Fritz Marci
Transcrição
Fritz Marci
inteRjuli 01 i 2011 nationalkultuRelle eigenheiten unD kultuRelleR tRansfeR erik orsennas La grammaire est une chanson douce/ Die Grammatik ist ein sanftes Lied Susanne Riegler / Gabriela Scherer D er Roman und seine Besonderheit tagtäglich so selbstverständlich benutzt: Wie sie – grammatikalisch gesehen – gebaut ist; wie sie – lexikalisch betrachtet – Plattitüden und Originelles zulässt; wie sie – funktional in den Blick genommen – Pragmatik oder Ästhetik regieren lassen kann. Das Erzählmodell ist so einfach wie raffiniert: Als einzige Überlebende eines Schiffsunglücks werden die zehnjährige Ich-Erzählerin Jeanne und ihr etwas älterer Bruder Thomas am Strand einer seltsamen Insel angespült, auf der nebst wenigen Menschen vor allem Wörter wohnen. Wie sich schnell zeigt, haben die Kinder bei dem Schiffbruch ihre Fähigkeit zu sprechen eingebüßt und müssen somit ihre Sprache quasi neu lernen. Unterstützt werden sie dabei von zwei der wenigen menschlichen Bewohner der Insel, von Monsieur Henri und dessen Neffen, die Liedermacher und Musiker sind. Die beiden schwarzhäutigen Männer führen Jeanne und Thomas bei ihren Streifzügen über die Insel an- La grammaire est une chanson douce – unter diesem Titel ist 2001 bei den Éditions Stock in Paris ein außergewöhnlicher Abenteuerroman für Kinder ab ca. zehn Jahren erschienen, geschrieben von dem renommierten Schriftsteller Érik Orsenna, seines Zeichens Mitglied der Académie française, mit Illustrationen des französischen Zeichners Bigre!. Das Buch, das nichts weniger ist als eine federleichte Liebeserklärung an die Sprache, avancierte in Frankreich innerhalb weniger Wochen zum Bestseller. Die Franzosen sind bekannt für ihr besonderes Verhältnis zur Muttersprache und für ihre auch staatlich verordnete Sprachpflege – die Liebe zur Sprache, die in Orsennas Erzähltext Gestaltung findet, ist nationalkulturell verankert. Auf höchst anschauliche Weise wird den Lesern in Orsennas Roman vorgeführt, welch faszinierende Sache die Sprache ist, die man 6 RieGleR/ ScheReR kultuRelle eiGenheiten und tRanSfeR schaulich vor Augen, dass es mit den Wörtern wie mit den Noten ist: derung für die Übersetzerin des Romans, Caroline Vollmann, darstellte. Da die beiden deutschen Ausgaben des Textes (Die Grammatik ist ein sanftes Lied, erschienen 2004 und – als Taschenbuchausgabe bei dtv junior – 2009) nicht die Illustrationen des französischen Originals übernommen haben, sondern von Wolf Erlbruch in dessen unverwechselbarer Handschrift neu illustriert wurden, liegt es nahe, dabei nicht nur die textliche Übertragung des Ausgangstextes zu betrachten, sondern auch in den Blick zu nehmen, welche Rolle den Illustrationen bei dem zu leistenden kulturellen Transfer zukommt. Vous voyez, les mots, c’est comme les notes. Il ne suffit pas de les accumuler. Sans règles, pas d’harmonie. Pas de musique. Rien que des bruits. La musique a besoin de solfège, comme la parole a besoin de grammaire. (Orsenna 2001, 74)1 Eine solche Geschichte über Sprache zu übersetzen, ist kein leichtes Unterfangen, und zwar in mehrfacher Hinsicht: Da die sprachlichen Entdeckungen, die Jeanne auf der Insel macht, eng an ihre eigene, also die französische Sprache geknüpft sind, musste die Übersetzung an vielen Stellen an das Sprachsystem der Zielsprache angepasst und entsprechend modifiziert bzw. erweitert werden – auf diese sprachlich bedingten Übersetzungsprobleme soll hier nicht weiter eingegangen werden. Im Fokus dieses Beitrags steht vielmehr, ob und wie kulturabhängige Vorstellungsinhalte, die an Sprache geknüpft sind, vom französischen in den deutschen Kulturraum übertragbar sind. Da sich diese Frage kaum anders als exemplarisch verfolgen lässt, konzentriert sich die Betrachtung auf eine ausgewählte Passage des französischen Ausgangstextes, die durch ihre starke nationalkulturelle Prägung zweifellos eine besondere Herausfor- i m fokus: jeannes Begegnung mit drei untoten der nationalliteratur Die fragliche Textpassage findet sich fast am Ende des Romans. Monsieur Henri führt Jeanne in die, wie er sagt, notwendigste aller Fabriken: „C’est peut-être l’usine la plus nécessaire de toutes les usines“ (Orsenna 2001, 116). Dort werden – wie könnte es auf dieser seltsamen Insel anders sein – Sätze hergestellt: In riesigen Volièren flattern die Substantive wie Schmetterlinge, die unermüdlichen Verben wimmeln ruhelos in einer Art Ameisenhaufen umher, ein Artikelautomat liefert die benötigten Begleiter, 7 inteRjuli 01 i 2011 D er erste literat: Der „schriftsteller-Pilot“ antoine de saint-exupéry und eine ganze Familie von Standuhren sorgt dafür, dass die Sätze eine Zeitform bekommen. Natürlich gibt es auch Läden mit Adjektiven, Automaten für die Präpositionen und anderes ‚Rohmaterial‘ für Sätze mehr. Vor allem aber gibt es eine Tür, die zu öffnen der Fabrikdirektor Jeanne strengstens verbietet: „Tu peux aller partout dans l’usine […]. Mais jamais, tu m’entends? Jamais, tu ne pousseras cette porte” (Orsenna 2001, 137)2. Aber wie schon Blaubarts Frauen gehorcht Jeanne nicht und findet hinter der verbotenen Tür drei Herren vor einem Blatt Papier sitzen und arbeiten. In drei Begegnungen wird – zumindest für den literaturkundigen Leser, der die zahlreichen versteckten Anspielungen richtig zu deuten weiß – die Identität dieser Herren gelüftet. Der erste stellt sich Jeanne als „un écrivain-pilote“ (Orsenna 2001, 137)3 namens Antoine vor. Bekannter sei er, wie er hinzufügt, allerdings unter seinem Kürzel „Saint-Ex“ – dieser Hinweis genügt für Jeanne, um in ihm sofort den Autor des Petit Prince zu erkennen. Aus diesem wohl bekanntesten Werk Antoine de Saint-Exupérys stammen denn auch die wenigen Sätze, die Jeanne beim Blick über seine Schulter auf sein Blatt erhascht: Il n‘y eut qu’un éclair jaune près de sa cheville. Il demeura un instant immobile. Il ne cria pas. Il tomba doucement comme tombe un arbre. Ça ne fit même pas de bruit, à cause du sable. (Orsenna 2001, 139; Herv. im Orig.)4 Und unverkennbar ist es die von Saint-Exupéry selbst gestaltete Titelillustration der Erzählung vom kleinen Prinzen, die in der Illustration von Bigre! zitiert wird (vgl. Abb. 1 und 2). Abb. 1: Saint-Exupéry in La grammaire est une chanson douce (© Editions Stock, 2001, Illustration: Bigre!) Abb. 2: Titelbild des kleinen Prinzen ©Houghton Mifflin Harcourt 2009 8 RieGleR/ ScheReR kultuRelle eiGenheiten und tRanSfeR Diese Passage ist in der deutschen Übersetzung sehr textnah übersetzt. Der kleine Prinz wird auch im deutschen Sprachraum stark rezipiert; dass der Roman aus dem Französischen stammt, dürfte allerdings nur den erwachsenen Lesern bewusst sein. Interessanter als die unspektakuläre wortgenaue Textübertragung von Vollmann ist in diesem Fall die Erlbruch´sche Illustration, die auf dieses Wissen um die Herkunft des Textes Bezug nimmt. Erlbruch nämlich scheut sich nicht, die Illustration von Bigre! aufzugreifen und sie für die deutsche Ausgabe so umzugestalten, dass sie deutlich versehen ist mit Hinweisen auf den französischen Ursprung: Der kleine Prinz, wie er auf dem französischen Originalcover erscheint, wird von Erlbruch als Zitat mit ins Bild gesetzt, und auch sein eigener „Schriftsteller-Pilot“ in der Bildmitte schreibt erkennbar französisch (vgl. den Schriftzug „Chère Maman“ in Abb. 3). Abb. 3: Illustration von Wolfgang Erlbruch aus Orsennas Die Grammatik ist ein sanftes Lied (© 2004 Carl Hanser Verlag München) sieht. Um sich herum hat er, der sich Marcel nennt, eine kleine Hütte aus Kork errichtet: Il s’était confectionné une cabane avec des morceaux de liège […]. Et c’est là, au milieu de tout ce liège, qu´il écrivait. Il me regardait avec un sourire doux, triste, un sourire d´une profondeur qui donnait le vertige. – Comment t´apelles-tu? D – Jeanne. Et toi? Den zweiten Schreiber schildert Jeanne als sehr bleichen Herrn mit einem dünnen schwarzen Schnurrbart über dem Mund, der ihr mit einem süßen, tieftraurigen Lächeln entgegen- […] Il avait une voix d´essoufflé. Et pourtant, il n´était pas du genre sportif. Il semblait mal en point, pour un survivant. (Orsenna 2001, 141) er zweite literat: Der autor der Recherche, Marcel Proust – Marcel. 9 inteRjuli 01 i 2011 Prousts Blatt geschrieben steht – nur ein einziger, aber ellenlanger Satz, den der Proust-Kenner jedoch sogleich Un amour de Swann zuzuweisen vermag, einem Kapitel aus dem ersten Band des großen Romanzyklus A la recherche du temps perdu: Mais quand il fut rentré chez lui, l‘idée lui vint brusquement que peutêtre Odette attendait quelqu’un ce soir, qu‘elle avait seulement simulé la fatigue… qu’aussitôt qu’il avait été parti, elle avait rallumé et fait rentrer celui qui devait passer la nuit auprès d’elle. (Orsenna 2001, 141)5 Abb. 4: Illustration in Anlehnung an Jaques Emile Blanche: Marcel Proust in La grammaire est une chanson douce (© Editions Stock, 2001, Illustration: Bigre!) Für den im französischen Kulturraum sozialisierten Leser ist hinter dem Namen Marcel sogleich Marcel Proust erkennbar; gestützt wird dieses Wiedererkennen durch mehrere von Orsenna geschickt eingeflochtene Details, die im kulturellen Gedächtnis Frankreichs mit dem Namen Proust verknüpft sind: Marcel Proust schrieb nach dem Tod seiner Mutter in der Einsamkeit eines schallgedämpften, mit Kork ausgelegten Zimmers am Bd. Haussmann. Auf sein frühes Asthmaleiden und diverse andere Krankheiten, die ihn zeitlebens zwangen, einen Großteil des Tages liegend zu verbringen, verweist die Atemlosigkeit und offenkundige Kränklichkeit, die Jeanne besorgt konstatiert. Noch versteht sie kein Wort von dem, was auf Auch Bigres! Illustration dieser Textpassage zitiert das Proust’sche Werk (vgl. Abb. 4): Die Madeleine und die Tasse Tee verweisen auf die zweifellos berühmteste Szene aus der gesamten Recherche6, und auch die Darstellung Prousts selbst nimmt unverkennbar auf eine bekannte Vorlage Bezug: Das im Musée d’Orsay befindliche Porträt von Jacques Emile Blanche hat das Proust-Bild der Franzosen wohl nachhaltiger als jede andere Darstellung geprägt. Mit einer bloßen Übersetzung – wie im Falle der vorangehenden Passage zu Saint-Exupéry – ist dem nationalkulturellen Fokus dieser Textpassage kaum gerecht zu werden. Die Übersetzerin von Orsennas Roman stand hier vor der Herausforderung, 10 RieGleR/ ScheReR kultuRelle eiGenheiten und tRanSfeR den Ausgangstext so zu übertragen, dass er auch im kulturellen Kontext des deutschen Lesers ‚funktioniert‘. Eine Illustration zu dieser Begegnung gibt es in der deutschen Fassung nicht. In der Übersetzung von Vollmann trifft Jeanne anstelle von Proust den deutschen Nationaldichter Johann Wolfgang von Goethe, der im Text als zwar zahnloser, steinalter Mann mit jedoch überraschend jugendlichen Augen eingeführt wird. Im schwarzen Gehrock steht er nachdenklich an seinem hohen Schreibpult und stellt sich Jeanne mit seinen Vornamen Johann Wolfgang vor (vgl. Orsenna 2004, 126f.). Bei den Versen, die der Dichter Jeanne auf ihre Bitte hin zeigt, handelt es sich um die erste Strophe des eher unbekannten Goethe-Gedichts „Freisinn” aus dem West-östlichen Divan: soziierbar.7 Einzig über die Vornamen ist, analog zur Originalfassung, ein eindeutiger ‚Schlüssel‘ für das Dichterrätsel gegeben. Vollmann betont die nationalkulturelle Symbolhaftigkeit dieser Dichterbegegnung aber insofern, als sie eine besondere Wirkung dieser auf Deutsch verfassten Verse auf Jeanne unterstellt: „Ob diese Verse wohl alles in mir zum Klingen brachten, weil sie in meiner Muttersprache geschrieben waren?“, lässt sie Jeanne sinnieren. Und weiter: Lasst mich nur auf meinem Sattel gelten! Zudem nutzt die Übersetzerin diese Goethe-Episode, um wie nebenbei den französischen Vornamen der Protagonistin zu thematisieren – eine Tatsache, die bei der ersten Lektüre der deutschen Fassung insofern besonders auffällt, als alle anderen Personen, wie bei kinderliterarischen Übersetzungen ins Deutsche üblich, einen eindeutig deutschen Vor- oder Nachnamen erhalten haben. Vollmann greift die Namensverwandtschaft von Goethes Vornamen Johann und dem französischen Jeanne auf, Vielleicht würden ja auch die Sätze von Saint-Ex. […] eine noch schönere Melodie haben, wenn ich deren Sprache verstehen könnte? Ich wollte meine Eltern bitten, mich Französisch lernen zu lassen (Orsenna 2004, 128). Bleibt in euren Hütten, euren Zelten! Und ich reite froh in alle Ferne, Über meiner Mütze nur die Sterne. (Orsenna 2004, 128) Selbst für einen literarisch gebildeten erwachsenen Leser sind diese Zeilen und auch die äußere Erscheinung des Dichters – anders als im Falle Prousts im Originaltext – nicht auf Anhieb mit Goethes Leben und Werk as11 inteRjuli 01 i 2011 devenue général, la terreur des Anglais.“ (Orsenna 2001, 11)8 um die im Originaltext stets vollmundig beschworene Liebe zur Muttersprache auf elegante Weise zu zitieren: Diese nationalkulturelle Konnotation des Namens Jeanne geht bei der Übernahme in die deutsche Fassung verloren. „Wie heißt du?“ „Jeanne. Und du?“ D „Johann Wolfgang.“ er dritte literat: Der fabeldichter jean de la fontaine „Das sind aber altmodische Vornamen.“ „Findest du? Und dabei ist mein erster mit dem deinen verwandt. Jeanne ist das französische Pendant zu meiner weiblichen Form: Johanna.“ Der dritte Schreiber, auf den Jeanne in der französischen Originalfassung trifft, ist von einer solchen Menge verschiedenster Tiere umgeben, dass Jeanne ihn erst auf den zweiten Blick entdeckt: Ich staunte. Zum ersten Mal sprach mich jemand auf meinen französischen Vornamen an. Je voyais des loups, des ânes, des chiens, des perroquets, deux taureaux, un renard, un lièvre, des souris, un aigle, douze lions et une lionne, un corbeau, une couleuvre… Seulement après, je distinguai l’homme qu’entourait cette ménagerie. (Orsenna 2001, S. 142f.)9 „Vielleicht haben dir deine Eltern diesen Namen gegeben, damit er dir immer zuruft: ‚Frankreich ist schön, die französische Sprache ist schön, lerne das Nachbarland und seine Sprache kennen.‘“ (Orsenna 2004, 127) Der Name Jeanne ist im Französischen eng mit der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc verbunden, was von der Ich-Erzählerin und Protagonistin eingangs auch mit Stolz und Pathos hervorgehoben wird: Mit einem Gänsekiel hinter dem Ohr und einem Heft in der Hand lauscht er aufmerksam dem Streitgespräch zwischen einem Affen und einem Leoparden. Natürlich handelt es sich, wie auch hier für den französischen Leser rasch deutlich wird, um keinen Geringeren als den Fabeldichter Jean de La Fontaine, dem jedoch wie seinen Vorgängern auch der Vorname genügt, sich bei Jeanne vorzu- Mes parents (qu’ils soient remerciés dans les siècles des siècles!) m’ont fait cadeau du plus guerrier des prénoms : Jeanne. Jeanne comme Jeanne d’Arc, la bergère 12 RieGleR/ ScheReR kultuRelle eiGenheiten und tRanSfeR von Jean de La Fontaine die Imaginationskraft literarischer Sprache beschwören. In ihrer Begeisterung für die eigene Sprache lässt sich Mademoiselle Laurencin hinreißen zu Sätzen wie den folgenden: stellen. Und mit dem Satz, den er Jeanne auf ihre Bitte hin mit auf den Weg gibt, darf er sicher zu Recht sehr zufrieden sein: „Cette leçon vaut bien un fromage sans doute (Orsenna 2001, 145).“10 Wer anhand dieses Verses nicht sofort die bekannte Fabel vom Raben und vom Fuchs erkennt, der ist mit einem Blick auf die Illustration gut beraten (vgl. Abb. 5). Die Begegnung Jeannes mit Jean de La Fontaine folgt in der deutschen Übersetzung weitgehend dem Ausgangstext. Eine Illustration gibt es in der deutschen Fassung, anders als in der französischen, hierzu keine. Der Name Jean de La Fontaine taucht an dieser Stelle im Roman nicht zum ersten Mal auf. Orsenna lässt ganz zu Beginn der Erzählhandlung Jeannes verehrte Lehrerin Mademoiselle Laurencin11 anhand der Fabeln Bénissez la chance, mes enfants, d´avoir vu le jour dans l´une des plus belles langues de la terre. Le français est votre pays (Orsenna 2001, 14).12 Auf diese Weise ergibt sich in Orsennas Originaltext ein erzähllogischer Rahmen, der in der Übersetzung verloren geht. In der deutschen Fassung begegnet Jeanne der fremdkulturellen Dichtergröße La Fontaine nämlich vor dem deutschen Dichterfürsten Goethe. Die Reihung bei Orsenna ist: Saint-Exupéry, Proust, La Fontaine; in der Übertragung von Vollmann dagegen: Saint-Exupéry, La Fontaine, Goethe. Z usammenschau Der verbotene Raum in der notwendigsten aller Fabriken, in dem die drei beschriebenen Episoden angesiedelt sind, ist von Orsenna als eine Art zeitlose ‚Zwischenwelt’ angelegt. Abb. 5: Jean de la Fontaine bei Orsenna und Bigre! (© Editions Stock, 2001,Illustration: Bigre!) Quand la mort s’approche d’un grand écrivain ses amis les mots, au dernier moment, l’enlèvent et le déposent ici. Pour qu’il continue son travail (Orsenna 2001, 145)13 13 inteRjuli 01 i 2011 – das ist das Geheimnis, das Jeanne am Ende mit dem Fabrikdirektor teilt. Orsenna gelingt es durch diesen erzählerischen Kunstgriff, drei bedeutenden Persönlichkeiten der französischen Literaturgeschichte in seinem Roman die Ehre zu erweisen. Das mit Anspielungen und literarischen Zitaten gespickte Text-Bild-Geflecht rekurriert dabei auf ein Repertoire an Sätzen, Texten, Geschichten und Bildern, die fest im kulturellen Gedächtnis Frankreichs verankert sind und für den Leser sozusagen als ‚Lektüreschlüssel‘ dienen. Dies setzt allerdings einen im französischen Kulturraum sozialisierten Leser voraus – genau dies aber trifft auf den neuen Adressaten der deutschen Buchausgabe nicht zu: Wie also hat die Übersetzung den fraglos anspruchsvollen Transfer der einzelnen Episoden in einen nationalkulturell anders konturierten Raum gelöst? In der erzählten Begegnung Jeannes mit Saint-Exupéry (vgl. „Der erste Literat”) gehen Text und Illustration verschiedene Wege. Die Übersetzung bleibt dicht am Original. Dadurch jedoch erhält der literarische Referenztext Der kleine Prinz eine weltliterarische Konturierung, die nicht mit seiner nationalliterarischen Verortung im französischen Ausgangstext übereinstimmt. In der Illustration hingegen wird ebendiese nationalkulturelle Konnotation beibehalten und als fremdkulturelles Element in die deutsche Übersetzung integriert. Das Bild fungiert somit als sichere Brücke zwischen dem französischen Ursprungsund dem deutschen Rezeptionskontext des literarischen Textes.14 Die Begegnung mit Proust ist in der deutschen Fassung dahingehend bearbeitet, dass das französische Nationalsymbol Proust durch ein deutsches Pendant ersetzt ist (vgl. „Der zweite Literat”), wobei die übersetzte Version auf eine Neuillustrierung verzichtet. Die Wahl Goethes als ‚deutscher Proust‘ ist dabei schlicht naheliegend: Welchen Namen, wenn nicht denjenigen Goethes, würde man im deutschen Kulturraum erwarten, wenn von Sprachkunst im Sinne von Höhenkammliteratur die Rede ist? Die nationalkulturelle Bedeutung, die diesem Autornamen zweifellos eignet, wird in der Übersetzung zusätzlich dadurch betont, dass Jeannes Unterhaltung mit Goethe an die dritte und letzte Stelle gesetzt ist. Damit wird das deutsche Nationalsymbol Goethe zum Kulminationspunkt für Jeannes Begegnung mit den Dichtergrößen. Hier liegt eine Bearbeitung des Originaltextes vor, die auf eine Passung hinsichtlich der Kultur der Zielsprache zielt (sog. „sekundäre Konkulturalität“, vgl. Rutschmann 8). Diese Vorgehensweise geht 14 RieGleR/ ScheReR kultuRelle eiGenheiten und tRanSfeR s konform mit der Orientierung am Erfahrungshorizont des Adressaten, wie sie für intentionale Kinder- und Jugendliteratur im deutschen Sprachraum seit ihren Anfängen üblich ist. Wie schon Saint-Exupéry bleibt auch der französische Fabeldichter La Fontaine dem deutschen Leser erhalten (vgl. „Der dritte Literat”), allerdings nur auf der Text-, nicht aber auf der Bildebene: Anders als im Ausgangstext ist die Episode im deutschen Text nicht illustriert. Da La Fontaines Fabeln ähnlich wie Le Petit Prince nicht nur deutlich nationalkulturelle Symbolkraft, sondern auch weltliterarischen Charakter besitzen, kann im Text auf eine Neugestaltung verzichtet werden. Seine Fabeln stehen in einer langen, bis auf Äsop zurückreichenden Tradition und spielen auch im deutschen Literaturunterricht als kanonische Fabeltexte eine Rolle. Dass Jean de La Fontaine nicht wie Proust einem deutschen Autor weichen muss, mag allerdings auch mit der Widmung für das Ehepaar Jeanne und Jean Cayrol zusammenhängen, die dem Roman vorangestellt ist. Möglicherweise ist die prominente Rolle, die dem ‚fabelhaften‘ Jean im Ausgangstext zukommt, auch als eine über die Namensgleichheit versteckte Hommage an den Schriftstellerfreund Jean Cayrol zu verstehen.15 chlussbetrachtung Dass Orsennas Roman in der französischen Originalausgabe einen ganz anderen Leser anspricht und auch erreicht als in der deutschen Buchausgabe, ist offenkundig. Der Platz, den das Kinderbuch La grammaire est une chanson douce auf der französischen Bestsellerliste innehatte, hängt sicherlich damit zusammen, dass nicht nur Kinder, sondern auch Erwachsene mit diesem Buch sehr schön ‚bedient‘ werden. Viele der Anspielungen und Referenzen des Textes erschließen sich nur dem literarisch kundigen erwachsenen Leser: Dass etwa ein französisches Kind Prousts Recherche schon so gut kennt, dass es beim Betrachten der Illustration von Bigre! beispielsweise die Madeleines als literarisches Zitat erkennen kann, ist – selbst angesichts des in Frankreich stärker als in Deutschland auf nationalliterarischen Kanontexten basierenden Schulunterrichts – unwahrscheinlich. Einem Erwachsenen dagegen, der sich im französischen Kulturraum einigermaßen sicher bewegt, entgeht diese Anspielung nicht und sie löst bei ihm die Art von Lesegenuss aus, auf die jedes intertextuelle Versatzstück abzielt. Die doppelte Adressierung des französischen Originals an kindliche und erwachsene Leser ist für kinderliterarische 15 inteRjuli 01 i 2011 Texte nicht ungewöhnlich, im französischen Sprachraum ebenso wenig wie im deutschen. Anders als die deutsche Buchausgabe aber präsentiert sich das französische Original als ein mit nationalkulturellen Versatzstücken vollkommen durchkomponiertes Text-BildGeflecht. Eine vergleichbare Wirkung wäre in der deutschen Fassung nur durch eine sehr weitreichende Bearbei- tung des Originals zu erreichen, die letztlich einer partiellen Neufassung des Ausgangstextes gleichkäme. Ob ein Roman, der wie der hier betrachtete derart mit dem nationalkulturellen Erbe und Gedächtnis spielt, auf dieser Ebene überhaupt in einen anderen Kulturraum transferierbar ist, muss daher wohl grundsätzlich in Frage gestellt werden. Gabriela Scherer (*1963) hat an der Universität Zürich Germanistik, Anglistik und Literaturkritik studiert. 1992 wurde sie mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zur DDR-Literatur promoviert. Sie war mehrere Jahre in Forschung und Hochschullehre sowie im Schuldienst tätig. Zur Zeit arbeitet sie als Akademische Rätin in der Lehrerausbildung an der PH Heidelberg und hat soeben einen Ruf auf eine Professur für Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literaturdidaktik an die Universität Koblenz-Landau erhalten. Susanne Riegler (*1973) hat an der Universität Erlangen-Nürnberg für das Lehramt an Grundschulen studiert und war anschließend mehrere Jahre in der hochschulischen Lehrerausbildung tätig. Im Jahr 2006 wurde sie mit einer sprachdidaktischen Arbeit mit dem Titel: „Mit Kindern über Sprache nachdenken" promoviert. Seit dem Wintersemester 2010/11 ist sie Professorin im Fach Grundschuldidaktik Deutsch an der Universität Leipzig. 16 RieGleR/ ScheReR kultuRelle eiGenheiten und tRanSfeR Anmerkungen 1 Übers. v. Vollmann (2004, 60): Es genügt nicht, dass man sie aufhäuft. Ohne Regeln keine Harmonie. Keine Musik. Nur Geräusche. Die Musik braucht die Tonlehre, wie die Sprache die Grammatik braucht. 2 Übers. v. Vollmann (2004, 122): „Du kannst überall in der Fabrik hingehen […]. Aber niemals, verstehst du?, niemals darfst du diese Tür öffnen.“ 3 Vgl. in der Übers. v. Vollmann (2004, 122): „Wer bist du?“ – „Ein Schriftsteller-Pilot.“ 4 In der Übers. v. Vollmann (2004, 124): Da war nur ein gelber Blitz dicht neben seinem Knöchel. Er erstarrte einen Augenblick. Er schrie nicht. Er fiel langsam um, wie ein gefällter Baum. Es gab nicht einmal ein Geräusch, wegen des Sands. 5 Übers. v. Rechel-Mertens (S. 360f.): Aber als er zu Hause war, kam ihm auf einmal der Gedanke, daß Odette vielleicht an diesem Abend noch jemand erwartete, daß sie ihn nur gebeten habe, das Licht auszulöschen, damit er glaube, sie wolle wirklich schlafen, und gleich nachdem er gegangen, es wieder angemacht und jenen andern eingelassen hätte, dem die Nacht bei ihr zugedacht war. 6 Vgl. In Swanns Welt (S. 66f.): Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. […] Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Personen werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorf und ihre kleinen Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar, die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee. 7 Unter nationalkulturellem Gesichtspunkt würde man hier eher ein Zitat erwarten aus einem bekannten und mit der deutschen Nation unauflösbar verknüpften Gedicht Goethes, wie es etwa „Über allen Gipfeln ist Ruh” darstellt. Mit einem Zitat aus dem West-östlichen Divan verbleibt Vollmann jedoch in dem durch die vorhergehenden Begegnungen gesetzten weltliterarischen Kontext – was der Dichtergröße Goethe auch durchaus gerecht wird, und zwar nicht nur aus der Sicht der Rezeption, sondern auch aus der Sicht des Autors selbst, dessen Maximen und Reflexionen auf das Weltliterarische zielten. Im Unterschied zu Orsenna nimmt Vollmann damit aber auch auf die kindliche Perspektive Jeannes Rücksicht: die deutsche Jeanne nämlich kann mit den wenig tiefsinnigen Versen Goethes durchaus etwas anfangen, wohingegen der französischen Jeanne die Worte Prousts dunkel bleiben. 8 Übers. v. Vollmann (2004, 7): Meine Eltern (in alle Ewigkeit sei es ihnen gedankt!) haben mir den nützlichsten aller Namen geschenkt, weil der der kämpferischste ist: Jeanne. Jeanne, wie Jeanne d’Arc, das französische Bauernmädchen, das General wurde und die Engländer in Schrecken versetzte. 9 Übers. v. Vollmann (2004, 124f.): Ich sah Wölfe, Esel, Hunde, Papageien, zwei Stiere, einen Fuchs, einen Hasen, Mäuse, einen Adler, ein Dutzend Löwen und Löwinnen [sic!], einen 17 inteRjuli 01 i 2011 Raben, eine Schlange… Erst als ich näher kam, sah ich den Mann, den diese Menagerie umgab. 10 Übers. v. Vollmann (2004, 126): Diese Lehre ist wohl einen Käse wert. 11 Dieser Name spielt mit den verwandten Wörtern le laurier (dt.: Lorbeer) und le lauréat (dt.: der Preisgekrönte). In der deutschen Fassung heißt Mademoiselle Laurencin entsprechend Frau Preisendanz (von: jmd. preisen). 12 In der deutschen Übersetzung lautet es fast wörtlich gleich, was Jeannes Lehrerin sagt; auffällig ist nur die Verallgemeinerung am Ende: „Ihr könnt euch glücklich preisen, Kinder, dass ihr in eine der schönsten Sprachen der Welt hineingeboren worden seid. Eure Sprache ist eure Heimat (Orsenna 2004, 9).“ Die Übertragung von „le français“ zu „eure Sprache“ ist weniger der nationalkulturellen Eigenheit des Deutschen geschuldet, etwa im Sinne eines geringeren Stolzes auf die Kulturleistungen der eigenen Sprache, sondern ist erzähllogisch begründet – schließlich handelt es sich hier um eine Szene aus dem muttersprachlichen Literaturunterricht. Vollmann hätte bei der Übertragung dieser Textpassage auf kanonisierte Texte der deutschen Literatur zurückgreifen müssen, um folgerichtig schreiben zu können: „Die deutsche Sprache ist eure Heimat.“ 13 Übers. v. Vollmann (2004, 129): Wenn der Tod einen großen Schriftsteller holen will, dann tragen seine Freunde, die Wörter, ihn im letzten Augenblick durch die Luft davon und setzen ihn hier ab. Damit er weiterarbeiten kann. 14 Was für die stimmige Illustration Erlbruchs zu Saint-Exupéry gilt, lässt sich auch zu den Initialen der einzelnen Kapitel sagen, mit denen der Illustrator die deutsche Textausgabe ziert. Eine seiner Initialen nimmt die ehemalige Kolonialmacht Frankreich in den Blick: mit einem Ausschnitt aus einer französisch beschrifteten außereuropäischen Landkarte. Das ist ein Hinweis auf die Herkunft des bebilderten Textes. Eine andere Initiale dagegen fokussiert den deutschen Kulturraum nicht nationalstaatlich gesehen, sondern mit einem Ausschnitt aus dem Atlas der deutschsprachigen Schweiz: Der deutsche Kulturraum, in dem die übersetzte Textfassung handelt, wird dadurch anders als der französische als pränationale Sprachgemeinschaft konturiert und nicht als postkoloniales Gebilde. Für beide Sprach- und Kulturräume aber ist die jeweilige Konturierung aus der Gegenwart heraus betrachtet stimmig. 15 Die Widmung für Jeanne Cayrol könnte auch erklären, weshalb der französische Name der Protagonistin in der deutschen Übersetzung beibehalten wurde, obwohl das Geschehen ansonsten offenkundig in ein deutschsprachiges Umfeld verlegt ist. LiterAturAngAben Orsenna, Erik. La grammaire est une chanson douce. Paris: Éditions Stock, 2001. Orsenna, Erik. Die Grammatik ist ein sanftes Lied. Übersetzerin Caroline Vollmann. Mit Bildern von Wolf Erlbruch. München: Hanser, 2004. Proust, Marcel. In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt: Suhrkamp, 1997 (Originalausgabe 1913). Rutschmann, Verena. „Kinderliterarisches Übersetzen und interkultureller Austausch“. Übersetzen von Kinder- und Jugendliteratur. Hg. Verena Rutschmann u. Denise von Stockar. Lausanne: CTL, 1996: 5-22. 18