Sex in der verbotenen Zone

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Sex in der verbotenen Zone
Peter Rutter
Sex in der
verbotenen Zone
Wie Männer mit Macht
das Vertrauen
von Frauen mißbrauchen
Aus dem Englischen übersetzt
von Veronika Akerberg
Arbor Verlag
Freiamt im Schwarzwald
Lassen Sie uns immer daran denken: Was Opfer am meisten
schmerzt, ist nicht die Grausamkeit des Unterdrückers, sondern
das Schweigen der Zuschauer.
Elie Wiesel
In welches Haus immer ich eintrete, eintreten werde ich zum
Nutzen des Kranken, frei von jedem willkürlichen Unrecht und
jeder Schädigung und den Werken der Lust an den Leibern von
Frauen und Männern, Freien und Sklaven.
Aus dem hippokratischen Eid
Copyright © der deutschen Ausgabe:
2002 by Arbor Verlag, Freiamt
Copyright © 1989 by Peter Rutter
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
„Sex in the Forbidden Zone“
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02 03 04 05 06
Auflage
Erscheinungsjahr
Korrektorat: Eva Bachmann
Druck und Verarbeitung: Fuldaer Verlagsagentur
Dieses Buch wurde auf holz-, chlor- und säurefreiem Papier
gedruckt und ist alterungsbeständig.
Alle Rechte vorbehalten
www.arbor-verlag.de
ISBN 3-924195-81-1
Inhalt
Danksagungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Eine persönliche Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Darstellung des Themas:
Terminologie, Statistiken und Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Sex in der verbotenen Zone: Die Beteiligten . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Kapitel
Beziehungen von unschätzbarem Wert:
Der psychologische Kern der verbotenen Zone . . . . . . . . . .
Unschätzbarer Wert für Frauen:
Neue und unbegrenzte Möglichkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Unschätzbarer Wert für Männer:
Die Suche nach sexueller Heilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Männlicher Neid auf verbotenen Sex:
Eine Erklärung für ihre Verschwiegenheit . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Der männliche Mythos vom weiblichen Geschlecht:
Unterwerfung, Sexualität und Vernichtung . . . . . . . . . . . . . . . .
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54
59
64
66
7
2. Kapitel
Wunden der Frauen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Physische und psychologische Überwältigung:
Auf der Suche nach etwas anderem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Tiefgreifende Einsamkeit: Das unerkannte innere Ich . . . . . . . . .
Ausgebeutetes Mitleid: Die sexuelle Heilung von Männern . . . . .
Vermindertes äußeres Wirkungsvermögen:
Weiblichkeit, die sich gegen sich selbst richtet . . . . . . . . . . . . . .
Die Schädigung durch sexuellen Betrug:
Parallelen zu Vergewaltigung und Inzest . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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76
78
82
84
88
3. Kapitel
Wunden der Männer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
Wunden durch die Kulturgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94
Wunden durch den Vater:
Mangel an Intimität im Vater-Sohn-Verhältnis . . . . . . . . . . . . . . 102
Wunden durch die Mutter:
Zu enge emotionale Bindung, Gefühlskälte, die Opferrolle . . . . . 106
4. Kapitel
Frauen im verbotenen Bereich:
Stationen getäuschter Hoffnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
Hoffnungsphantasien: Innere Vorstellungen von Männern . . . . .
Kontaktsuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Das Bedürfnis, sich als etwas Besonderes zu empfinden . . . . . . .
Enthüllung des weiblichen Kerns:
Verwirrung zwischen erotischer und unerotischer Beziehung . . . .
Aufhebung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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114
117
120
123
126
Widersprüchliche Gefühle zwischen Anziehung und Abscheu . . . 129
Der Moment der sexuellen Berührung: Ohnmacht in der Gefahr 130
»Ich muß ihn heilen«:
Versuche, sich der Destruktivität anzupassen . . . . . . . . . . . . . . . 132
5. Kapitel
Männer im verbotenen Bereich: Momentaufnahmen
eines Mannes, der die Grenze überschreitet . . . . . . . . . . . . 135
Entwurf eines Porträts: Psychologische
Momentaufnahmen vom Verhalten eines Mannes . . . . . . . . . . . 135
Die positive Seite der männlichen Psyche:
Widersprüchliche Gefühle und Zurückhaltung . . . . . . . . . . . . . . 151
6. Kapitel
Eine Anleitung für Frauen:
Beachtung der sexuellen Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
Erkennen der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Überwachung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Gestaltung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Verteidigung der Grenze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Weshalb kann ich mich nicht wehren?
Eine Zusammenfassung der psychologischen Fallen . . . . . . . . . .
In Wut geraten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eine Anleitung für Frauen als Mütter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Kapitel
Eine Anleitung für Männer:
Frauen auf neue Art begegnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Wenn Sie im Begriff sind, die Grenze zu überschreiten:
Halten Sie an, und lassen Sie sich helfen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wenn Sie die Grenze übertreten haben:
Wie können Sie Schadenersatz leisten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Wenn Sie die Grenze nicht übertreten haben:
Seien Sie ehrlich zu sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Eine Anleitung für Männer als Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Der heilende Moment . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197
Epilog von Katharina Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Nachwort von Sylvia Wetzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
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Danksagungen
I
mmerwährenden Dank an Donald Sander, John Bebe, Spiro
Kostof, Jean Bolen, Jonathan Harris, Joel Braziller, Robert Caserio, Lynn Franco, Margaret Skinner, John Steiner, Richard Hutson, Dennis Turner und William McGuire, weil sie mich zu Beginn
dieses Projekts ermutigt und während der Arbeit daran immer mit
wertvollen Ratschlägen unterstützt haben.
An Gamille LeGrand, Loren Pedersen, Teresa Bernardez, Jeffrey
Kottler, Jane Vinson, Nadine Taub, Cani Lenahan und Gary Schoener, die mir durch ihre eigenen Arbeiten Mut gemacht haben.
An Jean Nagger, meinen Literaturagenten, dafür, daß er stets für
mich da war. An meinen Herausgeber, Connie Zweig, der eine alchimistische »sonor mystica« wurde, und an meinen Verleger, Jeremy
Tarcher, den als symbolischer Vater eine verläßliche Quelle der Hilfe
und Hoffnung war.
Aber am meisten Dank an meine Frau, Virginia Beane Rutter, und
an unsere Kinder für ihre Geduld und ihre Liebe.
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Eine persönliche
Anmerkung
V
or zwanzig Jahren begann ich meine psychiatrische Praxis mit
der festen Überzeugung, daß Sex mit Patienten überhaupt
kein Thema wäre. Ich vertraute in meiner Naivität darauf,
daß unüberwindbare sexuelle Barrieren, wie es sie seit Hippokrates
seit fast 2500 Jahren gibt, die Grundvoraussetzung für die Beziehung
zwischen Arzt und Patienten bestimmen.
Ich ging davon aus, daß jeder in meiner Berufsgruppe diese
unsichtbaren Grenzen einhält. Die wenigen Ärzte und Therapeuten,
von denen ich wußte, daß sie sexuelle Beziehungen zu Patienten
hatten, gehörten für mich in den Randbezirk der Kriminellen oder
Geistesgestörten. So der Chirurg, der seine Patientinnen sexuell mißbrauchte, nachdem er sie anästhesiert hatte, oder der Therapeut, der
eine Selbsthilfegruppe gründete – für Frauen, die bereit waren, seine
Sexualpartner zu sein.
Es dauerte fast zehn Jahre, bis ich aufhörte, an den Mythos vom
guten Onkel Doktor zu glauben. Statt dessen fand ich heraus, daß
sexuelle Ausbeutung von Frauen durch Männer, in deren Behandlung
sie waren oder unter deren Leitung sie arbeiteten, nicht ungewöhnlich, sondern tatsächlich eher normal war. Darüber hinaus stellte ich
ein bemerkenswert ähnliches Verhaltensmuster auch bei Geistlichen,
Anwälten, Lehrern und Ausbildern fest. Jede Position, in der Frauen
sich physisch oder psychisch Männern anvertrauen, birgt die Gefahr,
daß sich das Abhängigkeitsverhältnis in einen Bereich ausweitet, der
unüberschaubar und unkontrollierbar ist.
Ich fand heraus, daß Männer, die sexuelle Beziehungen zu ihren
Patientinnen, Mandantinnen, Gemeindemitgliedern, Studentinnen
oder Schützlingen haben, nicht zu der Minderheit gehören, die gele-
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gentlich Schlagzeilen macht; vielmehr handelt es sich um fähige
Professoren, bewunderte Führer der Gemeinde und respektierte
Fami-ienväter, die wir normalerweise selbstverständlich für integer
halten. Heute weiß ich, daß sexueller Mißbrauch von Vertrauen eine
Epidemie ist, ein bedeutendes Problem, das ein weiteres Mißverhältnis in der Chancengleichheit zwischen Mann und Frau darstellt.
Daß sich meine Ansicht so radikal veränderte, ist auf zwei Episoden zurückzuführen.
Die erste ist eine Liaison, in die ich fast mit einer Patientin hineingeraten wäre. Dieses Erlebnis zwang mich dazu, meine eigene verborgene Sehnsucht nach einer solchen verbotenen Affäre zu erkennen. Es machte mir deutlich, wie es dazu kommen kann, daß selbst
moralisch integere Männer die sexuellen Fehltritte weniger lauterer
Kollegen heimlich entschuldigen.
Den zweiten Anstoß zum Umdenken gab mir ein Psychiater, der
mein Mentor und Vorbild gewesen war und der, wie ich herausfand,
mehrere Jahre hindurch sexuelle Beziehungen zu vielen seiner Patientinnen unterhalten hatte. Diese Erkenntnis erschütterte mich so sehr,
daß ich mich dazu gezwungen sah, mein Verständnis der Realität zu
überprüfen, indem ich das Problem so gründlich wie möglich durchleuchtete. Aus dieser Untersuchung resultieren Antworten, die Aufschluß darüber geben, warum so viele Männer und Frauen in diese
komplizierten sexuellen Beziehungen hineingeraten.
Meine Begegnung mit Mia
Meine »Beinahe-Affäre« begann plötzlich und völlig unerwartet in
dem geschlossenen Zimmer meiner psychiatrischen Praxis. Ich fühlte,
wie die psychologischen Barrieren, die mich vor verbotenem Sex
geschützt hatten, zusammenbrachen. Das geschah an einem dunklen,
regnerischen Abend Anfang Dezember, als eine Patientin, die ich Mia
nennen werde, zu unserem Termin mit der unausgesprochenen, ungeplanten, aber äußerst überwältigenden Absicht erschien, sich mir
sexuell anzubieten.
Mia war eine hochgewachsene, dunkelhaarige, fünfundzwanzig
Jahre alte Frau, deren leuchtendfarbige Kleidung und zur Schau
gestellte Dynamik eine schwere, chronische Depression maskierten.
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Obwohl ihr bisheriges Leben ihr nur Entbehrungen und Verluste
gebracht hatte, hatte sie die Hoffnung auf Glück noch nicht aufgegeben. Ihre Eltern waren nach wiederholten Anfällen von Depressionen
und Alkoholismus kurz vorher verstorben; und sie hatte einen älteren
Bruder, mit dem sie verschwommene Erinnerungen an sexuelle Belästigungen verband. Nachdem sie als Teenager auf die Straße gegangen
und in die Drogenszene abgerutscht war, versuchte Mia nun, ihr
Leben in den Griff zu bekommen. Sie war nicht mehr süchtig, arbeitete als Empfangsdame bei einem Schönheitschirurgen und begann,
Interesse für Psychologie zu entwickeln. Während der fünf Monate
Therapie hatten Mia und ich ihr Verhaltensmuster herausgefunden,
nach dem sie dazu neigte, mit Männern schnell sexuell intim zu werden, weil sie befürchtete, daß diese sonst das Interesse an ihr verlieren
würden. Trotzdem hatte sie sich mir gegenüber nie verführerisch verhalten. An diesem Abend jedoch spürte ich, daß sich ihre Sexualität
auf mich richtete, und dies mit einer Intensität, wie ich sie in meiner
siebenjährigen Praxis als Psychiater niemals auch nur annähernd so
stark erlebt hatte.
Mia ging zum Patientenstuhl, aber da blieb sie nicht. Während sie
mir weinend von einer demütigenden Abfuhr durch einen Mann
erzählte, mit dem sie am Abend zuvor verabredet gewesen war, ließ sie
sich langsam vom Stuhl auf den Fußboden gleiten und setzte sich mit
überkreuzten Beinen vor mich hin. Die erotisch herausfordernde Art
ihres Benehmens steigerte sich, als sie mich flehentlich ansah. Unter
Tränen wollte sie wissen, ob Männer sie immer nur benutzen und
dann wegwerfen würden. In dem verzweifelten Bedürfnis nach Trost
begann Mia, sich mir allmählich zu nähern. Sie streifte meine Beine
mit ihren Brüsten und vergrub ihren Kopf in meinem Schoß.
Die Wahrscheinlichkeit, daß ich in dieser sexuellen Szenerie mitwirken würde, war um so größer, als ich in meinem Privatleben Verluste gehabt hatte und den Winter hindurch ziemlich deprimiert
gewesen war. An diesem Abend erwartete mich nichts außer einem
leeren Haus, in dem ich alleine lebte. Mia war die letzte Patientin auf
meinem Terminkalender. Draußen war es schon lange dunkel geworden, während wir in meiner warmen Praxis saßen und den kalten
Regen prasseln hörten. Ich wußte, daß wir die letzten waren, die sich
noch in diesem Bürogebäude aufhielten.
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Durch meine berufliche Erfahrung war ich in keiner Weise auf
diesen Moment vorbereitet. Als Mia sich mir weiter näherte, saß ich
wie erstarrt da; ich ermutigte sie nicht, aber ich wies sie auch nicht ab.
Eine berauschende Mischung von Gefühlen zeitloser Freiheit und
erregender Gefahr befiel mich, wie sie Männer bei verbotenen sexuellen Spielen empfinden. Die Freiheit beruht auf der Illusion in solchen
Momenten, in denen ein Mann sich einreden kann, daß nichts mehr
zählt – nur die sexuelle Verschmelzung mit dem weiblichen Körper
und Geist. Er verschließt sich gegenüber Vergangenheit und Zukunft
und denkt weder über seine Motivation noch die Konsequenzen seines Handelns nach.
In diesem Moment, als ich mich entscheiden mußte, die Grenze
zu überschreiten oder nicht, fühlte ich mich außerordentlich stark
und gleichzeitig sehr, sehr verwundbar.
Eine andere Seite von mir blieb völlig unberührt von dieser Szene.
Ein Teil von mir versuchte zu verstehen, was in Mia vorging, und
bemühte sich, einen Weg zu finden, ihr zu helfen. Dieser Teil von mir
selbst wußte, daß eine sexuelle Verbindung absolut verboten und
unmöglich war.
Ich wußte, wenn ich gar nichts täte, würde ich Mia einfach erlauben, mich auf eine Art und Weise zu berühren, die sicher sexuell sein
würde. Ich hätte passiv auf ihre Absicht eingehen, hätte meine eigene
Depression ihre widerspiegeln lassen und uns damit erlauben können,
gemeinsam verwundete Patienten zu sein. Als gut trainiertes Opfer
würde Mia es wahrscheinlich ablehnen, mein sexuelles Verhalten als
Mißhandlung anzusehen; falls ich ihr erklären würde, daß sexueller
Kontakt ein legitimer Bestandteil der Therapie sei, würde sie das
glauben, oder sie würde mit mir zusammenwirken und hinterher vorgeben, daß nie etwas vorgefallen sei. In jedem Fall war es äußerst
unwahrscheinlich, daß ich mich jemals anderen gegenüber rechtfertigen müßte.
In diesem Moment faßte ich einen Entschluß; ich sagte Mia, sie
solle zu ihrem Stuhl zurückkehren. Sie tat es, ohne zu zögern. Von
unseren eigenen Stühlen aus konnten wir nun die therapeutische
Untersuchung durchführen, warum sie sich bei ihrer verzweifelten
Suche nach Wärme und Trost immer wieder Männern anbietet. Da
ich mich von ihr nicht hatte verführen lassen, konnten wir darüber
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sprechen. Schließlich hatte Mia nichts anderes getan, als mir ihr
selbstzerstörerisches Verhalten erklärt – auf die einzige Art, die sie
kannte: Indem sie es mir in diesem Zimmer vorführte.
Während dieser Episode wurde mir klar, daß ich sie – wie andere
es getan hatten – zum Opfer machen oder ihr helfen konnte, einen
neuen Weg zu finden.
In diesem kritischen Moment lag es ganz allein an mir, den richtigen Weg zu weisen. Ich mußte die typisch männlichen Komponenten meiner Sexualität unterdrücken, die nur zu bereit waren, Mias
selbstzerstörerisches Angebot zu akzeptieren. Ich erschaudere noch,
wenn ich daran denke, wie nahe ich daran gewesen war, uns beiden
zu schaden.
Diese Erfahrung zeigte mir unmittelbar, wie leidenschaftlich und
zersetzend die erotische Atmosphäre in einer Beziehung werden kann,
in der der Mann Einfluß auf die Frau hat, die ihm Vertrauen und
Hoffnung entgegenbringt. Jegliche Illusion, daß ich gegen diese verführerische Intensität immun sei, war vorbei. Mir wurde plötzlich
klar, daß Sex mit Patienten durchaus nicht unmöglich war. Vielmehr
war die Vorstellung nicht nur möglich, sondern sehr viel verlockender, als ich mir bis dahin eingestanden hatte.
Die Verlockung des Verbotenen ist nicht nur ein zentrales Thema
dieses Buches, sondern auch der Psychologie männlicher Sexualität.
Sie ist in der Praxis des Therapeuten und jeder Vertrauensbeziehung
vorhanden, in der ein Mann Einfluß auf die intimen Sehnsüchte einer
Frau hat.
Tag für Tag sitzen wir Männer unter vier Augen mit Frauen
zusammen, die uns vertrauen, uns bewundern und sich auf uns verlassen; dadurch entsteht der zunehmende Drang nach größerer Intimität. Geschäftsleute reisen mit ihren weiblichen Untergebenen, verbringen viele Stunden zusammen in Flugzeugen und nebeneinanderliegenden Hotelzimmern in weit entfernten Städten. Frauen, die ihre
Anwälte aufsuchen, offenbaren ihnen – besonders in Scheidungs- und
Sorgerechtsfällen – meistens die intimsten Details ihres Lebens. Lehrer an Oberschulen, Colleges oder an Universitäten können das Vertrauen von Frauen durch ihre Fähigkeit erwerben, diese Frauen in
ihrer intellektuellen, beruflichen oder geistigen Entwicklung zu fördern. Ein Arzt hat sofortigen Zugang zu dem unbekleideten Körper
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einer Frau. Wenn eine Frau einen Arzt aufsucht, überläßt sie ihm ihr
physisches Sein mit dem, was sie psychisch durch ihren Körper empfindet. Therapeuten und Geistliche veranlassen Frauen, die von ihnen
betreut werden, sexuelle und andere Geheimnisse mit ihnen zu teilen;
Geheimnisse, die sie sonst niemandem verraten würden.
Diese Frauen gehen auf unsere Einladungen zur Intimität ein und
lassen uns an ihren lange verborgenen Gefühlen und Träumen teilhaben – und wecken dadurch unsere eigenen uneingestandenen, verborgenen Sehnsüchte und Phantasien. So, wie sich die Frau in einer
vertrauensvollen Beziehung von dem einflußreichen Mann Hilfe verspricht, so beginnt der Mann, die Frau als eine Quelle für seine eigene Heilung zu betrachten.
Für mich und alle Männer mit Einfluß kann sie leicht die sympathische, verwundete, verletzliche Frau werden, die uns in besonders
femininer Weise bewundert und benötigt. Wenn wir eine Zeitlang
zusammengearbeitet haben, entwickeln sich Verbundenheit und Vertrauen zwischen uns, die die Barrieren in der scheinbar unpersönlichen beruflichen Beziehung aufweichen. Ob sie es offen zum Ausdruck bringen oder nicht, vermitteln uns diese Frauen oft das Gefühl,
daß wir sie viel besser behandeln, als sie sich das jemals von einem
Mann erträumt hätten.
Unter diesen Umständen durchfluten uns sexuelle Vorstellungen.
Die Vorschrift, die sexuelle Kontakte mit diesen Frauen verbietet, verliert ihre Wirkung. Wir sehnen uns danach, unsere Gefühle zu befreien. Nichts scheint in solchen Momenten verlockender, als die
unsichtbaren Grenzen zu überschreiten und mit der Frau in gemeinsamer Leidenschaft zu verschmelzen.
Aber jedesmal, wenn ich mich mit sexuellen Phantasien um eine
Patientin beschäftigt fand, entdeckte ich – wie an dem Abend mit
Mia –, daß mich etwas zurückhielt, nicht nur die Vorschrift, sondern
auch das Gefühl, daß etwas Wertvolles zerstört werden würde, wenn
ich die Grenze überträte.
Trotzdem habe ich immer noch zwiespältige Empfindungen, wie
sie fast alle meine Kollegen haben. Egal, wie gut ich gelernt habe,
sexuelle Spannungen zu erkennen und auf therapeutische, unphysische Art mit ihnen umzugehen, manchmal übermannt mich die verführerische Intensität meiner Arbeit. Und obwohl ich jetzt weiß, was
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ich gegen die Anfechtung tun muß, muß ich mir jedesmal bewußt in
Erinnerung rufen, warum ich der Versuchung widerstehen muß,
mich einfach von meinem Stuhl zu erheben, die kurze Entfernung zu
meiner Patientin zurückzulegen und die Frau zu umarmen.
Verrat durch meinen Mentor
Die zweite Episode, die mich dazu veranlaßt hat, dieses Buch zu
schreiben, war die schmerzhafte Entdeckung, daß der Mann, der die
besten Qualitäten eines Lehrers und Therapeuten in sich zu vereinigen schien, wiederholt sexuelle Beziehungen zu seinen Patientinnen
unterhalten hat. Dr. Edward Reynolds (wie ich ihn nennen werde)
schien die Verkörperung des altruistischen, engagierten Psychotherapeuten zu sein. Dieser distinguierte, dunkelhaarige Mann von Ende
Vierzig hatte eine vornehm zurückhaltende und ruhige, aufgeschlossene Art, die ihn weise und zugänglich für Psychotherapeuten in der
Ausbildung erscheinen ließ; man konnte sich vorstellen, daß er auf
Patienten ähnlich wirkte. Er schien ein besonders selbstloser Mann zu
sein, da er bereit war, Patienten zu behandeln, die kein Geld hatten
oder die von anderen als unheilbar angesehen wurden.
Ich war einer der vielen jungen Therapeuten, die in ihm das
besonders wertvolle Vorbild sahen, die Art der seltenen Lehrer, die die
äußere und innere Entwicklung ihrer Schüler fördern. Auf der äußeren, praktischen Ebene lehrte er uns besondere Fachkenntnisse der
Psychotherapie, auf der inneren Ebene half er uns, unseren persönlichen Sinn für ethisches und kreatives Engagement bei unserer Tätigkeit zu entwickeln.
Vor diesem Hintergrund der Bewunderung hörte ich das erstemal
das Gerücht, daß Dr. Reynolds sexuelle Beziehungen zu Patientinnen
gehabt hätte. Ich erinnere mich genau, wie absurd mir der Gedanke
schien, Dr. Reynolds habe Geschlechtsverkehr mit Patientinnen. Er
war ein Mann, der uns gegenüber die höchsten humanen Werte unseres Berufes artikulierte. Niemand wußte besser als er, daß sexueller
Kontakt mit Patientinnen überhaupt nicht in Frage kam, weil es ein
eindeutiger Mißbrauch des Einflusses wäre und großen Schaden verursachen würde. Er würde niemals seine Wertbegriffe und all das, was
er uns über die Kunst des Heilens gelehrt hatte, verraten.
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Aber ich war überrascht, neben meinem Unglauben gleichzeitig
die Gewißheit zu entdecken, daß das, was ich gehört hatte, wahr
sein müsse. Jedenfalls war es schließlich soweit, daß ich mir sagen
mußte: »Natürlich schläft er mit seinen Patientinnen. Ich habe
absolut keinen Zweifel. Das ist klar und folgerichtig. Das erklärt
sein Verhalten und das Empfinden, das ich manchmal in seiner
Gegenwart hatte.«
Wenn wir auf den Teil von uns selbst hören, der es nicht nötig hat,
die Wahrheit zu verdrängen, können wir manche Zusammenhänge
klar erkennen. Aber es gibt enorme Zwänge von außen, die unsere
Intuition abwerten.
Als ich in diesem Fall meine innere Stimme vernahm, weigerte ich
mich hinzuhören; es war einfach zu bedrohend. Ohne mir darüber klar
zu sein, mußte ich das Bild des »guten Vaters« aufrechterhalten. Es
dauerte fünf Jahre, bis ich und die meisten meiner Kollegen die Wahrheit akzeptiert hatten. In der Zwischenzeit – stillschweigend geschützt
durch unsere Inaktivität – fuhr Dr. Reynolds fort, sexuelle Beziehungen zu Patientinnen zu unterhalten und Schaden anzurichten.
Nachdem einige Patientinnen Beschwerden über sexuellen Missbrauch eingelegt hatten, konnten wir uns der Tatsache nicht länger
verschließen: Wir entschlossen uns, Dr. Reynolds aus unserem Berufsverband auszuschließen.
Ich verstand nicht, warum keiner von uns den Mann zur Rechenschaft gezogen hat, warum wir so lange gewartet hatten, und mir wurde klar, daß es viel schwieriger ist zu erklären, warum Opfer und Mitwisser so oft schweigen, als zu verstehen, daß es immer Männer geben
wird, die das Vertrauen einer Frau ausnutzen.
Nach dieser Erkenntnis stellte ich mir selbst die Aufgabe, die Rolle
zu untersuchen, die jeder von uns in dieser schweigenden Verschwörung spielt. Zunächst suchte ich in mir selbst nach Antworten.
Ich wußte bereits, daß ich starke Phantasien über sexuelle Kontakte
mit Patientinnen haben konnte. Ich wußte auch, daß ich Dr. Reynolds
noch idealisiert hatte, als ich das schon lange nicht mehr hätte tun
dürfen. Als ich erneut versuchte, mir zu erklären, weshalb ich seine
sexuellen Ausschweifungen vor mir selbst verleugnet hatte, stieß ich
auf eine dunklere Seite der männlichen Psyche. Ich erkannte, daß sich
immer, wenn ich über seine verbotenen Beziehungen nachdachte, hin-
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ter meiner Empörung heimlich Eifersucht verbarg. Ich wünschte, ich
könnte tun, was er getan hatte.
Ich fühlte mich ziemlich allein, als ich diese geheimen Gedanken
aus meinem Unterbewußtsein grub, die so sehr im Kontrast zur
Ethik meines Berufes standen. Aber nachdem ich mich dazu gezwungen hatte, dieses Thema mit meinen männlichen Freunden und Kollegen zu besprechen, stellte ich fest, daß auch die anderen ähnliche
Gefühle und Gedanken hatten. Im Laufe der Jahre gab jeder der
mehreren hundert Männer, mit denen ich über das Thema gesprochen hatte, zu, daß er manchmal die sexuellen Ausschweifungen
anderer beneidete. Der belastende Umstand, daß so viele Männer
ähnliche sexuelle Phantasien hatten, sollte sich als das Hauptmotiv
für die Erklärung erweisen, weshalb selbst ethisch empfindende
Männer schweigen, wenn sie von dem sexuell ausbeuterischen Verhalten eines Kollegen hören.
Der verbotene Bereich: Überall und nirgends
Die Frage, weshalb angesehene Männer mit Einfluß Frauen wiederholt so leicht ausnutzen können, ohne je entdeckt zu werden, verstörte und faszinierte mich zugleich. Ich fühlte, ich müsse soviel wie
irgend möglich darüber in Erfahrung bringen, wie und warum so
etwas geschieht und wie Frauen empfinden, wenn sie sexuelle Beziehungen mit ihren Ärzten, Lehrern oder Therapeuten haben, und was
die sozialen und kulturellen Beweggründe für dieses Problem sind.
Ich lenkte meine Untersuchungen über dieses Thema nicht mehr auf
meine eigenen Gefühle, sondern auf die allgemeinen Umstände.
In diesem Stadium prägte ich den Begriff der »verbotenen Zone«,
um sexuelle Kontakte, die sich in professionellen Vertrauensbeziehungen abspielen, zu beschreiben. Ich entdeckte, daß Sex in der
verbotenen Zone in einem gewissen Sinne gleichzeitig überall und
nirgends vorkommt. Das Thema wird von der Fachliteratur ausgeklammert (ein Sachverhalt, auf den ich im nächsten Abschnitt näher
eingehen werde, als Symptom dafür, wie sehr unsere Gesellschaft
bemüht ist, das Problem sexuellen Fehlverhaltens von einflußreichen
Männern zu leugnen). Als ich jedoch begann, mit anderen darüber zu
sprechen – mit Freunden, Bekannten, Kollegen und Patienten –, fand
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ich heraus, daß Sex im verbotenen Bereich überall zu finden ist, insbesondere in der Erfahrung von Frauen.
Bemerkenswerterweise zögerten die Frauen keinesfalls, wenn sie
gebeten wurden, über ihre Erfahrungen zu sprechen. Fast achtzig Prozent der Frauen, mit denen ich sprach, hatten erlebt, daß ein Mann,
der ihr Arzt, Therapeut, Pastor, Anwalt oder Lehrer war, sich ihnen
sexuell genähert hatte. In etwa der Hälfte der Fälle war es zu einer
wirklichen sexuellen Beziehung mit verheerenden Folgen gekommen.
Diejenigen, von denen nicht die Initiative ausgegangen war, berichteten, wie empört, verwirrt oder angewidert sie von den erotischen
Anzüglichkeiten der Männer gewesen waren. Die zwanzig Prozent der
Frauen, denen so etwas noch nie passiert war, hatten Freundinnen,
die solche Erfahrungen gemacht hatten.
Sex in der verbotenen Zone ist nicht etwa ein Problem, dem nur
besonders empfängliche Frauen ausgeliefert sind. Die Opfer lassen
sich nicht eingrenzen und auf eine bestimmte Gruppe festlegen. Bei
Gesprächen mit Rechtsanwältinnen und Therapeutinnen wurde mir
klar, daß die Frauen, die mißbraucht werden, aus allen Berufen und
Ständen kommen. Genausowenig, wie es nur die Männer mit geringen Prinzipien sind, die sich hinreißen lassen, sind es auch nicht nur
die psychisch labilen Frauen, die darauf eingehen.
Obwohl ich einige Untersuchungen ansprechen werde, in denen
versucht wurde, das Problem in Statistiken zu erfassen, ist dies ein Thema, dessen Ausmaß sich bisher einer statistischen Analyse entzieht.
Frauen, die an verbotenem Sex teilgenommen haben, neigen dazu,
sich zu sehr zu schämen oder zu ängstlich zu sein, um es öffentlich
zuzugeben, und der Prozentsatz von Männern, die bereit sind, ihr eigenes sexuelles Fehlverhalten einzugestehen, ist verschwindend gering.
Glücklicherweise gibt es einen anderen, viel einfacheren Weg, die
Realität einzuschätzen – nämlich »herumfragen«. Probieren Sie es aus
– Sie werden eine Geschichte nach der anderen zu hören bekommen,
und Sie werden erkennen, daß sexuelle Ausbeutung in professionellen
Verbindungen eine Epidemie in unserer Gesellschaft ist. Ich entdeckte bei meinen Gesprächen mit Betroffenen nicht nur, wie sehr das
Problem verbreitet ist, sondern auch ein interessantes Verhaltensmuster. Zunächst untersuchte ich nur sexuelle Beziehungen zwischen
Therapeuten und Patientinnen. In diesem Bereich kannte ich mich am
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besten aus, in ihm hatte ich die eigene Erfahrung mit meiner Patientin Mia gemacht und die Enttäuschung durch meinen Mentor erlebt.
Ich wollte von den Frauen die psychologischen Motive erfahren, die zu
Verbindungen geführt hatten, und daraufhin erzählten mir viele von
ihnen von weiteren Beziehungen zu Geistlichen, Rechtsanwälten oder
Lehrern; Beziehungen, in denen sie auch gefühlt hatten, daß ihr Vertrauen auf eine Weise mißbraucht worden war, die der zwischen Therapeuten und Patientinnen sehr ähnlich schien.
Das Muster sexuellen Mißbrauchs von Vertrauen wurde immer
deutlicher, als einige Frauen mir sagten, daß sie sich dieser Art von
sexuellem Druck auch im Berufsleben ausgesetzt fühlten. In der
Arbeitswelt hatte ich dieses Verhaltensmuster nicht erwartet. Sexuelle
Belästigung ist etwas anderes als Sex im verbotenen Bereich, weil nicht
notwendigerweise ein spezielles Vertrauensverhältnis existiert.
Mittelpunkt meiner Untersuchung war jedoch die vertrauensvolle
Beziehung, die durch sexuelles Fehlverhalten gestört wird. In den
Gesprächen mit den betroffenen Frauen wurde mir dann allerdings
bewußt, daß es durchaus ein spezielles Verhältnis zwischen Vorgesetzten und Angestellten geben kann, ein Verhältnis, in dem sich die Frau
dem Mann anvertraut – und dadurch praktisch ausliefert, besonders
wenn ihre weitere berufliche Entwicklung von ihm abhängig ist.
Je mehr Frauen anspruchsvolle Positionen im Berufsleben einnehmen, desto akuter wird das Problem. Es muß in seiner ihm zugrundeliegenden Psychologie erkannt und verstanden werden.
Ich begann zu sehen, daß das, was ich Sex in der verbotenen Zone
nannte, unter verschiedenen Bezeichnungen in der Öffentlichkeit
immer schon großes Interesse gefunden hatte, zum Beispiel sexuelles
Fehlverhalten von Geistlichen und Politikern – berühmte und unbekannte. Ob es sich um einen örtlichen Geistlichen handelte, der einen
Verweis erhielt oder entlassen wurde, weil er mit einem Mitglied
seiner Gemeinde sexuelle Beziehungen gehabt hatte, oder um spektakuläre sexuelle Ausbeutung durch große geistige oder religiöse Führer
– in all diesen Fällen klang die zugrundeliegende Triebkraft für den
Mißbrauch bemerkenswert ähnlich.
Das Ereignis mit der stärksten Wirkung in unserer politischen
Geschichte war die Offenlegung der Beziehung Gary Hart/Donna
Rice, weil sie die Kandidatur eines Mannes beendete, der gute
23
Aussichten hatte, Präsident zu werden. Wir wissen nicht, ob Gary
Hart Donna Rices Vertrauen mißbraucht hat, da wir keine Informationen über die psychologischen Umstände ihres Zusammentreffens
haben. Wir wissen jedoch, daß Senator Hart als charismatische nationale Erscheinung gegenüber Donna Rice über enorme persönliche
Macht verfügte und daß er die Affäre beendete, als sie bekannt wurde. Auch wenn Donna Rice sich nicht als Opfer betrachten sollte, ist
sie ein Symbol für die Frau, die von einem einflußreichen Mann sexuell benutzt wird, bis sie nicht mehr in sein Programm paßt und aus
seinem Leben verschwinden muß.
Ob er ihr Vertrauen mißbraucht hat oder nicht, wir wissen, daß
Senator Hart unseres verraten hat. Sosehr wir uns an die Vorstellung
gewöhnen mögen, daß einflußreiche Männer ein geheimes Sexualleben haben, so erwarten wir doch Besseres von ihnen, und wir fühlen
uns verraten, weil unsere Erwartungen enttäuscht wurden. Obwohl
Präsident John F. Kennedy sein sexuelles Doppelleben erfolgreich vor
der Öffentlichkeit verbarg, als er im Amt war, haben viele Leute ihre
Meinung über ihn geändert, nachdem sein Privatleben gründlicher
untersucht worden ist.
Durch die Massenmedien und durch meine umfangreichen
Untersuchungen erhielt ich mehr und mehr Beweismaterial über
sexuelle Ausbeutung durch einflußreiche Männer; einiges durch
das Phänomen der Das-weiß-doch-jeder-Geschichten. Wenn die
Leute eine gewisse Schwelle zu einem Thema überwunden haben,
das bisher tabu war, kann eine dramatische Veränderung zur Offenheit eintreten. Ganz plötzlich begann ich, Dinge zu hören wie:
»Jeder weiß, daß Rechtsanwälte, die sich mit Scheidungen befassen,
dafür bekannt sind, daß sie sexuelle Verbindungen mit ihren Mandantinnen eingehen.« Und: »Als ich Psychologie studierte, wußte
jeder, daß die Studentinnen mit ihren Doktorvätern schliefen.«
Das Das-weiß-doch-jeder-Phänomen machte manchmal auf jemanden aufmerksam, von dem »jeder wußte«, daß er mit seinen
Patientinnen (Mandantinnen oder Studentinnen) Geschlechtsverkehr hatte.
Diese Phase meiner Studien war ein willkommener und konstruktiver Ausgleich zu der gepflegten Verschwiegenheit, der ich bis dahin
begegnet war. Diese plötzliche Flut von Informationen enthüllte, daß
24
sich hinter unserer Verleugnung eine ganze Menge Wissen über
verbotenen Sex verbirgt und daß es befreiend ist, zu erfahren, daß
andere begonnen haben, darüber zu sprechen. Obwohl diese »allgemein bekannten« Informationen auch irreführende Gerüchte sein
können, sind sie doch viel öfter noch Untertreibungen.
Schließlich begann ich während meiner Untersuchungen, die
Männer und Frauen gründlich und detailliert zu befragen; ihre
persönlichen Berichte über Sex im verbotenen Bereich bilden eine
wichtige Informationsgrundlage für dieses Buch. Während ich ihnen
zuhörte, zweifelte ich keinen Moment an dem Wahrheitsgehalt dieser persönlichen Geschichten. Ich führte keine strukturierten Interviews mit vorbereiteten Fragen und Informationskategorien. Ich
redete einfach mit diesen Männern und Frauen, oft viele Stunden
lang. Einige Interviews erfolgten per Ferngespräch, und ich habe
einige der Leute, die von ihren leidvollen Erfahrungen berichteten,
nie persönlich kennengelernt.
Für viele meiner Gesprächspartner war es eine neue Erfahrung,
über ihre sexuellen Beziehungen im verbotenen Bereich zu reden.
Und viele hatten ihre Erlebnisse auch noch gar nicht verarbeitet.
Traurigerweise waren die meisten dieser Frauen erstaunt zu entdecken, wie tiefgreifend destruktiv diese Erfahrungen für sie gewesen
waren, egal, ob sie sie vor einem oder vor zwanzig Jahren erlebt hatten. Sie haben mich alle tief berührt.
Ich lernte mehr über sexuelle Ausbeutung, als ich erwartet hatte,
und entdeckte sie in Bereichen, an die ich gar nicht gedacht hatte.
Das Schlüsselelement, wie ein einflußreicher Mann das Vertrauen
einer Frau sexuell mißbraucht, schien dagegen identisch zu sein, ganz
gleich, um wen es sich handelte, einen Arzt, einen Psychiater, einen
Psychologen, einen Therapeuten, Professor, Mentor, Pastor, Pfarrer,
Rabbi oder Guru. Die Schwierigkeit, die eine Frau hat, sexuellen
Kontakt in all diesen Beziehungen abzulehnen, schien mir sehr artverwandt. Alle verbotenen Liebschaften spielten sich in einer Atmosphäre der erzwungenen Verschwiegenheit ab, die nicht nur von den
direkt beteiligten Männern und Frauen, sondern auch von Zeugen
stillschweigend gebilligt wurde. Ich wußte das, denn ich war auch so
ein stummer Zeuge gewesen.
25
Vorwort
Darstellung des Themas:
Terminologie, Statistiken und Quellen
D
ieses Buch handelt davon, warum Männer und Frauen große
Schwierigkeiten haben, Sexualität aus Beziehungen herauszuhalten, in die sie nicht gehört, und darüber, weshalb Phantasien über sexuellen Kontakt mit verbotenen Partnern so reizvoll sind.
Es basiert auf meiner Erfahrung als Psychiater mit der gefährlichen
Mischung von Sexualität und Einfluß, die entsteht, wenn sich Frauen
hinter geschlossenen Türen ihrem Arzt, Psychotherapeuten, Geistlichen, Anwalt, Lehrer oder Mentor anvertrauen.
Obwohl solche Beziehungen anderen Zielen dienen sollen, werden
sie oft äußerst erotisch, indem sie in dem einflußreichen Mann
berauschende Phantasien über sexuelle Vereinigung mit der Frau hervorrufen, deren Vertrauen er hat; oder in beiden. Trotz der Tatsache,
daß diese Männer moralische, rechtliche und ethische Verantwortung
tragen, gibt es eine weitgehend verdeckte Epidemie sexueller Ausbeutung. Männliche und weibliche Leser werden erkennen, daß die
Lektionen über die verbotene Zone sich über den professionellen
Bereich eines Praxiszimmers hinaus auf die verschiedensten Bereiche
des täglichen Lebens, wo Frauen mit Männern umgehen, anwenden
lassen. Darüber hinaus sollte diese Beschreibung über Sex im verbotenen Bereich neue Einsichten über verwandte Probleme fördern,
solche wie Vergewaltigung, Inzest, Kindesverführung, sexuelle Belästigung, Ehebruch und sexuelle Süchtigkeit.
Diesem Buch liegen psychologische und gesellschaftliche Perspektiven über Sexualität zugrunde, um das große Ausmaß der sozialen
27
Kräfte zu zeigen, die Männer und Frauen veranlassen, Mißbrauch zu
betreiben. Obwohl Frauen die offensichtlichen Opfer der Ausbeutung
im verbotenen Bereich sind, können auch einflußreiche Männer sich
durch den destruktiven Ausdruck ihrer Sexualität selbst zum Opfer
machen, indem sie die verborgenen Wunden, die ihrem unangebrachten sexuellen Verhalten zugrunde liegen, nicht beachten. Der
Schaden, der durch den Vertrauensbruch in und außerhalb der verbotenen Zone verursacht wird, ist gravierend.
Der verbotene Bereich, der in diesem Buch definiert ist, ist derjenige von einflußreichen Männern, die Frauen ausbeuten. Obwohl
auch einflußreiche Frauen Männer ausbeuten können und obwohl
Männer und Frauen homosexuelle Ausbeutung betreiben, machen
derartige Situationen nur einen kleinen Prozentsatz professionellen
Mißbrauchs aus.
In gewisser Weise berührt und verletzt Sex im verbotenen Bereich
uns alle. Frauen sind daran gewöhnt, die Opfer zu sein; sie stellen immer
wieder fest, daß wenige Beziehungen zu Männern frei von sexuellen
Ansprüchen sind. Selbst wenn es nicht zu einer sexuellen Beziehung
kommt, ist die Frau unterschwellig fast immer dem Druck ausgesetzt.
Wenn dieser Mann ihr wichtig ist, wird sie versuchen, das sexuelle Element zu übersehen, oder sie wird darauf eingehen, aus Furcht,
eine wertvolle Beziehung durch ihre Ablehnung zu zerstören. Ich
habe jedoch festgestellt, daß eine Frau, die auf irgendwelche Kompromisse eingeht, die Kontrolle über ihre eigenen intimen Barrieren
verliert und ein gefährliches Zusammenspiel zuläßt, das sie zum Opfer machen kann.
Denn sie wird zum Opfer, weil die Männer so oft den Schlüssel
für die Karriere einer Frau in den Händen halten und zu ihrem physischen, psychischen, geistigen, wirtschaftlichen oder intellektuellen
Wohl. Je stärker die sexuellen Anzüglichkeiten eines Mannes sind,
der Einfluß auf sie hat, desto mehr können sie ein Hindernis für die
Entwicklung der Frau werden. Den größten Schaden richten jedoch
das Ignorieren der inneren Stimme und die Verletzung der eigenen
Würde an. Auf diesen Seiten werden die Erfahrungen von Frauen
mit Sex im verbotenen Bereich wiedergegeben. Es werden auch die
unterschwelligen Phantasien und Beweggründe der weiblichen Psyche erklärt, die Frauen zu solchen Verbindungen veranlassen.
28
Meine Ansicht ist, daß jegliches sexuelles Verhalten eines einflußreichen Mannes in dem, was ich als den verbotenen Bereich
bezeichne, naturgemäß Mißbrauch des Vertrauens der Frau bedeutet. Da ihm das Vertrauen entgegengebracht wird, ist er – egal, wie
provozierend oder offensichtlich aufgeschlossen die Frau sich verhalten mag – dafür verantwortlich, daß keine sexuelle Verbindung
stattfindet.
Da für viele Männer Sexualität am reizvollsten ist, wenn sie verboten ist, schützt sie die Tatsache, daß sie eine Vertrauensposition
innehaben, nicht vor dem heimlichen Wunsch, doch sexuellen Kontakt zu erstreben. Der »normale« Mann mit der Neigung, die sexuellen Barrieren zu überschreiten, taucht dann hinter der professionellen
Rolle auf.
Der Schaden, den ein Mann sich selbst zufügt, wenn er diese
Grenzen verletzt, ist oft schwer bestimmbar, da er sich im Moment
des verbotenen Sex selbst vormacht, die Befriedigung eines starken
Bedürfnisses zu empfinden. Dieses Buch erklärt die Gründe, weshalb
verbotene Sexualität für Männer so verlockend ist. Es zeigt, wie Frauen dazu beitragen, indem sie sich sexuell ausbeuten lassen, und es
beschreibt die gesellschaftlichen und psychologischen Voraussetzungen, die zu destruktiven sexuellen Verbindungen führen. Ich werde
Maßnahmen vorschlagen, wie man ausbeuterischen Sex vermeiden
kann und wie man sich, wenn es denn passiert ist, von den Wunden
erholen kann.
Das unbenennbare Benennen
Sex in der verbotenen Zone: sexuelles Verhalten zwischen Mann und
Frau, die eine auf Vertrauen basierende berufliche Beziehung haben,
insbesondere wenn der Mann der Arzt, Psychotherapeut, Pastor,
Anwalt, Lehrer oder Mentor der Frau ist.
Um den gesellschaftlichen Vorhang des Schweigens zu lüften, der einflußreiche Männer schützt, die das Vertrauen von Frauen mißbrauchen,
mußte dieses Syndrom im weitesten Zusammenhang benannt werden.
Unsere Versuche, die dunkleren Seiten des menschlichen Verhaltens
zu verstehen, werden erschwert, wenn uns die Wörter fehlen, um die
29
Vorgänge zu beschreiben. Im Laufe der Geschichte waren viele Verhaltensformen, die wir heute als schwerwiegende moralische Vergehen ansehen, solche wie Vergewaltigung, Sklaverei und Völkermord,
zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Kulturen völlig akzeptiert.
Obwohl diese Vergehen sehr verbreitet waren, blieben sie unerwähnt,
was bezeugt, wie sehr sie Bestandteil des gesellschaftlichen Lebens
waren. Wenn eine Verhaltensform eine Bezeichnung erhält, die einen
negativen Beiklang hat, ist das eines der ersten Zeichen, daß einige
Mitglieder der Gesellschaft beginnen, die Selbstverständlichkeit eines
solchen Verhaltens in Frage zu stellen. Wörter wie Rassismus, Sexismus und Diskriminierung sind Wortprägungen des zwanzigsten Jahrhunderts, die entstanden sind, als die Gesellschaft fähig wurde, diese
Praktiken als unrechte Elemente im Standardverhalten unseres Kulturkreises zu erkennen. Man kann kein Gesetz gegen etwas erlassen,
das keine Bezeichnung hat.
Selbst der Begriff »sexuelle Belästigung«, der heute zur Umgangssprache gehört, wird in seiner jetzigen Bedeutung erst seit 1976
benutzt. Man kann sich vorstellen, wie Frauen früher versuchten zu
beschreiben, wie sie am Arbeitsplatz behandelt wurden, und zum
Ausdruck bringen wollten, daß sie nicht mehr bereit waren, diese
Behandlung als »normal« hinzunehmen. Bis vor kurzem wurde sexuelle Ausbeutung von Frauen durch Therapeuten in einigen Kreisen als
weitgehend erfunden angesehen. Wenn eine Frau so etwas behauptete, wurde ihr entweder vorgeworfen, ihre Phantasie ginge mit ihr
durch oder sie sei die Verführerin gewesen. Dr. Alan A. Stone, ein
Experte der Psychiatrie und des Rechts, hat diese Haltung 1984 in
seinem Buch »Law, Psychiatry, and Morality« zusammengefaßt:
»Vor zwanzig Jahren waren Patientinnen, die behaupteten, von ihren
Psychotherapeuten sexuell ausgebeutet worden zu sein, der Gefahr
ausgesetzt, zu hören, daß sie unter psychotischen Umstellungen litten. Diese Vermutung beruhte auf den psychologischen Theorien,
daß diese Berichte hysterischem Wunschdenken entsprängen. Selbst
in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest wurde so geurteilt. Heute
erscheinen uns unsere früheren Ansichten schockierend und unentschuldbar.«
30
Die Bezeichnung »Sex in der verbotenen Zone«, wie sie in diesem
Buch definiert ist, faßt aus psychologischer Sicht ausbeuterisches Verhalten zusammen, das bisher mit verschiedenen Begriffen bezeichnet
wurde, wie sexuelles Fehlverhalten, sexuelle Ausbeutung, sexuelle
Kontakte, Verletzung sexueller Barrieren und unpassende Anzüglichkeit. Das sind die zur Zeit üblichsten Bezeichnungen für sexuelle
Beziehungen von einflußreichen Männern mit Frauen in ihrer
Obhut.
Die Unterscheidung zwischen der verbotenen sexuellen Zone und
annehmbarem sexuellen Verhalten muß jedoch in vielen Bereichen
unserer Gesellschaft noch klargestellt werden. Zum Beispiel wußte
mehr als die Hälfte der Frauen, die für dieses Buch interviewt wurden, zum Zeitpunkt ihrer sexuellen Beziehung mit einem einflußreichen Mann nicht, daß es ethische Vorschriften und in einigen Fällen
Gesetze gibt, die derartige Verbindungen verbieten.
Es ist üblich, daß Männer, die die verbotene Zone verletzen, ihren
weiblichen Opfern erklären, daß es gegen sexuelle Intimität nichts
einzuwenden gibt. Die meisten Männer wissen, daß das nicht
stimmt, und indem sie so etwas behaupten, manipulieren sie gewissenlos. Aber wenn Männer wirklich glauben, daß Geschlechtsverkehr unter solchen Bedingungen erlaubt sei, ist eine klarere Definition der Verbindungen nötig, in denen sexuelle Beziehungen
grundsätzlich schädlich sind.
Die verbotene Zone ist eine Beziehung, in der Sexualität unerlaubt ist, weil eine Frau einem Mann freiwillig Zugang zu ihren
intimsten Seiten gewährt, weil sie sich dadurch Hilfe erhofft. Das
Vertrauen entsteht durch die professionelle Rolle des Mannes als
Arzt, Therapeut, Rechtsanwalt, Geistlicher, Lehrer oder Mentor; in
dieser Vertrauensbeziehung soll das, was immer die Frau dem Mann
anvertrauen mag (ihren Besitz, ihren Körper, ihre Gedanken oder
ihre Seele), ausschließlich zur Förderung ihrer Interessen und nicht
zu seinem Vorteil benutzt werden, weder sexuell noch auf andere
Weise.
Innerhalb solcher Verhältnisse ist sexuelles Verhalten immer schädlich und falsch, egal, von wem es ausgeht, egal, wie sehr die Beteiligten daran interessiert sind. In der verbotenen Zone nehmen
die Faktoren Einfluß, Vertrauen und Abhängigkeit einer Frau die
31
Möglichkeit, frei über sexuellen Kontakt zu entscheiden. Die unterschwelligen Beweggründe in der verbotenen Zone können es einer
Frau unmöglich machen, ihre Zustimmung zu verweigern. Da der
Mann den größeren Einfluß hat, trägt er die Verantwortung dafür,
daß kein sexueller Kontakt stattfindet, gleichgültig, wie provozierend
die Frau sich verhalten mag.
Die verbotene Zone existiert immer in der Beziehung zwischen
Arzt und Patientin, Therapeuten und Patientin, Geistlichem und
Gemeindemitglied, Rechtsanwalt und Mandantin, Lehrer und Schülerin. All diese Berufe bringen die Verantwortung mit sich, die
Abhängigkeiten, die sich unweigerlich entwickeln, nicht zu mißbrauchen. Während Therapeuten und Geistliche sich mit psychologischen
und geistigen Verwundungen befassen, haben Rechtsanwälte, Lehrer
und Mentoren oft mit den gleichen Verwundungen zu tun, die als
äußere statt als innere Notlage ausgedrückt werden. Da die Art der
Beziehung von der inneren Qualität der Verbindung genauso abhängig ist wie von der äußeren, kann sich die verbotene Zone auch in
anderen Bereichen entwickeln, wie etwa am Arbeitsplatz, und zwar
immer dann, wenn keine Gleichberechtigung besteht.
Im weitesten Sinne kann die verbotene Zone in jeder menschlichen
Beziehung bestehen, in der eine Person der anderen übergeordnet ist.
Ein Vorteil der Abgrenzung des verbotenen Sexualbereichs ist, daß
sie uns ermöglicht, Beziehungen zu erkennen, in denen Übertretungen des Grenzbereichs vorkommen können, bevor es passiert.
Lassen Sie uns einen Moment das empfindliche Gleichgewicht
zwischen Einfluß und Vertrauen betrachten. Durch die Ungleichheit
der Kräfteverhältnisse in unserer Gesellschaft besitzt ein Mann oft
den Schlüssel zu Karriere, Gesundheit oder Zukunft einer Frau.
Es kann für ein Mädchen oder eine Frau folgenschwer sein, wenn
diese Verantwortung von einem Mann mit Autorität als sexuelle
Gelegenheit benutzt wird. Er bindet sie an sich, und wenn er sie aufgibt, ist sie oft zu verletzt, um in einer anderen Beziehung glücklich
zu werden. Sie wird sich wahrscheinlich mit der Opferrolle identifizieren, sie in anderen Beziehungen wiederholen und jedesmal ein
Stück mehr Selbstachtung und Lebensfreude verlieren.
Eine Frau erleidet auch Verletzungen, wenn sie dem Mann widersteht. Er macht es ihr unmöglich, die Beziehung fortzusetzen; damit
32
verliert sie einen Lehrer, einen Therapeuten, ein Vorbild oder einen
Mentor. Jeder derartige Verlust kann fatal sein; er kann die Einstellung einer Frau in beruflicher und privater Hinsicht von Grund auf
ändern.
Sex in der verbotenen Zone: Die Beteiligten
Daß die verbotene Zone Sex zwischen Arzten oder Therapeuten und
ihren Patientinnen ausschließt, ist in der Einführung deutlich gesagt
worden. Dieser Teil beschreibt die Gründe, weshalb die gleichen
Verbote für Beziehungen zwischen Pfarrer und Gemeindemitglied,
Rechtsanwalt und Mandantin, Lehrer und Schülerin und am Arbeitsplatz zwischen Mentor und Schützling gelten.
Pfarrer-Pfarrkind- oder
Geistlicher-Gemeindemitglied-Beziehungen
Ich gebrauche die Bezeichnung »Geistlicher« oder »Pfarrer« generell
für männliche religiöse Führer aller Glaubensrichtungen, selbst wenn
in der jeweiligen Glaubensgemeinschaft andere Bezeichnungen, wie
Priester, Rabbi, Vater oder Patriarch üblich sind. Die Voraussetzung,
die zu einem Abgleiten in die verbotene Zone führen kann, ist in
einer religiösen Umgebung das wiederholte Treffen zu zweit zwischen
einem Geistlichen und einer Frau seiner Gemeinde, egal, ob diese
Treffen seelsorgerischen Charakter haben oder nicht. Obwohl religiöse und geistliche Themen die ursprünglichen Beweggründe für diese
Zusammenkünfte gewesen sein mögen, werden doch intimere, persönliche Angelegenheiten bald berührt.
Der Einfluß des Pfarrers auf sein Pfarrkind ist dadurch garantiert,
daß er derjenige ist, der der Frau den Weg zu Gott weisen kann. Ein
Geistlicher, der zu sexueller Ausbeutung neigt, kann seine Autorität
leicht dazu mißbrauchen, einer Frau zu erklären, daß eine sexuelle
Beziehung von Gott gewollt ist. Selbst erfahrene Frauen können
Schwierigkeiten haben, dem Argument zu widerstehen, wenn sie der
religiösen Überzeugung anhängen, die der Geistliche vertritt.
33
Religiöse Kulte, in denen der Guru oder geistliche Führer sexuelle
Beziehungen mit vielen seiner weiblichen Gemeindemitglieder unterhält, sind deutliche Beispiele für dieses Phänomen. Der Anführer beutet das Vertrauen und den Wert der geistlichen Beziehung in der gleichen Weise aus, wie es Therapeuten, Rechtsanwälte, Lehrer oder
Mentoren in der privaten Atmosphäre ihrer Büros tun.
Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehungen
Auf den ersten Blick hat die Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehung
nicht unbedingt den gleichen Grad von Vertrautheit und Intimität,
der in den medizinischen, psychotherapeutischen und religiösen
Verbindungen so wesentlich ist. Rechtliche Themen kreisen um äußere, materielle Erwägungen statt um den Bereich der Gefühle oder der
Seele. Trotzdem gibt es verschiedene Gründe, weshalb eine Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehung auch den sexuellen Geboten der verbotenen Zone unterworfen ist.
Erstens müssen wir die emotionale Wirkung berücksichtigen, die
die Art der Lösung äußerer Probleme hat, um zu beurteilen, von welch
zentraler Bedeutung die Rechtsanwalt-Mandantin-Beziehung sein
kann. Das Ergebnis juristischer Maßnahmen kann die Seele in gleicher
Weise verletzen oder heilen wie in Beziehungen, die sich direkter mit
dem Gemüt befassen. Zweitens sind die Einflußbeweggründe die gleichen wie in anderen Beziehungen im verbotenen Bereich, und sie
bewirken in Frauen die gleiche psychologische Verletzbarkeit.
Drittens spielen sich viele sexuelle Affären dieser Kategorie mit
Anwälten ab, die auf das Familienrecht spezialisiert sind und Scheidungs- und Sorgerechtsfälle übernehmen. Familienrechtsprozesse
schließen die Möglichkeit ein, daß eine Frau ihr Heim, ihre wirtschaftliche Basis oder sogar das Sorgerecht für ihre Kinder verliert.
Der Rechtsanwalt hat enormen Einfluß auf die zukünftige Situation
der Frau. Der Umstand, daß Rechtsanwälte auf dem Gebiet menschlicher Emotionen weniger Erfahrung als Therapeuten haben, kann
die sexuelle Ausbeutungsmöglichkeit noch erhöhen.
34
Professor-Studentin-Beziehungen
Mein Gebrauch der Bezeichnung »Lehrer« beginnt mit der traditionellen Rolle eines Schullehrers in unserem Erziehungssystem. Von
dem Zeitpunkt an, wenn Mädchen zur Schule kommen und dann die
Oberschule, das College und die Universität durchlaufen, sind Lehrer
normalerweie einflußreiche Erscheinungen in ihrem Leben. Mädchen
und Frauen entwickeln durch Beziehungen zu diesen Lehrern oft ihr
Verständnis zu zentralen Themen, wie ihre Berufswahl, ihre romantischen, ethischen und geistigen Erwartungen.
Die Vorstellung einer Frau über ihren Platz in der männlichen
Welt ist stark von dem Grad beeinflußt, in dem ihr Talent und ihre
Leistungsfähigkeit Anerkennung durch einen Lehrer gefunden haben.
Viele Frauen berichten über den ihr Leben verändernden Einfluß
eines bestimmten Lehrers. Ein solcher Einfluß kann eindeutig gut
oder schlecht sein, das hängt davon ab, wie er ausgeübt wird.
Die Lehrer-Schülerin-Beziehung kann sich aus dem Klassenzimmer heraus leicht in eine höchst individuelle entwickeln, die Aspekte
von Elternersatz annehmen kann. Dieser Umstand unterstreicht, wie
wichtig es ist, die verbotene sexuelle Zone einzuhalten.
Das Problem sexueller Beziehungen zwischen Professoren und Studentinnen verlangt besondere Aufmerksamkeit wegen seiner Häufigkeit, die zum Teil auf den traditionellen Mangel an einer klar umrissenen verbotenen Zone an den Universitäten zurückzuführen ist. Leute,
die gegen solche Verbote argumentieren, behaupten, daß die beteiligten
Frauen zustimmende Erwachsene sind und daß es keine Verpflichtung
gibt, sie – wie in Beziehungen mit Therapeuten, Geistlichen oder
Rechtsanwälten – zu beschützen. An den Universitäten wird vorwiegend dem Opfer die Schuld zugeschoben, da behauptet wird, daß die
Studentinnen ihre Professoren zu sexuellen Annäherungsversuchen
ermutigen, um ihre akademische Karriere dadurch zu fördern. All diese Argumente lassen wichtige soziale und psychologische Realitäten
außer acht. Das gesellschaftliche Gefüge läßt den Lehrer oder Professor
noch immer über viel Einfluß verfügen. Ein Lehrer hat für ein
Mädchen oder eine Frau eine ganz besondere Art von Bedeutung,
wenn sie ihn in einer religiösen Institution kennenlernt. In diesen Fällen, egal, ob es sich um einen Laien oder einen Geistlichen handelt,
35
hat der Lehrer den zusätzlichen Einfluß durch das religiöse Umfeld und den Glauben in Kombination mit der Lehrer-SchülerinBeziehung. Wenn ein Mann Einfluß auf beide, die äußeren und
inneren, Identitätsvorstellungen einer Frau hat, kann die Bindung
vollständig sein. Einige der unerhörtesten Fälle von Ausbeutung
geschehen, wenn geistliche, erzieherische und gesellschaftliche
Bedürfnisse einer Frau durch einen einzigen einflußreichen Mann
erfüllt werden.
Mentor-Protégé-Beziehungen
Der Begriff Protégé bezeichnet jemanden, der durch einen Älteren
oder Einflußreicheren beschützt wird. Das umreißt genau die Bedingung, die für die verbotene Zone zutrifft. Weil Protégé das französische Wort für eine »beschützte Frau<> ist, dient er als allgemeiner
Begriff für Frauen in Beziehungen der verbotenen Zone. Wir sollten
uns durch die dem Wort zugrundeliegende Bedeutung daran erinnern, daß ein Mann immer die Pflicht hat, seinen Protege zu beschützen, und ihn nicht in Besitz nehmen darf.
In einer Ausbildungssituation kann die Mentor-Protégé-Beziehung eine höchst individuelle Version der Lehrer-Schülerin-Bindung
werden. Sie bringt die Voraussetzung mit sich, daß der Lehrer eine
besondere Verantwortung für die Schülerin übernimmt.
Am Arbeitsplatz kann eine Frau bemerken, daß sie eine wichtige,
persönliche Beziehung zu einem Mann entwickelt, der ihr Vorgesetzter oder Chef ist. Die Beziehung bekommt oft für den einflußreichen Mann und auch für die Frau eine besondere Bedeutung.
Er ist zum Teil Lehrer, zum Teil Beichtvater, zum Teil Vorbild. Sie
können viele Stunden zusammen verbringen und sogar zusammen
reisen. Obwohl die Beziehung eine unsexuelle Zielsetzung hat, können sich Phantasien über sexuellen Kontakt bei dem Mentor oder
dem Protégé entwickeln – in der gleichen Weise wie in psychotherapeutischen Beziehungen.
Die erhöhte Intimität und Wichtigkeit, die der Mentorbeziehung
beigemessen wird, macht sie eindeutig zur verbotenen sexuellen
Zone. Obwohl am Arbeitsplatz selten klar definierte Grundsätze die
Entwicklung sexueller Intimität zwischen Mentor und Protégé ver-
36
bieten, kann jeder Versuch, die Grenze zu überschreiten, den gleichen Schaden verursachen, der sich einstellt, wenn ein Therapeut
und eine Patientin sexuell intim werden.
Recherchen über die verbotene Zone
Der Mangel an Literatur oder Artikeln über sexuelle Ausbeutung in
den Berufen war 1984, als ich mit meinen Recherchen begann,
schockierend. Ich fragte mich, ob denn niemand die Vorkommnisse
sexueller Beziehungen zwischen Frauen und ihren Ärzten, Therapeuten, Geistlichen, Rechtsanwälten, Lehrern oder Mentoren untersucht
oder die unterschwelligen Beweggründe für diese Beziehungen analysiert hätte. Tatsächlich hatten sehr wenige über die Parallelen zwischen
dieser Art des Mißbrauchs von Einfluß und anderen Mustern sexuellen
Mißbrauchs außerhalb dieser besonderen Beziehungen geschrieben.
Ich fand nur zwei Bücher. Eines war der persönliche Bericht einer
Frau, die durch ihren Psychiater sexuell ausgebeutet worden war
(»Betrayal« von Lucy Freeman und Julie Roy). Das andere war,
unglaublicherweise, von einem Psychiater, der die Vorteile sexueller
Beziehungen zwischen Frauen und ihren Therapeuten darstellte
(»The Love Treatment« von Martin Shepard). Das Durchforsten von
Fachliteratur brachte nur eine Handvoll von Artikeln über Sex zwischen Patientinnen und ihren Ärzten oder Therapeuten zutage und
faktisch nichts über sexuellen Kontakt zwischen Frauen und Männern
in anderen Berufen.
Obwohl das wenige Material, das ich fand, wertvoll war und seitdem viel mehr Artikel und einige Bücher über das Thema erschienen
sind, war ich damals nicht über das erstaunt, was ich vorfand, sondern
darüber, was ich nicht vorfand. In der medizinischen Bibliothek der
hiesigen Universität, einer der größten der Welt, fehlten viele der
wichtigsten Fachartikel. Als ich die zuständige Bibliothekarin bat, mir
bei der Suche nach Fachliteratur über Artikel zum Thema Sex zwischen Therapeuten und Patientinnen zu helfen, war sie so überrascht
wie ich festzustellen, daß das umfangreiche, sehr ausgeklügelte Computer-Suchsystem nicht einmal eine entsprechende Kategorie auswies.
Ich schloß daraus, daß die Fachleute den sexuellen Mißbrauch in
ihren Reihen lieber ignorierten.
37
Eine Botschaft wurde klar, die Männer und Frauen vernommen
hatten, die vorher versucht hatten, die dunkle Seite ihrer Berufe zu
untersuchen: »Lassen Sie uns das geheimhalten. Sprechen Sie nicht
darüber, lesen Sie nichts darüber, versuchen Sie, nicht daran zu denken. Was immer Sie tun, schreiben Sie nirgendwo darüber, wo zu viele Leute es finden könnten. Selbst wenn wir es unter uns besprechen
müssen, halten Sie das auf alle Fälle von der Öffentlichkeit fern.«
1970 veröffentlichte Dr. Charles Dahlberg in der Zeitschrift
»Contemporary Psychoanalysis« eine der ersten Untersuchungen der
Fachliteratur über Sex zwischen Therapeuten und Patientinnen. Er
beschreibt Versuche, die Publikation seines Artikels zu verhindern
und ihn an eine Zeitschrift mit geringer Auflage abzuschieben:
»Es ist erstaunlich, daß nicht mehr darüber [Sex zwischen Therapeuten und Patientinnen] geschrieben worden ist. Ich sollte hier anmerken, daß ich Probleme hatte, diesen Artikel bei größeren Organisationen, bei denen ich weniger, aber immerhin nicht unbedeutenden
Einfluß hatte, unterzubringen. Mir wurde gesagt, er sei zu kontrovers. Welch eine Bezeichnung in einem Beruf, in dem man in viktorianischen Zeiten bereits über kindliche Sexualität und Inzest sprach.
›Ein zu heißes Eisen‹ – das war wohl damit gemeint.«
Dr. Nanette Gartrell, eine Psychiaterin in San Francisco, und ihre Kollegen haben die zuverlässigste und modernste Untersuchung über
sexuelle Kontakte zwischen Psychiatern und Patientinnen durchgeführt. Dr. Gartrell erzählt die Hintergrundgeschichte zu einer Schilderung in einem Kapitel mit dem Titel »Weigerung des Instituts gegen
Selbstuntersuchung: Ein Fallbericht« in einem der neuen Bücher zu
diesem Thema »Sexual Exploitation of Patients by Health Professionals«, herausgegeben von A. Burgess und C. Hart-man. Als Dr. Gartrell Vorsitzende der Untersuchungskommission der amerikanischen
psychiatrischen Gesellschaft war, die sich mit dem Thema sexueller
Kontakte zwischen Psychiatern und Patienten befaßte, schlug sie einen
Bericht über das Vorkommen sexueller Ausbeutung durch Psychiater
vor, der ein erster bescheidener Schritt zu dem Bemühen sein sollte,
auf das Problem aufmerksam zu machen. Aber die Gesellschaft, eine
Organisation, in der fast alle amerikanischen Psychiater Mitglieder
38
sind, weigerte sich, der eigenen Untersuchungskommission Mittel zur
Verfügung zu stellen und zu erlauben, das Projekt unter ihrer Schirmherrschaft durchführen zu lassen, indem sie auf die Gefahr negativer
Publizität hinwies. Dr. Gartrell und ihr Team waren gezwungen, die
Untersuchung außerhalb des Fachverbandes mit Hilfe privater Spenden durchzuführen.
Ich erkannte, daß diese Art von Unterdrückung die Heimlichkeit
spiegelt, zu der alle sexuellen Opfer gedrängt werden. Im Gegensatz
dazu ist das Brechen des Schweigens, der kühne Widerstand gegen den
Heimlichkeitskodex, ein Hilferuf der Frauen und Männer geworden,
die versuchen, sexuelle Ausbeutung zu verhindern, indem sie auf die
Umstände hinweisen, unter denen sie gedeiht. Jede Rede, die darüber
gehalten wird, jeder Artikel und jedes Buch, das über die zugrundeliegenden Beweggründe sexueller Ausbeutung geschrieben wird,
machen den Deckmantel durchsichtiger.
Statistische Untersuchungen auf diesem Gebiet können jedoch
immer noch nur unbefriedigend sein. Den meisten statistischen Untersuchungen liegen die Aussagen der wenigen Männer zugrunde, die
bereit sind, Ausbeutung zuzugeben. Da nur eine Minderheit sich dazu
bekennt, können die meisten Überschreitungen gar nicht erfaßt werden. Obwohl statistische Daten im medizinischen, psychotherapeutischen und im Lehrbereich an den Universitäten gesammelt werden,
gibt es noch keine Untersuchungen, die das Ausmaß sexueller Ausbeutung durch Rechtsanwälte, Geistliche und Vorgesetzte erfassen.
Dank einer kleinen Gruppe von Rechercheuren ist jedoch schon
etwas Licht in die Zone gefallen, die bisher völlig im dunkeln lag.
Während der letzten zehn Jahre haben diese Fachleute, von denen die
meisten Frauen sind, sich den blockierenden Bemühungen ihrer
männlichen Kollegen mutig widersetzt, um etwas Grundmaterial von
Studien und Statistiken über Sex in der verbotenen Zone zu sammeln.
Aber selbst sie wissen, daß es wichtiger ist, das Problem zu benennen,
als es zu beziffern.
Studien über sexuellen Kontakt an den Universitäten zeigen mit
großer Übereinstimmung, daß zwanzig bis dreißig Prozent der Studentinnen sexuelle Annäherungsversuche durch ihre Professoren
erfahren haben. In einem neueren Bericht steht, daß siebzehn Prozent der Studentinnen der Psychologie während ihrer Ausbildung mit
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ihren Professoren sexuell intim wurden und daß weitere dreißig Prozent unerwünschte Annäherungsversuche zurückgewiesen haben. Ein
Kollege sagte mir, daß es an seiner psychologischen Fakultät ein offenes Geheimnis und völlig akzeptiert war, daß fast jede Studentin, die
promovieren wollte, mit ihrem Doktorvater schlief. Trotzdem hat
niemand davon berichtet. Fand das etwa niemand bemerkenswert?
Oder entsprach dieses Verhalten zu sehr der Routine, um darüber zu
sprechen?
Dr. Jacqueline Bouhoutsos, eine Psychologin in Los Angeles, hat
erstmalig Studien über sexuelle Ausbeutung durch Psychotherapeuten
aller Fachrichtungen durchgeführt (inklusive Psychologen an Kliniken, Psychiatern, Sozialarbeitern und Eheberatern). Um die Abhängigkeit von Berichten der Männer zu umgehen, die selbst über ihre
Ausbeutung erzählen, befragten sie und ihre Kollegen praktizierende
Therapeuten, ob sie schon Patientinnen behandelt hätten, die sexuelle
Beziehungen mit früheren Therapeuten gehabt hatten. Ihre Ergebnisse zeigen, daß siebzig Prozent der Therapeuten über mindestens eine
Patientin berichteten, die eine solche Beziehung gehabt hatte; 96 Prozent dieser früheren Therapeuten waren Männer. Dr. Bouhoutsos sammelte diese Informationen mit Dr. Kenneth Pope 1986 in der wertvollen Studie »Sexual Intimacy Between Therapists and Patients«.
Die Autorin Dr. Judith Herman hat sich mit Dr. Gartrell und
anderen Kollegen zusammengetan, um die bisher gründlichste Studie
über Sex zwischen Psychiatern und ihren Patientinnen durchzuführen. In ihrer Untersuchung gaben von 1057 Psychiatern, die ihren
Fragebogen ausfüllten, 7,1 Prozent zu, sexuellen Kontakt mit einer
Patientin gehabt zu haben. Sie fassen das Hauptthema in ihrem im
September 1986 im »American Journal of Psychiatry« erschienenen
Artikel zusammen:
»Der hippokratische Eid und der ethische Kodex der amerikanischen
psychiatrischen Gesellschaft verbieten sexuellen Kontakt zwischen
Psychiatern und Patienten. Trotzdem verbinden sich einige Psychiater sexuell mit ihren Patientinnen. Obwohl Unterlagen über das Ausmaß des Problems nur begrenzt zur Verfügung stehen, zeigt das beste
zur Verfügung stehende Material, daß sechs bis zehn Prozent der Psychiater sexuellen Kontakt mit ihren Patientinnen gehabt haben und
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daß die Mehrzahl der Psychiater von solchen Fällen wußte, aber
nichts dagegen unternommen hat. Obwohl sich die Anzahl von Meldungen und Beschwerden über sexuellen Mißbrauch bei ethischen
Ausschüssen und Fachverbänden in den letzten Jahren erhöht hat,
wird allgemein zugegeben, daß nur ein ganz kleiner Teil dieser Fälle
öffentlich zur Notiz genommen wird. «
Aus einer Studie im »American Journal of Psychiatry« ging hervor,
daß im medizinischen Bereich, in dem die Ungleichheit des Einflusses besonders offenkundig und sexueller Kontakt durch den hippokratischen Eid ausdrücklich verboten ist, dreizehn Prozent der Ärzte
über sexuelle Verbindungen mit Patientinnen berichteten. Von diesen gaben achtzig Prozent an, mit durchschnittlich sechs Patientinnen intimen Kontakt gehabt zu haben. Das unterstützt die These,
daß die meisten Männer, die die verbotene Zone übertreten, sogenannte Wiederholungstäter sind, die serienmäßig eine Frau nach der
anderen ausbeuten.
Ich konnte keine einzige veröffentlichte statistische Studie über
sexuelles Fehlverhalten bei Geistlichen finden. Trotzdem glauben Kollegen, die Erfahrung in diesem Bereich haben, daß das Vorkommen
bei Geistlichen noch die geschätzten zehn Prozent bei Psychotherapeuten übersteigt.
Selbst wenn wir die zur Verfügung stehenden Statistiken vorsichtig
benutzen, ist die Anzahl der Frauen, die durch Sex in der verbotenen
Zone betroffen sind, erschütternd. Ohne Vorgesetzte am Arbeitsplatz
sind, laut einem 1986 erschienenen Bericht des Arbeitsamtes, ungefähr
vier Millionen Männer in den Vereinigten Staaten in den anderen Berufen tätig, auf die die in diesem Buch definierte verbotene Zone zutrifft:
Ärzte, Psychotherapeuten, Rechtsanwälte, Geistliche und Lehrer.
Wenn wir von einer Mindestzahl von zehn Prozent dieser Männer
ausgehen, die Frauen in ihrer Obhut ausbeuten, und wenn wir annehmen, daß jeder dieser Männer mit nur einem einzigen Protégé sexuelle Beziehungen hatte, kommen wir auf die Anzahl von 400 000
Opfern. Aber da die Untersuchungen ausweisen, daß die meisten
aus-beuterischen Männer Wiederholungstäter sind, die viele Frauen
mißbrauchen, können wir diese Zahl (wiederum vorsichtig) verdreifachen, um auf die keineswegs unwahrscheinliche Zahl von über einer
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Million Frauen zu kommen, die in den USA in Vertrauensbeziehungen sexuell zu Opfern geworden sind.
Wenn wir die unzähligen Vorgesetzter-Protégé-Beziehungen am
Arbeitsplatz dazurechnen, in denen Sex stattfindet, sind wahrscheinlich mehrere Millionen Frauen betroffen.
Weil das Thema nicht mit Statistiken unterlegt werden kann, werden in diesem Buch Schlußfolgerungen aus vielen Fallstudien gezogen.
Meine Beobachtungen entstammen einer Datenbank von mehr als
tausend Fallberichten über männliche Fachleute, die sexuelle Beziehungen mit Patientinnen, Mandantinnen, Gemeindemitgliedern und
Studentinnen hatten. Diese Berichte stammen aus mehreren Quellen:
(1) Männer und Frauen, die ich während der letzten fünfzehn Jahre in
meiner psychiatrischen Praxis getroffen habe, (2) Männer und Frauen,
die nicht meine Patienten waren, aber bereit waren, mir speziell für
dieses Buch von ihren Erfahrungen zu berichten, (3) Fälle, mit denen
andere Fachleute – Psychiater, Psychologen, Geistliche, Rechtsanwälte,
Lehrer – mich aus ihrer Praxis vertraut machten, und (4) Fallstudien
aus Vorträgen bei Kongressen, die in der Fachliteratur veröffentlicht
oder bei Gerichten oder den Berufsverbänden registriert wurden.
Obwohl es äußerst wichtig ist, den Vorhang der Heimlichkeit von
der verbotenen Zone zu lüften, müssen wir das in einer Weise tun, die
die private Vertrauenssphäre der Opfer nicht weiter verletzt, indem wir
ihnen das Recht absprechen zu entscheiden, wann und wem sie ihre
Geschichte mitteilen wollen.
Ich fühlte, daß die Frage der Ausbeutung sich stellen könnte, wenn
ich meine Patienten bitten würde, ihre Fälle in meinem Buch zu verarbeiten, und daß sie eine verborgene Verpflichtung, ihrem Therapeuten zu helfen, zur Zustimmung veranlassen könnte. Deshalb
betrifft – mit einer einzigen Ausnahme – keiner der Fälle, die ich
beschreibe, Patienten meiner eigenen Praxis oder verrät vertrauliche
Berichte, die ich von Kollegen erhalten habe. Bei der einen Ausnahme handelt es sich um eine Frau, deren Behandlung ich vor vielen
Jahren beendete und bei der ich es unangebracht fand, sie um ihre
Erlaubnis zu bitten. Obwohl ich mich mit der Frage herumgeschlagen habe, ob es richtig sei, das Material in diesem Buch zu benutzen,
entschied ich mich schließlich, es zu tun, wobei ich die Identität sorgfältig verhüllt habe.
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Die anderen Fälle, die ich detailliert beschreibe, entstammen den
Interviews, die ich speziell für dieses Buch durchgeführt habe. Einige
Personen wurden durch Rechtsanwälte oder Therapeuten auf mich
hingewiesen, andere, darunter eine erstaunliche Anzahl von Frauen,
die jetzt selbst helfende Berufe ausüben, nahmen mit mir Kontakt
auf, als sie von meinen Recherchen hörten, und boten mir ihre Erfahrungen an. Ich habe diese Fälle mit unterschiedlichen Graden von
Entfremdung präsentiert, und einige sind Zusammensetzungen. Alle
Namen und identifizierenden Details, die auf die eigentlichen Personen und die männlichen und weiblichen Fachleute hinweisen könnten, mit denen Beziehungen unterhalten wurden, habe ich zum
Schutz der privaten Sphäre geändert.
Letztlich sind die Erfahrungen der Frauen und Männer, die hier
erwähnt sind, repräsentativ für eine zahllose Gesamtheit. Jede Person,
deren Bericht ich präsentiere, und all diejenigen, deren Geschichten
verborgen sind, bilden das Zentrum von Wellenbewegungen, die
immer größere Kreise ziehen könnten: Ist diese Frau das einzige
Opfer dieses sexuell ausbeuterischen Psychiaters? Wie wirkte sich die
Depression der Frau auf ihre Kinder aus? Wie hat sich die Affäre des
Psychiaters mit einer Patientin auf die anderen Frauen ausgewirkt, die
er zur gleichen Zeit behandelte? Wie hat sich das auf seine Frau und
seine Familie ausgewirkt?
Wenn sich herausstellt, daß ein Pfarrer viele Jahre hindurch wiederholt die Regeln gegen sexuellen Mißbrauch verletzt hat, die er
selbst propagiert hat und wegen deren Verletzung er andere bestraft
hat, wie wirkt sich das auf den religiösen Glauben und die Praktiken
seiner Gemeinde aus? Was besagt das für seine spezielle religiöse Institution und für sein Pfarramt?
Und wie steht es mit Männern, die von anderen Männern, die
Frauen sexuell ausbeuten, behandelt und unterrichtet werden? Welche Haltung gegenüber Frauen wird unterstützt? Ich kenne Männer,
die ihre einstigen Vorbilder verachteten, als sie herausfanden, daß
diese Therapeuten, Pfarrer oder Lehrer systematisch Protégés ausgebeutet hatten. Über solchen Verrat entrüstet, konnten sie nicht vermeiden, sich selbst für das zu verachten, was sie als ihre blinde Ergebenheit betrachteten. Andere Männer finden es moralisch bequem,
den Fußstapfen der ausbeuterischen Vorbilder zu folgen. So nützlich
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die entstehenden Statistiken sind, so können doch unmöglich Zahlen
den vollen Umfang menschlichen Nachteils durch Sex in der verbotenen Zone vermitteln.
Eine Anmerkung zur Terminologie
Psychologie ist einzigartig dazu geeignet, Personen tieferes Verständnis für ihre eigenen Erfahrungen zu vermitteln. Die reichste psychologische Sprache ist die Umgangssprache, Fachausdrücke lenken von
deren Reichtum ab. Aus diesem Grund habe ich versucht, den psychologischen Fachjargon soweit wie möglich zu vermeiden. Statt
Fachausdrücke zu benutzen und zu versuchen, sie den Laien zu definieren, habe ich mich bemüht, alltägliche Ausdrücke anzuwenden
und sie mit der psychologischen Bedeutung zu erfüllen, die sie in diesem Buch haben. Trotzdem werde ich hier einige psychologische
Begriffe definieren, die für eine Diskussion über Sex in der verbotenen Zone unerläßlich scheinen:
Grenzbereiche
Grenzbereiche definieren, wer wir sind, wo wir aufhören und der Rest
der Welt beginnt, was uns gehört und was uns nicht gehört, was intim
und was öffentlich ist. Manchmal können Grenzbereiche physisch
wahrgenommen werden. Mit Sicherheit gehören unsere Körper und
unsere Kleidung uns, und jemand, der sie berührt oder uns näher als
einen knappen Meter kommt, tritt in den intimen Raum unseres
Grenzbereiches ein. Aber wir haben auch einen psychologischen Grenzbereich. Wenn wir nicht gelernt haben, diese weniger faßbaren Grenzbereiche zu erkennen und zu kontrollieren, können uns andere Leute
psychologisch überrennen. Solches Überrennen kann an sich schädlich
sein, und es kann den Weg für späteres sexuelles Ausbeuten ebnen. Botschaften, die wir als Kinder durch die Familie und durch die Gesellschaft
empfangen, entscheiden über den Grad von Kraft, den wir haben, um
unsere physischen und psychologischen Grenzbereiche zu verteidigen.
Generell werden Männer in unserer Gesellschaft dazu erzogen, sexuelle
Grenzbereiche herauszufordern, und Frauen werden dazu erzogen,
männliche Herausforderung als Selbstverständlichkeit zu akzeptieren.
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Sexuelles Verhalten, Invasion, Phantasie
Jeder physische Kontakt oder jede Körperbewegung, die ausgeübt
wird, um erotisches Interesse zu wecken, ist sexuelles Verhalten. Unterscheidungen, wie wer wen berührt hat, in welcher Weise oder an
welchem Teil des Körpers, sind unwichtig, wenn es sich um Sex in der
verbotenen Zone handelt, in der jede Berührung mit erotischem Interesse, inklusive der eigenen Berührung, eine Verletzung des Grenzbereiches darstellt. Selbst ein angeblich versehentliches Streifen des Körpers einer Frau muß als sexuelle Belästigung betrachtet werden, wenn
ein Mann mit erotischem Interesse es eingerichtet hat, nahe genug zu
sein, damit ein solcher »Zufall« sich ereignen konnte.
Sexuelle Invasion kann auch dann vorkommen, wenn die andere
Person nicht berührt wird. Masturbierende und andere provozierende
Körperbewegungen sind realen Geschlechtsakten gleichzusetzen, selbst
wenn kein Körperkontakt zu der anderen Person stattfindet, und sind
genauso eine Verletzung der verbotenen Zone, wie es die tatsächliche
Berührung ist.
Anzügliche Sprache sollte ebenfalls als sexuelles Verhalten angesehen
werden. Die Art, in der ein Mann mit einer Frau spricht, kann ein Akt
sexueller Invasion werden. Selbst übliche Bemerkungen, die Männer
Frauen gegenüber machen, wie »Sie haben einen wundervollen Körper«, sind beides, anzüglich und degradierend. Unter Berücksichtigung
der psychologischen Atmosphäre der verbotenen Zone muß der überwältigende Einfluß der Sprache als konkreter Akt angesehen werden.
Sexualität kann auch auf nichtbelästigende Weise empfunden werden, als ein Gefühl, das in einem selbst begründet ist und von einer
anderen Person oder der »Atmosphäre« ausgeht. Sexualität ist – ob wir
das wollen oder nicht – in vielen Situationen vorherrschend. Sie zu
bemerken ist von äußerster Wichtigkeit, um sexuelle Überschreitung
zu vermeiden.
Sexuelle Phantasie ist eine spezielle Art geschlechtlichen Empfindens mit Vorstellungen sexuellen Verhaltens zur Erreichung erotischer
Ziele. Solange eine klare Abgrenzung zwischen Vorstellung und Realisierung eingehalten wird, ist sexuelle Phantasie nicht aufdringlich
und kann möglicherweise von der Person, die Wunschvorstellungen
hat, konstruktiv umgesetzt werden. Trotzdem besteht in der verbote-
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nen Zone die Gefahr, daß der Mann den Grenzbereich vernebelt, um
die Frau zu involvieren, obwohl es seine Pflicht ist, ihre Interessen zu
schützen.
Es ist wichtig, die Unterscheidung zwischen verbotenem Geschlechtsverkehr und sexuellen Empfindungen klarzumachen. Es ist
völlig natürlich, in wichtigen Beziehungen sexuelle Empfindungen
und Phantasien zu haben. Die Fähigkeit, der Auflebung dieser Gefühle zu widerstehen, ist die entscheidende Voraussetzung, um den
sexuellen Grenzbereich respektieren zu können.
Mißbrauch, Einfluß und Vertrauen
Mißbrauch scheint mir der passendste Ausdruck für Sex in der verbotenen Zone zu sein; denn das Opfer braucht Hilfe, wird aber
mißbraucht.
Einfluß bezieht sich auf den Unterschied der sozialen Stellung
und der persönlichen Freiheit zwischen zwei Personen, der dazu
führt, daß einer dem anderen seinen Willen aufzwingt. Dieser Wille wird gewöhnlich psychologisch aufgezwungen, kann sich aber
auch psychisch auswirken, so wie bei der Entwicklung sexueller
Intimität. Der Einfluß des Unterschieds beginnt, wenn eine Person
mit speziellen Bedürfnissen sich auf der Suche nach Hilfe an eine
andere wendet, die über mehr Kenntnisse, Erfahrungen oder
Fähigkeiten verfügt. Sobald die Beziehung beginnt, wächst die Einflußmöglichkeit, den Willen aufzuzwingen, erheblich, da die einflußreichere Person damit drohen kann, die Beziehung aufzugeben.
Vertrauen bezieht sich auf die Annahme einer Person mit geringerem Einfluß, daß die einflußreichere Person im Interesse der
hilfesuchenden handeln wird. Diese Annahme ist auf die Quelle der
Kind-Eltern-Beziehung zurückzuführen. Die Neigung zum Vertrauen wird durch die Fachleute selbst bestärkt und hervorgerufen, denn
sie sind durch einen ethischen Kodex verpflichtet, wonach sie das
Interesse der Patientin, Mandantin, Studentin, des Gemeindemitgliedes oder des Protégés unbedingt zu berücksichtigen haben und
wonach sexueller Kontakt nicht erlaubt ist. Tatsächlich haben viele
Frauen in Beziehungen der verbotenen Zone keine andere Möglichkeit, ihr Leben in den Griff zu bekommen oder sich weiterzuent-
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wickeln, als sich darauf zu verlassen, daß ein einflußreicher Mann
seinen Einfluß dazu benutzen wird, ihnen zu helfen, statt sie zu
mißbrauchen.
Psyche, Wunden, Übertragung und Ego
Psyche ist der umfassende Begriff für die Gesamtheit unserer psychologischen Kapazitäten und Funktionen. Gemüt, Gefühle, Intellekt,
Träume, Empfindung, Persönlichkeit, Selbstwertgefühl, innere Stimme, Vorstellungskraft, Leistungsfähigkeit, Verzweiflung und Leidenschaft gehören zum Bereich der Psyche.
Dieses Buch geht davon aus, daß wir alle psychologische Wunden
haben, die wir mehr oder weniger durch unser Verhalten im täglichen
Leben zu heilen oder zu mildern versuchen. Bei einigen Leuten sind
die Wunden durch ihr depressives, selbstzerstörerisches oder ausbeuterisches Verhalten offensichtlich. Andere verbergen ihre Wunden so
gut, daß nichts auf die Schwere ihres Leidens hinweist. Meine Arbeit
als Therapeut hat mich in meinem Optimismus bestärkt, daß es
unzählige Möglichkeiten gibt, selbst die schlimmsten Auswirkungen
zu heilen, wenn die Wunden der Betroffenen und ihre Ursachen erst
einmal erkannt werden. Im folgenden Kapitel werde ich die verschiedensten Wunden und die Möglichkeiten, sie zu heilen, ausführlicher
beschreiben.
Übertragung wird in der Psychotherapie die Entwicklung von starken Gefühlen der Patienten für ihre Therapeuten genannt. Ubertragungsgefühle sind in mancher Hinsicht eine Wiedererfahrung früherer
unterschwelliger Emotionen in der Familie, aber in anderer Hinsicht
weisen sie auf zukünftige Möglichkeiten der Entwicklung eines neuen,
gesunderen Gefühlslebens hin. Zum Beispiel kann eine Patientin, die
versucht, ihren Therapeuten zu verführen, damit alte Verhaltensmuster
wiederholen, aber sie wird dabei höchstwahrscheinlich auf eine Reaktion hoffen, die sie von weiteren Wiederholungen abhält. Es liegt dann
an dem Therapeuten, seiner Patientin die Problematik vor Augen zu
führen und ihr zu neuen heilenden Erkenntnissen zu verhelfen.
Wie der Therapeut auf die Übertragung reagiert, kann über das
weitere Schicksal der Patientin entscheiden. Er trägt eine besondere
Verantwortung, die ihm bewußt sein sollte.
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Ähnliche Übertragungsgefühle gibt es auch in den Arzt-Patientin,
Pfarrer-Pfarrkind-, Rechtsanwalt-Mandantin-, Lehrer-Schülerin- und
Mentor-Protégé-Beziehungen, egal, ob sie erkannt werden oder nicht.
Deshalb muß sexuelles Verhalten in all diesen Beziehungen im verbotenen Bereich zunächst einmal auf die Übertragung der Frau zurückgeführt werden.
Der Begriff Ego, wie ich ihn hier benutze, bezieht sich auf einen
inneren Kern von Wertvorstellung, Wissen, Energie, Bedeutung
und Lebendigkeit, der dem des äußeren, gesellschaftlichen Begriffs
von sich selbst vorausgeht. Wir sind manchmal schockiert, wenn
wir das persönliche Leiden eines Menschen erkennen, der sonst –
auf der äußeren, materiellen Ebene – sehr erfolgreich ist. Das kann
vorkommen, wenn aufgrund von familiärer oder gesellschaftlicher
Erwartungshaltung äußere oder materielle Ziele verfolgt werden,
die in falscher Relation zu den eigenen Wertbegriffen stehen. Letztlich zählt der eigene Wertbegriff, wenn es um die Entscheidung
geht, ob ein Leben als sinnvoll empfunden wird. Das Ego kann tief
verletzt sein, aber es ist auch eine Quelle der Hoffnung, Heilung
und Erholung. Für beide, den einflußreichen Mann und seinen
Protégé, spielt das Thema Ego eine entscheidende Rolle. Die Neigung eines Mannes, sexuelle Phantasien im verbotenen Bereich zu
entwickeln, ist ein Ausdruck seiner Suche nach Lebendigkeit in sich
selbst. In der verbotenen Zone werden heilende Momente erfahren,
wenn der Mann und die Frau auf eigene Qualitäten zurückgreifen,
um zerstörerischen Verletzungen des Grenzbereiches zu widerstehen. Die meisten Frauen, die ausbeuterische sexuelle Beziehungen
erfahren haben, sind in ihrem innersten Ego tief verletzt. Diese psychologische Verwundung, die oft als das Ende der Hoffnung selbst
empfunden wird, bleibt der größte Schaden durch Sex in der verbotenen Zone.
Ein letzter Punkt zur Orientierung: Eines meiner Spezialgebiete als
Psychiater ist die Psychoanalyse nach der Methode von C. G. Jung, für
die ich an der Universität Sonderkurse belegte. C. G. Jung, ein Schweizer Psychiater, vertrat die Ansicht, daß Ereignisse, die sich in der
menschlichen Psyche abspielen, so real, benennbar und verständlich
sind wie die, die wir in der Außenwelt wahrnehmen. Viele dieser
inneren Ereignisse spielen sich im Unterbewußtsein ab, das eine
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Quelle innerer Kraft und Heilung sein kann und das durch Träume
und Psychotherapie zugänglich gemacht werden kann. C. G. Jung war
davon überzeugt, daß die Veränderung bedrückender sozialer Bedingungen von der Fähigkeit eines jeden als Individuum abhängt, die
dunkle Seite seiner Psyche (die »Schattenseite«) zu erkennen.
C.G. Jung war einer der vielen einflußreichen Männer, die Probleme mit ihrer eigenen sexuellen Schattenseite hatten, und es gibt Beweise dafür, daß Jung mit zwei Patientinnen sexuelle Beziehungen hatte. In
Anbetracht dieser ethischen Übertretungen ist es nicht ohne Ironie, daß
Jungs Arbeit einen bedeutenden psychologischen Rahmen für konstruktive Aussöhnung gegensätzlicher Standpunkte bietet, so-wohl auf
dem Gebiet der Politik als auch auf dem der Kultur und
zwischen den Geschlechtern. Zum Beispiel ist es ein Kernpunkt
seiner Psychologie, daß Männer lernen können, sich in Frauen einzufühlen, indem sie die angeborenen femininen Neigungen in sich selbst
entdecken (»Anima«). Ebenso können Frauen Fähigkeiten
verstehen und entwickeln, die sie Männern zuschreiben, indem sie maskuline Seiten in sich selbst erkennen (»Animus«). Obwohl Jungs Terminologie in diesem Buch nicht angewandt wird, sind Konzepte und
Betrachtungsweisen, die ich präsentiere, eindeutig an Jung orientiert.
Jungs Verletzung der verbotenen Zone ist für uns alle ein mahnendes Beispiel. Ich kann nur hoffen, daß dieses Buch in einem
gewissen Maß zur Wiedergutmachung der von ihm und vielen unserer kulturellen Väter begangenen Fehler beitragen wird.
Meine Hoffnung ist, daß diese Untersuchung über Sex in der verbotenen Zone Männern und Frauen helfen kann, die Unterschiede
zwischen belebenden und zerstörerischen Ausdrucksformen der
Sexualität bei sich selbst und den Mitmenschen viel bewußter zu
sehen. Aus diesem Bewußtsein entsteht die Kraft zu wissen, wann und
wie man an gesundem Sex teilhaben und wie man ungesunden Sex
zurückweisen sollte; denn letztlich wird die verbotene Zone in ihrer
weitesten Bedeutung nicht durch Vorschriften, sondern durch Verständnis und Respekt abgegrenzt. Es ist eine Aufgabe für uns alle, uns
darüber klarzuwerden, auf welch üble Art wir einander behandeln.
Indem wir das erkennen, erhalten wir die Chance, das Beste in uns
selbst zu entdecken und, wenn es zur Intimität kommt, dem anderen
nicht weniger als das Beste von uns zu bieten.
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1. Kapitel
Beziehungen von
unschätzbarem Wert:
Der psychologische Kern
der verbotenen Zone
»Könnte ich noch einmal eine sexuelle Beziehung mit einem Mitglied
meiner Gemeinde haben? Sicher, wenn ich ehrlich bin. Ich möchte
nicht aufhören, von dem Verbotenen angezogen zu werden. Das abzulehnen würde bedeuten, einen Teil meiner Männlichkeit abzulehnen.
Ich verstehe die Notwendigkeit einer Grenze, aber die Vorstellung, sie
zu überschreiten, ist unvergleichlich erregend. Ich weiß nicht, warum
das so wichtig ist, aber es ist so. Das aufzugeben wäre wie sterben.«
Reverend Grant Bennett
»In unserer Beziehung war ein Hochgefühl, das ich als göttlich empfand. Bei Dr. Yount konnte ich meine tiefsten verwundeten Schichten bloßlegen und auf Liebe und Verständnis hoffen. Ich hoffte, daß
er mich berühren würde, daß er den Teil von mir berühren würde,
der immer verletzt und zurückgewiesen worden war, und daß er ihn,
und damit mich, durch Berührung wieder zum Leben erwecken
würde.«
Helen Kifner
I
n diesen leidenschaftlichen Worten beginnen wir die enormen
psychologischen Kräfte zu erahnen, die beide, Männer und Frauen, in Beziehungen der verbotenen Zone empfinden. Diese innere Dimension der Kraft ist der Schlüssel zu dem Rätsel, warum selbst
redliche, hochqualifizierte Männer und Frauen die Grenze zu einer
zerstörerischen sexuellen Beziehung überschreiten können.
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Die Gefühle, die Helen Kifner zum Ausdruck bringt, weisen uns
auf die ursprünglichen, unerotischen Gründe hin, die Frauen so leicht
dazu bewegen, Beziehungen im verbotenen Bereich einzugehen und,
über den Zeitpunkt des Mißbrauchs hinaus, darin zu verharren.
Reverend Bennetts Offenheit über die Verlockung des Verbotenen
weist auf die Ursachen hin, warum Männer so unerbittlich zur sexuellen Verschmelzung mit Frauen neigen, die sie beschützen sollten,
daß sie für ein paar gestohlene Momente ihr Leben, ihr Vermögen
und ihre Würde riskieren.
Es ist klar, daß für beide, Männer und Frauen, die besonderen
Umstände der Intimität in der verbotenen Zone Zugang zu Beziehungen bieten, die als unschätzbar wertvoll empfunden werden.
Unter diesen Bedingungen bietet das plötzliche Zusammenkommen
eines Mannes und einer Frau die Möglichkeit, Wunden der Vergangenheit zu heilen, und Hoffnung auf ein mit Selbstwertgefühl erfülltes Leben.
Während das Vorwort zu diesem Buch die äußeren, sichtbaren
Dimensionen über Sex in der verbotenen Zone zusammenfaßt,
beschäftigt sich dieses Kapitel mit dem psychologischen Kern. Denn
egal, wieviel wir über die politische und gesellschaftliche Ungleichheit
des Einflusses zwischen Männern und Frauen erfahren, wir werden
unfähig sein, das Verhaltensmuster sexueller Ausbeutung zu ändern,
wenn wir nicht die in uns allen in der Psyche verborgenen Gefühle
berücksichtigen, die verbotenen Sex so reizvoll wirken lassen.
Als Psychiater mit speziellem Interesse daran, soviel wie möglich
über die innere psychologische Welt der Menschen und über das
äußere soziale Umfeld zu wissen, bin ich besonders damit beschäftigt
herauszufinden, wie diese beiden Dimensionen, die äußere und die
innere, zusammenwirken.
Dem Gedanken von C. G. Jung folgend, betrachte ich die innere
Welt, die Welt unserer Gedanken, Erinnerungen, Gefühle, Träume,
Hoffnungen und Phantasien, als gleichwertig mit der äußeren, die wir
sehen, berühren und fühlen können. Auch die innere Welt kann gesehen, erforscht, erkundet und dargestellt werden, aber mit anderen
Sinnen. Die Sinne, die uns unmittelbar über die innere Welt informieren, sind Intuition, körperliche Erregung, Gefühle und Vorstellungen in Träumen und Wachträumen.
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Die Kompliziertheit der inneren Welt kann logisch gegliedert, erklärt
und verstanden werden. Innere Erlebnisse haben ein anderes Muster und
eine andere Logik als äußere, aber wenn wir beginnen, die innere Welt
in ihrer eigenen »Sprache« zu erkunden, können unabhängige und
scheinbar unzusammenhängende Erlebnisse genauso eindeutig in Beziehung zueinander stehen wie der Regen mit sprießenden Pflanzen.
Die innere Welt hat ihr eigenes Ökosystem. Um zu wachsen und
zu gedeihen, braucht jede individuelle Psyche eine Ausgewogenheit
von Liebe, Geborgenheit, Respekt, Verbindung zu anderen Menschen, Abgeschiedenheit von anderen, die Sicherheit des Vertrauten
und die Anregung durch das Unbekannte. Um unser Gleichgewicht
zu erhalten, muß jeder von uns in der Lage sein, die unvermeidlichen
Wunden, Schmerz, Verlust und Entzug, die das Leben mit sich
bringt, zu erfahren – und sich davon zu erholen.
Der Prozeß der Verwundung und Heilung, des Verlierens und der
Erneuerung setzt sich unser Leben hindurch fort, während wir wachsen und uns biologisch und psychologisch entwickeln: Das Vorbild,
das wir in unserer Kindheit durch Eltern oder andere wichtige
Erwachsene hatten, ist entscheidend für die Art, in der jeder von uns
auf Schmerz und Verlust reagiert.
Wenn unsere Eltern in der Lage waren, auf relativ gesunde Weise
mit ihren einschneidenden Verlusten, solchen wie der Verlust eines geliebten Menschen durch Tod oder Trennung, ein Rückschlag im
Berufsleben, eine Periode wirtschaftlicher Not, fertig zu werden, werden wir über ein Erbgut von Hoffnung und Glauben verfügen, wenn
wir unsere eigene ernste Verwundung erleiden. Wir werden fähig sein
durchzuhalten, Hilfe von anderen zu suchen, wenn das dienlich ist,
mit unserem Leben nach bestem Vermögen fortfahren und uns
schließlich erholen.
Auf der anderen Seite werden Menschen, die in ihrer Kindheit
negative Vorbilder hatten, mit dem Gefühl relativer Hoffnungslosigkeit und der Neigung zum vorschnellen Verzweifeln heranwachsen.
Wenn sie einen Verlust hinnehmen müssen, können sie die Lage
verschlimmern, indem sie sich selbst Vorwürfe machen oder den
Schmerz durch Drogen betäuben oder ihre Mitmenschen durch psychologische und physische Destruktivität verletzen. Sogenannte funktionsgestörte Familien geben die Botschaft von Hoffnungslosigkeit
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durch Muster von Isolation, Tablettensucht und verletzendem Verhalten untereinander von einer Generation an die nächste weiter.
Trotzdem ist in jedem Menschen die Hoffnung auf Heilung von
Wunden lebendig – mehr oder minder intensiv. Und deswegen haben
Beziehungen zu Fachleuten, die Vertrauen genießen, diesen außerordentlichen Einfluß auf das Leben von Menschen, eben weil sie soviel
Hoffnung bieten. Im günstigsten Fall werden Therapeuten, Geistliche, Rechtsanwälte, Mentoren und Lehrer Wunden aus der Vergangenheit heilen, dem Leben wieder Sinn geben, Zugang zu tieferen
Quellen des Selbst verschaffen – und sogar Leben retten.
Wenn wir eine solche Vertrauensbeziehung eingehen, sehen wir
eine neue Möglichkeit, mit den Problemen des Lebens fertig zu werden, eine Möglichkeit, die verspricht, uns die Beschränkungen unseres
Lebens, die wir vielleicht in unseren Familien kennengelernt haben,
überwinden zu lassen. Wir schöpfen wieder Hoffnung, daß unsere verwundeten Seiten, die nicht verheilt sind, »zum Leben erweckt« werden. Obwohl Frauen in der verbotenen Zone die schwächere Position
haben, neigen Männer unter der Decke ihres sozialen Niveaus, das sie
mit Einfluß ausstattet, genauso stark zu der Erwartung, durch diese
Beziehungen Wunden aus der Vergangenheit zu heilen.
Unschätzbarer Wert für Frauen:
Neue und unbegrenzte Möglichkeiten
Jede der von mir interviewten Frauen, die Sex in der verbotenen Zone
erlebt hatte, beschrieb den unschätzbaren unsexuellen Wert, den die
Beziehung für sie hatte, bevor es zum Geschlechtsverkehr kam. Alle
erzählten, daß sie sich auf den Sex eingelassen hatten, um eine Beziehung aufrechtzuerhalten, die für ihr Leben bedeutsam geworden war
und die ihnen neue Möglichkeiten für die Zukunft zu bieten schien.
Die meisten dieser Frauen meinten, daß der starke Einfluß sozialer Faktoren während ihres Heranwachsens dazu beigetragen hätte,
auf die Wünsche dieser einflußreichen Männer einzugehen. Sie empfanden ihr inneres Bedürfnis in Kombination mit den Möglichkeiten,
die diese Beziehung versprach, als eine psychologische Falle, die sie
unfähig machte zu widerstehen.
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Patricia Elmont, eine Psychologin aus dem Mittleren Westen, jetzt
über fünfzig, beschreibt dieses Empfinden:
»Ich war zweiundzwanzig, verheiratet und hatte zwei Kinder, als ich
das erstemal wegen meiner Depression zu Dr. Stuben ging. Ich war als
Schönheit des Südens erzogen worden, Männern sexuell zu gefallen.
Aber ich machte mir auch Gedanken um viele Dinge. Dr. Stuben war
der erste Mann in meinem Leben, der bereit war, mit mir über meine
Gedanken zu sprechen. Es wurde für mich enorm aufregend, zu ihm
zu gehen. Er hatte gewaltigen Einfluß auf mich, aber aufgrund meiner
Erziehung wußte ich nicht, wie ich mit einem einflußreichen Mann
verbunden sein könne, ohne ihn zu verführen. Als er sagte, daß er gern
Sex in der Praxis mit mir hätte, konnte ich nicht nein sagen. Es wäre
mir niemals eingefallen, nein zu sagen. Ich war schrecklich einsam
und depressiv, und wegen des Teils von mir, den er zum Leben erweckte, brauchte ich diesen Mann mehr als alles andere.«
Suzanne Carter, jetzt Universitätsprofessorin, beschreibt auch diese
Art von Einfluß, als sie die Gefühle offenbarte, die sie zu einer geheimen, sexuellen Beziehung mit Dr. Decatur bewegten, ihrem Mentor
an einer kleinen Fachhochschule. Sie war neunundzwanzig, verheiratet und Mutter zweier Kinder. Er war fünfundvierzig, verheiratet und
hatte einen Sohn.
»Als ich ihm begegnete, steckte meine Ehe in einer Krise. Ich war reif
dafür aufzuwachen. Dr. Decatur repräsentierte alles, was in meinem
Leben fehlte. Er verkörperte mehr Fähigkeiten, als ich sie je in einer Person erlebt hatte. Ich war etwas in ihn verliebt, aber das war nicht besonders erotisch zu nennen. Ich bekam Anerkennung und Bestätigung
durch ihn, ganz im Gegensatz zu dem Gefühl der Ausweglosigkeit in
meiner Ehe. Der Unterschied zwischen diesem Gefühl der Gefangenschaft und dem, was ich durch Dr. Decatur empfing, war verblüffend.«
Helen Kifner, eine erfolgreiche, extravertierte Frau von Ende Vierzig,
ist Rechtsanwältin geworden, die sich auf Prozesse im Frauenrecht spezialisiert hat. Aber sie war eine zerbrechliche und isolierte junge Frau
von zweiundzwanzig, als sie ihre Therapie bei Dr. Harold Yount
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begann, der nach einigen Monaten vorschlug, daß sie in ihren Mittagssitzungen eine sexuelle Beziehung haben sollten. Im Zusammenhang mit der Information, die zu Beginn dieses Kapitels aufgeführt ist,
sagte Helen mir:
»Dr. Yount war damals so wichtig für mich, das Ausmaß seiner Wichtigkeit war wirklich unbeschreiblich. Ich fühlte, als sei die Beziehung
zu ihm das einzige, was mich zu der Zeit am Leben erhielt. Wie hätte ich nein sagen können, als er sich mir sexuell näherte?«
Ruth Smythlin, eine frühere Theologiestudentin, ist jetzt, zehn Jahre
nach einer Affäre mit ihrem Mentor, noch immer tief darüber deprimiert. Das Ereignis zerstörte ihre Karriere als Geistliche und brachte
sie in die Nähe des Selbstmords.
»Bis zu dem Moment, als er begann, sich sexuell mit mir zu verbinden, war Pfarrer Stander Clifton für mich der wichtigste Mann, den
ich jemals kennengelernt hatte, ein wunderbarer Heiler, Lehrer und
Mentor, ein Mann von reinem Geist. Er brachte mein tiefstes,
ursprünglichstes Selbst zutage. Er berührte es und merkte das. Ich
war noch nie in meinem Leben so intim mit einer Person gewesen,
und ich empfand ungeheure Verehrung, Leidenschaft und Liebe für
ihn, obwohl nichts davon sexuell war. Aber meine Arbeit mit ihm ist
jetzt zerstört, weil er darauf bestanden hat, eine sexuelle Beziehung zu
haben. Er wußte, daß mich das verletzte, aber er ließ nicht nach.«
Für Frauen entspringen die unterschwelligen Kräfte der Sexualität der
verbotenen Zone eindeutig aus den Gefühlen von Hoffnung – Hoffnung, daß ihre tiefsten Wunden geheilt werden können und daß ihr
wahres Ich erweckt, erkannt und aus dem Verborgenen in die Lebendigkeit des täglichen Lebens geholt werden kann.
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Eltern-Kind-Themen: Verwundung aus
der Kindheit und Hoffnung auf die Zukunft
Warum bieten Beziehungen im verbotenen Bereich soviel innere Kraft
und Hoffnung? Ein Teil der Antwort liegt in der Einzigartigkeit, mit
der sie uns die Beziehung zu unseren Eltern wiederholen lassen und uns
gleichzeitig die Hoffnung geben, daß wir uns daraus befreien können.
Die Beziehung in der verbotenen Zone bietet der Frau eine Art von
Vertrauensverhältnis wie zum Vater. Diese Art des Vertrauens bewegt
Frauen dazu, mit den Männern, die vorher Fremde waren, die Intimitäten und Verwundungen von Körper, Geist und Gefühl zu teilen.
Durch dieses Vertrauen ermutigen einflußreiche Männer Frauen dazu
zu glauben, daß sie ihnen helfen werden, ein sinnvolles, produktives
Leben zu führen. Die Eltern-Kind-Thematik in der verbotenen Zone
wird durch den Umstand unterstrichen, daß Frauen besonders verletzlich sind, wenn sie Hilfe von ihren Ärzten, Therapeuten, Geistlichen
und Rechtsanwälten suchen. Verletzt und hilfsbedürftig, finden sie eine
Beziehung zu einem Fachmann, die es ihnen ermöglicht, sich umsorgt
und behütet wie in der Kindheit zu fühlen.
Durch das Verständnis über das Zusammenwirken von früheren
Verwundungen und Hoffnung für die Zukunft wird uns der sexuelle
Aspekt in diesen Beziehungen deutlich. Aus dem Erbe der ElternKind-Bindungen stammt das Verbot von Sexualität. Der Mann aber
hat die Pflicht, der Frau unter allen Umständen zu helfen, neue Hoffnung und ein stärkeres Selbstwertgefühl zu finden. Wenn die Verantwortung durch sexuelle Verbindung in der verbotenen Zone vergessen wird, kann auch das letzte Fünkchen Hoffnung in der hilfesuchenden Frau vernichtet werden.
Wie Sexualität in Beziehungen
von unschätzbarem Wert kommt
Weshalb mischen sich sexuelle Phantasien und Begierden so leicht in
diese besonderen Formen von intimen Beziehungen, deren wahrer
Sinn es ist, der Frau in ihrer Entwicklung auf unsexuelle Art weiterzu-
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helfen? Die Antwort ist, daß Geschlechtsverkehr das Symbol für die
intimste Form zwischenmenschlicher Beziehungen darstellt. Der Akt
der Verschmelzung kann auf die intensivste Art unsere tiefsten biologischen, emotionalen und geistigen Sehnsüchte erfüllen und erlaubt
uns zugleich, diese Empfindungen mit einer anderen Person zu teilen.
Aber das Symbol für diese sexuelle Verschmelzung lebt in unserer Psyche unabhängig vom Akt, nämlich als die Vorstellung, mit einer anderen Person leidenschaftlich und sinnvoll verbunden zu sein, unabhängig von der Sexualität an sich, physisch und psychisch. Sex kann ein
Akt sein, aber auch eine äußerst bedeutungsvolle Metapher.
Deshalb kann jede Beziehung, die uns tief bewegt, auch wenn sie
eindeutig unsexuell ist, sexuelle Phantasien hervorrufen. Die erotische
Energie unserer Phantasien kann ein Ausdrucksmittel unserer tiefsten
unerotischen Sehnsüchte sein. Sexuelle Phantasien können der
Schlüssel dafür sein, was wir benötigen, um uns am lebendigsten zu
fühlen. Vorstellungen über sexuellen Kontakt mit verbotenen Partnern sind oft ein Ausdruck unseres Bedürfnisses, den inneren Kontakt
zu einem Teil von uns selbst herzustellen, den der verbotene Partner
für uns unbewußt vertritt.
Wenn eine Frau zum Beispiel Phantasien über einen Liebhaber
hat, kann ihre Vorstellung von ihm ihr Bedürfnis widerspiegeln, Qualitäten wie Stärke, Kompetenz und Selbstwertgefühl zu entwickeln,
die sie als maskulin ansehen mag. Ebenso kann eine Frau in den sexuellen Phantasien eines Mannes seinen Versuch darstellen, mit weniger
entwickelten Qualitäten seiner eigenen Persönlichkeit Kontakt aufzunehmen, die er als feminin betrachtet, solche wie die Fähigkeiten zu
nähren, zu trösten und Nähe zu vermitteln.
Allein aufgrund der psychologischen Basis, selbst ohne Beteiligung
äußerer Einflüsse, gibt es die starke Neigung, sich in ausbeuterische
sexuelle Beziehungen zu verwickeln, weil Verwirrung zwischen Sexualität als Akt und als Symbol besteht. Das ist nicht nur in Beziehungen
im verbotenen Bereich ein gefährlicher Hang, sondern in jeder Situation, in der sexuelle Begierde sich in verbotene Richtungen bewegt.
Das Verständnis dafür, daß sexuelle Wünsche und Vorstellungen eine
innere Bedeutung haben können, wenn es nicht zum Akt kommt,
eröffnet uns eine andere Richtung, in die wir unsere Sexualität lenken
können, wenn die Ausübung schädlich für uns selbst oder andere ist.
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Gerade weil Beziehungen in der verbotenen Zone uns so tief
berühren, fließen sexuelle Phantasien in sie ein. Es kommt jedoch
nicht darauf an, keine sexuellen Gedanken zu hegen, sondern die
Abgrenzung zum sexuellen Kontakt zu beachten.
Die weibliche Fähigkeit zur
inneren Beherrschung von Sexualität
Einflußreiche Männer, die in der verbotenen Zone Heilung durch
ihre Protégés suchen, werden durch gesellschaftliche Einflüsse dazu
ermutigt, diese Frauen glauben zu lassen, daß Heilung von Verwundungen mit ausgeübter Sexualität in einer Beziehung verbunden ist.
Das steht in deutlichem Gegensatz zu der Fähigkeit von Frauen,
intensive, leidenschaftliche Gefühle zu entwickeln, die nicht in Sexualität übergehen. Obwohl Frauen manchmal physische Sexualität
genausosehr wie Männer benötigen, können sie ihre Sexualität leichter als innere Erfahrung beherrschen und Leidenschaft als Trägerin
unsexueller Intimität empfinden.
Als Ruth Smythlin zum Beispiel »ungeheure Bewunderung und
Leidenschaft« für ihren Mentor empfand, übertrugen sich diese erotischen Gefühle nicht in sexuelle Begierde. Die ausdrückliche Unterscheidung, die Ruth zwischen dem Verlangen nach einer intimen
Beziehung mit einem Mann und sexuellem Kontakt zu ihm macht,
fällt Frauen offenbar leichter als Männern.
Wenn wir uns mit der sexuellen Psychologie des Mannes befassen,
werden wir sehen, wie die Frau, die eine Beziehung in der verbotenen
Zone zu einem Mann, der für sie wichtig geworden ist, aufrechterhalten möchte, besonders verletzlich wird, wenn er darauf besteht,
seine sexuellen Phantasien auszuleben.
Unschätzbarer Wert für Männer:
Die Suche nach sexueller Heilung
Die Kraft der verbotenen Zone hat genausoviel Einfluß auf die Psyche
eines Mannes wie auf die einer Frau. Hinter seiner Position von Autorität
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und scheinbarer Stärke ist der Mann ebenso dazu geneigt, Verwundungen aus der Vergangenheit zu heilen und eine lebendigere Zukunft zu
wünschen. Die zugrundeliegende Realität, die einen Mann mit Einfluß
zu sexueller Ausbeutung treibt, ist, daß er wahrscheinlich seine eigenen
inneren Verwundungen genauso pflegt wie die der Frau, der er dient.
Reverend Grant Bennett, dessen Aussage über den Reiz von verbotenem Sex dieses Kapitel eröffnete, ist der Seelsorger der Gemeinde einer Stadt im Mittleren Westen. Er begann eine Affäre mit Julia
Noonan, einer Frau, die er geistlich beraten hatte. Reverend Bennett
war so ehrlich zuzugeben, daß er diese Beziehung begonnen hatte,
weil er darin eine Lösung zur Heilung seiner Depression sah, in die er
durch seine Scheidung geraten war.
»Sex ist für mich immer sehr wichtig gewesen, auch heute noch.
Julia kam in mein Leben, als ich ziemlich depressiv war. Auf der
einen Seite trauerte ich meiner Ehe nach, auf der anderen war ich
frei; ich fühlte die totale Freiheit zu tun, was ich wollte. Julia war
sehr sexuell ausgerichtet, während meine Frau Sex gegenüber sehr
verschlossen gewesen war. Hier entdeckte ich, daß Sex voller Vergnügen und Freude sein konnte. Ich hatte das noch nie empfunden
und brauchte es.
Wegen meiner Bedürfnisse war es so, als sei Julia damals meine
Seelsorgerin. Die Rollen waren eindeutig vertauscht. Sie heilte mich,
obwohl ich wußte, daß ich sie nicht als Lebenspartnerin haben wollte. Aber es war, als sei die Schule vorbei, als sei ein schweres Gewicht
von Verantwortung von meinen Schultern genommen.«
Offenbar haben Männer, die in Beziehungen der verbotenen Zone die
Heilenden sind, oft genausoviel Bedürfnis, geheilt zu werden, wie ihre
Protégés. Wenn ein Mann seine Verwundung empfindet und die
Sexualität einer Frau sich ihm durch die geschützten, heimlichen
Umstände der verbotenen Zone eröffnet, kann die Versuchung, diese
Gelegenheit auszunutzen, unwiderstehlich werden.
Dr. Jim Francis, ein geachteter, erfolgreicher Psychiatrie-Kollege,
den ich während der Voruntersuchungen für dieses Buch konsultierte, eröffnete mir, daß er eine Affäre mit einer Patientin gehabt hatte,
da es ihm unmöglich erschienen war, der magischen Heilungsmög-
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lichkeit zu widerstehen, die er durch sexuellen Kontakt mit ihr zu finden glaubte. Obwohl ich schon erkannt hatte, daß die meisten Fachleute gegen sexuelle Begierde nach Frauen, denen sie dienen,
anzukämpfen haben, war ich verblüfft, Jims Geständnis zu hören,
weil er den Anschein erweckte, sich völlig unter Kontrolle zu haben.
Die tiefen, persönlichen Erfahrungen, die er gemacht hatte, schokkierten und rührten mich gleichzeitig:
»Als ich schließlich die Grenze überschritt, hatte ich sehr dagegen
angekämpft, um das niemals passieren zu lassen. Aber alle paar Jahre
bekam meine Arbeit mit einer Patientin eine so starke erotische
Spannung, daß ich von meiner Begierde nach Sex mit ihr überwältigt
wurde. Ich kämpfte, um die Kontrolle zu behalten, da ich um die
großen Gefahren wußte. Ich habe eine Karriere und einen Ruf in diesem Stadtteil aufgebaut. Ich wußte, daß ich mit einem Fehltritt viele
Leute verraten würde, die mir wichtig waren: meine Patienten, meine Studenten und meine Kollegen, ganz zu schweigen von meiner
Frau und meiner Familie.
Wann immer ich fühlte, daß ich die Kontrolle verlieren könnte, betete ich, daß diese Aufwallungen abflauen würden, bevor ich
völlig überwältigt werden würde. Es gelang mir einige Male, diese
Krisen durchzustehen, ohne eine Katastrophe anzurichten. Jedesmal dachte ich: ›Nie wieder. Ich werde niemals wieder so nahe an
den Verlust der Kontrolle geraten.‹ Aber ich habe mich nie einer
Therapie unterzogen, um damit fertig zu werden. Jetzt kann ich
mir eingestehen, weshalb nicht: Ich wollte nicht wirklich vermeiden, die Magie einer sexuellen Beziehung mit einer Patientin zu
erfahren.
Und dann kam die Zeit, in der ich fühlte, daß sich trotzdem wieder geschlechtliche Erregung in mir aufbaute, und ich wußte irgendwie, daß ich nicht widerstehen würde. Leah war Anfang Dreißig, und
ihre Ehe steckte in einer Krise. Sie sagte, daß sie ihren Mann liebte,
aber sie fürchtete, er könne ihr nicht die Intimität geben, nach der sie
sich sehnte. Die Krise war verstärkt, weil sie sich ein Kind wünschte
und er nicht. Ich wurde von sexuellen Phantasien über Leah und von
dem Wunsch, ein Kind mit ihr zu haben, überflutet. Dann, eines
Tages, als sie im Begriff war, meine Praxis nach einer besonders
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schmerzlichen Sitzung zu verlassen, bat sie mich, sie zu umarmen.
Selbstverständlich hätte ich nicht darauf reagieren sollen, aber ich tat
es. Anfänglich war nichts Sexuelles in unserer Umarmung, aber keiner von uns machte Anstalten, damit aufzuhören. Während wir einander umarmten, begann ich eine leichte Erektion zu fühlen. Das
ließ mich nicht empfinden, die Grenze überschritten zu haben, weil
ich wußte, daß Männer manchmal im Zusammenhang mit starken
und warmen Gefühlen, die sie erleben, eine Erektion haben können,
ohne daß das irgend jemand bemerkt und ohne daß damit unbedingt
sexuelle Begierde nach einer Person verbunden ist.
Dann aber wurde mir plötzlich klar, daß auch sie meine Erektion
spüren konnte und daß sie nichts unternahm, um sich von mir zu
lösen. Es ist schwer zu beschreiben, wie bedeutend es für mich war,
daß sie meine Sexualität in diesem Augenblick akzeptierte. In dieser
Akzeptanz lag etwas, was die Schleusen zwischen uns öffnete. Ich
begann, der wachsenden Intensität unserer Verbindung nachzugeben,
und wußte, daß sie auch so empfand. Unsere Sensibilität füreinander
steigerte sich. Mein Gesicht berührte ihren Hals, und ich begann, sie
dort zu küssen, und meine Hände begannen, ohne sich auch nur zu
bewegen, ihren Körper zu spüren. Sie küßte mich auch. Je sexueller
ich wurde, desto mehr akzeptierte und reagierte sie. Aber da ein anderer Patient auf mich wartete, mußten wir aufhören.
An dem Abend rief ich Leah an. Wir waren durch das Geschehene
völlig überwältigt und vereinbarten für den nächsten Tag einen Termin
in meiner Praxis. Wir hatten dann Geschlechtsverkehr und einige Male
darauf in den nächsten Wochen. Aber nichts glich dem magischen
Moment unserer ersten Umarmung. Wir begannen beide zu fühlen,
wie falsch es war, eine sexuelle Beziehung eingegangen zu sein, aber wir
konnten nicht wieder Arzt und Patientin werden. Ich habe sie an eine
Therapeutin weiterempfohlen und mich endlich selbst einer Therapie
unterzogen. Es ist fast zehn Jahre her, daß das passiert ist, und ich weiß
nicht, was aus Leah geworden ist und wie sie unsere Affäre verkraftet
hat. Ich bin immer noch unangenehm berührt, wenn ich daran denke,
und ich glaube, das wird sich niemals ändern.«
Als ich ihn zehn Jahre danach fragte, was er meinte, daraus gelernt zu
haben, sagte er mir:
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»Ich denke an den ersten Moment, als unsere Umarmung sexuell wurde. Die Wichtigkeit für Männer, ihren erigierten Penis durch eine Frau
akzeptiert zu fühlen, sollte nicht unterschätzt werden. Das hat mit
soviel mehr als der simplen Demonstration der Kraft des Phallus auf
rein instinktiver Basis zu tun. Zu gewissen Zeiten bedeutet die Akzeptanz unseres sexuellen Seins die Akzeptanz unserer ganzen Person und
birgt das Versprechen auf vollständige Heilung und Reinwaschung.
In dem Moment mit Leah fühlte ich, daß alles, was in meiner
Vergangenheit geschehen war, all die Schmerzen, die ich anderen
oder andere mir zugefügt hatten, verstanden und vergeben werden
könnten. Ich empfand, daß ich reinen Tisch machen könne und daß
mir ein größeres Gefühl von Ganzheit und Selbstwert gewährt werden könne, als ich es jemals vorher erfahren hatte. Ich weiß, daß dieses ›Reinen-Tisch-Machen‹ etwas zu übertrieben klingen muß, wie
Beichte oder Sühne. Vielleicht enthält dieses Empfinden soviel, aber
ich glaube, wir suchen es auch auf rein psychologischer und emotionaler Basis. Ein großer Teil dessen, worum wir Männer mit unserem
sexuellen Verhalten kämpfen, ist tatsächlich der Versuch, uns selbst
zu heilen und Sinn in dieser Welt zu finden.
Aber ich weiß immer noch nicht, warum wir meinen, diese
Bestätigung durch sexuellen Kontakt mit einer Frau erfahren zu können. Ich nehme an, daß die meisten von uns mit der Vorstellung
erzogen wurden, daß Frauen weitgehend dazu da sind, uns gefühlsmäßig zu umsorgen. Dieses besondere Erlebnis mit Leah ließ mich
nur einige Tage lang empfinden, als sei ›reiner Tisch‹ gemacht, dann
verflog das Gefühl. Wenn wir versuchen, es durch eine Frau zu
bekommen, haben wir es nicht wirklich verdient, und die Quelle
unseres Empfindens von Ganzheit liegt dann in jemand anderem,
nicht in uns selbst, was uns weiter abhängig von Frauen macht.«
Durch Gespräche mit Männern über diese Themen stellte ich fest,
daß die Anschauung über Sex im verbotenen Bereich, die Jim Francis
schildert, von den meisten einflußreichen Männern geteilt wird. Tiefe Bedürfnisse nach Heilung und Selbstbestätigung durchdringen die
männliche sexuelle Phantasie; obwohl viele Männer, die Frauen ausbeuten, absolut keine andere Motivation als einfache sexuelle Begier-
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de und Opportunismus empfinden, glaube ich, daß die Suche nach
Heilung des verwundeten Selbstwertgefühls dem destruktiven sexuellen Verhalten zugrunde liegt.
Männlicher Neid auf verbotenen Sex:
Eine Erklärung für ihre Verschwiegenheit
Ich habe bereits beschrieben, wie schwierig es für mich war, mir meine zwiespältige Reaktion auf die sexuellen Entgleisungen meines
Mentors einzugestehen. Meine Gefühle von Verrat und Verurteilung
wurden von der klaren Erkenntnis begleitet, daß ich im Innersten
wünschte, ich könnte mich selbst so weit gehenlassen, die Phantasie
über Sex mit einer Patientin auszuleben. Gespräche mit Männern in
verschiedenen Berufen ergaben, daß die Vorstellung von Sex im verbotenen Bereich allgemein faszinierend ist.
Dieser innere Wunsch bestimmt das private Verhalten der Männer
genauso wie die Art, wie sie in der Öffentlichkeit miteinander umgehen. Wie ich bei meinen eigenen Erfahrungen mit meinem früheren
Mentor entdeckte, wird fortgesetzter sexueller Mißbrauch durch Fachleute fast immer begleitet von dem öffentlichen Schweigen ihrer Kollegen, Schweigen, das laut Elie Wiesel »das Opfer am meisten verletzt«.
Meine Recherchen über den Zusammenhang zwischen psychologischen und gesellschaftlichen Beweggründen bei diesem Fehlverhalten
ließen mich zu dem Schluß kommen, daß (1) öffentliches Schweigen
von Männern über sexuellen Mißbrauch auf stillschweigende Zustimmung hinausläuft und daß (2) dieses Schweigen auf weitverbreitetem
Neid beruht, den Männer empfinden, wenn sie von sexuellen Ausbeutungen durch ihre Kollegen hören.
Dieser Neid läßt uns erkennen, daß die Verbindungen zwischen
männlicher Phantasie und gesellschaftlichen Beweggründen bei Sex
im verbotenen Bereich gewöhnlich stark aufeinander einwirken.
• Obwohl die Mehrzahl der Männer in Vertrauenspositionen sich
ethisch in dem Sinne verhalten, daß sie niemals sexuellen Kontakt
mit einer Frau in ihrer Obhut haben werden, haben sie trotzdem
die Hoffnung, daß es eines Tages geschieht.
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• Wenn Männer erfahren, daß Kollegen sexuelle Beziehungen im
verbotenen Bereich mit einer Frau gehabt haben, steigert das diese Hoffnung.
• Männer, die die verbotene Zone verletzen, sind praktisch die ausersehenen Stellvertreter, die diese Phantasien für den Rest der
Männer ausleben.
• Weil diese Männer die Stellvertreter für den Rest von uns sind,
wünschen wir insgeheim, sie nicht an sexuellen Beziehungen mit
Frauen in ihrer Obhut zu hindern.
• Weil viele Männer schon kaum der Versuchung widerstehen können, Sex in der verbotenen Zone zu erleben, verursacht jede Episode von sexuellem Kontakt eine ansteckende Atmosphäre wie ein
Virus, der die Widerstandskraft von Männern vermindert, die gegen den Wunsch kämpfen, ihre Phantasien auszuleben.
• Weil eine tiefe, gesunde und legitime Suche nach Heilung dem
männlichen Wunsch nach verbotener Sexualität zugrunde liegt, werden Männer nicht aufhören, die sexuellen Grenzen herauszufordern,
bis sie lernen, andere Wege zu dem, was sie suchen, zu finden.
Dieses psychologische Bild, das darstellt, daß sich selbst ethisch empfindende Fachleute die Möglichkeit offenlassen, eines Tages eine sexuelle Beziehung mit einer Frau in ihrer Obhut zu haben, weist auf die
tiefverwurzelte Neigung zum Verschweigen, zur Inaktivität und zur
Unterdrückung von Informationen hin, wenn es darum geht, Verletzungen der sexuellen Grenze durch andere Männer aufzudecken.
Von einflußreichen Männern zu verlangen, daß sie ihre Kollegen
von sexueller Ausbeutung abhalten, erfordert in gewisser Hinsicht,
daß sie ihr eigenes Phantasieleben unterminieren. Solange das Bewußtsein über die psychologischen Beweggründe im Kern der verbotenen Zone nicht weiterentwickelt wird, werden Männer psychisch
unfähig bleiben, sich wirkungsvoll vor der Verletzung der sexuellen
Grenze zu schützen. Die medizinischen, psychotherapeutischen,
geistlichen und juristischen Berufsorganisationen haben schon lange
darauf bestanden, sich selbst in ethischen Fragen zu überwachen. Im
jetzigen Stadium benötigen Männer in diesen Berufen jedoch Hilfe,
die öffentliche Überprüfung sein und wachsendes Verständnis für dieses Problem bringen kann.
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Aber für uns alle, Männer und Frauen, Fachleute und Laien, ist
der Umgang mit der dunklen Seite des Sex in gleicher Weise eine
schwierige Herausforderung. Sexualität verursacht höchst intime und
persönliche Reaktionen, von denen wir einige lieber nicht wahrhaben
wollen. Meine eigene Zwiespältigkeit zwischen dem Beneiden und
dem Verurteilen meines Mentors ist typisch für die Schwierigkeit, die
wir alle im Umgang mit Erotik haben.
Unser rationales Empfinden mag in die richtige Richtung weisen;
aber unsere weniger rationalen Seiten haben höchst durchlässige Barrieren zur Sexualität in der verbotenen Zone. Träume, Phantasien und
Gefühle entspringen einer zeitlosen, inneren Welt mit ihren eigenen
Regeln, die uns tiefer in zerstörerische Erotik verstricken. Wenn wir
unsere innere Stimme ignorieren, können wir genauso blind für das
sein, was um uns herum geschieht. Wenn wir die Quellen in uns selbst
entdecken, kann uns das zu einem sexuellen Opfer oder zum Ausbeuter machen. Wir können dann beginnen, uns mit sexuellen Problemen
wie Vergewaltigung, Inzest und Kindesmißhandlung auseinanderzusetzen, Probleme, die früher unaussprechlich waren. Sex in der verbotenen
Zone ist in vieler Hinsicht eine gleichermaßen gefährliche Parallele.
Der männliche Mythos vom
weiblichen Geschlecht: Unterwerfung,
Sexualität und Vernichtung
Ideale sind tief verankerte Vorstellungen, die auf unseren inneren
Gefühlen und Überzeugungen basieren. Indem sie die unbewußten
Anschauungen eines Kulturkreises, einer Familie oder eines Individuums zum Ausdruck bringen, bestimmen sie die Art und Weise, wie
wir die Welt um uns herum beurteilen.
Jede Familie hat ihre eigenen Ideale. Einige werden von dem Kulturkreis mitgetragen, andere sind ganz persönlich. Wir sind seit dem
Tag unserer Geburt den Einflüssen der Familie ausgesetzt, die eine
überragende Rolle bei der Formung unserer Begriffswelt spielen. Die
Familie formt für jedes Kind eine Idealidentität, die die Förderung
eines gesunden Selbstwertgefühls unterstützen oder behindern kann.
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Zum Beispiel kann eine Familie, die in einer Konfliktsituation lebt,
einem bestimmten Kind unbewußt die Rolle übertragen, der »Heiler«
der Familie zu sein. Das Kind entwickelt seine Fähigkeiten, sich in
den Schmerz anderer Leute einzufühlen, oft auf Kosten der eigenen
emotionalen Verwundungen. Als Erwachsener kann jemand mit dieser aufgezwungenen Identität die Gabe beibehalten, andere zu heilen,
aber er selbst wird emotional verhungern.
Zu den Idealen in einer Familie können Vorurteile gehören, die
auf das Kind übertragen werden und die dessen Anschauung über das
Leben dominieren können. Wenn die Familie ihrem Kind vermittelt,
daß Individualität in der Außenwelt nicht erwünscht ist, wird das
Kind sehr wahrscheinlich zur Unterordnung seiner eigenen Wünsche
gegenüber äußerer Autorität neigen. Eine andere Familie, die Individualität für positiv hält, wird wahrscheinlich ein Kind haben, das in
der Lage ist, sein Leben selbst zu prägen.
Ideale des Kulturkreises reichen über die der Familie hinaus und
verweisen auf verbreitete und tief verwurzelte Anschauungen, die
jedes Mitglied der Gesellschaft beeinflussen können. Von zentraler
Wichtigkeit für das Problem von Sex in der verbotenen Zone ist eine
Vorstellung des Kulturkreises, die ich hier als »den männlichen
Mythos vom weiblichen Geschlecht« bezeichne. Er erklärt die innere
Haltung, die die Art formt, wie Frauen von Männern begriffen werden und wie Frauen sich selbst sehen. Familiäre und gesellschaftliche
Botschaften beinflussen beide, Männer und Frauen, die zerstörerischen Rollen zu spielen, die durch diese Betrachtung der Frauen verursacht ist, die beide Geschlechter zu Opfern macht.
Der Mythos des Weiblichen veranlaßt Männer und Frauen dazu,
an ausbeuterischem Sex teilzuhaben. Es besteht aus drei Schlüsselelementen, von denen jedes zu unserem Verständnis dafür beiträgt, weshalb professionelle Beziehungen, in denen Männer Einfluß auf Frauen haben, so anfällig für sexuellen Mißbrauch sind:
Unterwerfung der Frau
Nach der männlichen Vorstellung sollte sich eine Frau vor allem dem
Mann unterwerfen. Die ideale Frau steht dem Mann als Sexualpartnerin zur Verfügung, als Quelle emotionalen Wohlbefindens und als
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helfende Gefährtin bei der Führung des Haushalts und dem Aufziehen
der Kinder. Während jede dieser Funktionen einen Teil des gegenseitigen Respekts und einer befriedigenden Beziehung zwischen einem
Mann und einer Frau ausmachen können, ist der Makel die Erwartung
der Unterordnung, die den meisten sozialen Arrangements zwischen
Männern und Frauen zugrunde liegt. Wenn es zu irgendeinem Konflikt kommt, ist die vorherrschende Erwartungshaltung in unserer
Gesellschaft, daß sich die Frau dem Mann unterordnet, ob das nun
praktische Themen betrifft wie solche, wo und wie gelebt wird, oder
intime Fragen – wie etwa, wann man Geschlechtsverkehr hat.
Obwohl bei einem Mann der Anspruch auf Unterordnung mit
Liebe und Respekt für eine Frau verbunden sein kann, beinhaltet
diese Haltung die Möglichkeit sexueller Ausbeutung. Alle Frauen,
die ich für dieses Buch interviewte, selbst diejenigen, die berufliche
und gesellschaftliche Gleichstellung mit Männern erreicht haben,
waren ursprünglich dazu geneigt, sich in der verbotenen Zone sexuell zu verbinden, um dem Wunsch der Männer nach Unterordnung
zu entsprechen.
Besondere Stärken der Frauen
Eine zweite Komponente des männlichen Mythos vom Weiblichen
betrifft die heilenden, nährenden und sexuellen Kräfte, die Männer
Frauen zuschreiben. Männer haben die feste Überzeugung, daß Frauen über diese Kräfte verfügen, um sie Männern zuteil werden zu lassen. Fast alle Männer haben die Anlage, die magische Kraft des Weiblichen zu idealisieren und sogar zu vergöttern; deshalb kann die Frau
als das einzig Wertvolle erscheinen, für dessen Eroberung sich das
Leben lohnt, egal, welches die Konsequenzen sind.
Die sexuellen und verführerischen Komponenten der den Frauen
zugeschriebenen Kraft können Männer trunken machen, wenn sie
beginnen, über sexuellen Kontakt mit einer Frau zu phantasieren.
Wenn diese Trunkenheit eintritt, kann eine Frau plötzlich als Quelle
großer sexueller Kräfte betrachtet werden, die dazu dienen können,
seine eigene Sexualität zu bestätigen. Besonders für Männer, die auf
diesem Gebiet Probleme haben, wird diese weibliche Kraft unwiderstehlich und überwältigend.
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Destruktive Frauen
Es gibt eine Kehrseite zu den Idealvorstellungen von der heilenden
Kraft, die Männer den Frauen zuschreiben. Wenn er enttäuscht ist, kann
sich die Ansicht des Mannes über die heilende Kraft leicht in das Gegenteil verwandeln. Frauen werden dann für ihn haßerfüllte, rachedurstige,
unterminierende und destruktive Kreaturen. Männer können dann als
sicher empfinden, daß, was immer ihnen an Unglück und Schmerz
widerfährt, auf die dunklen Kräfte der Frau zurückzuführen ist.
Diese Vorstellung ist in unserer Gesellschaft tief verwurzelt. Im
alten Testament führt Eva die Wünsche des Teufels aus, indem sie
Adam überredet, vom Baum der Erkenntnis zu essen, was zu ihrer
Vertreibung aus dem Paradies führt. Diese negative Betrachtung
des weiblichen Einflusses spiegelt sich in Hexenverfolgungen und
in der Literatur in Beschreibungen mörderischer Verführerinnen
wider.
Als Prototyp des Mythos, der die Sehnsucht nach der verbotenen
Frucht zum Ausdruck bringt, kann die Vertreibung aus dem Paradies so ausgelegt werden, daß Frauen mitschuldig an dem Problem
sind, das Männer mit ihrem instinktiven Verlangen haben. (Ich neige dazu, das Essen vom Baum der Erkenntnis als evolutionäres
Ereignis zu deuten, das unsere Fähigkeit, uns selbst zu erkennen,
symbolisiert, was jedem von uns die Verantwortung überläßt,
ethisch mit unserem instinktiven – einschließlich des sexuellen –
Verlangen umzugehen.)
Männer, die Frauen ausbeuten, sind in der Lage, je nach den
Umständen ihre Ideale schnell zu wechseln. Es gibt Zeiten, in denen
es einem Mann paßt, eine Frau daran zu erinnern, wie schwach und
rücksichtsvoll sie sein sollte, Zeiten, in denen sie ihr Schweigen über
eine ausbeuterische Beziehung brechen könnte. Männer beziehen
sich oft auf die positive Seite der sexuellen Kraft einer Frau, als
Rechtfertigung dafür, an Sex in der verbotenen Zone teilzuhaben.
Sie behaupten dann, sie hätten aus Liebesgefühlen gehandelt, die
durch die Frau erregt wurden. Aber wenn Männer verletzt worden
sind oder ihre Position durch eine Frau bedroht wird, die sich weigert, rücksichtsvoll zu bleiben, kann die Frau plötzlich schlecht und
destruktiv erscheinen.
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Ein großer Teil des Problems, das Männer damit haben, sexuellen
Mißbrauch zuzugeben, liegt an ihrer Unfähigkeit zu erkennen, wie
bequem sie die verschiedenen Vorstellungen über das Weibliche wechseln. Zwischen ihrem Wunsch, daß Frauen der maskulinen Kraft
gegenüber rücksichtsvoll bleiben, der gelegentlichen Wut auf Frauen,
die ihnen nicht zur Verfügung stehen wollen, und der Furcht vor der
weiblichen Kraft bleibt wenig Raum für ehrliche Selbstanalyse.
Obwohl Frauen, die die Gleichstellung mit Männern erreicht
haben, die gleiche Verantwortung wie Männer haben, wenn sie sich
für eine sexuelle Beziehung entscheiden, sind so viele Beziehungen
zwischen Männern und Frauen, in und außerhalb der verbotenen
Zone, dadurch gekennzeichnet, daß die Ungleichheit des Einflusses
Männer bevorteilt. Aus diesem Grund spielen Frauen, die sich in
Beziehungen im verbotenen Bereich verführerisch verhalten, blind die
Rolle, die den männlichen Idealvorstellungen entspricht. Zum Beispiel hat sich Mia mir angeboten, weil sie der Meinung war, daß sie
Männern nichts von Wert anbieten könne außer ihrer Sexualität. Wie
es für viele Frauen in unserer Gesellschaft zutrifft, wollte sie der
männlichen Phantasievorstellung entsprechen. Sie hatte keine andere
Wahl, als das zu akzeptieren, weil man ihr keinen anderen Weg gewiesen hatte. Da sie als Kind durch die Herabsetzung ihres weiblichen
Selbstwertgefühls zum psychologischen Opfer geworden war, spielte
sie auch in ihrem Leben als Erwachsene die Opferrolle, indem sie
sexueller Ausbeutung zustimmte und sie sogar herausforderte.
Frauen können diese Phantasievorstellung von Weiblichkeit entweder direkt von Männern lernen oder durch weibliche Vorbilder. In
beiden Fällen ist das Resultat das gleiche, ihre Selbstachtung ist
abhängig von der Bestätigung durch einen Mann, und der Weg zu
dieser Anerkennung schließt oft sexuelle Bereitschaft ein.
Die männliche Vorstellung vom Weiblichen wirft zusätzliches Licht
auf die Gründe, weshalb Männer nicht wachsamer die Verhütung und
Bestrafung sexueller Ausbeutung betreiben, denn die selbstverständliche Folgerung aus der Phantasievorstellung über weibliche Sexualität
ist, daß die sexuell zum Opfer gewordene Frau in Wirklichkeit nichts
anderes wollte. Diese Einstellung erlaubt beides, eine »Straßenversion«
(die Männer in Fällen von Vergewaltigung anwenden) und eine verfeinerte psychologische Version (die auf Theorien aufbaut, wonach
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Frauen einflußreichen Männern gegenüber eine natürliche verführerische Haltung haben, die auf dem Wunsch basiert, die phallische Kraft
ihrer Väter zu erobern). In jedem Fall unterstützen Männer einander,
indem sie dem Opfer seine eigene Misere zum Vorwurf machen.
In den meisten Fällen ist die Annahme, daß Frauen verführerisch
sind, wenn sie vergewaltigt oder auf andere Art ausgebeutet werden,
reine männliche Phantasie. Wenn Frauen tatsächlich verführerisch
gewesen sind, müßten Männer verstehen, daß diese Verführung
wahrscheinlich das Ergebnis jahrelanger Anpassung an die männliche
Phantasievorstellung ist, deren Fortbestehen auch auf die verbreitete
Akzeptanz in der weiblichen Psyche zurückzuführen ist. Für Frauen
ist es – unabhängig davon, wie Männer sich verhalten – ihrerseits eine
Aufgabe, sich ernsthaft dagegen zu wehren, durch rein weibliches Verhalten ein Selbstwertgefühl zu erwarten, damit sie nicht an ihrer eigenen Ausbeutung mitwirken.
Der unschätzbare Wert von Beziehungen in der verbotenen Zone
kann nur dann erlebt werden, wenn Männer und Frauen sich ihren
eigenen Verwundungen zuwenden und aufhören, unrealistische
Ansprüche aneinander zu stellen. In den nächsten beiden Kapiteln
werden die Verwundungen von Frauen und Männern behandelt, die
zu Sex in der verbotenen Zone führen.
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