Fritz Marci

Transcrição

Fritz Marci
inteRjuli
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nationalkultuRelle eigenheiten unD
kultuRelleR tRansfeR
erik orsennas La grammaire est une chanson douce/ Die
Grammatik ist ein sanftes Lied
Susanne Riegler / Gabriela Scherer
D
er Roman und seine Besonderheit
tagtäglich so selbstverständlich benutzt: Wie sie – grammatikalisch gesehen – gebaut ist; wie sie – lexikalisch
betrachtet – Plattitüden und Originelles zulässt; wie sie – funktional in den
Blick genommen – Pragmatik oder Ästhetik regieren lassen kann.
Das Erzählmodell ist so einfach
wie raffiniert: Als einzige Überlebende
eines Schiffsunglücks werden die
zehnjährige Ich-Erzählerin Jeanne und
ihr etwas älterer Bruder Thomas am
Strand einer seltsamen Insel angespült, auf der nebst wenigen Menschen vor allem Wörter wohnen. Wie
sich schnell zeigt, haben die Kinder bei
dem Schiffbruch ihre Fähigkeit zu
sprechen eingebüßt und müssen somit
ihre Sprache quasi neu lernen. Unterstützt werden sie dabei von zwei der
wenigen menschlichen Bewohner der
Insel, von Monsieur Henri und dessen
Neffen, die Liedermacher und Musiker sind. Die beiden schwarzhäutigen
Männer führen Jeanne und Thomas
bei ihren Streifzügen über die Insel an-
La grammaire est une chanson douce
– unter diesem Titel ist 2001 bei den
Éditions Stock in Paris ein außergewöhnlicher Abenteuerroman für Kinder ab ca. zehn Jahren erschienen, geschrieben von dem renommierten
Schriftsteller Érik Orsenna, seines Zeichens Mitglied der Académie française, mit Illustrationen des französischen Zeichners Bigre!. Das Buch, das
nichts weniger ist als eine federleichte
Liebeserklärung an die Sprache, avancierte in Frankreich innerhalb weniger
Wochen zum Bestseller.
Die Franzosen sind bekannt für ihr
besonderes Verhältnis zur Muttersprache und für ihre auch staatlich verordnete Sprachpflege – die Liebe zur
Sprache, die in Orsennas Erzähltext
Gestaltung findet, ist nationalkulturell
verankert. Auf höchst anschauliche
Weise wird den Lesern in Orsennas
Roman vorgeführt, welch faszinierende Sache die Sprache ist, die man
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schaulich vor Augen, dass es mit den
Wörtern wie mit den Noten ist:
derung für die Übersetzerin des Romans, Caroline Vollmann, darstellte.
Da die beiden deutschen Ausgaben
des Textes (Die Grammatik ist ein sanftes
Lied, erschienen 2004 und – als Taschenbuchausgabe bei dtv junior –
2009) nicht die Illustrationen des französischen Originals übernommen
haben, sondern von Wolf Erlbruch in
dessen unverwechselbarer Handschrift neu illustriert wurden, liegt es
nahe, dabei nicht nur die textliche
Übertragung des Ausgangstextes zu
betrachten, sondern auch in den Blick
zu nehmen, welche Rolle den Illustrationen bei dem zu leistenden kulturellen Transfer zukommt.
Vous voyez, les mots, c’est comme
les notes. Il ne suffit pas de les accumuler. Sans règles, pas d’harmonie. Pas de musique. Rien que
des bruits. La musique a besoin de
solfège, comme la parole a besoin
de grammaire. (Orsenna 2001, 74)1
Eine solche Geschichte über Sprache zu übersetzen, ist kein leichtes Unterfangen, und zwar in mehrfacher
Hinsicht: Da die sprachlichen Entdeckungen, die Jeanne auf der Insel
macht, eng an ihre eigene, also die
französische Sprache geknüpft sind,
musste die Übersetzung an vielen Stellen an das Sprachsystem der Zielsprache angepasst und entsprechend modifiziert bzw. erweitert werden – auf
diese sprachlich bedingten Übersetzungsprobleme soll hier nicht weiter
eingegangen werden. Im Fokus dieses
Beitrags steht vielmehr, ob und wie
kulturabhängige Vorstellungsinhalte,
die an Sprache geknüpft sind, vom
französischen in den deutschen Kulturraum übertragbar sind.
Da sich diese Frage kaum anders
als exemplarisch verfolgen lässt, konzentriert sich die Betrachtung auf eine
ausgewählte Passage des französischen Ausgangstextes, die durch ihre
starke nationalkulturelle Prägung
zweifellos eine besondere Herausfor-
i
m fokus: jeannes Begegnung mit drei untoten der
nationalliteratur
Die fragliche Textpassage findet
sich fast am Ende des Romans. Monsieur Henri führt Jeanne in die, wie er
sagt, notwendigste aller Fabriken:
„C’est peut-être l’usine la plus nécessaire de toutes les usines“ (Orsenna
2001, 116). Dort werden – wie könnte
es auf dieser seltsamen Insel anders
sein – Sätze hergestellt: In riesigen Volièren flattern die Substantive wie
Schmetterlinge, die unermüdlichen
Verben wimmeln ruhelos in einer Art
Ameisenhaufen umher, ein Artikelautomat liefert die benötigten Begleiter,
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er erste literat: Der
„schriftsteller-Pilot“ antoine de saint-exupéry
und eine ganze Familie von Standuhren sorgt dafür, dass die Sätze eine
Zeitform bekommen. Natürlich gibt es
auch Läden mit Adjektiven, Automaten für die Präpositionen und anderes
‚Rohmaterial‘ für Sätze mehr.
Vor allem aber gibt es eine Tür, die
zu öffnen der Fabrikdirektor Jeanne
strengstens verbietet: „Tu peux aller
partout dans l’usine […]. Mais jamais,
tu m’entends? Jamais, tu ne pousseras
cette porte” (Orsenna 2001, 137)2. Aber
wie schon Blaubarts Frauen gehorcht
Jeanne nicht und findet hinter der verbotenen Tür drei Herren vor einem
Blatt Papier sitzen und arbeiten. In
drei Begegnungen wird – zumindest
für den literaturkundigen Leser, der
die zahlreichen versteckten Anspielungen richtig zu deuten weiß – die
Identität dieser Herren gelüftet.
Der erste stellt sich Jeanne als „un
écrivain-pilote“ (Orsenna 2001, 137)3
namens Antoine vor. Bekannter sei er,
wie er hinzufügt, allerdings unter seinem Kürzel „Saint-Ex“ – dieser Hinweis genügt für Jeanne, um in ihm sofort den Autor des Petit Prince zu erkennen. Aus diesem wohl bekanntesten Werk Antoine de Saint-Exupérys
stammen denn auch die wenigen
Sätze, die Jeanne beim Blick über seine
Schulter auf sein Blatt erhascht:
Il n‘y eut qu’un éclair jaune près de sa
cheville. Il demeura un instant immobile. Il ne cria pas. Il tomba doucement
comme tombe un arbre. Ça ne fit même
pas de bruit, à cause du sable. (Orsenna 2001, 139; Herv. im Orig.)4
Und unverkennbar ist es die von
Saint-Exupéry selbst gestaltete Titelillustration der
Erzählung
vom kleinen
Prinzen, die in
der Illustration
von Bigre! zitiert wird (vgl.
Abb. 1 und 2).
Abb. 1: Saint-Exupéry in La grammaire est
une chanson douce (© Editions Stock, 2001,
Illustration: Bigre!)
Abb. 2: Titelbild des kleinen Prinzen
©Houghton Mifflin Harcourt 2009
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Diese Passage ist in der deutschen
Übersetzung sehr textnah übersetzt.
Der kleine Prinz wird auch im deutschen Sprachraum stark rezipiert; dass
der Roman aus dem Französischen
stammt, dürfte allerdings nur den erwachsenen Lesern bewusst sein. Interessanter als die unspektakuläre wortgenaue Textübertragung von Vollmann ist in diesem Fall die
Erlbruch´sche Illustration, die auf dieses Wissen um die Herkunft des Textes Bezug nimmt. Erlbruch nämlich
scheut sich nicht, die Illustration von
Bigre! aufzugreifen und sie für die
deutsche Ausgabe so umzugestalten,
dass sie deutlich versehen ist mit Hinweisen auf den französischen Ursprung: Der kleine Prinz, wie er auf
dem französischen Originalcover erscheint, wird von Erlbruch als Zitat
mit ins Bild gesetzt, und auch sein eigener „Schriftsteller-Pilot“ in der Bildmitte schreibt erkennbar französisch
(vgl. den Schriftzug „Chère Maman“
in Abb. 3).
Abb. 3: Illustration von Wolfgang Erlbruch
aus Orsennas Die Grammatik ist ein sanftes
Lied (© 2004 Carl Hanser Verlag München)
sieht. Um sich herum hat er, der sich
Marcel nennt, eine kleine Hütte aus
Kork errichtet:
Il s’était confectionné une cabane
avec des morceaux de liège […]. Et
c’est là, au milieu de tout ce liège,
qu´il écrivait. Il me regardait avec
un sourire doux, triste, un sourire
d´une profondeur qui donnait le
vertige.
– Comment t´apelles-tu?
D
– Jeanne. Et toi?
Den zweiten Schreiber schildert
Jeanne als sehr bleichen Herrn mit
einem dünnen schwarzen Schnurrbart
über dem Mund, der ihr mit einem
süßen, tieftraurigen Lächeln entgegen-
[…] Il avait une voix d´essoufflé.
Et pourtant, il n´était pas du genre
sportif. Il semblait mal en point,
pour un survivant. (Orsenna 2001,
141)
er zweite literat: Der
autor der Recherche,
Marcel Proust
– Marcel.
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Prousts Blatt geschrieben steht – nur
ein einziger, aber ellenlanger Satz, den
der Proust-Kenner jedoch sogleich Un
amour de Swann zuzuweisen vermag,
einem Kapitel aus dem ersten Band
des großen Romanzyklus A la recherche
du temps perdu:
Mais quand il fut rentré chez lui,
l‘idée lui vint brusquement que peutêtre Odette attendait quelqu’un ce
soir, qu‘elle avait seulement simulé la
fatigue… qu’aussitôt qu’il avait été
parti, elle avait rallumé et fait rentrer
celui qui devait passer la nuit auprès
d’elle. (Orsenna 2001, 141)5
Abb. 4: Illustration in Anlehnung an Jaques Emile Blanche: Marcel Proust in La
grammaire est une chanson douce (© Editions Stock, 2001, Illustration: Bigre!)
Für den im französischen Kulturraum sozialisierten Leser ist hinter
dem Namen Marcel sogleich Marcel
Proust erkennbar; gestützt wird dieses
Wiedererkennen durch mehrere von
Orsenna geschickt eingeflochtene Details, die im kulturellen Gedächtnis
Frankreichs mit dem Namen Proust
verknüpft sind: Marcel Proust schrieb
nach dem Tod seiner Mutter in der
Einsamkeit eines schallgedämpften,
mit Kork ausgelegten Zimmers am Bd.
Haussmann. Auf sein frühes Asthmaleiden und diverse andere Krankheiten, die ihn zeitlebens zwangen, einen
Großteil des Tages liegend zu verbringen, verweist die Atemlosigkeit und
offenkundige Kränklichkeit, die
Jeanne besorgt konstatiert. Noch versteht sie kein Wort von dem, was auf
Auch Bigres! Illustration dieser
Textpassage zitiert das Proust’sche
Werk (vgl. Abb. 4): Die Madeleine und
die Tasse Tee verweisen auf die zweifellos berühmteste Szene aus der gesamten Recherche6, und auch die Darstellung Prousts selbst nimmt unverkennbar auf eine bekannte Vorlage
Bezug: Das im Musée d’Orsay befindliche Porträt von Jacques Emile
Blanche hat das Proust-Bild der Franzosen wohl nachhaltiger als jede andere Darstellung geprägt.
Mit einer bloßen Übersetzung –
wie im Falle der vorangehenden Passage zu Saint-Exupéry – ist dem nationalkulturellen Fokus dieser Textpassage kaum gerecht zu werden. Die
Übersetzerin von Orsennas Roman
stand hier vor der Herausforderung,
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den Ausgangstext so zu übertragen,
dass er auch im kulturellen Kontext
des deutschen Lesers ‚funktioniert‘.
Eine Illustration zu dieser Begegnung
gibt es in der deutschen Fassung nicht.
In der Übersetzung von Vollmann
trifft Jeanne anstelle von Proust den
deutschen Nationaldichter Johann
Wolfgang von Goethe, der im Text als
zwar zahnloser, steinalter Mann mit
jedoch überraschend jugendlichen
Augen eingeführt wird. Im schwarzen
Gehrock steht er nachdenklich an seinem hohen Schreibpult und stellt sich
Jeanne mit seinen Vornamen Johann
Wolfgang vor (vgl. Orsenna 2004,
126f.). Bei den Versen, die der Dichter
Jeanne auf ihre Bitte hin zeigt, handelt
es sich um die erste Strophe des eher
unbekannten Goethe-Gedichts „Freisinn” aus dem West-östlichen Divan:
soziierbar.7 Einzig über die Vornamen
ist, analog zur Originalfassung, ein
eindeutiger ‚Schlüssel‘ für das Dichterrätsel gegeben.
Vollmann betont die nationalkulturelle Symbolhaftigkeit dieser Dichterbegegnung aber insofern, als sie eine
besondere Wirkung dieser auf
Deutsch verfassten Verse auf Jeanne
unterstellt: „Ob diese Verse wohl alles
in mir zum Klingen brachten, weil sie
in meiner Muttersprache geschrieben
waren?“, lässt sie Jeanne sinnieren.
Und weiter:
Lasst mich nur auf meinem Sattel
gelten!
Zudem nutzt die Übersetzerin
diese Goethe-Episode, um wie nebenbei den französischen Vornamen der
Protagonistin zu thematisieren – eine
Tatsache, die bei der ersten Lektüre
der deutschen Fassung insofern besonders auffällt, als alle anderen Personen, wie bei kinderliterarischen
Übersetzungen ins Deutsche üblich,
einen eindeutig deutschen Vor- oder
Nachnamen erhalten haben. Vollmann greift die Namensverwandtschaft von Goethes Vornamen Johann
und dem französischen Jeanne auf,
Vielleicht würden ja auch die
Sätze von Saint-Ex. […] eine noch
schönere Melodie haben, wenn ich
deren Sprache verstehen könnte?
Ich wollte meine Eltern bitten,
mich Französisch lernen zu lassen
(Orsenna 2004, 128).
Bleibt in euren Hütten, euren Zelten!
Und ich reite froh in alle Ferne,
Über meiner Mütze nur die Sterne.
(Orsenna 2004, 128)
Selbst für einen literarisch gebildeten erwachsenen Leser sind diese Zeilen und auch die äußere Erscheinung
des Dichters – anders als im Falle
Prousts im Originaltext – nicht auf Anhieb mit Goethes Leben und Werk as11
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devenue général, la terreur des
Anglais.“ (Orsenna 2001, 11)8
um die im Originaltext stets vollmundig beschworene Liebe zur Muttersprache auf elegante Weise zu zitieren:
Diese nationalkulturelle Konnotation des Namens Jeanne geht bei der
Übernahme in die deutsche Fassung
verloren.
„Wie heißt du?“
„Jeanne. Und du?“
D
„Johann Wolfgang.“
er dritte literat: Der fabeldichter jean de la
fontaine
„Das sind aber altmodische Vornamen.“
„Findest du? Und dabei ist mein
erster mit dem deinen verwandt.
Jeanne ist das französische Pendant zu meiner weiblichen Form:
Johanna.“
Der dritte Schreiber, auf den
Jeanne in der französischen Originalfassung trifft, ist von einer solchen
Menge verschiedenster Tiere umgeben, dass Jeanne ihn erst auf den zweiten Blick entdeckt:
Ich staunte. Zum ersten Mal
sprach mich jemand auf meinen
französischen Vornamen an.
Je voyais des loups, des ânes, des
chiens, des perroquets, deux taureaux, un renard, un lièvre, des
souris, un aigle, douze lions et une
lionne, un corbeau, une couleuvre… Seulement après, je distinguai l’homme qu’entourait cette
ménagerie. (Orsenna 2001, S.
142f.)9
„Vielleicht haben dir deine Eltern
diesen Namen gegeben, damit er
dir immer zuruft: ‚Frankreich ist
schön, die französische Sprache ist
schön, lerne das Nachbarland und
seine Sprache kennen.‘“ (Orsenna
2004, 127)
Der Name Jeanne ist im Französischen eng mit der französischen Nationalheldin Jeanne d’Arc verbunden,
was von der Ich-Erzählerin und Protagonistin eingangs auch mit Stolz und
Pathos hervorgehoben wird:
Mit einem Gänsekiel hinter dem
Ohr und einem Heft in der Hand
lauscht er aufmerksam dem Streitgespräch zwischen einem Affen und
einem Leoparden. Natürlich handelt
es sich, wie auch hier für den französischen Leser rasch deutlich wird, um
keinen Geringeren als den Fabeldichter Jean de La Fontaine, dem jedoch
wie seinen Vorgängern auch der Vorname genügt, sich bei Jeanne vorzu-
Mes parents (qu’ils soient remerciés dans les siècles des siècles!)
m’ont fait cadeau du plus guerrier
des prénoms : Jeanne. Jeanne
comme Jeanne d’Arc, la bergère
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von Jean de La Fontaine die Imaginationskraft literarischer Sprache beschwören. In ihrer Begeisterung für
die eigene Sprache lässt sich Mademoiselle Laurencin hinreißen zu Sätzen wie den folgenden:
stellen. Und mit dem Satz, den er
Jeanne auf ihre Bitte hin mit auf den
Weg gibt, darf er sicher zu Recht sehr
zufrieden sein: „Cette leçon vaut bien
un fromage sans doute (Orsenna 2001,
145).“10 Wer anhand dieses Verses
nicht sofort die bekannte Fabel vom
Raben und vom Fuchs erkennt, der ist
mit einem Blick auf die Illustration gut
beraten (vgl. Abb. 5). Die Begegnung
Jeannes mit Jean de La Fontaine folgt
in der deutschen Übersetzung weitgehend dem Ausgangstext. Eine Illustration gibt es in der deutschen Fassung,
anders als in der französischen, hierzu
keine.
Der Name Jean de La Fontaine
taucht an dieser Stelle im Roman nicht
zum ersten Mal auf. Orsenna lässt
ganz zu Beginn der Erzählhandlung
Jeannes verehrte Lehrerin Mademoiselle Laurencin11 anhand der Fabeln
Bénissez la chance, mes enfants,
d´avoir vu le jour dans l´une des
plus belles langues de la terre. Le
français est votre pays (Orsenna
2001, 14).12
Auf diese Weise ergibt sich in Orsennas Originaltext ein erzähllogischer Rahmen, der in der Übersetzung
verloren geht. In der deutschen Fassung begegnet Jeanne der fremdkulturellen Dichtergröße La Fontaine nämlich vor dem deutschen Dichterfürsten
Goethe. Die Reihung bei Orsenna ist:
Saint-Exupéry, Proust, La Fontaine; in
der Übertragung von Vollmann dagegen: Saint-Exupéry, La Fontaine, Goethe.
Z
usammenschau
Der verbotene Raum in der notwendigsten aller Fabriken, in dem die
drei beschriebenen Episoden angesiedelt sind, ist von Orsenna als eine Art
zeitlose ‚Zwischenwelt’ angelegt.
Abb. 5: Jean de la Fontaine bei Orsenna
und Bigre! (© Editions Stock, 2001,Illustration: Bigre!)
Quand la mort s’approche d’un
grand écrivain ses amis les mots,
au dernier moment, l’enlèvent et le
déposent ici. Pour qu’il continue
son travail (Orsenna 2001, 145)13
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– das ist das Geheimnis, das Jeanne am
Ende mit dem Fabrikdirektor teilt. Orsenna gelingt es durch diesen erzählerischen Kunstgriff, drei bedeutenden
Persönlichkeiten der französischen Literaturgeschichte in seinem Roman die
Ehre zu erweisen. Das mit Anspielungen und literarischen Zitaten gespickte
Text-Bild-Geflecht rekurriert dabei auf
ein Repertoire an Sätzen, Texten, Geschichten und Bildern, die fest im kulturellen Gedächtnis Frankreichs verankert sind und für den Leser sozusagen als ‚Lektüreschlüssel‘ dienen.
Dies setzt allerdings einen im französischen Kulturraum sozialisierten
Leser voraus – genau dies aber trifft
auf den neuen Adressaten der deutschen Buchausgabe nicht zu: Wie also
hat die Übersetzung den fraglos anspruchsvollen Transfer der einzelnen
Episoden in einen nationalkulturell
anders konturierten Raum gelöst?
In der erzählten Begegnung Jeannes mit Saint-Exupéry (vgl. „Der erste
Literat”) gehen Text und Illustration
verschiedene Wege. Die Übersetzung
bleibt dicht am Original. Dadurch jedoch erhält der literarische Referenztext Der kleine Prinz eine weltliterarische Konturierung, die nicht mit seiner
nationalliterarischen Verortung im
französischen Ausgangstext übereinstimmt. In der Illustration hingegen
wird ebendiese nationalkulturelle
Konnotation beibehalten und als
fremdkulturelles Element in die deutsche Übersetzung integriert. Das Bild
fungiert somit als sichere Brücke zwischen dem französischen Ursprungsund dem deutschen Rezeptionskontext des literarischen Textes.14
Die Begegnung mit Proust ist in der
deutschen Fassung dahingehend bearbeitet, dass das französische Nationalsymbol Proust durch ein deutsches
Pendant ersetzt ist (vgl. „Der zweite
Literat”), wobei die übersetzte Version
auf eine Neuillustrierung verzichtet.
Die Wahl Goethes als ‚deutscher
Proust‘ ist dabei schlicht naheliegend:
Welchen Namen, wenn nicht denjenigen Goethes, würde man im deutschen Kulturraum erwarten, wenn von
Sprachkunst im Sinne von Höhenkammliteratur die Rede ist? Die nationalkulturelle Bedeutung, die diesem
Autornamen zweifellos eignet, wird in
der Übersetzung zusätzlich dadurch
betont, dass Jeannes Unterhaltung mit
Goethe an die dritte und letzte Stelle
gesetzt ist. Damit wird das deutsche
Nationalsymbol Goethe zum Kulminationspunkt für Jeannes Begegnung
mit den Dichtergrößen. Hier liegt eine
Bearbeitung des Originaltextes vor, die
auf eine Passung hinsichtlich der Kultur der Zielsprache zielt (sog. „sekundäre Konkulturalität“, vgl. Rutschmann 8). Diese Vorgehensweise geht
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s
konform mit der Orientierung am Erfahrungshorizont des Adressaten, wie
sie für intentionale Kinder- und Jugendliteratur im deutschen Sprachraum seit ihren Anfängen üblich ist.
Wie schon Saint-Exupéry bleibt
auch der französische Fabeldichter La
Fontaine dem deutschen Leser erhalten (vgl. „Der dritte Literat”), allerdings nur auf der Text-, nicht aber auf
der Bildebene: Anders als im Ausgangstext ist die Episode im deutschen Text nicht illustriert. Da La Fontaines Fabeln ähnlich wie Le Petit
Prince nicht nur deutlich nationalkulturelle Symbolkraft, sondern auch
weltliterarischen Charakter besitzen,
kann im Text auf eine Neugestaltung
verzichtet werden. Seine Fabeln stehen in einer langen, bis auf Äsop zurückreichenden Tradition und spielen
auch im deutschen Literaturunterricht
als kanonische Fabeltexte eine Rolle.
Dass Jean de La Fontaine nicht wie
Proust einem deutschen Autor weichen muss, mag allerdings auch mit
der Widmung für das Ehepaar Jeanne
und Jean Cayrol zusammenhängen,
die dem Roman vorangestellt ist.
Möglicherweise ist die prominente
Rolle, die dem ‚fabelhaften‘ Jean im
Ausgangstext zukommt, auch als eine
über die Namensgleichheit versteckte
Hommage an den Schriftstellerfreund
Jean Cayrol zu verstehen.15
chlussbetrachtung
Dass Orsennas Roman in der
französischen Originalausgabe einen
ganz anderen Leser anspricht und
auch erreicht als in der deutschen
Buchausgabe, ist offenkundig. Der
Platz, den das Kinderbuch La grammaire est une chanson douce auf der
französischen Bestsellerliste innehatte,
hängt sicherlich damit zusammen,
dass nicht nur Kinder, sondern auch
Erwachsene mit diesem Buch sehr
schön ‚bedient‘ werden. Viele der Anspielungen und Referenzen des Textes
erschließen sich nur dem literarisch
kundigen erwachsenen Leser: Dass
etwa ein französisches Kind Prousts
Recherche schon so gut kennt, dass es
beim Betrachten der Illustration von
Bigre! beispielsweise die Madeleines
als literarisches Zitat erkennen kann,
ist – selbst angesichts des in Frankreich stärker als in Deutschland auf
nationalliterarischen Kanontexten basierenden Schulunterrichts – unwahrscheinlich. Einem Erwachsenen dagegen, der sich im französischen Kulturraum einigermaßen sicher bewegt, entgeht diese Anspielung nicht und sie löst
bei ihm die Art von Lesegenuss aus, auf
die jedes intertextuelle Versatzstück abzielt.
Die doppelte Adressierung des französischen Originals an kindliche und erwachsene Leser ist für kinderliterarische
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Texte nicht ungewöhnlich, im französischen Sprachraum ebenso wenig wie im
deutschen. Anders als die deutsche
Buchausgabe aber präsentiert sich das
französische Original als ein mit nationalkulturellen Versatzstücken vollkommen durchkomponiertes Text-BildGeflecht. Eine vergleichbare Wirkung
wäre in der deutschen Fassung nur
durch eine sehr weitreichende Bearbei-
tung des Originals zu erreichen, die
letztlich einer partiellen Neufassung des
Ausgangstextes gleichkäme. Ob ein
Roman, der wie der hier betrachtete derart mit dem nationalkulturellen Erbe
und Gedächtnis spielt, auf dieser Ebene
überhaupt in einen anderen Kulturraum
transferierbar ist, muss daher wohl
grundsätzlich in Frage gestellt werden.
Gabriela Scherer
(*1963) hat an
der Universität
Zürich Germanistik, Anglistik
und Literaturkritik studiert.
1992 wurde sie
mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit zur DDR-Literatur promoviert. Sie war mehrere Jahre
in Forschung und Hochschullehre sowie
im Schuldienst tätig. Zur Zeit arbeitet sie
als Akademische Rätin in der Lehrerausbildung an der PH Heidelberg und hat soeben einen Ruf auf eine Professur für
Neuere Deutsche Literatur mit Schwerpunkt Literaturdidaktik an die Universität
Koblenz-Landau erhalten.
Susanne Riegler
(*1973) hat an
der Universität
Erlangen-Nürnberg für das
Lehramt
an
Grundschulen
studiert und war
anschließend
mehrere Jahre in der hochschulischen Lehrerausbildung tätig. Im Jahr 2006 wurde
sie mit einer sprachdidaktischen Arbeit
mit dem Titel: „Mit Kindern über Sprache
nachdenken" promoviert. Seit dem Wintersemester 2010/11 ist sie Professorin im
Fach Grundschuldidaktik Deutsch an der
Universität Leipzig.
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Anmerkungen
1 Übers. v. Vollmann (2004, 60): Es genügt nicht, dass man sie aufhäuft. Ohne Regeln keine
Harmonie. Keine Musik. Nur Geräusche. Die Musik braucht die Tonlehre, wie die Sprache
die Grammatik braucht.
2 Übers. v. Vollmann (2004, 122): „Du kannst überall in der Fabrik hingehen […]. Aber niemals,
verstehst du?, niemals darfst du diese Tür öffnen.“
3 Vgl. in der Übers. v. Vollmann (2004, 122): „Wer bist du?“ – „Ein Schriftsteller-Pilot.“
4 In der Übers. v. Vollmann (2004, 124): Da war nur ein gelber Blitz dicht neben seinem Knöchel. Er
erstarrte einen Augenblick. Er schrie nicht. Er fiel langsam um, wie ein gefällter Baum. Es gab nicht
einmal ein Geräusch, wegen des Sands.
5 Übers. v. Rechel-Mertens (S. 360f.): Aber als er zu Hause war, kam ihm auf einmal der Gedanke, daß Odette vielleicht an diesem Abend noch jemand erwartete, daß sie ihn nur gebeten
habe, das Licht auszulöschen, damit er glaube, sie wolle wirklich schlafen, und gleich nachdem
er gegangen, es wieder angemacht und jenen andern eingelassen hätte, dem die Nacht bei ihr
zugedacht war.
6 Vgl. In Swanns Welt (S. 66f.): Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray (weil ich an diesem
Tag vor dem Hochamt nicht aus dem Hause ging), sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte. […] Und wie in den Spielen, bei denen die Japaner in eine mit Wasser gefüllte Porzellanschale kleine, zunächst ganz unscheinbare Papierstückchen werfen, die, sobald
sie sich vollgesogen haben, auseinandergehen, sich winden, Farbe annehmen und deutliche
Einzelheiten aufweisen, zu Blumen, Häusern, zusammenhängenden und erkennbaren Personen werden, ebenso stiegen jetzt alle Blumen unseres Gartens und die aus dem Park von
Monsieur Swann, die Seerosen auf der Vivonne, die Leutchen aus dem Dorf und ihre kleinen
Häuser und die Kirche und ganz Combray und seine Umgebung, alles deutlich und greifbar,
die Stadt und die Gärten auf aus meiner Tasse Tee.
7 Unter nationalkulturellem Gesichtspunkt würde man hier eher ein Zitat erwarten aus einem
bekannten und mit der deutschen Nation unauflösbar verknüpften Gedicht Goethes, wie es
etwa „Über allen Gipfeln ist Ruh” darstellt. Mit einem Zitat aus dem West-östlichen Divan verbleibt Vollmann jedoch in dem durch die vorhergehenden Begegnungen gesetzten weltliterarischen Kontext – was der Dichtergröße Goethe auch durchaus gerecht wird, und zwar nicht
nur aus der Sicht der Rezeption, sondern auch aus der Sicht des Autors selbst, dessen Maximen
und Reflexionen auf das Weltliterarische zielten. Im Unterschied zu Orsenna nimmt Vollmann
damit aber auch auf die kindliche Perspektive Jeannes Rücksicht: die deutsche Jeanne nämlich
kann mit den wenig tiefsinnigen Versen Goethes durchaus etwas anfangen, wohingegen der
französischen Jeanne die Worte Prousts dunkel bleiben.
8 Übers. v. Vollmann (2004, 7): Meine Eltern (in alle Ewigkeit sei es ihnen gedankt!) haben mir
den nützlichsten aller Namen geschenkt, weil der der kämpferischste ist: Jeanne. Jeanne, wie
Jeanne d’Arc, das französische Bauernmädchen, das General wurde und die Engländer in
Schrecken versetzte.
9 Übers. v. Vollmann (2004, 124f.): Ich sah Wölfe, Esel, Hunde, Papageien, zwei Stiere, einen
Fuchs, einen Hasen, Mäuse, einen Adler, ein Dutzend Löwen und Löwinnen [sic!], einen
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Raben, eine Schlange… Erst als ich näher kam, sah ich den Mann, den diese Menagerie umgab.
10 Übers. v. Vollmann (2004, 126): Diese Lehre ist wohl einen Käse wert.
11 Dieser Name spielt mit den verwandten Wörtern le laurier (dt.: Lorbeer) und le lauréat (dt.:
der Preisgekrönte). In der deutschen Fassung heißt Mademoiselle Laurencin entsprechend
Frau Preisendanz (von: jmd. preisen).
12 In der deutschen Übersetzung lautet es fast wörtlich gleich, was Jeannes Lehrerin sagt; auffällig ist nur die Verallgemeinerung am Ende: „Ihr könnt euch glücklich preisen, Kinder, dass
ihr in eine der schönsten Sprachen der Welt hineingeboren worden seid. Eure Sprache ist eure
Heimat (Orsenna 2004, 9).“ Die Übertragung von „le français“ zu „eure Sprache“ ist weniger
der nationalkulturellen Eigenheit des Deutschen geschuldet, etwa im Sinne eines geringeren
Stolzes auf die Kulturleistungen der eigenen Sprache, sondern ist erzähllogisch begründet –
schließlich handelt es sich hier um eine Szene aus dem muttersprachlichen Literaturunterricht.
Vollmann hätte bei der Übertragung dieser Textpassage auf kanonisierte Texte der deutschen
Literatur zurückgreifen müssen, um folgerichtig schreiben zu können: „Die deutsche Sprache
ist eure Heimat.“
13 Übers. v. Vollmann (2004, 129): Wenn der Tod einen großen Schriftsteller holen will, dann
tragen seine Freunde, die Wörter, ihn im letzten Augenblick durch die Luft davon und setzen
ihn hier ab. Damit er weiterarbeiten kann.
14 Was für die stimmige Illustration Erlbruchs zu Saint-Exupéry gilt, lässt sich auch zu den Initialen der einzelnen Kapitel sagen, mit denen der Illustrator die deutsche Textausgabe ziert.
Eine seiner Initialen nimmt die ehemalige Kolonialmacht Frankreich in den Blick: mit einem
Ausschnitt aus einer französisch beschrifteten außereuropäischen Landkarte. Das ist ein Hinweis auf die Herkunft des bebilderten Textes. Eine andere Initiale dagegen fokussiert den deutschen Kulturraum nicht nationalstaatlich gesehen, sondern mit einem Ausschnitt aus dem
Atlas der deutschsprachigen Schweiz: Der deutsche Kulturraum, in dem die übersetzte Textfassung handelt, wird dadurch anders als der französische als pränationale Sprachgemeinschaft konturiert und nicht als postkoloniales Gebilde. Für beide Sprach- und Kulturräume
aber ist die jeweilige Konturierung aus der Gegenwart heraus betrachtet stimmig.
15 Die Widmung für Jeanne Cayrol könnte auch erklären, weshalb der französische Name der
Protagonistin in der deutschen Übersetzung beibehalten wurde, obwohl das Geschehen ansonsten offenkundig in ein deutschsprachiges Umfeld verlegt ist.
LiterAturAngAben
Orsenna, Erik. La grammaire est une chanson douce. Paris: Éditions Stock, 2001.
Orsenna, Erik. Die Grammatik ist ein sanftes Lied. Übersetzerin Caroline Vollmann. Mit Bildern
von Wolf Erlbruch. München: Hanser, 2004.
Proust, Marcel. In Swanns Welt. Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Erster Teil. Aus dem Französischen von Eva Rechel-Mertens. Frankfurt: Suhrkamp, 1997 (Originalausgabe
1913).
Rutschmann, Verena. „Kinderliterarisches Übersetzen und interkultureller Austausch“.
Übersetzen von Kinder- und Jugendliteratur. Hg. Verena Rutschmann u. Denise
von Stockar. Lausanne: CTL, 1996: 5-22.
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