Leseprobe - Hatje Cantz Verlag

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Leseprobe - Hatje Cantz Verlag
Ausgeschämt?
Von Scham, Verbot
und Lizenz
Über einige
Absonderlichkeiten
des Schauens
Ursula Pia Jauch
146
V
I
Ein kleiner Umweg über Max Ernst
or Jahrzehnten – es war zu Beginn meines Philoso­
phiestudiums – bin ich zum ersten Mal jenem Satz
begegnet, den man im Allgemeinen als eine OriginalWahrheit aus dem begnadeten Mund des begnadeten
Max Ernst betrachtet: „La nudité de la femme est plus sage que
toutes les verités de la philosophie.“ In der Tat. Ein stattlicher
Satz. Noch dazu einer, der uns, bei unserem kleinen eitlen Stre­
ben nach Erkenntnis und anderen übermenschlichen Daseins­
formen, erst einmal irritiert. Wenn es so ist, dass im nackten
Wesen Frau mehr Weisheit eingeschrieben ist als in allen Er­
kenntnisbemühungen der Philosophen, dann hat ja Philosophie
gar keinen Sinn. Dann ist sie vergebliches Bemühen, dann ist sie
nur die Befriedigung jenes tragischen intellektuellen Dünkels,
mit dem der Mensch seit Urzeiten seinen Erdenweg geht und
dabei doch immer ein Wurm bleibt; ein Wesen, das zwar viele
Einsichten und Erkenntnisse sammeln kann, aber dadurch noch
lange nicht zur Kategorie einer von Anfang an gegebenen – und
vielleicht im Sinn der platonischen Ideenlehre wieder zu entde­
ckenden – Weisheit kommt. Oder kürzer und mit Shakespeare:
„There are more things in heaven and earth, Horatio, / Than
are dreamt of in your philosophy.“
Der kleine Satz ist wunderbar nachzuweisen; Hamlet, Ers­
ter Akt, 5. Szene, Vers 166. Woher aber hat Max Ernst seine
Weisheit über die Weisheit des nackten weiblichen Körpers?
– und dass diese Weisheit überhaupt von ihm ist, daran zweifle
ich schon seit den späten 1970er Jahren. Und sowieso: Wenn
ein Mann (noch dazu einer, der an den zwischen 1928 und 1932
abgehaltenen Sexual-Geständnis-Séancen der Surrealisten
teilgenommen hat, die einzigartig rüde sogar in der sexuellen
Geständnisliteratur des 20. Jahrhunderts sind)1 für den nackten
weiblichen Körper und gegen die Philosophie spricht – dann ist
das reichlich verdächtig. Folglich habe ich mich, auch wenn ich
nicht allzu selten selbst im Besitz eines nackten weiblichen Kör­
pers bin (was freilich eine herrlich missverständliche Bemerkung
ist), nicht von der Philosophie und ihren Weisheiten abhalten
lassen. Oder wieder kürzer: Im Laufe der Jahre habe ich gelernt,
dass jede Aussage – und erst recht jeder Blick – auf seine erkennt­
nistheoretische Basis hin geprüft werden muss. Wer redet da?
Weshalb redet er oder sie? Und von welcher Basis her? Hat der
Redende, Betrachtende, Schauende bedacht, dass er vielleicht
letztlich nur das sehen kann, was ihm seine eigenen Erkenntnis­
organe vermitteln? Dass jeder Blick auf etwas zunächst einmal
ein Blick auf das eigene Selbst ist? Dass wir nur das sehen, was
wir auch sehen können? Dass also in jedem Sehen und Schauen
ein Zirkel drin ist? Und dass vielleicht nicht ich das Bild der
nackten Frau anschaue, sondern die nackte Frau – über ihr Bild
– mich. Auch als Schauender entkomme ich mir selbst nicht.
M
II
Lucian Freud als postmoderner Aktaion?
achen wir einen Blicktest auf Probe. Wir nehmen
kein Bild aus der – vom Künstler sowie­so immer
hübsch und ideal imaginierten – Antike. Sondern
ein ­Tableau, das den Blick freigibt auf eine „nudité
de femme“ aus dem späten 20. Jahrhundert: Lucian Freuds
150 × 250 cm große Sozialversicherungsangestellte, schlafend von
19952. Wer das Bild betrachtet – auch der abgebrühteste Zeit­
genosse des so lizenziösen 21. Jahrhunderts –, wird irgendwo das
Gefühl haben, ein Blickverbot verletzt zu haben. Das Schauen
ist mit einem diffusen Gefühl von Unbehagen verbunden. Das
kann das geschaute „Objekt“ betreffen (und damit vielleicht
den Umstand, dass wir im Betrachten aus einem mensch­lichen
Subjekt immer das Objekt des Sehens machen). Es kann damit
zu tun haben, dass die abgebildete Frau überaus dick ist und
der Künst­ler diese Fett-Aus- und -Staulagen mit einem gerade­
zu neorea­listischen Sadismus wiedergibt: gräulich-weißes, sich
zu Dellen und Wülsten verformendes Bauchgewebe; Brüste,
geblähten Eutern gleich und mit blauen Quetschmalen, die im
glücklichen Fall von absonderlichen erotischen Praktiken her­
rühren (wahr­scheinlich aber nur vom langsamen physischen
Zerfall); an Masttierschinken gemahnende Oberschenkel, deren
Rubens-Fülle nur noch von ganz fern her, einer noch nicht ab­
gelegten Denkgewohnheit gleich, an eine Formenkultur erin­
nert, in der die barocke Opulenz als Schönheitssiegel galt.
All dieses sich widerlich ausbreitende, hängende, gärende,
formlos sich darbietende Fleisch ist gänzlich vom Verfall
gezeichnet. Einer Leiche gleich liegt die Frau3 auf einem Sofa.
Sie scheint zwar zu schlafen, sie könnte indes genauso gut auch
tot sein.4 Das Geschlecht? Die Scham? Jene Stelle – im asep­
tischen Sprachgebrauch der Medizin die „weibliche reproduk­
tive Anatomie“ genannt – ist gar nicht sichtbar. Bauch- und
Oberschenkelfett verdecken gnädig einen Anblick, den man
sich wohlweislich ersparen will; schon das spärliche Schamhaar
verheißt nichts Erfreuliches. Wir sind erleichtert, dass wir nicht
auch noch diese „Scham“ sehen müssen. Herr, gnädig hast Du
wenigstens diesen Kelch an uns vorbeigehen lassen.
V
III
Etwas Motivforschung, oder
Weshalb wird Aktaion bestraft?
on diesen späten weiblichen Akten des Lucian Freud
scheint – wenn überhaupt – ein sehr weiter Weg zu­
rückzuführen zu jener Attraktion, jener Augensucht,
die den Jäger Aktaion einst das Geschlecht der Artemis/Diana
hat schauen und wohl auch begehren lassen; eine Attraktion,
die die bildende Kunst seither in so unzählig vielen Variationen
und Emblemen wiedergegeben hat. Weshalb eigentlich ist Ak­
taion bestraft worden? Ist er bestraft worden, weil es in der grie­
chischen Mythologie immer um die Betriebskapitalien Schuld
& Vergeltung, Verwechslung & Drama, Eros & Tod geht? Ist
Aktaion also der unschuldige Zaungast, der aus für ihn fatalen,
aber mythologisch notwendigen Gründen in die griechische
Ur-Szene des Tragischen hineinläuft? Wir erinnern uns: Auch
der Mythos des Ödipus, für Freud bekanntlich die Ur-Szene der
seelischen Dramatik menschlicher Existenz, ist eine klassische
Nicht-Erkennens-Geschichte: Ödipus erschlägt seinen Vater
und schläft mit seiner Mutter, beide Male ohne zu wissen, mit
wem er es zu tun hat.
Nochmals und genauer gefragt: Weshalb ist Aktaion von
Artemis/Diana in einen Hirsch verwandelt worden, um dann
von den eigenen Hunden – in Unkenntnis, dass sie es mit ihrem
Herrn zu tun haben – gerissen zu werden? Weil er die Scham
geschaut hat, weil er also ein Gebot gebrochen oder ein Verbot
verletzt hat? Oder überhaupt schon, weil er sorglos und unwis­
send, wie Ovid in den Metamorphosen (entstanden um 8 n. Chr.)
erklärt, in den Heiligen Hain eingedrungen ist?5 Oder hat Ar­
temis/Diana gar andere Gründe als diejenigen der Verletzung
des Schamgebotes? Bei Euripides jedenfalls, in den Bakchen (ent­
standen um 406 v. Chr. und also viel früher als die Metamorphosen), ist es noch der Neid der Jagdgöttin Artemis auf die Jagder­
folge des Aktaion, der als Grund für Artemis’ Zorn er­scheint
und schließlich zur Verwandlung des Aktaion in einen Hirsch
führt.
Neid auf Aktaion? Oder Scham vor Aktaion? Da nachzufra­
gen ist gewiss nicht nebensächlich. Neid und Scham alimentie­
ren sich psychologisch nicht aus derselben Quelle; Neid gilt im
Allgemeinen als moralisches Fehlverhalten, Scham als sittliches
Exzellenzprogramm. Eine weitere Variante des Artemis-AktaionKonfliktes findet sich beim Urvater der griechischen Mythologie,
bei Hesiod, in seinen Fragmenten und ansatzweise auch in der
Theogonie (beide verfasst im 7. Jahrhundert v. Chr.): Da nämlich
begehrt Aktaion seine Tante Semele und kommt damit Zeus, der
ebenfalls ein wollüstiges Auge auf Semele geworfen hat, in die
Quere. Aktaion wird getötet, aber nicht von seinen Hunden. Die
nämlich finden nur noch seine Leiche. Und schließlich als letztes
Generalargument in diesem kleinen motivgeschichtlichen Exkurs:
In der griechischen Mythologie gilt ganz generell, dass, wer einen
Gott schaut, mit dem Tod durch Zerreißen bestraft wird.
D
IV
Doppelter Voyeurismus
ie bildende Kunst (und sowieso die Künstler) haben sich
freilich nicht sonderlich um die Motivforschung geküm­
mert. Zu verlockend, zu sexy, möchte man sagen, war
von Anfang an die Darstellung der Variante des gebro­
chenen Scham- und Blickverbots. Was kann man doch da nicht
alles zeigen und schauen! Und dies im durchaus doppelten
Sinn eines gespiegelten Voyeurismus. Der Künstler – Boucher,
Tizian, Rembrandt, Jan Brueghel d. Ä. – nimmt sich die Li­
zenz, das Verbotene mitsamt dem dräuenden Unheil (dem an
Aktaions/Actaeons Kopf schon sprießenden Geweih und den
gegen ihren Meister aggressiv werdenden Hunden) ins Bild um­
zusetzen. Der Bildbetrachter kann gar nicht anders, als im Se­
hen und Schauen an dieser Lizenz zu partizipieren. Noch deut­
licher als in den Diana-Actaeon-Darstellungen kommt dieser
Zwangs-Voyeurismus in jenem Bildertopos zum Ausdruck, der
die Geschichte des Kandaules illustriert: Kandaules, der König
von Lydien – so schildert es Herodot in seinen Histo­rien (5. Jahr­
hundert v. Chr.) –, ist mit Nyssia verheiratet, deren Schönheit er
nicht genügend loben kann. Er offeriert Gyges, seinem Minister
und besten Freund, die Schönheit seiner Frau zu schauen, und
zwar mit einer List: Wenn Nyssia zu Bett geht und sich aus­
kleidet, solle Gyges hinter der offenstehenden Schlafzimmertür
warten. Gyges wendet ein, er wolle an einer derart unmora­
lischen Angelegenheit nicht teilnehmen. Worauf ihn der eitle
König unter Druck setzt: Nyssia könne ja den Voyeur gar nicht
sehen, die ganze Angelegenheit sei ja völlig ungefährlich. Gyges
kann sich nicht entziehen, er verbirgt sich hinter der Schlaf­
zimmertür, König Kandaules gibt ihm den Blick frei auf sei­
ne nackte Frau. Gyges schaut. Und geht. Doch Nyssia hat den
heimlichen Voyeur heimlich beobachtet (es geht also um einen
ertappten Voyeur; womit die Passung zum betrogenen Betrüger
schon angedeutet ist). Nyssia tut einstweilen nichts, bestellt aber
am nächsten Morgen Gyges zu sich. Er habe etwas geschaut,
was ihm nicht zustehe, es gebe nur zwei Wege, das begangene
Unrecht zu sühnen. Entweder töte Gyges den König Kan­
daules und erobere sich als ihr neuer Gatte damit den lydischen
Thron. Oder er begehe an just jenem Ort Suizid, von dem her
er am Abend zuvor ihre Nacktheit gesehen habe. Gyges bringt
alsdann den König Kandaules um und besteigt den lydischen
Thron an der Seite von Nyssia, deren Schönheit er heimlich
schon geschaut hat.
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