eine Frau einen Arzt aufsucht, überläßt sie ihm ihr physisches Sein mit dem, was sie psychisch durch ihren Körper empfindet. Therapeuten und Geistliche veranlassen Frauen, die von ihnen betreut werden, sexuelle und andere Geheimnisse mit ihnen zu teilen; Geheimnisse, die sie sonst niemandem verraten würden. Diese Frauen gehen auf unsere Einladungen zur Intimität ein und lassen uns an ihren lange verborgenen Gefühlen und Träumen teilhaben – und wecken dadurch unsere eigenen uneingestandenen, verborgenen Sehnsüchte und Phantasien. So, wie sich die Frau in einer vertrauensvollen Beziehung von dem einflußreichen Mann Hilfe verspricht, so beginnt der Mann, die Frau als eine Quelle für seine eigene Heilung zu betrachten. Für mich und alle Männer mit Einfluß kann sie leicht die sympathische, verwundete, verletzliche Frau werden, die uns in besonders femininer Weise bewundert und benötigt. Wenn wir eine Zeitlang zusammengearbeitet haben, entwickeln sich Verbundenheit und Vertrauen zwischen uns, die die Barrieren in der scheinbar unpersönlichen beruflichen Beziehung aufweichen. Ob sie es offen zum Ausdruck bringen oder nicht, vermitteln uns diese Frauen oft das Gefühl, daß wir sie viel besser behandeln, als sie sich das jemals von einem Mann erträumt hätten. Unter diesen Umständen durchfluten uns sexuelle Vorstellungen. Die Vorschrift, die sexuelle Kontakte mit diesen Frauen verbietet, verliert ihre Wirkung. Wir sehnen uns danach, unsere Gefühle zu befreien. Nichts scheint in solchen Momenten verlockender, als die unsichtbaren Grenzen zu überschreiten und mit der Frau in gemeinsamer Leidenschaft zu verschmelzen. Aber jedesmal, wenn ich mich mit sexuellen Phantasien um eine Patientin beschäftigt fand, entdeckte ich – wie an dem Abend mit Mia –, daß mich etwas zurückhielt, nicht nur die Vorschrift, sondern auch das Gefühl, daß etwas Wertvolles zerstört werden würde, wenn ich die Grenze überträte. Trotzdem habe ich immer noch zwiespältige Empfindungen, wie sie fast alle meine Kollegen haben. Egal, wie gut ich gelernt habe, sexuelle Spannungen zu erkennen und auf therapeutische, unphysische Art mit ihnen umzugehen, manchmal übermannt mich die verführerische Intensität meiner Arbeit. Und obwohl ich jetzt weiß, was 18 ich gegen die Anfechtung tun muß, muß ich mir jedesmal bewußt in Erinnerung rufen, warum ich der Versuchung widerstehen muß, mich einfach von meinem Stuhl zu erheben, die kurze Entfernung zu meiner Patientin zurückzulegen und die Frau zu umarmen. Verrat durch meinen Mentor Die zweite Episode, die mich dazu veranlaßt hat, dieses Buch zu schreiben, war die schmerzhafte Entdeckung, daß der Mann, der die besten Qualitäten eines Lehrers und Therapeuten in sich zu vereinigen schien, wiederholt sexuelle Beziehungen zu seinen Patientinnen unterhalten hat. Dr. Edward Reynolds (wie ich ihn nennen werde) schien die Verkörperung des altruistischen, engagierten Psychotherapeuten zu sein. Dieser distinguierte, dunkelhaarige Mann von Ende Vierzig hatte eine vornehm zurückhaltende und ruhige, aufgeschlossene Art, die ihn weise und zugänglich für Psychotherapeuten in der Ausbildung erscheinen ließ; man konnte sich vorstellen, daß er auf Patienten ähnlich wirkte. Er schien ein besonders selbstloser Mann zu sein, da er bereit war, Patienten zu behandeln, die kein Geld hatten oder die von anderen als unheilbar angesehen wurden. Ich war einer der vielen jungen Therapeuten, die in ihm das besonders wertvolle Vorbild sahen, die Art der seltenen Lehrer, die die äußere und innere Entwicklung ihrer Schüler fördern. Auf der äußeren, praktischen Ebene lehrte er uns besondere Fachkenntnisse der Psychotherapie, auf der inneren Ebene half er uns, unseren persönlichen Sinn für ethisches und kreatives Engagement bei unserer Tätigkeit zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund der Bewunderung hörte ich das erstemal das Gerücht, daß Dr. Reynolds sexuelle Beziehungen zu Patientinnen gehabt hätte. Ich erinnere mich genau, wie absurd mir der Gedanke schien, Dr. Reynolds habe Geschlechtsverkehr mit Patientinnen. Er war ein Mann, der uns gegenüber die höchsten humanen Werte unseres Berufes artikulierte. Niemand wußte besser als er, daß sexueller Kontakt mit Patientinnen überhaupt nicht in Frage kam, weil es ein eindeutiger Mißbrauch des Einflusses wäre und großen Schaden verursachen würde. Er würde niemals seine Wertbegriffe und all das, was er uns über die Kunst des Heilens gelehrt hatte, verraten. 19 Aber ich war überrascht, neben meinem Unglauben gleichzeitig die Gewißheit zu entdecken, daß das, was ich gehört hatte, wahr sein müsse. Jedenfalls war es schließlich soweit, daß ich mir sagen mußte: »Natürlich schläft er mit seinen Patientinnen. Ich habe absolut keinen Zweifel. Das ist klar und folgerichtig. Das erklärt sein Verhalten und das Empfinden, das ich manchmal in seiner Gegenwart hatte.« Wenn wir auf den Teil von uns selbst hören, der es nicht nötig hat, die Wahrheit zu verdrängen, können wir manche Zusammenhänge klar erkennen. Aber es gibt enorme Zwänge von außen, die unsere Intuition abwerten. Als ich in diesem Fall meine innere Stimme vernahm, weigerte ich mich hinzuhören; es war einfach zu bedrohend. Ohne mir darüber klar zu sein, mußte ich das Bild des »guten Vaters« aufrechterhalten. Es dauerte fünf Jahre, bis ich und die meisten meiner Kollegen die Wahrheit akzeptiert hatten. In der Zwischenzeit – stillschweigend geschützt durch unsere Inaktivität – fuhr Dr. Reynolds fort, sexuelle Beziehungen zu Patientinnen zu unterhalten und Schaden anzurichten. Nachdem einige Patientinnen Beschwerden über sexuellen Missbrauch eingelegt hatten, konnten wir uns der Tatsache nicht länger verschließen: Wir entschlossen uns, Dr. Reynolds aus unserem Berufsverband auszuschließen. Ich verstand nicht, warum keiner von uns den Mann zur Rechenschaft gezogen hat, warum wir so lange gewartet hatten, und mir wurde klar, daß es viel schwieriger ist zu erklären, warum Opfer und Mitwisser so oft schweigen, als zu verstehen, daß es immer Männer geben wird, die das Vertrauen einer Frau ausnutzen. Nach dieser Erkenntnis stellte ich mir selbst die Aufgabe, die Rolle zu untersuchen, die jeder von uns in dieser schweigenden Verschwörung spielt. Zunächst suchte ich in mir selbst nach Antworten. Ich wußte bereits, daß ich starke Phantasien über sexuelle Kontakte mit Patientinnen haben konnte. Ich wußte auch, daß ich Dr. Reynolds noch idealisiert hatte, als ich das schon lange nicht mehr hätte tun dürfen. Als ich erneut versuchte, mir zu erklären, weshalb ich seine sexuellen Ausschweifungen vor mir selbst verleugnet hatte, stieß ich auf eine dunklere Seite der männlichen Psyche. Ich erkannte, daß sich immer, wenn ich über seine verbotenen Beziehungen nachdachte, hin- 20 ter meiner Empörung heimlich Eifersucht verbarg. Ich wünschte, ich könnte tun, was er getan hatte. Ich fühlte mich ziemlich allein, als ich diese geheimen Gedanken aus meinem Unterbewußtsein grub, die so sehr im Kontrast zur Ethik meines Berufes standen. Aber nachdem ich mich dazu gezwungen hatte, dieses Thema mit meinen männlichen Freunden und Kollegen zu besprechen, stellte ich fest, daß auch die anderen ähnliche Gefühle und Gedanken hatten. Im Laufe der Jahre gab jeder der mehreren hundert Männer, mit denen ich über das Thema gesprochen hatte, zu, daß er manchmal die sexuellen Ausschweifungen anderer beneidete. Der belastende Umstand, daß so viele Männer ähnliche sexuelle Phantasien hatten, sollte sich als das Hauptmotiv für die Erklärung erweisen, weshalb selbst ethisch empfindende Männer schweigen, wenn sie von dem sexuell ausbeuterischen Verhalten eines Kollegen hören. Der verbotene Bereich: Überall und nirgends Die Frage, weshalb angesehene Männer mit Einfluß Frauen wiederholt so leicht ausnutzen können, ohne je entdeckt zu werden, verstörte und faszinierte mich zugleich. Ich fühlte, ich müsse soviel wie irgend möglich darüber in Erfahrung bringen, wie und warum so etwas geschieht und wie Frauen empfinden, wenn sie sexuelle Beziehungen mit ihren Ärzten, Lehrern oder Therapeuten haben, und was die sozialen und kulturellen Beweggründe für dieses Problem sind. Ich lenkte meine Untersuchungen über dieses Thema nicht mehr auf meine eigenen Gefühle, sondern auf die allgemeinen Umstände. In diesem Stadium prägte ich den Begriff der »verbotenen Zone«, um sexuelle Kontakte, die sich in professionellen Vertrauensbeziehungen abspielen, zu beschreiben. Ich entdeckte, daß Sex in der verbotenen Zone in einem gewissen Sinne gleichzeitig überall und nirgends vorkommt. Das Thema wird von der Fachliteratur ausgeklammert (ein Sachverhalt, auf den ich im nächsten Abschnitt näher eingehen werde, als Symptom dafür, wie sehr unsere Gesellschaft bemüht ist, das Problem sexuellen Fehlverhaltens von einflußreichen Männern zu leugnen). Als ich jedoch begann, mit anderen darüber zu sprechen – mit Freunden, Bekannten, Kollegen und Patienten –, fand 21 ich heraus, daß Sex im verbotenen Bereich überall zu finden ist, insbesondere in der Erfahrung von Frauen. Bemerkenswerterweise zögerten die Frauen keinesfalls, wenn sie gebeten wurden, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Fast achtzig Prozent der Frauen, mit denen ich sprach, hatten erlebt, daß ein Mann, der ihr Arzt, Therapeut, Pastor, Anwalt oder Lehrer war, sich ihnen sexuell genähert hatte. In etwa der Hälfte der Fälle war es zu einer wirklichen sexuellen Beziehung mit verheerenden Folgen gekommen. Diejenigen, von denen nicht die Initiative ausgegangen war, berichteten, wie empört, verwirrt oder angewidert sie von den erotischen Anzüglichkeiten der Männer gewesen waren. Die zwanzig Prozent der Frauen, denen so etwas noch nie passiert war, hatten Freundinnen, die solche Erfahrungen gemacht hatten. Sex in der verbotenen Zone ist nicht etwa ein Problem, dem nur besonders empfängliche Frauen ausgeliefert sind. Die Opfer lassen sich nicht eingrenzen und auf eine bestimmte Gruppe festlegen. Bei Gesprächen mit Rechtsanwältinnen und Therapeutinnen wurde mir klar, daß die Frauen, die mißbraucht werden, aus allen Berufen und Ständen kommen. Genausowenig, wie es nur die Männer mit geringen Prinzipien sind, die sich hinreißen lassen, sind es auch nicht nur die psychisch labilen Frauen, die darauf eingehen. Obwohl ich einige Untersuchungen ansprechen werde, in denen versucht wurde, das Problem in Statistiken zu erfassen, ist dies ein Thema, dessen Ausmaß sich bisher einer statistischen Analyse entzieht. Frauen, die an verbotenem Sex teilgenommen haben, neigen dazu, sich zu sehr zu schämen oder zu ängstlich zu sein, um es öffentlich zuzugeben, und der Prozentsatz von Männern, die bereit sind, ihr eigenes sexuelles Fehlverhalten einzugestehen, ist verschwindend gering. Glücklicherweise gibt es einen anderen, viel einfacheren Weg, die Realität einzuschätzen – nämlich »herumfragen«. Probieren Sie es aus – Sie werden eine Geschichte nach der anderen zu hören bekommen, und Sie werden erkennen, daß sexuelle Ausbeutung in professionellen Verbindungen eine Epidemie in unserer Gesellschaft ist. Ich entdeckte bei meinen Gesprächen mit Betroffenen nicht nur, wie sehr das Problem verbreitet ist, sondern auch ein interessantes Verhaltensmuster. Zunächst untersuchte ich nur sexuelle Beziehungen zwischen Therapeuten und Patientinnen. In diesem Bereich kannte ich mich am 22 besten aus, in ihm hatte ich die eigene Erfahrung mit meiner Patientin Mia gemacht und die Enttäuschung durch meinen Mentor erlebt. Ich wollte von den Frauen die psychologischen Motive erfahren, die zu Verbindungen geführt hatten, und daraufhin erzählten mir viele von ihnen von weiteren Beziehungen zu Geistlichen, Rechtsanwälten oder Lehrern; Beziehungen, in denen sie auch gefühlt hatten, daß ihr Vertrauen auf eine Weise mißbraucht worden war, die der zwischen Therapeuten und Patientinnen sehr ähnlich schien. Das Muster sexuellen Mißbrauchs von Vertrauen wurde immer deutlicher, als einige Frauen mir sagten, daß sie sich dieser Art von sexuellem Druck auch im Berufsleben ausgesetzt fühlten. In der Arbeitswelt hatte ich dieses Verhaltensmuster nicht erwartet. Sexuelle Belästigung ist etwas anderes als Sex im verbotenen Bereich, weil nicht notwendigerweise ein spezielles Vertrauensverhältnis existiert. Mittelpunkt meiner Untersuchung war jedoch die vertrauensvolle Beziehung, die durch sexuelles Fehlverhalten gestört wird. In den Gesprächen mit den betroffenen Frauen wurde mir dann allerdings bewußt, daß es durchaus ein spezielles Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Angestellten geben kann, ein Verhältnis, in dem sich die Frau dem Mann anvertraut – und dadurch praktisch ausliefert, besonders wenn ihre weitere berufliche Entwicklung von ihm abhängig ist. Je mehr Frauen anspruchsvolle Positionen im Berufsleben einnehmen, desto akuter wird das Problem. Es muß in seiner ihm zugrundeliegenden Psychologie erkannt und verstanden werden. Ich begann zu sehen, daß das, was ich Sex in der verbotenen Zone nannte, unter verschiedenen Bezeichnungen in der Öffentlichkeit immer schon großes Interesse gefunden hatte, zum Beispiel sexuelles Fehlverhalten von Geistlichen und Politikern – berühmte und unbekannte. Ob es sich um einen örtlichen Geistlichen handelte, der einen Verweis erhielt oder entlassen wurde, weil er mit einem Mitglied seiner Gemeinde sexuelle Beziehungen gehabt hatte, oder um spektakuläre sexuelle Ausbeutung durch große geistige oder religiöse Führer – in all diesen Fällen klang die zugrundeliegende Triebkraft für den Mißbrauch bemerkenswert ähnlich. Das Ereignis mit der stärksten Wirkung in unserer politischen Geschichte war die Offenlegung der Beziehung Gary Hart/Donna Rice, weil sie die Kandidatur eines Mannes beendete, der gute 23 Aussichten hatte, Präsident zu werden. Wir wissen nicht, ob Gary Hart Donna Rices Vertrauen mißbraucht hat, da wir keine Informationen über die psychologischen Umstände ihres Zusammentreffens haben. Wir wissen jedoch, daß Senator Hart als charismatische nationale Erscheinung gegenüber Donna Rice über enorme persönliche Macht verfügte und daß er die Affäre beendete, als sie bekannt wurde. Auch wenn Donna Rice sich nicht als Opfer betrachten sollte, ist sie ein Symbol für die Frau, die von einem einflußreichen Mann sexuell benutzt wird, bis sie nicht mehr in sein Programm paßt und aus seinem Leben verschwinden muß. Ob er ihr Vertrauen mißbraucht hat oder nicht, wir wissen, daß Senator Hart unseres verraten hat. Sosehr wir uns an die Vorstellung gewöhnen mögen, daß einflußreiche Männer ein geheimes Sexualleben haben, so erwarten wir doch Besseres von ihnen, und wir fühlen uns verraten, weil unsere Erwartungen enttäuscht wurden. Obwohl Präsident John F. Kennedy sein sexuelles Doppelleben erfolgreich vor der Öffentlichkeit verbarg, als er im Amt war, haben viele Leute ihre Meinung über ihn geändert, nachdem sein Privatleben gründlicher untersucht worden ist. Durch die Massenmedien und durch meine umfangreichen Untersuchungen erhielt ich mehr und mehr Beweismaterial über sexuelle Ausbeutung durch einflußreiche Männer; einiges durch das Phänomen der Das-weiß-doch-jeder-Geschichten. Wenn die Leute eine gewisse Schwelle zu einem Thema überwunden haben, das bisher tabu war, kann eine dramatische Veränderung zur Offenheit eintreten. Ganz plötzlich begann ich, Dinge zu hören wie: »Jeder weiß, daß Rechtsanwälte, die sich mit Scheidungen befassen, dafür bekannt sind, daß sie sexuelle Verbindungen mit ihren Mandantinnen eingehen.« Und: »Als ich Psychologie studierte, wußte jeder, daß die Studentinnen mit ihren Doktorvätern schliefen.« Das Das-weiß-doch-jeder-Phänomen machte manchmal auf jemanden aufmerksam, von dem »jeder wußte«, daß er mit seinen Patientinnen (Mandantinnen oder Studentinnen) Geschlechtsverkehr hatte. Diese Phase meiner Studien war ein willkommener und konstruktiver Ausgleich zu der gepflegten Verschwiegenheit, der ich bis dahin begegnet war. Diese plötzliche Flut von Informationen enthüllte, daß 24 sich hinter unserer Verleugnung eine ganze Menge Wissen über verbotenen Sex verbirgt und daß es befreiend ist, zu erfahren, daß andere begonnen haben, darüber zu sprechen. Obwohl diese »allgemein bekannten« Informationen auch irreführende Gerüchte sein können, sind sie doch viel öfter noch Untertreibungen. Schließlich begann ich während meiner Untersuchungen, die Männer und Frauen gründlich und detailliert zu befragen; ihre persönlichen Berichte über Sex im verbotenen Bereich bilden eine wichtige Informationsgrundlage für dieses Buch. Während ich ihnen zuhörte, zweifelte ich keinen Moment an dem Wahrheitsgehalt dieser persönlichen Geschichten. Ich führte keine strukturierten Interviews mit vorbereiteten Fragen und Informationskategorien. Ich redete einfach mit diesen Männern und Frauen, oft viele Stunden lang. Einige Interviews erfolgten per Ferngespräch, und ich habe einige der Leute, die von ihren leidvollen Erfahrungen berichteten, nie persönlich kennengelernt. Für viele meiner Gesprächspartner war es eine neue Erfahrung, über ihre sexuellen Beziehungen im verbotenen Bereich zu reden. Und viele hatten ihre Erlebnisse auch noch gar nicht verarbeitet. Traurigerweise waren die meisten dieser Frauen erstaunt zu entdecken, wie tiefgreifend destruktiv diese Erfahrungen für sie gewesen waren, egal, ob sie sie vor einem oder vor zwanzig Jahren erlebt hatten. Sie haben mich alle tief berührt. Ich lernte mehr über sexuelle Ausbeutung, als ich erwartet hatte, und entdeckte sie in Bereichen, an die ich gar nicht gedacht hatte. Das Schlüsselelement, wie ein einflußreicher Mann das Vertrauen einer Frau sexuell mißbraucht, schien dagegen identisch zu sein, ganz gleich, um wen es sich handelte, einen Arzt, einen Psychiater, einen Psychologen, einen Therapeuten, Professor, Mentor, Pastor, Pfarrer, Rabbi oder Guru. Die Schwierigkeit, die eine Frau hat, sexuellen Kontakt in all diesen Beziehungen abzulehnen, schien mir sehr artverwandt. Alle verbotenen Liebschaften spielten sich in einer Atmosphäre der erzwungenen Verschwiegenheit ab, die nicht nur von den direkt beteiligten Männern und Frauen, sondern auch von Zeugen stillschweigend gebilligt wurde. Ich wußte das, denn ich war auch so ein stummer Zeuge gewesen. 25 Vorwort Darstellung des Themas: Terminologie, Statistiken und Quellen D ieses Buch handelt davon, warum Männer und Frauen große Schwierigkeiten haben, Sexualität aus Beziehungen herauszuhalten, in die sie nicht gehört, und darüber, weshalb Phantasien über sexuellen Kontakt mit verbotenen Partnern so reizvoll sind. Es basiert auf meiner Erfahrung als Psychiater mit der gefährlichen Mischung von Sexualität und Einfluß, die entsteht, wenn sich Frauen hinter geschlossenen Türen ihrem Arzt, Psychotherapeuten, Geistlichen, Anwalt, Lehrer oder Mentor anvertrauen. Obwohl solche Beziehungen anderen Zielen dienen sollen, werden sie oft äußerst erotisch, indem sie in dem einflußreichen Mann berauschende Phantasien über sexuelle Vereinigung mit der Frau hervorrufen, deren Vertrauen er hat; oder in beiden. Trotz der Tatsache, daß diese Männer moralische, rechtliche und ethische Verantwortung tragen, gibt es eine weitgehend verdeckte Epidemie sexueller Ausbeutung. Männliche und weibliche Leser werden erkennen, daß die Lektionen über die verbotene Zone sich über den professionellen Bereich eines Praxiszimmers hinaus auf die verschiedensten Bereiche des täglichen Lebens, wo Frauen mit Männern umgehen, anwenden lassen. Darüber hinaus sollte diese Beschreibung über Sex im verbotenen Bereich neue Einsichten über verwandte Probleme fördern, solche wie Vergewaltigung, Inzest, Kindesverführung, sexuelle Belästigung, Ehebruch und sexuelle Süchtigkeit. Diesem Buch liegen psychologische und gesellschaftliche Perspektiven über Sexualität zugrunde, um das große Ausmaß der sozialen 27 Kräfte zu zeigen, die Männer und Frauen veranlassen, Mißbrauch zu betreiben. Obwohl Frauen die offensichtlichen Opfer der Ausbeutung im verbotenen Bereich sind, können auch einflußreiche Männer sich durch den destruktiven Ausdruck ihrer Sexualität selbst zum Opfer machen, indem sie die verborgenen Wunden, die ihrem unangebrachten sexuellen Verhalten zugrunde liegen, nicht beachten. Der Schaden, der durch den Vertrauensbruch in und außerhalb der verbotenen Zone verursacht wird, ist gravierend. Der verbotene Bereich, der in diesem Buch definiert ist, ist derjenige von einflußreichen Männern, die Frauen ausbeuten. Obwohl auch einflußreiche Frauen Männer ausbeuten können und obwohl Männer und Frauen homosexuelle Ausbeutung betreiben, machen derartige Situationen nur einen kleinen Prozentsatz professionellen Mißbrauchs aus. In gewisser Weise berührt und verletzt Sex im verbotenen Bereich uns alle. Frauen sind daran gewöhnt, die Opfer zu sein; sie stellen immer wieder fest, daß wenige Beziehungen zu Männern frei von sexuellen Ansprüchen sind. Selbst wenn es nicht zu einer sexuellen Beziehung kommt, ist die Frau unterschwellig fast immer dem Druck ausgesetzt. Wenn dieser Mann ihr wichtig ist, wird sie versuchen, das sexuelle Element zu übersehen, oder sie wird darauf eingehen, aus Furcht, eine wertvolle Beziehung durch ihre Ablehnung zu zerstören. Ich habe jedoch festgestellt, daß eine Frau, die auf irgendwelche Kompromisse eingeht, die Kontrolle über ihre eigenen intimen Barrieren verliert und ein gefährliches Zusammenspiel zuläßt, das sie zum Opfer machen kann. Denn sie wird zum Opfer, weil die Männer so oft den Schlüssel für die Karriere einer Frau in den Händen halten und zu ihrem physischen, psychischen, geistigen, wirtschaftlichen oder intellektuellen Wohl. Je stärker die sexuellen Anzüglichkeiten eines Mannes sind, der Einfluß auf sie hat, desto mehr können sie ein Hindernis für die Entwicklung der Frau werden. Den größten Schaden richten jedoch das Ignorieren der inneren Stimme und die Verletzung der eigenen Würde an. Auf diesen Seiten werden die Erfahrungen von Frauen mit Sex im verbotenen Bereich wiedergegeben. Es werden auch die unterschwelligen Phantasien und Beweggründe der weiblichen Psyche erklärt, die Frauen zu solchen Verbindungen veranlassen. 28 Meine Ansicht ist, daß jegliches sexuelles Verhalten eines einflußreichen Mannes in dem, was ich als den verbotenen Bereich bezeichne, naturgemäß Mißbrauch des Vertrauens der Frau bedeutet. Da ihm das Vertrauen entgegengebracht wird, ist er – egal, wie provozierend oder offensichtlich aufgeschlossen die Frau sich verhalten mag – dafür verantwortlich, daß keine sexuelle Verbindung stattfindet. Da für viele Männer Sexualität am reizvollsten ist, wenn sie verboten ist, schützt sie die Tatsache, daß sie eine Vertrauensposition innehaben, nicht vor dem heimlichen Wunsch, doch sexuellen Kontakt zu erstreben. Der »normale« Mann mit der Neigung, die sexuellen Barrieren zu überschreiten, taucht dann hinter der professionellen Rolle auf. Der Schaden, den ein Mann sich selbst zufügt, wenn er diese Grenzen verletzt, ist oft schwer bestimmbar, da er sich im Moment des verbotenen Sex selbst vormacht, die Befriedigung eines starken Bedürfnisses zu empfinden. Dieses Buch erklärt die Gründe, weshalb verbotene Sexualität für Männer so verlockend ist. Es zeigt, wie Frauen dazu beitragen, indem sie sich sexuell ausbeuten lassen, und es beschreibt die gesellschaftlichen und psychologischen Voraussetzungen, die zu destruktiven sexuellen Verbindungen führen. Ich werde Maßnahmen vorschlagen, wie man ausbeuterischen Sex vermeiden kann und wie man sich, wenn es denn passiert ist, von den Wunden erholen kann. Das unbenennbare Benennen Sex in der verbotenen Zone: sexuelles Verhalten zwischen Mann und Frau, die eine auf Vertrauen basierende berufliche Beziehung haben, insbesondere wenn der Mann der Arzt, Psychotherapeut, Pastor, Anwalt, Lehrer oder Mentor der Frau ist. Um den gesellschaftlichen Vorhang des Schweigens zu lüften, der einflußreiche Männer schützt, die das Vertrauen von Frauen mißbrauchen, mußte dieses Syndrom im weitesten Zusammenhang benannt werden. Unsere Versuche, die dunkleren Seiten des menschlichen Verhaltens zu verstehen, werden erschwert, wenn uns die Wörter fehlen, um die 29 Vorgänge zu beschreiben. Im Laufe der Geschichte waren viele Verhaltensformen, die wir heute als schwerwiegende moralische Vergehen ansehen, solche wie Vergewaltigung, Sklaverei und Völkermord, zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kulturen völlig akzeptiert. Obwohl diese Vergehen sehr verbreitet waren, blieben sie unerwähnt, was bezeugt, wie sehr sie Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens waren. Wenn eine Verhaltensform eine Bezeichnung erhält, die einen negativen Beiklang hat, ist das eines der ersten Zeichen, daß einige Mitglieder der Gesellschaft beginnen, die Selbstverständlichkeit eines solchen Verhaltens in Frage zu stellen. Wörter wie Rassismus, Sexismus und Diskriminierung sind Wortprägungen des zwanzigsten Jahrhunderts, die entstanden sind, als die Gesellschaft fähig wurde, diese Praktiken als unrechte Elemente im Standardverhalten unseres Kulturkreises zu erkennen. Man kann kein Gesetz gegen etwas erlassen, das keine Bezeichnung hat. Selbst der Begriff »sexuelle Belästigung«, der heute zur Umgangssprache gehört, wird in seiner jetzigen Bedeutung erst seit 1976 benutzt. Man kann sich vorstellen, wie Frauen früher versuchten zu beschreiben, wie sie am Arbeitsplatz behandelt wurden, und zum Ausdruck bringen wollten, daß sie nicht mehr bereit waren, diese Behandlung als »normal« hinzunehmen. Bis vor kurzem wurde sexuelle Ausbeutung von Frauen durch Therapeuten in einigen Kreisen als weitgehend erfunden angesehen. Wenn eine Frau so etwas behauptete, wurde ihr entweder vorgeworfen, ihre Phantasie ginge mit ihr durch oder sie sei die Verführerin gewesen. Dr. Alan A. Stone, ein Experte der Psychiatrie und des Rechts, hat diese Haltung 1984 in seinem Buch »Law, Psychiatry, and Morality« zusammengefaßt: »Vor zwanzig Jahren waren Patientinnen, die behaupteten, von ihren Psychotherapeuten sexuell ausgebeutet worden zu sein, der Gefahr ausgesetzt, zu hören, daß sie unter psychotischen Umstellungen litten. Diese Vermutung beruhte auf den psychologischen Theorien, daß diese Berichte hysterischem Wunschdenken entsprängen. Selbst in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest wurde so geurteilt. Heute erscheinen uns unsere früheren Ansichten schockierend und unentschuldbar.« 30 Die Bezeichnung »Sex in der verbotenen Zone«, wie sie in diesem Buch definiert ist, faßt aus psychologischer Sicht ausbeuterisches Verhalten zusammen, das bisher mit verschiedenen Begriffen bezeichnet wurde, wie sexuelles Fehlverhalten, sexuelle Ausbeutung, sexuelle Kontakte, Verletzung sexueller Barrieren und unpassende Anzüglichkeit. Das sind die zur Zeit üblichsten Bezeichnungen für sexuelle Beziehungen von einflußreichen Männern mit Frauen in ihrer Obhut. Die Unterscheidung zwischen der verbotenen sexuellen Zone und annehmbarem sexuellen Verhalten muß jedoch in vielen Bereichen unserer Gesellschaft noch klargestellt werden. Zum Beispiel wußte mehr als die Hälfte der Frauen, die für dieses Buch interviewt wurden, zum Zeitpunkt ihrer sexuellen Beziehung mit einem einflußreichen Mann nicht, daß es ethische Vorschriften und in einigen Fällen Gesetze gibt, die derartige Verbindungen verbieten. Es ist üblich, daß Männer, die die verbotene Zone verletzen, ihren weiblichen Opfern erklären, daß es gegen sexuelle Intimität nichts einzuwenden gibt. Die meisten Männer wissen, daß das nicht stimmt, und indem sie so etwas behaupten, manipulieren sie gewissenlos. Aber wenn Männer wirklich glauben, daß Geschlechtsverkehr unter solchen Bedingungen erlaubt sei, ist eine klarere Definition der Verbindungen nötig, in denen sexuelle Beziehungen grundsätzlich schädlich sind. Die verbotene Zone ist eine Beziehung, in der Sexualität unerlaubt ist, weil eine Frau einem Mann freiwillig Zugang zu ihren intimsten Seiten gewährt, weil sie sich dadurch Hilfe erhofft. Das Vertrauen entsteht durch die professionelle Rolle des Mannes als Arzt, Therapeut, Rechtsanwalt, Geistlicher, Lehrer oder Mentor; in dieser Vertrauensbeziehung soll das, was immer die Frau dem Mann anvertrauen mag (ihren Besitz, ihren Körper, ihre Gedanken oder ihre Seele), ausschließlich zur Förderung ihrer Interessen und nicht zu seinem Vorteil benutzt werden, weder sexuell noch auf andere Weise. Innerhalb solcher Verhältnisse ist sexuelles Verhalten immer schädlich und falsch, egal, von wem es ausgeht, egal, wie sehr die Beteiligten daran interessiert sind. In der verbotenen Zone nehmen die Faktoren Einfluß, Vertrauen und Abhängigkeit einer Frau die 31 Möglichkeit, frei über sexuellen Kontakt zu entscheiden. Die unterschwelligen Beweggründe in der verbotenen Zone können es einer Frau unmöglich machen, ihre Zustimmung zu verweigern. Da der Mann den größeren Einfluß hat, trägt er die Verantwortung dafür, daß kein sexueller Kontakt stattfindet, gleichgültig, wie provozierend die Frau sich verhalten mag. Die verbotene Zone existiert immer in der Beziehung zwischen Arzt und Patientin, Therapeuten und Patientin, Geistlichem und Gemeindemitglied, Rechtsanwalt und Mandantin, Lehrer und Schülerin. All diese Berufe bringen die Verantwortung mit sich, die Abhängigkeiten, die sich unweigerlich entwickeln, nicht zu mißbrauchen. Während Therapeuten und Geistliche sich mit psychologischen und geistigen Verwundungen befassen, haben Rechtsanwälte, Lehrer und Mentoren oft mit den gleichen Verwundungen zu tun, die als äußere statt als innere Notlage ausgedrückt werden. Da die Art der Beziehung von der inneren Qualität der Verbindung genauso abhängig ist wie von der äußeren, kann sich die verbotene Zone auch in anderen Bereichen entwickeln, wie etwa am Arbeitsplatz, und zwar immer dann, wenn keine Gleichberechtigung besteht. Im weitesten Sinne kann die verbotene Zone in jeder menschlichen Beziehung bestehen, in der eine Person der anderen übergeordnet ist. Ein Vorteil der Abgrenzung des verbotenen Sexualbereichs ist, daß sie uns ermöglicht, Beziehungen zu erkennen, in denen Übertretungen des Grenzbereichs vorkommen können, bevor es passiert. Lassen Sie uns einen Moment das empfindliche Gleichgewicht zwischen Einfluß und Vertrauen betrachten. Durch die Ungleichheit der Kräfteverhältnisse in unserer Gesellschaft besitzt ein Mann oft den Schlüssel zu Karriere, Gesundheit oder Zukunft einer Frau. Es kann für ein Mädchen oder eine Frau folgenschwer sein, wenn diese Verantwortung von einem Mann mit Autorität als sexuelle Gelegenheit benutzt wird. Er bindet sie an sich, und wenn er sie aufgibt, ist sie oft zu verletzt, um in einer anderen Beziehung glücklich zu werden. Sie wird sich wahrscheinlich mit der Opferrolle identifizieren, sie in anderen Beziehungen wiederholen und jedesmal ein Stück mehr Selbstachtung und Lebensfreude verlieren. Eine Frau erleidet auch Verletzungen, wenn sie dem Mann widersteht. Er macht es ihr unmöglich, die Beziehung fortzusetzen; damit 32 verliert sie einen Lehrer, einen Therapeuten, ein Vorbild oder einen Mentor. Jeder derartige Verlust kann fatal sein; er kann die Einstellung einer Frau in beruflicher und privater Hinsicht von Grund auf ändern. Sex in der verbotenen Zone: Die Beteiligten Daß die verbotene Zone Sex zwischen Arzten oder Therapeuten und ihren Patientinnen ausschließt, ist in der Einführung deutlich gesagt worden. Dieser Teil beschreibt die Gründe, weshalb die gleichen Verbote für Beziehungen zwischen Pfarrer und Gemeindemitglied, Rechtsanwalt und Mandantin, Lehrer und Schülerin und am Arbeitsplatz zwischen Mentor und Schützling gelten. Pfarrer-Pfarrkind- oder Geistlicher-Gemeindemitglied-Beziehungen Ich gebrauche die Bezeichnung »Geistlicher« oder »Pfarrer« generell für männliche religiöse Führer aller Glaubensrichtungen, selbst wenn in der jeweiligen Glaubensgemeinschaft andere Bezeichnungen, wie Priester, Rabbi, Vater oder Patriarch üblich sind. Die Voraussetzung, die zu einem Abgleiten in die verbotene Zone führen kann, ist in einer religiösen Umgebung das wiederholte Treffen zu zweit zwischen einem Geistlichen und einer Frau seiner Gemeinde, egal, ob diese Treffen seelsorgerischen Charakter haben oder nicht. Obwohl religiöse und geistliche Themen die ursprünglichen Beweggründe für diese Zusammenkünfte gewesen sein mögen, werden doch intimere, persönliche Angelegenheiten bald berührt. Der Einfluß des Pfarrers auf sein Pfarrkind ist dadurch garantiert, daß er derjenige ist, der der Frau den Weg zu Gott weisen kann. Ein Geistlicher, der zu sexueller Ausbeutung neigt, kann seine Autorität leicht dazu mißbrauchen, einer Frau zu erklären, daß eine sexuelle Beziehung von Gott gewollt ist. Selbst erfahrene Frauen können Schwierigkeiten haben, dem Argument zu widerstehen, wenn sie der religiösen Überzeugung anhängen, die der Geistliche vertritt. 33 Religiöse Kulte, in denen der Guru oder geistliche Führer sexuelle Beziehungen mit vielen seiner weiblichen Gemeindemitglieder unterhält, sind deutliche Beispiele für dieses Phänomen. Der Anführer beutet das Vertrauen und den Wert der geistlichen Beziehung in der gleichen Weise aus, wie es Therapeuten, Rechtsanwälte, Lehrer oder Mentoren in der privaten Atmosphäre ihrer Büros tun. Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehungen Auf den ersten Blick hat die Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehung nicht unbedingt den gleichen Grad von Vertrautheit und Intimität, der in den medizinischen, psychotherapeutischen und religiösen Verbindungen so wesentlich ist. Rechtliche Themen kreisen um äußere, materielle Erwägungen statt um den Bereich der Gefühle oder der Seele. Trotzdem gibt es verschiedene Gründe, weshalb eine Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehung auch den sexuellen Geboten der verbotenen Zone unterworfen ist. Erstens müssen wir die emotionale Wirkung berücksichtigen, die die Art der Lösung äußerer Probleme hat, um zu beurteilen, von welch zentraler Bedeutung die Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehung sein kann. Das Ergebnis juristischer Maßnahmen kann die Seele in gleicher Weise verletzen oder heilen wie in Beziehungen, die sich direkter mit dem Gemüt befassen. Zweitens sind die Einflußbeweggründe die gleichen wie in anderen Beziehungen im verbotenen Bereich, und sie bewirken in Frauen die gleiche psychologische Verletzbarkeit. Drittens spielen sich viele sexuelle Affären dieser Kategorie mit Anwälten ab, die auf das Familienrecht spezialisiert sind und Scheidungs- und Sorgerechtsfälle übernehmen. Familienrechtsprozesse schließen die Möglichkeit ein, daß eine Frau ihr Heim, ihre wirtschaftliche Basis oder sogar das Sorgerecht für ihre Kinder verliert. Der Rechtsanwalt hat enormen Einfluß auf die zukünftige Situation der Frau. Der Umstand, daß Rechtsanwälte auf dem Gebiet menschlicher Emotionen weniger Erfahrung als Therapeuten haben, kann die sexuelle Ausbeutungsmöglichkeit noch erhöhen. 34 Professor-Studentin-Beziehungen Mein Gebrauch der Bezeichnung »Lehrer« beginnt mit der traditionellen Rolle eines Schullehrers in unserem Erziehungssystem. Von dem Zeitpunkt an, wenn Mädchen zur Schule kommen und dann die Oberschule, das College und die Universität durchlaufen, sind Lehrer normalerweie einflußreiche Erscheinungen in ihrem Leben. Mädchen und Frauen entwickeln durch Beziehungen zu diesen Lehrern oft ihr Verständnis zu zentralen Themen, wie ihre Berufswahl, ihre romantischen, ethischen und geistigen Erwartungen. Die Vorstellung einer Frau über ihren Platz in der männlichen Welt ist stark von dem Grad beeinflußt, in dem ihr Talent und ihre Leistungsfähigkeit Anerkennung durch einen Lehrer gefunden haben. Viele Frauen berichten über den ihr Leben verändernden Einfluß eines bestimmten Lehrers. Ein solcher Einfluß kann eindeutig gut oder schlecht sein, das hängt davon ab, wie er ausgeübt wird. Die Lehrer-Schülerin-Beziehung kann sich aus dem Klassenzimmer heraus leicht in eine höchst individuelle entwickeln, die Aspekte von Elternersatz annehmen kann. Dieser Umstand unterstreicht, wie wichtig es ist, die verbotene sexuelle Zone einzuhalten. Das Problem sexueller Beziehungen zwischen Professoren und Studentinnen verlangt besondere Aufmerksamkeit wegen seiner Häufigkeit, die zum Teil auf den traditionellen Mangel an einer klar umrissenen verbotenen Zone an den Universitäten zurückzuführen ist. Leute, die gegen solche Verbote argumentieren, behaupten, daß die beteiligten Frauen zustimmende Erwachsene sind und daß es keine Verpflichtung gibt, sie – wie in Beziehungen mit Therapeuten, Geistlichen oder Rechtsanwälten – zu beschützen. An den Universitäten wird vorwiegend dem Opfer die Schuld zugeschoben, da behauptet wird, daß die Studentinnen ihre Professoren zu sexuellen Annäherungsversuchen ermutigen, um ihre akademische Karriere dadurch zu fördern. All diese Argumente lassen wichtige soziale und psychologische Realitäten außer acht. Das gesellschaftliche Gefüge läßt den Lehrer oder Professor noch immer über viel Einfluß verfügen. Ein Lehrer hat für ein Mädchen oder eine Frau eine ganz besondere Art von Bedeutung, wenn sie ihn in einer religiösen Institution kennenlernt. In diesen Fällen, egal, ob es sich um einen Laien oder einen Geistlichen handelt, 35 hat der Lehrer den zusätzlichen Einfluß durch das religiöse Umfeld und den Glauben in Kombination mit der Lehrer-SchülerinBeziehung. Wenn ein Mann Einfluß auf beide, die äußeren und inneren, Identitätsvorstellungen einer Frau hat, kann die Bindung vollständig sein. Einige der unerhörtesten Fälle von Ausbeutung geschehen, wenn geistliche, erzieherische und gesellschaftliche Bedürfnisse einer Frau durch einen einzigen einflußreichen Mann erfüllt werden. Mentor-Protégé-Beziehungen Der Begriff Protégé bezeichnet jemanden, der durch einen Älteren oder Einflußreicheren beschützt wird. Das umreißt genau die Bedingung, die für die verbotene Zone zutrifft. Weil Protégé das französische Wort für eine »beschützte Frau<> ist, dient er als allgemeiner Begriff für Frauen in Beziehungen der verbotenen Zone. Wir sollten uns durch die dem Wort zugrundeliegende Bedeutung daran erinnern, daß ein Mann immer die Pflicht hat, seinen Protege zu beschützen, und ihn nicht in Besitz nehmen darf. In einer Ausbildungssituation kann die Mentor-Protégé-Beziehung eine höchst individuelle Version der Lehrer-Schülerin-Bindung werden. Sie bringt die Voraussetzung mit sich, daß der Lehrer eine besondere Verantwortung für die Schülerin übernimmt. Am Arbeitsplatz kann eine Frau bemerken, daß sie eine wichtige, persönliche Beziehung zu einem Mann entwickelt, der ihr Vorgesetzter oder Chef ist. Die Beziehung bekommt oft für den einflußreichen Mann und auch für die Frau eine besondere Bedeutung. Er ist zum Teil Lehrer, zum Teil Beichtvater, zum Teil Vorbild. Sie können viele Stunden zusammen verbringen und sogar zusammen reisen. Obwohl die Beziehung eine unsexuelle Zielsetzung hat, können sich Phantasien über sexuellen Kontakt bei dem Mentor oder dem Protégé entwickeln – in der gleichen Weise wie in psychotherapeutischen Beziehungen. Die erhöhte Intimität und Wichtigkeit, die der Mentorbeziehung beigemessen wird, macht sie eindeutig zur verbotenen sexuellen Zone. Obwohl am Arbeitsplatz selten klar definierte Grundsätze die Entwicklung sexueller Intimität zwischen Mentor und Protégé ver- 36 bieten, kann jeder Versuch, die Grenze zu überschreiten, den gleichen Schaden verursachen, der sich einstellt, wenn ein Therapeut und eine Patientin sexuell intim werden. Recherchen über die verbotene Zone Der Mangel an Literatur oder Artikeln über sexuelle Ausbeutung in den Berufen war 1984, als ich mit meinen Recherchen begann, schockierend. Ich fragte mich, ob denn niemand die Vorkommnisse sexueller Beziehungen zwischen Frauen und ihren Ärzten, Therapeuten, Geistlichen, Rechtsanwälten, Lehrern oder Mentoren untersucht oder die unterschwelligen Beweggründe für diese Beziehungen analysiert hätte. Tatsächlich hatten sehr wenige über die Parallelen zwischen dieser Art des Mißbrauchs von Einfluß und anderen Mustern sexuellen Mißbrauchs außerhalb dieser besonderen Beziehungen geschrieben. Ich fand nur zwei Bücher. Eines war der persönliche Bericht einer Frau, die durch ihren Psychiater sexuell ausgebeutet worden war (»Betrayal« von Lucy Freeman und Julie Roy). Das andere war, unglaublicherweise, von einem Psychiater, der die Vorteile sexueller Beziehungen zwischen Frauen und ihren Therapeuten darstellte (»The Love Treatment« von Martin Shepard). Das Durchforsten von Fachliteratur brachte nur eine Handvoll von Artikeln über Sex zwischen Patientinnen und ihren Ärzten oder Therapeuten zutage und faktisch nichts über sexuellen Kontakt zwischen Frauen und Männern in anderen Berufen. Obwohl das wenige Material, das ich fand, wertvoll war und seitdem viel mehr Artikel und einige Bücher über das Thema erschienen sind, war ich damals nicht über das erstaunt, was ich vorfand, sondern darüber, was ich nicht vorfand. In der medizinischen Bibliothek der hiesigen Universität, einer der größten der Welt, fehlten viele der wichtigsten Fachartikel. Als ich die zuständige Bibliothekarin bat, mir bei der Suche nach Fachliteratur über Artikel zum Thema Sex zwischen Therapeuten und Patientinnen zu helfen, war sie so überrascht wie ich festzustellen, daß das umfangreiche, sehr ausgeklügelte Computer-Suchsystem nicht einmal eine entsprechende Kategorie auswies. Ich schloß daraus, daß die Fachleute den sexuellen Mißbrauch in ihren Reihen lieber ignorierten. 37 Eine Botschaft wurde klar, die Männer und Frauen vernommen hatten, die vorher versucht hatten, die dunkle Seite ihrer Berufe zu untersuchen: »Lassen Sie uns das geheimhalten. Sprechen Sie nicht darüber, lesen Sie nichts darüber, versuchen Sie, nicht daran zu denken. Was immer Sie tun, schreiben Sie nirgendwo darüber, wo zu viele Leute es finden könnten. Selbst wenn wir es unter uns besprechen müssen, halten Sie das auf alle Fälle von der Öffentlichkeit fern.« 1970 veröffentlichte Dr. Charles Dahlberg in der Zeitschrift »Contemporary Psychoanalysis« eine der ersten Untersuchungen der Fachliteratur über Sex zwischen Therapeuten und Patientinnen. Er beschreibt Versuche, die Publikation seines Artikels zu verhindern und ihn an eine Zeitschrift mit geringer Auflage abzuschieben: »Es ist erstaunlich, daß nicht mehr darüber [Sex zwischen Therapeuten und Patientinnen] geschrieben worden ist. Ich sollte hier anmerken, daß ich Probleme hatte, diesen Artikel bei größeren Organisationen, bei denen ich weniger, aber immerhin nicht unbedeutenden Einfluß hatte, unterzubringen. Mir wurde gesagt, er sei zu kontrovers. Welch eine Bezeichnung in einem Beruf, in dem man in viktorianischen Zeiten bereits über kindliche Sexualität und Inzest sprach. ›Ein zu heißes Eisen‹ – das war wohl damit gemeint.« Dr. Nanette Gartrell, eine Psychiaterin in San Francisco, und ihre Kollegen haben die zuverlässigste und modernste Untersuchung über sexuelle Kontakte zwischen Psychiatern und Patientinnen durchgeführt. Dr. Gartrell erzählt die Hintergrundgeschichte zu einer Schilderung in einem Kapitel mit dem Titel »Weigerung des Instituts gegen Selbstuntersuchung: Ein Fallbericht« in einem der neuen Bücher zu diesem Thema »Sexual Exploitation of Patients by Health Professionals«, herausgegeben von A. Burgess und C. Hart-man. Als Dr. Gartrell Vorsitzende der Untersuchungskommission der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft war, die sich mit dem Thema sexueller Kontakte zwischen Psychiatern und Patienten befaßte, schlug sie einen Bericht über das Vorkommen sexueller Ausbeutung durch Psychiater vor, der ein erster bescheidener Schritt zu dem Bemühen sein sollte, auf das Problem aufmerksam zu machen. Aber die Gesellschaft, eine Organisation, in der fast alle amerikanischen Psychiater Mitglieder 38 sind, weigerte sich, der eigenen Untersuchungskommission Mittel zur Verfügung zu stellen und zu erlauben, das Projekt unter ihrer Schirmherrschaft durchführen zu lassen, indem sie auf die Gefahr negativer Publizität hinwies. Dr. Gartrell und ihr Team waren gezwungen, die Untersuchung außerhalb des Fachverbandes mit Hilfe privater Spenden durchzuführen. Ich erkannte, daß diese Art von Unterdrückung die Heimlichkeit spiegelt, zu der alle sexuellen Opfer gedrängt werden. Im Gegensatz dazu ist das Brechen des Schweigens, der kühne Widerstand gegen den Heimlichkeitskodex, ein Hilferuf der Frauen und Männer geworden, die versuchen, sexuelle Ausbeutung zu verhindern, indem sie auf die Umstände hinweisen, unter denen sie gedeiht. Jede Rede, die darüber gehalten wird, jeder Artikel und jedes Buch, das über die zugrundeliegenden Beweggründe sexueller Ausbeutung geschrieben wird, machen den Deckmantel durchsichtiger. Statistische Untersuchungen auf diesem Gebiet können jedoch immer noch nur unbefriedigend sein. Den meisten statistischen Untersuchungen liegen die Aussagen der wenigen Männer zugrunde, die bereit sind, Ausbeutung zuzugeben. Da nur eine Minderheit sich dazu bekennt, können die meisten Überschreitungen gar nicht erfaßt werden. Obwohl statistische Daten im medizinischen, psychotherapeutischen und im Lehrbereich an den Universitäten gesammelt werden, gibt es noch keine Untersuchungen, die das Ausmaß sexueller Ausbeutung durch Rechtsanwälte, Geistliche und Vorgesetzte erfassen. Dank einer kleinen Gruppe von Rechercheuren ist jedoch schon etwas Licht in die Zone gefallen, die bisher völlig im dunkeln lag. Während der letzten zehn Jahre haben diese Fachleute, von denen die meisten Frauen sind, sich den blockierenden Bemühungen ihrer männlichen Kollegen mutig widersetzt, um etwas Grundmaterial von Studien und Statistiken über Sex in der verbotenen Zone zu sammeln. Aber selbst sie wissen, daß es wichtiger ist, das Problem zu benennen, als es zu beziffern. Studien über sexuellen Kontakt an den Universitäten zeigen mit großer Übereinstimmung, daß zwanzig bis dreißig Prozent der Studentinnen sexuelle Annäherungsversuche durch ihre Professoren erfahren haben. In einem neueren Bericht steht, daß siebzehn Prozent der Studentinnen der Psychologie während ihrer Ausbildung mit 39 ihren Professoren sexuell intim wurden und daß weitere dreißig Prozent unerwünschte Annäherungsversuche zurückgewiesen haben. Ein Kollege sagte mir, daß es an seiner psychologischen Fakultät ein offenes Geheimnis und völlig akzeptiert war, daß fast jede Studentin, die promovieren wollte, mit ihrem Doktorvater schlief. Trotzdem hat niemand davon berichtet. Fand das etwa niemand bemerkenswert? Oder entsprach dieses Verhalten zu sehr der Routine, um darüber zu sprechen? Dr. Jacqueline Bouhoutsos, eine Psychologin in Los Angeles, hat erstmalig Studien über sexuelle Ausbeutung durch Psychotherapeuten aller Fachrichtungen durchgeführt (inklusive Psychologen an Kliniken, Psychiatern, Sozialarbeitern und Eheberatern). Um die Abhängigkeit von Berichten der Männer zu umgehen, die selbst über ihre Ausbeutung erzählen, befragten sie und ihre Kollegen praktizierende Therapeuten, ob sie schon Patientinnen behandelt hätten, die sexuelle Beziehungen mit früheren Therapeuten gehabt hatten. Ihre Ergebnisse zeigen, daß siebzig Prozent der Therapeuten über mindestens eine Patientin berichteten, die eine solche Beziehung gehabt hatte; 96 Prozent dieser früheren Therapeuten waren Männer. Dr. Bouhoutsos sammelte diese Informationen mit Dr. Kenneth Pope 1986 in der wertvollen Studie »Sexual Intimacy Between Therapists and Patients«. Die Autorin Dr. Judith Herman hat sich mit Dr. Gartrell und anderen Kollegen zusammengetan, um die bisher gründlichste Studie über Sex zwischen Psychiatern und ihren Patientinnen durchzuführen. In ihrer Untersuchung gaben von 1057 Psychiatern, die ihren Fragebogen ausfüllten, 7,1 Prozent zu, sexuellen Kontakt mit einer Patientin gehabt zu haben. Sie fassen das Hauptthema in ihrem im September 1986 im »American Journal of Psychiatry« erschienenen Artikel zusammen: »Der hippokratische Eid und der ethische Kodex der amerikanischen psychiatrischen Gesellschaft verbieten sexuellen Kontakt zwischen Psychiatern und Patienten. Trotzdem verbinden sich einige Psychiater sexuell mit ihren Patientinnen. Obwohl Unterlagen über das Ausmaß des Problems nur begrenzt zur Verfügung stehen, zeigt das beste zur Verfügung stehende Material, daß sechs bis zehn Prozent der Psychiater sexuellen Kontakt mit ihren Patientinnen gehabt haben und 40 daß die Mehrzahl der Psychiater von solchen Fällen wußte, aber nichts dagegen unternommen hat. Obwohl sich die Anzahl von Meldungen und Beschwerden über sexuellen Mißbrauch bei ethischen Ausschüssen und Fachverbänden in den letzten Jahren erhöht hat, wird allgemein zugegeben, daß nur ein ganz kleiner Teil dieser Fälle öffentlich zur Notiz genommen wird. « Aus einer Studie im »American Journal of Psychiatry« ging hervor, daß im medizinischen Bereich, in dem die Ungleichheit des Einflusses besonders offenkundig und sexueller Kontakt durch den hippokratischen Eid ausdrücklich verboten ist, dreizehn Prozent der Ärzte über sexuelle Verbindungen mit Patientinnen berichteten. Von diesen gaben achtzig Prozent an, mit durchschnittlich sechs Patientinnen intimen Kontakt gehabt zu haben. Das unterstützt die These, daß die meisten Männer, die die verbotene Zone übertreten, sogenannte Wiederholungstäter sind, die serienmäßig eine Frau nach der anderen ausbeuten. Ich konnte keine einzige veröffentlichte statistische Studie über sexuelles Fehlverhalten bei Geistlichen finden. Trotzdem glauben Kollegen, die Erfahrung in diesem Bereich haben, daß das Vorkommen bei Geistlichen noch die geschätzten zehn Prozent bei Psychotherapeuten übersteigt. Selbst wenn wir die zur Verfügung stehenden Statistiken vorsichtig benutzen, ist die Anzahl der Frauen, die durch Sex in der verbotenen Zone betroffen sind, erschütternd. Ohne Vorgesetzte am Arbeitsplatz sind, laut einem 1986 erschienenen Bericht des Arbeitsamtes, ungefähr vier Millionen Männer in den Vereinigten Staaten in den anderen Berufen tätig, auf die die in diesem Buch definierte verbotene Zone zutrifft: Ärzte, Psychotherapeuten, Rechtsanwälte, Geistliche und Lehrer. Wenn wir von einer Mindestzahl von zehn Prozent dieser Männer ausgehen, die Frauen in ihrer Obhut ausbeuten, und wenn wir annehmen, daß jeder dieser Männer mit nur einem einzigen Protégé sexuelle Beziehungen hatte, kommen wir auf die Anzahl von 400 000 Opfern. Aber da die Untersuchungen ausweisen, daß die meisten aus-beuterischen Männer Wiederholungstäter sind, die viele Frauen mißbrauchen, können wir diese Zahl (wiederum vorsichtig) verdreifachen, um auf die keineswegs unwahrscheinliche Zahl von über einer 41 Million Frauen zu kommen, die in den USA in Vertrauensbeziehungen sexuell zu Opfern geworden sind. Wenn wir die unzähligen Vorgesetzter-Protégé-Beziehungen am Arbeitsplatz dazurechnen, in denen Sex stattfindet, sind wahrscheinlich mehrere Millionen Frauen betroffen. Weil das Thema nicht mit Statistiken unterlegt werden kann, werden in diesem Buch Schlußfolgerungen aus vielen Fallstudien gezogen. Meine Beobachtungen entstammen einer Datenbank von mehr als tausend Fallberichten über männliche Fachleute, die sexuelle Beziehungen mit Patientinnen, Mandantinnen, Gemeindemitgliedern und Studentinnen hatten. Diese Berichte stammen aus mehreren Quellen: (1) Männer und Frauen, die ich während der letzten fünfzehn Jahre in meiner psychiatrischen Praxis getroffen habe, (2) Männer und Frauen, die nicht meine Patienten waren, aber bereit waren, mir speziell für dieses Buch von ihren Erfahrungen zu berichten, (3) Fälle, mit denen andere Fachleute – Psychiater, Psychologen, Geistliche, Rechtsanwälte, Lehrer – mich aus ihrer Praxis vertraut machten, und (4) Fallstudien aus Vorträgen bei Kongressen, die in der Fachliteratur veröffentlicht oder bei Gerichten oder den Berufsverbänden registriert wurden. Obwohl es äußerst wichtig ist, den Vorhang der Heimlichkeit von der verbotenen Zone zu lüften, müssen wir das in einer Weise tun, die die private Vertrauenssphäre der Opfer nicht weiter verletzt, indem wir ihnen das Recht absprechen zu entscheiden, wann und wem sie ihre Geschichte mitteilen wollen. Ich fühlte, daß die Frage der Ausbeutung sich stellen könnte, wenn ich meine Patienten bitten würde, ihre Fälle in meinem Buch zu verarbeiten, und daß sie eine verborgene Verpflichtung, ihrem Therapeuten zu helfen, zur Zustimmung veranlassen könnte. Deshalb betrifft – mit einer einzigen Ausnahme – keiner der Fälle, die ich beschreibe, Patienten meiner eigenen Praxis oder verrät vertrauliche Berichte, die ich von Kollegen erhalten habe. Bei der einen Ausnahme handelt es sich um eine Frau, deren Behandlung ich vor vielen Jahren beendete und bei der ich es unangebracht fand, sie um ihre Erlaubnis zu bitten. Obwohl ich mich mit der Frage herumgeschlagen habe, ob es richtig sei, das Material in diesem Buch zu benutzen, entschied ich mich schließlich, es zu tun, wobei ich die Identität sorgfältig verhüllt habe. 42 Die anderen Fälle, die ich detailliert beschreibe, entstammen den Interviews, die ich speziell für dieses Buch durchgeführt habe. Einige Personen wurden durch Rechtsanwälte oder Therapeuten auf mich hingewiesen, andere, darunter eine erstaunliche Anzahl von Frauen, die jetzt selbst helfende Berufe ausüben, nahmen mit mir Kontakt auf, als sie von meinen Recherchen hörten, und boten mir ihre Erfahrungen an. Ich habe diese Fälle mit unterschiedlichen Graden von Entfremdung präsentiert, und einige sind Zusammensetzungen. Alle Namen und identifizierenden Details, die auf die eigentlichen Personen und die männlichen und weiblichen Fachleute hinweisen könnten, mit denen Beziehungen unterhalten wurden, habe ich zum Schutz der privaten Sphäre geändert. Letztlich sind die Erfahrungen der Frauen und Männer, die hier erwähnt sind, repräsentativ für eine zahllose Gesamtheit. Jede Person, deren Bericht ich präsentiere, und all diejenigen, deren Geschichten verborgen sind, bilden das Zentrum von Wellenbewegungen, die immer größere Kreise ziehen könnten: Ist diese Frau das einzige Opfer dieses sexuell ausbeuterischen Psychiaters? Wie wirkte sich die Depression der Frau auf ihre Kinder aus? Wie hat sich die Affäre des Psychiaters mit einer Patientin auf die anderen Frauen ausgewirkt, die er zur gleichen Zeit behandelte? Wie hat sich das auf seine Frau und seine Familie ausgewirkt? Wenn sich herausstellt, daß ein Pfarrer viele Jahre hindurch wiederholt die Regeln gegen sexuellen Mißbrauch verletzt hat, die er selbst propagiert hat und wegen deren Verletzung er andere bestraft hat, wie wirkt sich das auf den religiösen Glauben und die Praktiken seiner Gemeinde aus? Was besagt das für seine spezielle religiöse Institution und für sein Pfarramt? Und wie steht es mit Männern, die von anderen Männern, die Frauen sexuell ausbeuten, behandelt und unterrichtet werden? Welche Haltung gegenüber Frauen wird unterstützt? Ich kenne Männer, die ihre einstigen Vorbilder verachteten, als sie herausfanden, daß diese Therapeuten, Pfarrer oder Lehrer systematisch Protégés ausgebeutet hatten. Über solchen Verrat entrüstet, konnten sie nicht vermeiden, sich selbst für das zu verachten, was sie als ihre blinde Ergebenheit betrachteten. Andere Männer finden es moralisch bequem, den Fußstapfen der ausbeuterischen Vorbilder zu folgen. So nützlich 43 die entstehenden Statistiken sind, so können doch unmöglich Zahlen den vollen Umfang menschlichen Nachteils durch Sex in der verbotenen Zone vermitteln. Eine Anmerkung zur Terminologie Psychologie ist einzigartig dazu geeignet, Personen tieferes Verständnis für ihre eigenen Erfahrungen zu vermitteln. Die reichste psychologische Sprache ist die Umgangssprache, Fachausdrücke lenken von deren Reichtum ab. Aus diesem Grund habe ich versucht, den psychologischen Fachjargon soweit wie möglich zu vermeiden. Statt Fachausdrücke zu benutzen und zu versuchen, sie den Laien zu definieren, habe ich mich bemüht, alltägliche Ausdrücke anzuwenden und sie mit der psychologischen Bedeutung zu erfüllen, die sie in diesem Buch haben. Trotzdem werde ich hier einige psychologische Begriffe definieren, die für eine Diskussion über Sex in der verbotenen Zone unerläßlich scheinen: Grenzbereiche Grenzbereiche definieren, wer wir sind, wo wir aufhören und der Rest der Welt beginnt, was uns gehört und was uns nicht gehört, was intim und was öffentlich ist. Manchmal können Grenzbereiche physisch wahrgenommen werden. Mit Sicherheit gehören unsere Körper und unsere Kleidung uns, und jemand, der sie berührt oder uns näher als einen knappen Meter kommt, tritt in den intimen Raum unseres Grenzbereiches ein. Aber wir haben auch einen psychologischen Grenzbereich. Wenn wir nicht gelernt haben, diese weniger faßbaren Grenzbereiche zu erkennen und zu kontrollieren, können uns andere Leute psychologisch überrennen. Solches Überrennen kann an sich schädlich sein, und es kann den Weg für späteres sexuelles Ausbeuten ebnen. Botschaften, die wir als Kinder durch die Familie und durch die Gesellschaft empfangen, entscheiden über den Grad von Kraft, den wir haben, um unsere physischen und psychologischen Grenzbereiche zu verteidigen. Generell werden Männer in unserer Gesellschaft dazu erzogen, sexuelle Grenzbereiche herauszufordern, und Frauen werden dazu erzogen, männliche Herausforderung als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren. 44 Sexuelles Verhalten, Invasion, Phantasie Jeder physische Kontakt oder jede Körperbewegung, die ausgeübt wird, um erotisches Interesse zu wecken, ist sexuelles Verhalten. Unterscheidungen, wie wer wen berührt hat, in welcher Weise oder an welchem Teil des Körpers, sind unwichtig, wenn es sich um Sex in der verbotenen Zone handelt, in der jede Berührung mit erotischem Interesse, inklusive der eigenen Berührung, eine Verletzung des Grenzbereiches darstellt. Selbst ein angeblich versehentliches Streifen des Körpers einer Frau muß als sexuelle Belästigung betrachtet werden, wenn ein Mann mit erotischem Interesse es eingerichtet hat, nahe genug zu sein, damit ein solcher »Zufall« sich ereignen konnte. Sexuelle Invasion kann auch dann vorkommen, wenn die andere Person nicht berührt wird. Masturbierende und andere provozierende Körperbewegungen sind realen Geschlechtsakten gleichzusetzen, selbst wenn kein Körperkontakt zu der anderen Person stattfindet, und sind genauso eine Verletzung der verbotenen Zone, wie es die tatsächliche Berührung ist. Anzügliche Sprache sollte ebenfalls als sexuelles Verhalten angesehen werden. Die Art, in der ein Mann mit einer Frau spricht, kann ein Akt sexueller Invasion werden. Selbst übliche Bemerkungen, die Männer Frauen gegenüber machen, wie »Sie haben einen wundervollen Körper«, sind beides, anzüglich und degradierend. Unter Berücksichtigung der psychologischen Atmosphäre der verbotenen Zone muß der überwältigende Einfluß der Sprache als konkreter Akt angesehen werden. Sexualität kann auch auf nichtbelästigende Weise empfunden werden, als ein Gefühl, das in einem selbst begründet ist und von einer anderen Person oder der »Atmosphäre« ausgeht. Sexualität ist – ob wir das wollen oder nicht – in vielen Situationen vorherrschend. Sie zu bemerken ist von äußerster Wichtigkeit, um sexuelle Überschreitung zu vermeiden. Sexuelle Phantasie ist eine spezielle Art geschlechtlichen Empfindens mit Vorstellungen sexuellen Verhaltens zur Erreichung erotischer Ziele. Solange eine klare Abgrenzung zwischen Vorstellung und Realisierung eingehalten wird, ist sexuelle Phantasie nicht aufdringlich und kann möglicherweise von der Person, die Wunschvorstellungen hat, konstruktiv umgesetzt werden. Trotzdem besteht in der verbote- 45 nen Zone die Gefahr, daß der Mann den Grenzbereich vernebelt, um die Frau zu involvieren, obwohl es seine Pflicht ist, ihre Interessen zu schützen. Es ist wichtig, die Unterscheidung zwischen verbotenem Geschlechtsverkehr und sexuellen Empfindungen klarzumachen. Es ist völlig natürlich, in wichtigen Beziehungen sexuelle Empfindungen und Phantasien zu haben. Die Fähigkeit, der Auflebung dieser Gefühle zu widerstehen, ist die entscheidende Voraussetzung, um den sexuellen Grenzbereich respektieren zu können. Mißbrauch, Einfluß und Vertrauen Mißbrauch scheint mir der passendste Ausdruck für Sex in der verbotenen Zone zu sein; denn das Opfer braucht Hilfe, wird aber mißbraucht. Einfluß bezieht sich auf den Unterschied der sozialen Stellung und der persönlichen Freiheit zwischen zwei Personen, der dazu führt, daß einer dem anderen seinen Willen aufzwingt. Dieser Wille wird gewöhnlich psychologisch aufgezwungen, kann sich aber auch psychisch auswirken, so wie bei der Entwicklung sexueller Intimität. Der Einfluß des Unterschieds beginnt, wenn eine Person mit speziellen Bedürfnissen sich auf der Suche nach Hilfe an eine andere wendet, die über mehr Kenntnisse, Erfahrungen oder Fähigkeiten verfügt. Sobald die Beziehung beginnt, wächst die Einflußmöglichkeit, den Willen aufzuzwingen, erheblich, da die einflußreichere Person damit drohen kann, die Beziehung aufzugeben. Vertrauen bezieht sich auf die Annahme einer Person mit geringerem Einfluß, daß die einflußreichere Person im Interesse der hilfesuchenden handeln wird. Diese Annahme ist auf die Quelle der Kind-Eltern-Beziehung zurückzuführen. Die Neigung zum Vertrauen wird durch die Fachleute selbst bestärkt und hervorgerufen, denn sie sind durch einen ethischen Kodex verpflichtet, wonach sie das Interesse der Patientin, Mandantin, Studentin, des Gemeindemitgliedes oder des Protégés unbedingt zu berücksichtigen haben und wonach sexueller Kontakt nicht erlaubt ist. Tatsächlich haben viele Frauen in Beziehungen der verbotenen Zone keine andere Möglichkeit, ihr Leben in den Griff zu bekommen oder sich weiterzuent- 46 wickeln, als sich darauf zu verlassen, daß ein einflußreicher Mann seinen Einfluß dazu benutzen wird, ihnen zu helfen, statt sie zu mißbrauchen. Psyche, Wunden, Übertragung und Ego Psyche ist der umfassende Begriff für die Gesamtheit unserer psychologischen Kapazitäten und Funktionen. Gemüt, Gefühle, Intellekt, Träume, Empfindung, Persönlichkeit, Selbstwertgefühl, innere Stimme, Vorstellungskraft, Leistungsfähigkeit, Verzweiflung und Leidenschaft gehören zum Bereich der Psyche. Dieses Buch geht davon aus, daß wir alle psychologische Wunden haben, die wir mehr oder weniger durch unser Verhalten im täglichen Leben zu heilen oder zu mildern versuchen. Bei einigen Leuten sind die Wunden durch ihr depressives, selbstzerstörerisches oder ausbeuterisches Verhalten offensichtlich. Andere verbergen ihre Wunden so gut, daß nichts auf die Schwere ihres Leidens hinweist. Meine Arbeit als Therapeut hat mich in meinem Optimismus bestärkt, daß es unzählige Möglichkeiten gibt, selbst die schlimmsten Auswirkungen zu heilen, wenn die Wunden der Betroffenen und ihre Ursachen erst einmal erkannt werden. Im folgenden Kapitel werde ich die verschiedensten Wunden und die Möglichkeiten, sie zu heilen, ausführlicher beschreiben. Übertragung wird in der Psychotherapie die Entwicklung von starken Gefühlen der Patienten für ihre Therapeuten genannt. Ubertragungsgefühle sind in mancher Hinsicht eine Wiedererfahrung früherer unterschwelliger Emotionen in der Familie, aber in anderer Hinsicht weisen sie auf zukünftige Möglichkeiten der Entwicklung eines neuen, gesunderen Gefühlslebens hin. Zum Beispiel kann eine Patientin, die versucht, ihren Therapeuten zu verführen, damit alte Verhaltensmuster wiederholen, aber sie wird dabei höchstwahrscheinlich auf eine Reaktion hoffen, die sie von weiteren Wiederholungen abhält. Es liegt dann an dem Therapeuten, seiner Patientin die Problematik vor Augen zu führen und ihr zu neuen heilenden Erkenntnissen zu verhelfen. Wie der Therapeut auf die Übertragung reagiert, kann über das weitere Schicksal der Patientin entscheiden. Er trägt eine besondere Verantwortung, die ihm bewußt sein sollte. 47 Ähnliche Übertragungsgefühle gibt es auch in den Arzt-Patientin, Pfarrer-Pfarrkind-, Rechtsanwalt-Mandantin-, Lehrer-Schülerin- und Mentor-Protégé-Beziehungen, egal, ob sie erkannt werden oder nicht. Deshalb muß sexuelles Verhalten in all diesen Beziehungen im verbotenen Bereich zunächst einmal auf die Übertragung der Frau zurückgeführt werden. Der Begriff Ego, wie ich ihn hier benutze, bezieht sich auf einen inneren Kern von Wertvorstellung, Wissen, Energie, Bedeutung und Lebendigkeit, der dem des äußeren, gesellschaftlichen Begriffs von sich selbst vorausgeht. Wir sind manchmal schockiert, wenn wir das persönliche Leiden eines Menschen erkennen, der sonst – auf der äußeren, materiellen Ebene – sehr erfolgreich ist. Das kann vorkommen, wenn aufgrund von familiärer oder gesellschaftlicher Erwartungshaltung äußere oder materielle Ziele verfolgt werden, die in falscher Relation zu den eigenen Wertbegriffen stehen. Letztlich zählt der eigene Wertbegriff, wenn es um die Entscheidung geht, ob ein Leben als sinnvoll empfunden wird. Das Ego kann tief verletzt sein, aber es ist auch eine Quelle der Hoffnung, Heilung und Erholung. Für beide, den einflußreichen Mann und seinen Protégé, spielt das Thema Ego eine entscheidende Rolle. Die Neigung eines Mannes, sexuelle Phantasien im verbotenen Bereich zu entwickeln, ist ein Ausdruck seiner Suche nach Lebendigkeit in sich selbst. In der verbotenen Zone werden heilende Momente erfahren, wenn der Mann und die Frau auf eigene Qualitäten zurückgreifen, um zerstörerischen Verletzungen des Grenzbereiches zu widerstehen. Die meisten Frauen, die ausbeuterische sexuelle Beziehungen erfahren haben, sind in ihrem innersten Ego tief verletzt. Diese psychologische Verwundung, die oft als das Ende der Hoffnung selbst empfunden wird, bleibt der größte Schaden durch Sex in der verbotenen Zone. Ein letzter Punkt zur Orientierung: Eines meiner Spezialgebiete als Psychiater ist die Psychoanalyse nach der Methode von C. G. Jung, für die ich an der Universität Sonderkurse belegte. C. G. Jung, ein Schweizer Psychiater, vertrat die Ansicht, daß Ereignisse, die sich in der menschlichen Psyche abspielen, so real, benennbar und verständlich sind wie die, die wir in der Außenwelt wahrnehmen. Viele dieser inneren Ereignisse spielen sich im Unterbewußtsein ab, das eine 48 Quelle innerer Kraft und Heilung sein kann und das durch Träume und Psychotherapie zugänglich gemacht werden kann. C. G. Jung war davon überzeugt, daß die Veränderung bedrückender sozialer Bedingungen von der Fähigkeit eines jeden als Individuum abhängt, die dunkle Seite seiner Psyche (die »Schattenseite«) zu erkennen. C.G. Jung war einer der vielen einflußreichen Männer, die Probleme mit ihrer eigenen sexuellen Schattenseite hatten, und es gibt Beweise dafür, daß Jung mit zwei Patientinnen sexuelle Beziehungen hatte. In Anbetracht dieser ethischen Übertretungen ist es nicht ohne Ironie, daß Jungs Arbeit einen bedeutenden psychologischen Rahmen für konstruktive Aussöhnung gegensätzlicher Standpunkte bietet, so-wohl auf dem Gebiet der Politik als auch auf dem der Kultur und zwischen den Geschlechtern. Zum Beispiel ist es ein Kernpunkt seiner Psychologie, daß Männer lernen können, sich in Frauen einzufühlen, indem sie die angeborenen femininen Neigungen in sich selbst entdecken (»Anima«). Ebenso können Frauen Fähigkeiten verstehen und entwickeln, die sie Männern zuschreiben, indem sie maskuline Seiten in sich selbst erkennen (»Animus«). Obwohl Jungs Terminologie in diesem Buch nicht angewandt wird, sind Konzepte und Betrachtungsweisen, die ich präsentiere, eindeutig an Jung orientiert. Jungs Verletzung der verbotenen Zone ist für uns alle ein mahnendes Beispiel. Ich kann nur hoffen, daß dieses Buch in einem gewissen Maß zur Wiedergutmachung der von ihm und vielen unserer kulturellen Väter begangenen Fehler beitragen wird. Meine Hoffnung ist, daß diese Untersuchung über Sex in der verbotenen Zone Männern und Frauen helfen kann, die Unterschiede zwischen belebenden und zerstörerischen Ausdrucksformen der Sexualität bei sich selbst und den Mitmenschen viel bewußter zu sehen. Aus diesem Bewußtsein entsteht die Kraft zu wissen, wann und wie man an gesundem Sex teilhaben und wie man ungesunden Sex zurückweisen sollte; denn letztlich wird die verbotene Zone in ihrer weitesten Bedeutung nicht durch Vorschriften, sondern durch Verständnis und Respekt abgegrenzt. Es ist eine Aufgabe für uns alle, uns darüber klarzuwerden, auf welch üble Art wir einander behandeln. Indem wir das erkennen, erhalten wir die Chance, das Beste in uns selbst zu entdecken und, wenn es zur Intimität kommt, dem anderen nicht weniger als das Beste von uns zu bieten. 49 1. Kapitel Beziehungen von unschätzbarem Wert: Der psychologische Kern der verbotenen Zone »Könnte ich noch einmal eine sexuelle Beziehung mit einem Mitglied meiner Gemeinde haben? Sicher, wenn ich ehrlich bin. Ich möchte nicht aufhören, von dem Verbotenen angezogen zu werden. Das abzulehnen würde bedeuten, einen Teil meiner Männlichkeit abzulehnen. Ich verstehe die Notwendigkeit einer Grenze, aber die Vorstellung, sie zu überschreiten, ist unvergleichlich erregend. Ich weiß nicht, warum das so wichtig ist, aber es ist so. Das aufzugeben wäre wie sterben.« Reverend Grant Bennett »In unserer Beziehung war ein Hochgefühl, das ich als göttlich empfand. Bei Dr. Yount konnte ich meine tiefsten verwundeten Schichten bloßlegen und auf Liebe und Verständnis hoffen. Ich hoffte, daß er mich berühren würde, daß er den Teil von mir berühren würde, der immer verletzt und zurückgewiesen worden war, und daß er ihn, und damit mich, durch Berührung wieder zum Leben erwecken würde.« Helen Kifner I n diesen leidenschaftlichen Worten beginnen wir die enormen psychologischen Kräfte zu erahnen, die beide, Männer und Frauen, in Beziehungen der verbotenen Zone empfinden. Diese innere Dimension der Kraft ist der Schlüssel zu dem Rätsel, warum selbst redliche, hochqualifizierte Männer und Frauen die Grenze zu einer zerstörerischen sexuellen Beziehung überschreiten können. 51 Die Gefühle, die Helen Kifner zum Ausdruck bringt, weisen uns auf die ursprünglichen, unerotischen Gründe hin, die Frauen so leicht dazu bewegen, Beziehungen im verbotenen Bereich einzugehen und, über den Zeitpunkt des Mißbrauchs hinaus, darin zu verharren. Reverend Bennetts Offenheit über die Verlockung des Verbotenen weist auf die Ursachen hin, warum Männer so unerbittlich zur sexuellen Verschmelzung mit Frauen neigen, die sie beschützen sollten, daß sie für ein paar gestohlene Momente ihr Leben, ihr Vermögen und ihre Würde riskieren. Es ist klar, daß für beide, Männer und Frauen, die besonderen Umstände der Intimität in der verbotenen Zone Zugang zu Beziehungen bieten, die als unschätzbar wertvoll empfunden werden. Unter diesen Bedingungen bietet das plötzliche Zusammenkommen eines Mannes und einer Frau die Möglichkeit, Wunden der Vergangenheit zu heilen, und Hoffnung auf ein mit Selbstwertgefühl erfülltes Leben. Während das Vorwort zu diesem Buch die äußeren, sichtbaren Dimensionen über Sex in der verbotenen Zone zusammenfaßt, beschäftigt sich dieses Kapitel mit dem psychologischen Kern. Denn egal, wieviel wir über die politische und gesellschaftliche Ungleichheit des Einflusses zwischen Männern und Frauen erfahren, wir werden unfähig sein, das Verhaltensmuster sexueller Ausbeutung zu ändern, wenn wir nicht die in uns allen in der Psyche verborgenen Gefühle berücksichtigen, die verbotenen Sex so reizvoll wirken lassen. Als Psychiater mit speziellem Interesse daran, soviel wie möglich über die innere psychologische Welt der Menschen und über das äußere soziale Umfeld zu wissen, bin ich besonders damit beschäftigt herauszufinden, wie diese beiden Dimensionen, die äußere und die innere, zusammenwirken. Dem Gedanken von C. G. Jung folgend, betrachte ich die innere Welt, die Welt unserer Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, Träume, Hoffnungen und Phantasien, als gleichwertig mit der äußeren, die wir sehen, berühren und fühlen können. Auch die innere Welt kann gesehen, erforscht, erkundet und dargestellt werden, aber mit anderen Sinnen. Die Sinne, die uns unmittelbar über die innere Welt informieren, sind Intuition, körperliche Erregung, Gefühle und Vorstellungen in Träumen und Wachträumen. 52 Die Kompliziertheit der inneren Welt kann logisch gegliedert, erklärt und verstanden werden. Innere Erlebnisse haben ein anderes Muster und eine andere Logik als äußere, aber wenn wir beginnen, die innere Welt in ihrer eigenen »Sprache« zu erkunden, können unabhängige und scheinbar unzusammenhängende Erlebnisse genauso eindeutig in Beziehung zueinander stehen wie der Regen mit sprießenden Pflanzen. Die innere Welt hat ihr eigenes Ökosystem. Um zu wachsen und zu gedeihen, braucht jede individuelle Psyche eine Ausgewogenheit von Liebe, Geborgenheit, Respekt, Verbindung zu anderen Menschen, Abgeschiedenheit von anderen, die Sicherheit des Vertrauten und die Anregung durch das Unbekannte. Um unser Gleichgewicht zu erhalten, muß jeder von uns in der Lage sein, die unvermeidlichen Wunden, Schmerz, Verlust und Entzug, die das Leben mit sich bringt, zu erfahren – und sich davon zu erholen. Der Prozeß der Verwundung und Heilung, des Verlierens und der Erneuerung setzt sich unser Leben hindurch fort, während wir wachsen und uns biologisch und psychologisch entwickeln: Das Vorbild, das wir in unserer Kindheit durch Eltern oder andere wichtige Erwachsene hatten, ist entscheidend für die Art, in der jeder von uns auf Schmerz und Verlust reagiert. Wenn unsere Eltern in der Lage waren, auf relativ gesunde Weise mit ihren einschneidenden Verlusten, solchen wie der Verlust eines geliebten Menschen durch Tod oder Trennung, ein Rückschlag im Berufsleben, eine Periode wirtschaftlicher Not, fertig zu werden, werden wir über ein Erbgut von Hoffnung und Glauben verfügen, wenn wir unsere eigene ernste Verwundung erleiden. Wir werden fähig sein durchzuhalten, Hilfe von anderen zu suchen, wenn das dienlich ist, mit unserem Leben nach bestem Vermögen fortfahren und uns schließlich erholen. Auf der anderen Seite werden Menschen, die in ihrer Kindheit negative Vorbilder hatten, mit dem Gefühl relativer Hoffnungslosigkeit und der Neigung zum vorschnellen Verzweifeln heranwachsen. Wenn sie einen Verlust hinnehmen müssen, können sie die Lage verschlimmern, indem sie sich selbst Vorwürfe machen oder den Schmerz durch Drogen betäuben oder ihre Mitmenschen durch psychologische und physische Destruktivität verletzen. Sogenannte funktionsgestörte Familien geben die Botschaft von Hoffnungslosigkeit 53 durch Muster von Isolation, Tablettensucht und verletzendem Verhalten untereinander von einer Generation an die nächste weiter. Trotzdem ist in jedem Menschen die Hoffnung auf Heilung von Wunden lebendig – mehr oder minder intensiv. Und deswegen haben Beziehungen zu Fachleuten, die Vertrauen genießen, diesen außerordentlichen Einfluß auf das Leben von Menschen, eben weil sie soviel Hoffnung bieten. Im günstigsten Fall werden Therapeuten, Geistliche, Rechtsanwälte, Mentoren und Lehrer Wunden aus der Vergangenheit heilen, dem Leben wieder Sinn geben, Zugang zu tieferen Quellen des Selbst verschaffen – und sogar Leben retten. Wenn wir eine solche Vertrauensbeziehung eingehen, sehen wir eine neue Möglichkeit, mit den Problemen des Lebens fertig zu werden, eine Möglichkeit, die verspricht, uns die Beschränkungen unseres Lebens, die wir vielleicht in unseren Familien kennengelernt haben, überwinden zu lassen. Wir schöpfen wieder Hoffnung, daß unsere verwundeten Seiten, die nicht verheilt sind, »zum Leben erweckt« werden. Obwohl Frauen in der verbotenen Zone die schwächere Position haben, neigen Männer unter der Decke ihres sozialen Niveaus, das sie mit Einfluß ausstattet, genauso stark zu der Erwartung, durch diese Beziehungen Wunden aus der Vergangenheit zu heilen. Unschätzbarer Wert für Frauen: Neue und unbegrenzte Möglichkeiten Jede der von mir interviewten Frauen, die Sex in der verbotenen Zone erlebt hatte, beschrieb den unschätzbaren unsexuellen Wert, den die Beziehung für sie hatte, bevor es zum Geschlechtsverkehr kam. Alle erzählten, daß sie sich auf den Sex eingelassen hatten, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten, die für ihr Leben bedeutsam geworden war und die ihnen neue Möglichkeiten für die Zukunft zu bieten schien. Die meisten dieser Frauen meinten, daß der starke Einfluß sozialer Faktoren während ihres Heranwachsens dazu beigetragen hätte, auf die Wünsche dieser einflußreichen Männer einzugehen. Sie empfanden ihr inneres Bedürfnis in Kombination mit den Möglichkeiten, die diese Beziehung versprach, als eine psychologische Falle, die sie unfähig machte zu widerstehen. 54 Patricia Elmont, eine Psychologin aus dem Mittleren Westen, jetzt über fünfzig, beschreibt dieses Empfinden: »Ich war zweiundzwanzig, verheiratet und hatte zwei Kinder, als ich das erstemal wegen meiner Depression zu Dr. Stuben ging. Ich war als Schönheit des Südens erzogen worden, Männern sexuell zu gefallen. Aber ich machte mir auch Gedanken um viele Dinge. Dr. Stuben war der erste Mann in meinem Leben, der bereit war, mit mir über meine Gedanken zu sprechen. Es wurde für mich enorm aufregend, zu ihm zu gehen. Er hatte gewaltigen Einfluß auf mich, aber aufgrund meiner Erziehung wußte ich nicht, wie ich mit einem einflußreichen Mann verbunden sein könne, ohne ihn zu verführen. Als er sagte, daß er gern Sex in der Praxis mit mir hätte, konnte ich nicht nein sagen. Es wäre mir niemals eingefallen, nein zu sagen. Ich war schrecklich einsam und depressiv, und wegen des Teils von mir, den er zum Leben erweckte, brauchte ich diesen Mann mehr als alles andere.« Suzanne Carter, jetzt Universitätsprofessorin, beschreibt auch diese Art von Einfluß, als sie die Gefühle offenbarte, die sie zu einer geheimen, sexuellen Beziehung mit Dr. Decatur bewegten, ihrem Mentor an einer kleinen Fachhochschule. Sie war neunundzwanzig, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Er war fünfundvierzig, verheiratet und hatte einen Sohn. »Als ich ihm begegnete, steckte meine Ehe in einer Krise. Ich war reif dafür aufzuwachen. Dr. Decatur repräsentierte alles, was in meinem Leben fehlte. Er verkörperte mehr Fähigkeiten, als ich sie je in einer Person erlebt hatte. Ich war etwas in ihn verliebt, aber das war nicht besonders erotisch zu nennen. Ich bekam Anerkennung und Bestätigung durch ihn, ganz im Gegensatz zu dem Gefühl der Ausweglosigkeit in meiner Ehe. Der Unterschied zwischen diesem Gefühl der Gefangenschaft und dem, was ich durch Dr. Decatur empfing, war verblüffend.« Helen Kifner, eine erfolgreiche, extravertierte Frau von Ende Vierzig, ist Rechtsanwältin geworden, die sich auf Prozesse im Frauenrecht spezialisiert hat. Aber sie war eine zerbrechliche und isolierte junge Frau von zweiundzwanzig, als sie ihre Therapie bei Dr. Harold Yount 55 begann, der nach einigen Monaten vorschlug, daß sie in ihren Mittagssitzungen eine sexuelle Beziehung haben sollten. Im Zusammenhang mit der Information, die zu Beginn dieses Kapitels aufgeführt ist, sagte Helen mir: »Dr. Yount war damals so wichtig für mich, das Ausmaß seiner Wichtigkeit war wirklich unbeschreiblich. Ich fühlte, als sei die Beziehung zu ihm das einzige, was mich zu der Zeit am Leben erhielt. Wie hätte ich nein sagen können, als er sich mir sexuell näherte?« Ruth Smythlin, eine frühere Theologiestudentin, ist jetzt, zehn Jahre nach einer Affäre mit ihrem Mentor, noch immer tief darüber deprimiert. Das Ereignis zerstörte ihre Karriere als Geistliche und brachte sie in die Nähe des Selbstmords. »Bis zu dem Moment, als er begann, sich sexuell mit mir zu verbinden, war Pfarrer Stander Clifton für mich der wichtigste Mann, den ich jemals kennengelernt hatte, ein wunderbarer Heiler, Lehrer und Mentor, ein Mann von reinem Geist. Er brachte mein tiefstes, ursprünglichstes Selbst zutage. Er berührte es und merkte das. Ich war noch nie in meinem Leben so intim mit einer Person gewesen, und ich empfand ungeheure Verehrung, Leidenschaft und Liebe für ihn, obwohl nichts davon sexuell war. Aber meine Arbeit mit ihm ist jetzt zerstört, weil er darauf bestanden hat, eine sexuelle Beziehung zu haben. Er wußte, daß mich das verletzte, aber er ließ nicht nach.« Für Frauen entspringen die unterschwelligen Kräfte der Sexualität der verbotenen Zone eindeutig aus den Gefühlen von Hoffnung – Hoffnung, daß ihre tiefsten Wunden geheilt werden können und daß ihr wahres Ich erweckt, erkannt und aus dem Verborgenen in die Lebendigkeit des täglichen Lebens geholt werden kann. 56 Eltern-Kind-Themen: Verwundung aus der Kindheit und Hoffnung auf die Zukunft Warum bieten Beziehungen im verbotenen Bereich soviel innere Kraft und Hoffnung? Ein Teil der Antwort liegt in der Einzigartigkeit, mit der sie uns die Beziehung zu unseren Eltern wiederholen lassen und uns gleichzeitig die Hoffnung geben, daß wir uns daraus befreien können. Die Beziehung in der verbotenen Zone bietet der Frau eine Art von Vertrauensverhältnis wie zum Vater. Diese Art des Vertrauens bewegt Frauen dazu, mit den Männern, die vorher Fremde waren, die Intimitäten und Verwundungen von Körper, Geist und Gefühl zu teilen. Durch dieses Vertrauen ermutigen einflußreiche Männer Frauen dazu zu glauben, daß sie ihnen helfen werden, ein sinnvolles, produktives Leben zu führen. Die Eltern-Kind-Thematik in der verbotenen Zone wird durch den Umstand unterstrichen, daß Frauen besonders verletzlich sind, wenn sie Hilfe von ihren Ärzten, Therapeuten, Geistlichen und Rechtsanwälten suchen. Verletzt und hilfsbedürftig, finden sie eine Beziehung zu einem Fachmann, die es ihnen ermöglicht, sich umsorgt und behütet wie in der Kindheit zu fühlen. Durch das Verständnis über das Zusammenwirken von früheren Verwundungen und Hoffnung für die Zukunft wird uns der sexuelle Aspekt in diesen Beziehungen deutlich. Aus dem Erbe der ElternKind-Bindungen stammt das Verbot von Sexualität. Der Mann aber hat die Pflicht, der Frau unter allen Umständen zu helfen, neue Hoffnung und ein stärkeres Selbstwertgefühl zu finden. Wenn die Verantwortung durch sexuelle Verbindung in der verbotenen Zone vergessen wird, kann auch das letzte Fünkchen Hoffnung in der hilfesuchenden Frau vernichtet werden. Wie Sexualität in Beziehungen von unschätzbarem Wert kommt Weshalb mischen sich sexuelle Phantasien und Begierden so leicht in diese besonderen Formen von intimen Beziehungen, deren wahrer Sinn es ist, der Frau in ihrer Entwicklung auf unsexuelle Art weiterzu- 57 helfen? Die Antwort ist, daß Geschlechtsverkehr das Symbol für die intimste Form zwischenmenschlicher Beziehungen darstellt. Der Akt der Verschmelzung kann auf die intensivste Art unsere tiefsten biologischen, emotionalen und geistigen Sehnsüchte erfüllen und erlaubt uns zugleich, diese Empfindungen mit einer anderen Person zu teilen. Aber das Symbol für diese sexuelle Verschmelzung lebt in unserer Psyche unabhängig vom Akt, nämlich als die Vorstellung, mit einer anderen Person leidenschaftlich und sinnvoll verbunden zu sein, unabhängig von der Sexualität an sich, physisch und psychisch. Sex kann ein Akt sein, aber auch eine äußerst bedeutungsvolle Metapher. Deshalb kann jede Beziehung, die uns tief bewegt, auch wenn sie eindeutig unsexuell ist, sexuelle Phantasien hervorrufen. Die erotische Energie unserer Phantasien kann ein Ausdrucksmittel unserer tiefsten unerotischen Sehnsüchte sein. Sexuelle Phantasien können der Schlüssel dafür sein, was wir benötigen, um uns am lebendigsten zu fühlen. Vorstellungen über sexuellen Kontakt mit verbotenen Partnern sind oft ein Ausdruck unseres Bedürfnisses, den inneren Kontakt zu einem Teil von uns selbst herzustellen, den der verbotene Partner für uns unbewußt vertritt. Wenn eine Frau zum Beispiel Phantasien über einen Liebhaber hat, kann ihre Vorstellung von ihm ihr Bedürfnis widerspiegeln, Qualitäten wie Stärke, Kompetenz und Selbstwertgefühl zu entwickeln, die sie als maskulin ansehen mag. Ebenso kann eine Frau in den sexuellen Phantasien eines Mannes seinen Versuch darstellen, mit weniger entwickelten Qualitäten seiner eigenen Persönlichkeit Kontakt aufzunehmen, die er als feminin betrachtet, solche wie die Fähigkeiten zu nähren, zu trösten und Nähe zu vermitteln. Allein aufgrund der psychologischen Basis, selbst ohne Beteiligung äußerer Einflüsse, gibt es die starke Neigung, sich in ausbeuterische sexuelle Beziehungen zu verwickeln, weil Verwirrung zwischen Sexualität als Akt und als Symbol besteht. Das ist nicht nur in Beziehungen im verbotenen Bereich ein gefährlicher Hang, sondern in jeder Situation, in der sexuelle Begierde sich in verbotene Richtungen bewegt. Das Verständnis dafür, daß sexuelle Wünsche und Vorstellungen eine innere Bedeutung haben können, wenn es nicht zum Akt kommt, eröffnet uns eine andere Richtung, in die wir unsere Sexualität lenken können, wenn die Ausübung schädlich für uns selbst oder andere ist. 58 Gerade weil Beziehungen in der verbotenen Zone uns so tief berühren, fließen sexuelle Phantasien in sie ein. Es kommt jedoch nicht darauf an, keine sexuellen Gedanken zu hegen, sondern die Abgrenzung zum sexuellen Kontakt zu beachten. Die weibliche Fähigkeit zur inneren Beherrschung von Sexualität Einflußreiche Männer, die in der verbotenen Zone Heilung durch ihre Protégés suchen, werden durch gesellschaftliche Einflüsse dazu ermutigt, diese Frauen glauben zu lassen, daß Heilung von Verwundungen mit ausgeübter Sexualität in einer Beziehung verbunden ist. Das steht in deutlichem Gegensatz zu der Fähigkeit von Frauen, intensive, leidenschaftliche Gefühle zu entwickeln, die nicht in Sexualität übergehen. Obwohl Frauen manchmal physische Sexualität genausosehr wie Männer benötigen, können sie ihre Sexualität leichter als innere Erfahrung beherrschen und Leidenschaft als Trägerin unsexueller Intimität empfinden. Als Ruth Smythlin zum Beispiel »ungeheure Bewunderung und Leidenschaft« für ihren Mentor empfand, übertrugen sich diese erotischen Gefühle nicht in sexuelle Begierde. Die ausdrückliche Unterscheidung, die Ruth zwischen dem Verlangen nach einer intimen Beziehung mit einem Mann und sexuellem Kontakt zu ihm macht, fällt Frauen offenbar leichter als Männern. Wenn wir uns mit der sexuellen Psychologie des Mannes befassen, werden wir sehen, wie die Frau, die eine Beziehung in der verbotenen Zone zu einem Mann, der für sie wichtig geworden ist, aufrechterhalten möchte, besonders verletzlich wird, wenn er darauf besteht, seine sexuellen Phantasien auszuleben. Unschätzbarer Wert für Männer: Die Suche nach sexueller Heilung Die Kraft der verbotenen Zone hat genausoviel Einfluß auf die Psyche eines Mannes wie auf die einer Frau. Hinter seiner Position von Autorität 59 und scheinbarer Stärke ist der Mann ebenso dazu geneigt, Verwundungen aus der Vergangenheit zu heilen und eine lebendigere Zukunft zu wünschen. Die zugrundeliegende Realität, die einen Mann mit Einfluß zu sexueller Ausbeutung treibt, ist, daß er wahrscheinlich seine eigenen inneren Verwundungen genauso pflegt wie die der Frau, der er dient. Reverend Grant Bennett, dessen Aussage über den Reiz von verbotenem Sex dieses Kapitel eröffnete, ist der Seelsorger der Gemeinde einer Stadt im Mittleren Westen. Er begann eine Affäre mit Julia Noonan, einer Frau, die er geistlich beraten hatte. Reverend Bennett war so ehrlich zuzugeben, daß er diese Beziehung begonnen hatte, weil er darin eine Lösung zur Heilung seiner Depression sah, in die er durch seine Scheidung geraten war. »Sex ist für mich immer sehr wichtig gewesen, auch heute noch. Julia kam in mein Leben, als ich ziemlich depressiv war. Auf der einen Seite trauerte ich meiner Ehe nach, auf der anderen war ich frei; ich fühlte die totale Freiheit zu tun, was ich wollte. Julia war sehr sexuell ausgerichtet, während meine Frau Sex gegenüber sehr verschlossen gewesen war. Hier entdeckte ich, daß Sex voller Vergnügen und Freude sein konnte. Ich hatte das noch nie empfunden und brauchte es. Wegen meiner Bedürfnisse war es so, als sei Julia damals meine Seelsorgerin. Die Rollen waren eindeutig vertauscht. Sie heilte mich, obwohl ich wußte, daß ich sie nicht als Lebenspartnerin haben wollte. Aber es war, als sei die Schule vorbei, als sei ein schweres Gewicht von Verantwortung von meinen Schultern genommen.« Offenbar haben Männer, die in Beziehungen der verbotenen Zone die Heilenden sind, oft genausoviel Bedürfnis, geheilt zu werden, wie ihre Protégés. Wenn ein Mann seine Verwundung empfindet und die Sexualität einer Frau sich ihm durch die geschützten, heimlichen Umstände der verbotenen Zone eröffnet, kann die Versuchung, diese Gelegenheit auszunutzen, unwiderstehlich werden. Dr. Jim Francis, ein geachteter, erfolgreicher Psychiatrie-Kollege, den ich während der Voruntersuchungen für dieses Buch konsultierte, eröffnete mir, daß er eine Affäre mit einer Patientin gehabt hatte, da es ihm unmöglich erschienen war, der magischen Heilungsmög- 60 lichkeit zu widerstehen, die er durch sexuellen Kontakt mit ihr zu finden glaubte. Obwohl ich schon erkannt hatte, daß die meisten Fachleute gegen sexuelle Begierde nach Frauen, denen sie dienen, anzukämpfen haben, war ich verblüfft, Jims Geständnis zu hören, weil er den Anschein erweckte, sich völlig unter Kontrolle zu haben. Die tiefen, persönlichen Erfahrungen, die er gemacht hatte, schokkierten und rührten mich gleichzeitig: »Als ich schließlich die Grenze überschritt, hatte ich sehr dagegen angekämpft, um das niemals passieren zu lassen. Aber alle paar Jahre bekam meine Arbeit mit einer Patientin eine so starke erotische Spannung, daß ich von meiner Begierde nach Sex mit ihr überwältigt wurde. Ich kämpfte, um die Kontrolle zu behalten, da ich um die großen Gefahren wußte. Ich habe eine Karriere und einen Ruf in diesem Stadtteil aufgebaut. Ich wußte, daß ich mit einem Fehltritt viele Leute verraten würde, die mir wichtig waren: meine Patienten, meine Studenten und meine Kollegen, ganz zu schweigen von meiner Frau und meiner Familie. Wann immer ich fühlte, daß ich die Kontrolle verlieren könnte, betete ich, daß diese Aufwallungen abflauen würden, bevor ich völlig überwältigt werden würde. Es gelang mir einige Male, diese Krisen durchzustehen, ohne eine Katastrophe anzurichten. Jedesmal dachte ich: ›Nie wieder. Ich werde niemals wieder so nahe an den Verlust der Kontrolle geraten.‹ Aber ich habe mich nie einer Therapie unterzogen, um damit fertig zu werden. Jetzt kann ich mir eingestehen, weshalb nicht: Ich wollte nicht wirklich vermeiden, die Magie einer sexuellen Beziehung mit einer Patientin zu erfahren. Und dann kam die Zeit, in der ich fühlte, daß sich trotzdem wieder geschlechtliche Erregung in mir aufbaute, und ich wußte irgendwie, daß ich nicht widerstehen würde. Leah war Anfang Dreißig, und ihre Ehe steckte in einer Krise. Sie sagte, daß sie ihren Mann liebte, aber sie fürchtete, er könne ihr nicht die Intimität geben, nach der sie sich sehnte. Die Krise war verstärkt, weil sie sich ein Kind wünschte und er nicht. Ich wurde von sexuellen Phantasien über Leah und von dem Wunsch, ein Kind mit ihr zu haben, überflutet. Dann, eines Tages, als sie im Begriff war, meine Praxis nach einer besonders 61 schmerzlichen Sitzung zu verlassen, bat sie mich, sie zu umarmen. Selbstverständlich hätte ich nicht darauf reagieren sollen, aber ich tat es. Anfänglich war nichts Sexuelles in unserer Umarmung, aber keiner von uns machte Anstalten, damit aufzuhören. Während wir einander umarmten, begann ich eine leichte Erektion zu fühlen. Das ließ mich nicht empfinden, die Grenze überschritten zu haben, weil ich wußte, daß Männer manchmal im Zusammenhang mit starken und warmen Gefühlen, die sie erleben, eine Erektion haben können, ohne daß das irgend jemand bemerkt und ohne daß damit unbedingt sexuelle Begierde nach einer Person verbunden ist. Dann aber wurde mir plötzlich klar, daß auch sie meine Erektion spüren konnte und daß sie nichts unternahm, um sich von mir zu lösen. Es ist schwer zu beschreiben, wie bedeutend es für mich war, daß sie meine Sexualität in diesem Augenblick akzeptierte. In dieser Akzeptanz lag etwas, was die Schleusen zwischen uns öffnete. Ich begann, der wachsenden Intensität unserer Verbindung nachzugeben, und wußte, daß sie auch so empfand. Unsere Sensibilität füreinander steigerte sich. Mein Gesicht berührte ihren Hals, und ich begann, sie dort zu küssen, und meine Hände begannen, ohne sich auch nur zu bewegen, ihren Körper zu spüren. Sie küßte mich auch. Je sexueller ich wurde, desto mehr akzeptierte und reagierte sie. Aber da ein anderer Patient auf mich wartete, mußten wir aufhören. An dem Abend rief ich Leah an. Wir waren durch das Geschehene völlig überwältigt und vereinbarten für den nächsten Tag einen Termin in meiner Praxis. Wir hatten dann Geschlechtsverkehr und einige Male darauf in den nächsten Wochen. Aber nichts glich dem magischen Moment unserer ersten Umarmung. Wir begannen beide zu fühlen, wie falsch es war, eine sexuelle Beziehung eingegangen zu sein, aber wir konnten nicht wieder Arzt und Patientin werden. Ich habe sie an eine Therapeutin weiterempfohlen und mich endlich selbst einer Therapie unterzogen. Es ist fast zehn Jahre her, daß das passiert ist, und ich weiß nicht, was aus Leah geworden ist und wie sie unsere Affäre verkraftet hat. Ich bin immer noch unangenehm berührt, wenn ich daran denke, und ich glaube, das wird sich niemals ändern.« Als ich ihn zehn Jahre danach fragte, was er meinte, daraus gelernt zu haben, sagte er mir: 62 »Ich denke an den ersten Moment, als unsere Umarmung sexuell wurde. Die Wichtigkeit für Männer, ihren erigierten Penis durch eine Frau akzeptiert zu fühlen, sollte nicht unterschätzt werden. Das hat mit soviel mehr als der simplen Demonstration der Kraft des Phallus auf rein instinktiver Basis zu tun. Zu gewissen Zeiten bedeutet die Akzeptanz unseres sexuellen Seins die Akzeptanz unserer ganzen Person und birgt das Versprechen auf vollständige Heilung und Reinwaschung. In dem Moment mit Leah fühlte ich, daß alles, was in meiner Vergangenheit geschehen war, all die Schmerzen, die ich anderen oder andere mir zugefügt hatten, verstanden und vergeben werden könnten. Ich empfand, daß ich reinen Tisch machen könne und daß mir ein größeres Gefühl von Ganzheit und Selbstwert gewährt werden könne, als ich es jemals vorher erfahren hatte. Ich weiß, daß dieses ›Reinen-Tisch-Machen‹ etwas zu übertrieben klingen muß, wie Beichte oder Sühne. Vielleicht enthält dieses Empfinden soviel, aber ich glaube, wir suchen es auch auf rein psychologischer und emotionaler Basis. Ein großer Teil dessen, worum wir Männer mit unserem sexuellen Verhalten kämpfen, ist tatsächlich der Versuch, uns selbst zu heilen und Sinn in dieser Welt zu finden. Aber ich weiß immer noch nicht, warum wir meinen, diese Bestätigung durch sexuellen Kontakt mit einer Frau erfahren zu können. Ich nehme an, daß die meisten von uns mit der Vorstellung erzogen wurden, daß Frauen weitgehend dazu da sind, uns gefühlsmäßig zu umsorgen. Dieses besondere Erlebnis mit Leah ließ mich nur einige Tage lang empfinden, als sei ›reiner Tisch‹ gemacht, dann verflog das Gefühl. Wenn wir versuchen, es durch eine Frau zu bekommen, haben wir es nicht wirklich verdient, und die Quelle unseres Empfindens von Ganzheit liegt dann in jemand anderem, nicht in uns selbst, was uns weiter abhängig von Frauen macht.« Durch Gespräche mit Männern über diese Themen stellte ich fest, daß die Anschauung über Sex im verbotenen Bereich, die Jim Francis schildert, von den meisten einflußreichen Männern geteilt wird. Tiefe Bedürfnisse nach Heilung und Selbstbestätigung durchdringen die männliche sexuelle Phantasie; obwohl viele Männer, die Frauen ausbeuten, absolut keine andere Motivation als einfache sexuelle Begier- 63 de und Opportunismus empfinden, glaube ich, daß die Suche nach Heilung des verwundeten Selbstwertgefühls dem destruktiven sexuellen Verhalten zugrunde liegt. Männlicher Neid auf verbotenen Sex: Eine Erklärung für ihre Verschwiegenheit Ich habe bereits beschrieben, wie schwierig es für mich war, mir meine zwiespältige Reaktion auf die sexuellen Entgleisungen meines Mentors einzugestehen. Meine Gefühle von Verrat und Verurteilung wurden von der klaren Erkenntnis begleitet, daß ich im Innersten wünschte, ich könnte mich selbst so weit gehenlassen, die Phantasie über Sex mit einer Patientin auszuleben. Gespräche mit Männern in verschiedenen Berufen ergaben, daß die Vorstellung von Sex im verbotenen Bereich allgemein faszinierend ist. Dieser innere Wunsch bestimmt das private Verhalten der Männer genauso wie die Art, wie sie in der Öffentlichkeit miteinander umgehen. Wie ich bei meinen eigenen Erfahrungen mit meinem früheren Mentor entdeckte, wird fortgesetzter sexueller Mißbrauch durch Fachleute fast immer begleitet von dem öffentlichen Schweigen ihrer Kollegen, Schweigen, das laut Elie Wiesel »das Opfer am meisten verletzt«. Meine Recherchen über den Zusammenhang zwischen psychologischen und gesellschaftlichen Beweggründen bei diesem Fehlverhalten ließen mich zu dem Schluß kommen, daß (1) öffentliches Schweigen von Männern über sexuellen Mißbrauch auf stillschweigende Zustimmung hinausläuft und daß (2) dieses Schweigen auf weitverbreitetem Neid beruht, den Männer empfinden, wenn sie von sexuellen Ausbeutungen durch ihre Kollegen hören. Dieser Neid läßt uns erkennen, daß die Verbindungen zwischen männlicher Phantasie und gesellschaftlichen Beweggründen bei Sex im verbotenen Bereich gewöhnlich stark aufeinander einwirken. • Obwohl die Mehrzahl der Männer in Vertrauenspositionen sich ethisch in dem Sinne verhalten, daß sie niemals sexuellen Kontakt mit einer Frau in ihrer Obhut haben werden, haben sie trotzdem die Hoffnung, daß es eines Tages geschieht. 64 • Wenn Männer erfahren, daß Kollegen sexuelle Beziehungen im verbotenen Bereich mit einer Frau gehabt haben, steigert das diese Hoffnung. • Männer, die die verbotene Zone verletzen, sind praktisch die ausersehenen Stellvertreter, die diese Phantasien für den Rest der Männer ausleben. • Weil diese Männer die Stellvertreter für den Rest von uns sind, wünschen wir insgeheim, sie nicht an sexuellen Beziehungen mit Frauen in ihrer Obhut zu hindern. • Weil viele Männer schon kaum der Versuchung widerstehen können, Sex in der verbotenen Zone zu erleben, verursacht jede Episode von sexuellem Kontakt eine ansteckende Atmosphäre wie ein Virus, der die Widerstandskraft von Männern vermindert, die gegen den Wunsch kämpfen, ihre Phantasien auszuleben. • Weil eine tiefe, gesunde und legitime Suche nach Heilung dem männlichen Wunsch nach verbotener Sexualität zugrunde liegt, werden Männer nicht aufhören, die sexuellen Grenzen herauszufordern, bis sie lernen, andere Wege zu dem, was sie suchen, zu finden. Dieses psychologische Bild, das darstellt, daß sich selbst ethisch empfindende Fachleute die Möglichkeit offenlassen, eines Tages eine sexuelle Beziehung mit einer Frau in ihrer Obhut zu haben, weist auf die tiefverwurzelte Neigung zum Verschweigen, zur Inaktivität und zur Unterdrückung von Informationen hin, wenn es darum geht, Verletzungen der sexuellen Grenze durch andere Männer aufzudecken. Von einflußreichen Männern zu verlangen, daß sie ihre Kollegen von sexueller Ausbeutung abhalten, erfordert in gewisser Hinsicht, daß sie ihr eigenes Phantasieleben unterminieren. Solange das Bewußtsein über die psychologischen Beweggründe im Kern der verbotenen Zone nicht weiterentwickelt wird, werden Männer psychisch unfähig bleiben, sich wirkungsvoll vor der Verletzung der sexuellen Grenze zu schützen. Die medizinischen, psychotherapeutischen, geistlichen und juristischen Berufsorganisationen haben schon lange darauf bestanden, sich selbst in ethischen Fragen zu überwachen. Im jetzigen Stadium benötigen Männer in diesen Berufen jedoch Hilfe, die öffentliche Überprüfung sein und wachsendes Verständnis für dieses Problem bringen kann. 65 Aber für uns alle, Männer und Frauen, Fachleute und Laien, ist der Umgang mit der dunklen Seite des Sex in gleicher Weise eine schwierige Herausforderung. Sexualität verursacht höchst intime und persönliche Reaktionen, von denen wir einige lieber nicht wahrhaben wollen. Meine eigene Zwiespältigkeit zwischen dem Beneiden und dem Verurteilen meines Mentors ist typisch für die Schwierigkeit, die wir alle im Umgang mit Erotik haben. Unser rationales Empfinden mag in die richtige Richtung weisen; aber unsere weniger rationalen Seiten haben höchst durchlässige Barrieren zur Sexualität in der verbotenen Zone. Träume, Phantasien und Gefühle entspringen einer zeitlosen, inneren Welt mit ihren eigenen Regeln, die uns tiefer in zerstörerische Erotik verstricken. Wenn wir unsere innere Stimme ignorieren, können wir genauso blind für das sein, was um uns herum geschieht. Wenn wir die Quellen in uns selbst entdecken, kann uns das zu einem sexuellen Opfer oder zum Ausbeuter machen. Wir können dann beginnen, uns mit sexuellen Problemen wie Vergewaltigung, Inzest und Kindesmißhandlung auseinanderzusetzen, Probleme, die früher unaussprechlich waren. Sex in der verbotenen Zone ist in vieler Hinsicht eine gleichermaßen gefährliche Parallele. Der männliche Mythos vom weiblichen Geschlecht: Unterwerfung, Sexualität und Vernichtung Ideale sind tief verankerte Vorstellungen, die auf unseren inneren Gefühlen und Überzeugungen basieren. Indem sie die unbewußten Anschauungen eines Kulturkreises, einer Familie oder eines Individuums zum Ausdruck bringen, bestimmen sie die Art und Weise, wie wir die Welt um uns herum beurteilen. Jede Familie hat ihre eigenen Ideale. Einige werden von dem Kulturkreis mitgetragen, andere sind ganz persönlich. Wir sind seit dem Tag unserer Geburt den Einflüssen der Familie ausgesetzt, die eine überragende Rolle bei der Formung unserer Begriffswelt spielen. Die Familie formt für jedes Kind eine Idealidentität, die die Förderung eines gesunden Selbstwertgefühls unterstützen oder behindern kann. 66 Zum Beispiel kann eine Familie, die in einer Konfliktsituation lebt, einem bestimmten Kind unbewußt die Rolle übertragen, der »Heiler« der Familie zu sein. Das Kind entwickelt seine Fähigkeiten, sich in den Schmerz anderer Leute einzufühlen, oft auf Kosten der eigenen emotionalen Verwundungen. Als Erwachsener kann jemand mit dieser aufgezwungenen Identität die Gabe beibehalten, andere zu heilen, aber er selbst wird emotional verhungern. Zu den Idealen in einer Familie können Vorurteile gehören, die auf das Kind übertragen werden und die dessen Anschauung über das Leben dominieren können. Wenn die Familie ihrem Kind vermittelt, daß Individualität in der Außenwelt nicht erwünscht ist, wird das Kind sehr wahrscheinlich zur Unterordnung seiner eigenen Wünsche gegenüber äußerer Autorität neigen. Eine andere Familie, die Individualität für positiv hält, wird wahrscheinlich ein Kind haben, das in der Lage ist, sein Leben selbst zu prägen. Ideale des Kulturkreises reichen über die der Familie hinaus und verweisen auf verbreitete und tief verwurzelte Anschauungen, die jedes Mitglied der Gesellschaft beeinflussen können. Von zentraler Wichtigkeit für das Problem von Sex in der verbotenen Zone ist eine Vorstellung des Kulturkreises, die ich hier als »den männlichen Mythos vom weiblichen Geschlecht« bezeichne. Er erklärt die innere Haltung, die die Art formt, wie Frauen von Männern begriffen werden und wie Frauen sich selbst sehen. Familiäre und gesellschaftliche Botschaften beinflussen beide, Männer und Frauen, die zerstörerischen Rollen zu spielen, die durch diese Betrachtung der Frauen verursacht ist, die beide Geschlechter zu Opfern macht. Der Mythos des Weiblichen veranlaßt Männer und Frauen dazu, an ausbeuterischem Sex teilzuhaben. Es besteht aus drei Schlüsselelementen, von denen jedes zu unserem Verständnis dafür beiträgt, weshalb professionelle Beziehungen, in denen Männer Einfluß auf Frauen haben, so anfällig für sexuellen Mißbrauch sind: Unterwerfung der Frau Nach der männlichen Vorstellung sollte sich eine Frau vor allem dem Mann unterwerfen. Die ideale Frau steht dem Mann als Sexualpartnerin zur Verfügung, als Quelle emotionalen Wohlbefindens und als 67 helfende Gefährtin bei der Führung des Haushalts und dem Aufziehen der Kinder. Während jede dieser Funktionen einen Teil des gegenseitigen Respekts und einer befriedigenden Beziehung zwischen einem Mann und einer Frau ausmachen können, ist der Makel die Erwartung der Unterordnung, die den meisten sozialen Arrangements zwischen Männern und Frauen zugrunde liegt. Wenn es zu irgendeinem Konflikt kommt, ist die vorherrschende Erwartungshaltung in unserer Gesellschaft, daß sich die Frau dem Mann unterordnet, ob das nun praktische Themen betrifft wie solche, wo und wie gelebt wird, oder intime Fragen – wie etwa, wann man Geschlechtsverkehr hat. Obwohl bei einem Mann der Anspruch auf Unterordnung mit Liebe und Respekt für eine Frau verbunden sein kann, beinhaltet diese Haltung die Möglichkeit sexueller Ausbeutung. Alle Frauen, die ich für dieses Buch interviewte, selbst diejenigen, die berufliche und gesellschaftliche Gleichstellung mit Männern erreicht haben, waren ursprünglich dazu geneigt, sich in der verbotenen Zone sexuell zu verbinden, um dem Wunsch der Männer nach Unterordnung zu entsprechen. Besondere Stärken der Frauen Eine zweite Komponente des männlichen Mythos vom Weiblichen betrifft die heilenden, nährenden und sexuellen Kräfte, die Männer Frauen zuschreiben. Männer haben die feste Überzeugung, daß Frauen über diese Kräfte verfügen, um sie Männern zuteil werden zu lassen. Fast alle Männer haben die Anlage, die magische Kraft des Weiblichen zu idealisieren und sogar zu vergöttern; deshalb kann die Frau als das einzig Wertvolle erscheinen, für dessen Eroberung sich das Leben lohnt, egal, welches die Konsequenzen sind. Die sexuellen und verführerischen Komponenten der den Frauen zugeschriebenen Kraft können Männer trunken machen, wenn sie beginnen, über sexuellen Kontakt mit einer Frau zu phantasieren. Wenn diese Trunkenheit eintritt, kann eine Frau plötzlich als Quelle großer sexueller Kräfte betrachtet werden, die dazu dienen können, seine eigene Sexualität zu bestätigen. Besonders für Männer, die auf diesem Gebiet Probleme haben, wird diese weibliche Kraft unwiderstehlich und überwältigend. 68 Destruktive Frauen Es gibt eine Kehrseite zu den Idealvorstellungen von der heilenden Kraft, die Männer den Frauen zuschreiben. Wenn er enttäuscht ist, kann sich die Ansicht des Mannes über die heilende Kraft leicht in das Gegenteil verwandeln. Frauen werden dann für ihn haßerfüllte, rachedurstige, unterminierende und destruktive Kreaturen. Männer können dann als sicher empfinden, daß, was immer ihnen an Unglück und Schmerz widerfährt, auf die dunklen Kräfte der Frau zurückzuführen ist. Diese Vorstellung ist in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Im alten Testament führt Eva die Wünsche des Teufels aus, indem sie Adam überredet, vom Baum der Erkenntnis zu essen, was zu ihrer Vertreibung aus dem Paradies führt. Diese negative Betrachtung des weiblichen Einflusses spiegelt sich in Hexenverfolgungen und in der Literatur in Beschreibungen mörderischer Verführerinnen wider. Als Prototyp des Mythos, der die Sehnsucht nach der verbotenen Frucht zum Ausdruck bringt, kann die Vertreibung aus dem Paradies so ausgelegt werden, daß Frauen mitschuldig an dem Problem sind, das Männer mit ihrem instinktiven Verlangen haben. (Ich neige dazu, das Essen vom Baum der Erkenntnis als evolutionäres Ereignis zu deuten, das unsere Fähigkeit, uns selbst zu erkennen, symbolisiert, was jedem von uns die Verantwortung überläßt, ethisch mit unserem instinktiven – einschließlich des sexuellen – Verlangen umzugehen.) Männer, die Frauen ausbeuten, sind in der Lage, je nach den Umständen ihre Ideale schnell zu wechseln. Es gibt Zeiten, in denen es einem Mann paßt, eine Frau daran zu erinnern, wie schwach und rücksichtsvoll sie sein sollte, Zeiten, in denen sie ihr Schweigen über eine ausbeuterische Beziehung brechen könnte. Männer beziehen sich oft auf die positive Seite der sexuellen Kraft einer Frau, als Rechtfertigung dafür, an Sex in der verbotenen Zone teilzuhaben. Sie behaupten dann, sie hätten aus Liebesgefühlen gehandelt, die durch die Frau erregt wurden. Aber wenn Männer verletzt worden sind oder ihre Position durch eine Frau bedroht wird, die sich weigert, rücksichtsvoll zu bleiben, kann die Frau plötzlich schlecht und destruktiv erscheinen. 69 Ein großer Teil des Problems, das Männer damit haben, sexuellen Mißbrauch zuzugeben, liegt an ihrer Unfähigkeit zu erkennen, wie bequem sie die verschiedenen Vorstellungen über das Weibliche wechseln. Zwischen ihrem Wunsch, daß Frauen der maskulinen Kraft gegenüber rücksichtsvoll bleiben, der gelegentlichen Wut auf Frauen, die ihnen nicht zur Verfügung stehen wollen, und der Furcht vor der weiblichen Kraft bleibt wenig Raum für ehrliche Selbstanalyse. Obwohl Frauen, die die Gleichstellung mit Männern erreicht haben, die gleiche Verantwortung wie Männer haben, wenn sie sich für eine sexuelle Beziehung entscheiden, sind so viele Beziehungen zwischen Männern und Frauen, in und außerhalb der verbotenen Zone, dadurch gekennzeichnet, daß die Ungleichheit des Einflusses Männer bevorteilt. Aus diesem Grund spielen Frauen, die sich in Beziehungen im verbotenen Bereich verführerisch verhalten, blind die Rolle, die den männlichen Idealvorstellungen entspricht. Zum Beispiel hat sich Mia mir angeboten, weil sie der Meinung war, daß sie Männern nichts von Wert anbieten könne außer ihrer Sexualität. Wie es für viele Frauen in unserer Gesellschaft zutrifft, wollte sie der männlichen Phantasievorstellung entsprechen. Sie hatte keine andere Wahl, als das zu akzeptieren, weil man ihr keinen anderen Weg gewiesen hatte. Da sie als Kind durch die Herabsetzung ihres weiblichen Selbstwertgefühls zum psychologischen Opfer geworden war, spielte sie auch in ihrem Leben als Erwachsene die Opferrolle, indem sie sexueller Ausbeutung zustimmte und sie sogar herausforderte. Frauen können diese Phantasievorstellung von Weiblichkeit entweder direkt von Männern lernen oder durch weibliche Vorbilder. In beiden Fällen ist das Resultat das gleiche, ihre Selbstachtung ist abhängig von der Bestätigung durch einen Mann, und der Weg zu dieser Anerkennung schließt oft sexuelle Bereitschaft ein. Die männliche Vorstellung vom Weiblichen wirft zusätzliches Licht auf die Gründe, weshalb Männer nicht wachsamer die Verhütung und Bestrafung sexueller Ausbeutung betreiben, denn die selbstverständliche Folgerung aus der Phantasievorstellung über weibliche Sexualität ist, daß die sexuell zum Opfer gewordene Frau in Wirklichkeit nichts anderes wollte. Diese Einstellung erlaubt beides, eine »Straßenversion« (die Männer in Fällen von Vergewaltigung anwenden) und eine verfeinerte psychologische Version (die auf Theorien aufbaut, wonach 70 Frauen einflußreichen Männern gegenüber eine natürliche verführerische Haltung haben, die auf dem Wunsch basiert, die phallische Kraft ihrer Väter zu erobern). In jedem Fall unterstützen Männer einander, indem sie dem Opfer seine eigene Misere zum Vorwurf machen. In den meisten Fällen ist die Annahme, daß Frauen verführerisch sind, wenn sie vergewaltigt oder auf andere Art ausgebeutet werden, reine männliche Phantasie. Wenn Frauen tatsächlich verführerisch gewesen sind, müßten Männer verstehen, daß diese Verführung wahrscheinlich das Ergebnis jahrelanger Anpassung an die männliche Phantasievorstellung ist, deren Fortbestehen auch auf die verbreitete Akzeptanz in der weiblichen Psyche zurückzuführen ist. Für Frauen ist es – unabhängig davon, wie Männer sich verhalten – ihrerseits eine Aufgabe, sich ernsthaft dagegen zu wehren, durch rein weibliches Verhalten ein Selbstwertgefühl zu erwarten, damit sie nicht an ihrer eigenen Ausbeutung mitwirken. Der unschätzbare Wert von Beziehungen in der verbotenen Zone kann nur dann erlebt werden, wenn Männer und Frauen sich ihren eigenen Verwundungen zuwenden und aufhören, unrealistische Ansprüche aneinander zu stellen. In den nächsten beiden Kapiteln werden die Verwundungen von Frauen und Männern behandelt, die zu Sex in der verbotenen Zone führen. 71