Net.art REader
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Net.art REader
Shortguide | Kurzführer: Net.art Shortguide | Kurzführer: Net.art Diese Publikation erscheint im Rahmen des Seminars Net.art am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg im Sommersemester 2007 unter Seminarleitung von Birte Kleine-Benne. http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html „Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder.“ 7 Birte Kleine-Benne Net Art. Chancen als Metakatalysator 21 Torsten Rackoll Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse 30 Cora Waschke Duchamps Erben 34 Anne-Christin Klare Mission Eternity – netzwerk-kunst als evolutionäre net.art 42 Daniel Becker Ceci n’est pas une page Web. 47 Birte Kleine-Benne Shortguide | Kurzführer: Net.art ist ein Gemeinschaftsprojekt des Seminars Net.art im Sommersemester 2007 an der Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar Autoren: Wencke Artschwager, Svetlana Auer, Daniel Becker, Daniel Hirsch, Anne-Christin Klare, Birte Kleine-Benne, Ulrike Kuhn, Sarah Niesel, Torsten Rackoll, Inga Reimers, Simone Thürnau, Cora Waschke, Nikola Weseloh Lektorat: Birte Kleine-Benne Redaktion: Daniel Becker, Daniel Hirsch, Torsten Rackoll, Inga Reimers Layout Offline: Torsten Rackoll /Cornelia_Sollfrank 52 Wencke Artschwager Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: © bei den Autoren Artschwager, Auer, Klare, Kleine-Benne, Kuhn, Thürnau, Waschke, Weseloh, 2008 Creative Commons-Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de) bei den Autoren Becker, Hirsch, Niesel, Rackoll, Reimers, 2008 Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo 62 Abbildung: Ceci n’est pas une page Web. picidae, Christoph Wachter und Mathias Jud, 2007. Nikola Weseloh Exhibiting the Dot Wir danken den KunstproduzentInnen und AutorInnen, deren Material uns als Untersuchungsgegenstand diente. Weitere Informationen zum Seminar, Bookmarks zu Net.art und ausgewählte Literatur: http://www.bkb.eyes2k.net/uniHH07.html 68 Inga Reimers 0 Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics 80 Kostenloser Download des Shortguide | Kurzführer: Net.art: http://www.uni-hamburg.de /Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html 5 Simone Thürnau http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html 0 Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst 93 Ulrike Kuhn „Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder.“ (Vuk Cosic 1997) Error 404. [Net.]Art is not found 102 Sarah Niesel Vorbemerkungen von Birte Kleine-Benne Das russische Internet 110 Svetlana Auer Tactical Media 121 Daniel Hirsch Glossar 132 Daniel Becker 148 Anhang Seitdem der Cyberspace Anfang der neunziger Jahre zunächst selbst zu einem „medialen Gesamtkunstwerk“ (Rötzer/Weibel 1993) erklärt und etwa zeitgleich die Formel „net = art“ (Heath Bunting) aufgestellt wurde, haben sich mit und im Internet verschiedene künstlerische Praktiken herausgebildet. Wesentlich für Net.art, die ihren Begriff dem Mythos nach einem Unfall verdankt, ist ihr spezifischer Umgang mit den technischen Eigenschaften, den Regeln, Technologien oder Protokollen des Internets. Net.art, spezifischer dann Software Art, Browser Art oder Blog Art, wird der Medienkunst, einem Sammelbegriff für künstlerisch-technologische Kooperationen, zugeordnet – eine Gattung, deren Auflösung neuerlich auf der transmediale 2007 angeregt wurde. In Abgrenzung zur Net.art steht die sog. Kunst im Netz als Bezeichnung für diejenigen Aktivitäten, die das Internet als Arena der Repräsentation oder als ein sekundäres Reproduktions- oder Distributionsmedium nutzen. Die Unterscheidung zwischen Net.art und Art on the Net (Blank 1996) kann 6 7 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder. durch drei Kriterien präzisiert werden: Interactivity, Connectivity und Computability bestimmen die sog. Webness (Dietz 2000). schen. Denn obwohl oder gerade weil sich die Netzkunst aus konzeptuellen und/oder technischen Gründen einer KunstKanonisierung entzieht, fordert sie die Strategien der Institutionalisierung geradezu heraus. Sie trägt – wenn auch lückenhaft – ausgewählte Operationen im Kunstsystem in „Duchampscher“ (Baumgärtel) Geste vor und gibt Auskünfte zur Verfasstheit des metastabilen Betriebssystems Kunst. Jüngstes Beispiel für eine fortgesetzte Institutionalisierung ist die Gründung des Linzer LBI Instituts Medien.Kunst.Forschung., das Forschung in der Entwicklung von Dokumentations-, Beschreibungs- und Erhaltungsstrategien für digitale Kunstwerke und Medienkunst betreiben will. Unser Shortguide | Kurzführer: Net.art soll hierzu einen Beitrag leisten. Die junge Geschichte der Net.art, die in eine kunsthistorische Tradition u.a. von Situationismus, Konzeptkunst und Fluxus gestellt werden kann, ist trotz ihrer Kürze eine bewegte und wechselhafte und wird wegen der abwechselnden Nachrufe von Produzenten- und Kritikerseiten als eine tragische bedauert (Weiss 2008): Der ledigliche Rückgriff auf künstlerische Konzepte der siebziger und achtziger Jahre (Fake, Appropriation und Institutionskritik), die selbstorganisierten Gründungen eigener netzspezifischer Institutionen wie Festivals, Webzines und Wettbewerbe sowie die Ununterscheidbarkeit zwischen Kunst und Kontext qua Medium veranlasste Isabelle Graw, in Texte zur Kunst 1998 eine scharfe Trennlinie zu verkünden: Gewissermaßen freiwillig habe die Netzkunst darauf verzichtet, als Kunst im herkömmlichen Sinne zu funktionieren. Ein Jahr zuvor behauptete Vuk Cosic, Repräsentant des slowenischen Pavilions auf der Biennale in Venedig 2001, leidenschaftlich: „Kunst war nur ein Ersatz für das Internet.“ Andere schwärmen von einem subtilen Ikonoklasmus, einer Attacke auf die Idee des Bildes als materieller Substanz (Hartl 2001), wiederum andere bezeichnen die Netzkunst als einen „Joke“ (Medosch 2008 zitiert Cosic), von dem heute „doch schon lange niemand mehr [spricht]“ (Medosch 2008). ...demnach ein hervorragender Untersuchungsgegenstand und Grund genug, unbeeindruckt der kompetitiven Kämpfe im kulturellen Feld (Bourdieu) zum Komplex Netzkunst, u.a. zu einzelnen Netzkünstlern und deren Produktionen, zu kunstsystemischen Interventionen, zu assoziierten Themen und zu Potentialen für Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte zu for- Zu Beginn bescheinigt Torsten Rackoll [torsten.rackoll(at)web.de] der Net.art Chancen, als Metakatalysator wirksam sein und mit der Macht des Kanons brechen zu können, Kunst nämlich nicht mehr nur einzig aufgrund des Mediums bzw. des verwendeten technischen Mittels zu klassifizieren. Rackoll schlägt der kunstgeschichtlichen Forschung vor, insbesondere den netzspezifischen Hypertext als alternative Systematisierungstechnik einzusetzen und mit dieser sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte zu indizieren, gleichsam damit das Kunstwerk von der festschreibenden Kontextlast zu befreien. Aus der Riege der sog. Netzheroes Bunting, Cosic, Jodi, Lialina und Shulgin, die 2003 als Gipsbüsten auf Sockeln in ironischer Zwanzig-Zentimenter-Größe im Museum (of Contemporary Art in Oslo) landeten, fokussieren wir in unserem Shortguide eine Netzarbeit von Olia Lialina. 8 9 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder. Cora Waschke [cora.waschke(at)web.de] übersetzt den Netzkunstklassiker ‚My Boyfriend Came Back From The War‘ aus dem Jahr 1996 in ein Baummodell und bringt mittels ihrer Strukturanalyse (einschließlich einer textlichen Analyse der Übersetzungsprobleme) den sukzessiven Bildverlauf der Einzelframes auf eine visuelle Fläche. Der Versuch, einen Gesamtüberblick über die formale Text-/Bild-Komposition dieser Netzarbeit zu gewinnen, soll in der digitalen Variante das MBCBFTW-Museum erweitern, das bisher 22 Variationen des Klassikers Lialinas in unterschiedlichen Formaten wie Video, Audio, Gouache oder Comic ausstellt. Waschkes kunstwissenschaftliche Analyse bietet erstmals eine theoretisierende Fassung. (Baummodell siehe http://www.unihamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetartmbcbftw.pdf) Unser Exkurs zu Duchamp knüpft inhaltlich an die wesentlichen selbstreferentiellen Kennzeichen von Net.art an, die Netzkunst auch in die Tradition der Konzeptkunst der späten sechziger und frühen siebziger Jahre und der Kontextkunst der neunziger Jahre stellt: „[...] aber die konzeptuellen Mittel, die Marcel Duchamp oder Joseph Beuys oder die frühen Konzeptkünstler entwickelt haben, sind heute zu vollkommen normalen Vorgängen geworden, die Du jedesmal wiederholst, wenn Du nur eine Email verschickst. Jedesmal, wenn Du Netscape öffnest und wahllos eine Webadresse bei Yahoo! anklickst! Vor 80 Jahren wäre dieser Akt, der jetzt zum vollkommen normalen Alltagsleben gehört, die modernste Kunstpraxis gewesen, die man sich nur vorstellen konnte und die niemand außer Duchamp und seinen beiden besten Freunden verstanden hätte.“ (Cosic 1997) Mit künstlerischen Mitteln der Appropriation und einem strategischen Re-Mix aus Dada, Situationismus, Konzeptkunst und Punk entwickelten JimPunk und Abe Linkoln 2004 in einem Blog-Format virtuose Netzkunst-Referenzen, u.a. auf Marcel Duchamp. Ann-Christin Klare [anne-christin(at)klareonline.de] prüft die Netzarbeit ‚La Boite en valise‘ auf ihre Konzept- und Zitatgenauigkeit des gleichnamigen Miniaturmuseums in Kofferform von Duchamp aus den Jahren 1935 bis 1941 und geht der Frage nach, welche Veränderungen, welche Möglichkeitserweiterungen, aber auch welche Möglichkeitsbegrenzungen die digitale Umsetzung und Bearbeitung der etwa 70 Jahre alten analogen Schachtel im Koffer anstößt. Klare bestätigt neuerlich die Definition von bildender Kunst als Feld für Verhandlungen. Daniel Becker [danielbecker2000(at)gmx.de] gelingt es, den hybriden und komplexen Kunstprozess ‚Mission Eternity‘ der Schweizer Medienkunstgruppe etoy, einem Totenkult für das Informationszeitalter (seit 2005), in kürzester Präzision vorzustellen. etoy ist mit Mission Eternity Preisträger des spanischen Medienkunstpreis VIDA AWARD 2007 der Telefonica Foundation. Becker schlägt für diese und vergleichbare Arbeiten die Folgekategorisierung von Net.art, die der ‚netzwerk-kunst‘ vor. Diese würde die technische und die strukturelle Ebene erfassen und besäße darüber hinaus eine etymologische Verwandtschaft zu ‚net.art‘, ohne jedoch zwingend dessen Assoziation zum Internet, zur ‚Webness‘ zu wecken. „Ceci n’est pas une pipe“ schrieb René Magritte 1929 unter die erste Version seines Öl-Abbilds einer Tabakpfeife und startete damit sein künstlerisches Spiel mit Zeichen und codierten 10 11 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder. Bildern. Magritte hielt mit seinen 2-D-Positionen alles in der Schwebe und brachte die Unvereinbarkeit von Wort und Bild zur Darstellung: Wort und Bild sind nie deckungsgleich, auch dann nicht, wenn sie offensichtlich dasselbe, nämlich die Pfeife, bezeichneten. Diese immerwährende Lücke zwischen Wort und Bild nutzten die beiden Schweizer Christoph Wachter und Mathias Jud für ihr Projekt ‚picidae‘ (2007) und klärten damit wie beiläufig ein scheinbar unlösbares Problem realpolitischer Relevanz: die Internetzensur, ob in China, Korea oder in den arabischen Ländern, in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, in Firmen, Institutionen oder Organisationen. Statt eines freien und gleichen Internets zeigen sich institutionelle, regionale, nationale oder geografische Unterschiede und die Auslassungen offenbaren konkret zuordbares realpolitisches Begehren, was (visuell und damit wahrnehmungs- und handlungsrelevant) unsichtbar (gemacht) wird. Cosic schwärmte bereits 1997: „Wir haben jetzt dieses Kommunikationssystem, das mich ein bisschen an die Kommunikation zwischen den Futuristen erinnert oder später zwischen den Dadaisten: zwei Typen in Berlin, vier in Paris, zwei in Rußland [...].“ Beeinflussen die veränderten Sehgewohnheiten von Frames, digitalen Bildmodulen und zuckenden Pixeln auch die Rezeption und kann diese in verschiedenen Varianten von Useraktivitäten (in unterschiedlichen Graden) ausdifferenziert werden? Nikola Weseloh [nikolaibiza(at)hotmail.com] setzt sich in ihrem Text thematisch mit einem weiteren Aspekt unseres Themenkomplexes, dem der Rezeption von Netzkunst am Beispiel der Softwarekunst ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘ des aus New Mexico stammenden Künstlers, Designers und Entwicklers Dr. Woohoo auseinander. Diese Arbeit zeigt sich nicht als ein fertiges Endprodukt, sondern seit 2003 als ein Work-in-progress zur Herstellung verschiedenster Relationen und interessierte uns insbesondere aufgrund seiner kunsthistorischen Un-/Ordnungsmöglichkeiten. Da die Konzept- und Netzkünstlerin, Cyberfeministin und Hackerin des Betriebssystems Kunst Cornelia Sollfrank 2008 noch immer nicht über einen Wikipedia-Eintrag verfügt, formatiert Wencke Artschwager ihre Auseinandersetzungen mit Sollfranks künstlerischem Schaffen als einen lexikalischen Text. Dieser soll in die Online-Enzyklopädie implementiert und damit zur kollektiven Weiterarbeit in kollaborativer Autorschaft freigegeben werden. Sollfrank als Initiatorin und Mitbetreiberin der Internetplattform für Kunst und Kritik THE THING HAMBURG, die an die Tradition des 1992 in New York installierten unabhängigen Kommunikations- und Informationsnetzwerkes THE THING anknüpft, nimmt außerdem eine Verlinkung von THE THING und unserem Shortguide vor und praktiziert damit den kollektiven Code von Netzwerkstrukturen. Zieht die Produktion netzbasierter Kunstformen auch einen neu zu definierenden Typus von Präsentation und Vermittlung nach sich, gewissermaßen als gattungstypische Antwort auf die veränderten Möglichkeiten von Kunstproduktion? Inga Reimers [swinga(at)web.de] stellt in ihrem Text mit dem prägnanten Titel ‚Exhibiting the Dot‘ ausgewählte Netzkunstausstellungen seit 1997 vor, arbeitet im Rückgriff auf Roy Ascotts Unterscheidung von plastischen und xenoplastischen 12 13 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder. Künsten in der heutigen Telematik-Kultur (1995) die Folgekonsequenzen von Vernetzung und Interaktion für den Ausstellungsbetrieb heraus und entwirft zwei mögliche Zukünfte für die Präsentation von Netzkunst. Statt die Anschlüsse nach White-Cube-Strategie zu kappen und einzelne, kontextlose und archivierbare Endprodukte durch eine weiße Wand, einen Sockel, eine Vitrine oder einen Lichtspot herzustellen, beobachtet Reimers aktuell zwei Tendenzen für die Präsentation von Netzkunst: zum einen die chronologisch-bilanzierende Retrospektive, die die Netzkunstproduktionen (zumeist unter ein übergeordnetes Thema subsumiert) in das Zentrum des Ausstellungsinteresses stellt, zum anderen die Fokussierung des Netzproduzenten mit einem Interesse an dessen Arbeitsprozessen. Avantgarde mehr“ dar, besteht aber dennoch in einem „diskursiven Randbereich des Betriebssystem Kunst“ fort. „The final abstract expression of every art is a number“ behauptete Wassily Kandinsky und bietet mit dieser Aussage die argumentative Grundlage für eine gedankliche Verlinkung durch Ulrike Kuhn [ulrike.kuhn(at)gmx.net]: zwischen dem durch das Netz generierten Kunstwerk – durchaus mit inhaltlicher Aussage – als Ergebnis eines Algorithmus einerseits und den Dichotomien, die Heinrich Wölfflin erstmals 1915 in seinen ‚Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen‘ in methodischer Folge eines neuen Mediums (der Doppelprojektion von Dias) erfindet andererseits. Marshall McLuhans populäre These, dass das Bedeutende eines Mediums dessen Wirkung sei, ist somit auch für Wölfflins fünf binäre Begriffspaare anwendbar, mit denen vor knapp einhundert Jahren in Folge quantitativ explodierender Bilddaten (Ernst/Heidenreich 1999) die kunstgeschichtlichen Untersuchungsgegenstände neu zu ordnen waren, und findet, so Kuhn, ihren vorläufigen Höhepunkt in der Netzkunst. Diese Überlegungen provozieren die Fragen, welche organisierenden Methoden die Kunstgeschichte künftig in Folge des Anwachsens digitaler Bildarchive bereit zu stellen hat. Simone Thürnau [simone-thuernau(at)gmx.net] stellt ausgewählte Arbeiten des Künstlers, Galeristen, „PR-Beauftragten“, Kurators, Sammlers wie auch Autors der eigenen Monographie Vuk Cosics vor: zum einen die ‚classics of net.art‘ (1997), einer Geschichtsschreibung in eigener Sache, zum anderen den „Diebstahl“ der documenta-X-Webseite (1997) inklusive mitgeliefertem Vokabular für Pressemitteilungen, einem „Kommentar zum Themenkomplex Sammeln und Archivieren von Kunst und Netzkunst, der Frage nach der Macht und Autorität von (Kunst-) Institutionen sowie der Glaubwürdigkeit von Informationen im Netz“. Thürnau untersucht den expliziten Rekurs auf kunsthistorische Vorbilder sowie den Angriff auf Mechanismen des Betriebssystems Kunst mittels künstlerischer Strategien und stellt abschließend fest: Net.art stellt trotz „ihrer Immaterialität, der Präsentationssituation und der Unvereinbarkeit mit merkantilen Mechanismen zum heutigen Stand [...] keine neuartige Sarah Niesel [sarah.niesel(at)gmx.net] stellt die noch heute maßgeblich bestimmenden Konservierungs- und Restaurierungsprinzipien, wie sie in der Charta von Venedig 1964 verankert sind, in Beziehung zu den aktuellen Erfordernissen im Umgang mit Netzkunst. Denn: Konservierte Netzkunst sei weniger Netzkunst als konservierte Malerei noch Malerei, zitiert sie die Netzexperten Blank und Jeron. Das Variable Media Network, 2001 als eine Initiative u.a. des Guggenheim 14 15 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder. Museum New York, der Langlois Foundation und der Netzplattform rhizome.org gegründet, erarbeitet medial übergreifende Strategien im Umgang mit unvorhersagbaren Alterungsprozessen künstlerischer Arbeiten. Eine institutionsübergreifende Datenbank soll beispielsweise werkkonkrete, in Kooperation mit dem jeweiligen Urheber erarbeitete Strategien zugänglich machen. „das ohne hohen finanziellen Aufwand, effizient auf der ganzen Welt durch die Nutzung neuer Möglichkeitsräume Informatio-nen im Sinne einer Kampagne der Tactical Media zu verbreiten“ erlaubt. Hirsch bindet überdies exemplarische Fallbeispiele aus der Kunstpraxis, u.a. von The Yes Men, etoy oder des Critical Art Ensembles ein und koppelt damit unseren Shortguide an relevante theoretische Diskussionen der Netzkunst- und Netzkulturszene. Svetlana Auer [lilit333(at)gmx.de] weitet den Kontext unseres Shortguides und informiert über das RUNET, dem russischsprachigen Teil des Internets, und damit über die sprachlichen Grenzen des Internets. Drei ausgewählte Beispiele skizzieren exemplarisch die Spannbreite der über zehnjährigen Netzkultur einer Gemeinschaft von Menschen, „die russisch sprechen, schreiben und denken“ und rund um die Welt verstreut leben. Ob Pop, Skandale, Urheberrechtsdebatten oder Kommerzialisierungen – das Runet ist nach einem Jahrzehnt seiner Formierung, so Auer, nun endgültig „in der Realität angekommen“. Unser Anhang versammelt für uns wichtige Primärtexte, auf die wir explizite Aufmerksamkeit lenken möchten. Zuvor gibt unser Glossar, zusammen gestellt von Daniel Becker, insbesondere für eine Offline-Nutzung unseres Shortguides eine Übersicht über von uns verwendete und sich wiederholende Termini, deren Erläuterung wir der Online-Enzyklopädie Wikipedia entnommen haben. Statt die Internetquellen jeweils mit Permalink, Abrufdatum und weiteren bibliografischen Daten zu benennen, weisen wir hier exponiert auf die Auskunftsquelle für das Zitieren aus der Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Zitate oder auf die Spezial-Zitierhilfe der Wikipedia http://de.wikipedia.org/ wiki/Spezial:Cite hin. ‚Whatever happened to Tactical Media?‘ fragte die transmediale im Februar 2007 zur Relevanz des taktischen Mediengebrauchs im Zeitalter von Web 2.0. Daniel Hirsch [daniel(at)dreiundsiebzig.de] klärt vorab Selbstdefinitionen (z.B. von Geert Lovink und David Garcia), Abgrenzungen (z.B. zu Alternative Media und Indymedia), Seitenrichtungen (z.B. die Praktiken des Culture Jamming), historische bzw. theoretische Vorläufer (z.B. die Theorien des Kulturphilosophen Michel de Certeau), nimmt Begriffsschärfungen (z.B. in Abgrenzung zum Hacktivismus) vor, behandelt ästhetische Strategien (z.B. die Récupération und das Détournement des Situationismus) und untersucht die Schnittstelle zum Netz, Zum Anhang: (1) Als Reaktion auf die veränderten medial-technischen Bedingungen künstlerischer Produktion lag ein Schwerpunkt des Seminars auf der Beschreibung und Analyse von Netzkunstarbeiten – mit dem Ergebnis, hier eine Übersicht möglicher Analysewerkzeuge als ein Work-in-progress v03.08 anbieten zu können, die in produktions-, werk-, rezeptions- und wirkungsorientierte Analyseansätze unterscheidet und der aktuellen Forschung bei der Entwicklung von Beschreibungsstrategien dienen kann. (Analysewerkzeuge für Netzkunst siehe http://www.uni-hamburg.de/ Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart-AnalyseNetartv0308.pdf) 16 17 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder. Auch muss die Urheberrechtsgesetzgebung (UrhG) als Ausgleich zwischen den Rechten der Urheber und der Allgemeinheit, das nicht selten in seiner reformbedürftigen Fassung von 1965 die Rechte der Kunstproduzenten begrenzt und die digitalen und technischen Möglichkeiten vernachlässigt, überarbeitet werden. Der Zweite Korb der Novellierung des Urheberrechts, in deren Folge der Urheber seit 1.1.2008 an den Verwerter bislang noch unbekannte Nutzungsarten schon im Voraus abtritt, stellt neuerlich eine Schwächung des Urhebers dar. (2) Mit ihrem Net.art-Manifest stellten Natalie Bookchin und Alexei Shulgin 1999 programmatisch eine erste definitorische Übersicht zur Net.art zusammen, die über Spezifika, Techniken und in Aussicht stehende Transformationen des Kunstsystems informiert und Netzkunstproduzenten Tipps zu Ausstattung und Attitüden gibt. (3) Im Februar 1971 ließ der Galerist Seth Sieglaub von dem New Yorker Rechtsanwalt Bob Projanski den ,Artist’s Reserved Rights Transfer and Sale Agreement‘ aufsetzen, der „allgemein bekannte Ungerechtigkeiten in der Kunstwelt beseitigen [will], insbesondere den fehlenden Einfluss des Künstlers auf die Verwendung seines Werkes und seiner Nichtbeteiligung an Wertsteigerungen, nachdem er sein Werk aus den Händen gegeben hat“. (6) Kurd Alsleben und Antje Eske führen zu ihrer aktuellen These (2008) aus, dass in einem historischen Dreierschritt zunächst in den sechziger Jahren die erfolgreiche Verbindung von Kunst und Computer startete, sich dann die Idee der Interaktivität zwischen Mensch und Maschine paradigmatisch in der Medienkunst entfaltete und sich in der Gegenwart mit der Netzkunst eine „Kunst des Austauschs“ und zwar „ohne Publikum und ohne Werkproduktion“ entwickele. Er, der Netzkünstler, sei weder Produzent, Koproduzent noch Moderator, er begehre Botschaft. Darauf gibt Torsten Rackoll Einblick in ein mit Antje Eske und Kurd Alsleben am 2.4.2008 geführtes Interview. (4) Der Kaufvertrag der Netzkunstarbeit ‚www.antworten.de‘ (1997) vereinbart zwischen den Netzkunstproduzenten Holger Friese und Max Kossatz einerseits und dem Netzkunstkäufer Hans Dieter Huber, Professor für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart, andererseits im Jahr 1998 u.a. den Verkauf, die Ausstellungskonditionen, die Verfügungsansprüche der Künstler, die Änderungsunterlassungen des Käufers, die Reparaturzuständigkeiten, die Reproduktionsrechte und die Beteiligungen z.B. an Vermietungen. Ein abschließendes Wort: Unser Shortguide wirft einzelne Spots auf verschiedene Aspekte der Net.art (für die im Übrigen die unterschiedlichsten, zum Teil auch synonymen Bezeichnungen zur Anwendung kommen und von uns im Folgenden nicht homogenisiert werden: Netz.Kunst oder net.art, Netzkunst oder NetzKunst). Statt das Spektrum von Produktion, Rezeption, (5) Eine weiße Seite soll Interessensvertreter der Medienkunst anregen, einen Open-Content-Mustervertrag für kreatives Schaffen in der digitalen Welt aufzusetzen, der je individuell die Verkäufe von Medienkunst im Allgemeinen an Sammler, Museen oder Unternehmen zu vereinbaren in der Lage wäre. 18 19 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Präsentation und Distribution (vorgeblich) vollständig zu beleuchten, ist die vorliegende Collage vom wissenschaftlichen Interesse der einzelnen Beteiligten geleitet. Gerade die Diversität der stichprobenartigen Texte, die in dem Format eines (seriell fortsetzbaren) Shortguides konstruktiv versammelt sind, hält das Spektrum weit. Festzuhalten sind allemal veränderte Bedingungen für die Produktion, Rezeption, Präsentation, Vermittlung und Archivierung von ‚Bildern‘. Und die Freude, am Gegenstand Netzkunst gegenwärtig kunsthistorisch arbeiten zu können. Net Art1. Chancen als Metakatalysator Birte Kleine-Benne [bkb(at)eyes2k.net], im April 2008. Torsten Rackoll Die Frage ist nicht, ob das Internet nur eine andere Form bekannter Fragestellungen ist, sondern ob und wie das Internet, Klärung und Einsichten in diese Fragestellungen ermöglicht. Technische Erneuerungen haben bislang stets dazu beigetragen, einer Entwicklungsgeschichte frischen Wind in die Segel zu pusten. Was sich in der Militärgeschichte, der Bewegungsgeschichte, aber auch im Buchwesen und in der Industrie abzeichnet, bleibt in der Kunstwelt nicht aus. Ein Beispiel wäre der Anschub in den Produktionsweisen wie auch im Kunstverständnis, den jede Vervielfältigungstechnik – vom Holzdruck, über den Buchdruck zu den technischen, reproduzierenden Medien – der Kunstwelt gebracht haben. Viel zitiert ist in diesem Zusammenhang Walter Benjamins Aufsatz zur Reproduzierbarkeit in der Kunst (1936). In diesem, so beschreibt es Ranciére, leiten sich Charakteristika der Kunst aus ihren technischen Eigenschaften ab (2006). Als Gegenentwurf zu Benjamin schlägt er vor, dass die technisch reproduzierbaren Künste zunächst erst einmal als Künste 20 21 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Net Art. Chancen als Metakatalysator Anerkennung zu finden hätten. Dazu müssten sie ihre ästhetische Form finden, die nur zu Teilen aus dem Faktor der Reproduzierbarkeit hervorgeht. Die technische Seite, auf die Benjamin seinen Text fokussiert, die Vervielfältigung, sei nur ein Aspekt, nicht aber der alleinig Konstituierende. net könnte zumindest ein Grund dafür sein, dass die sogenannte Net Art einen Hauch des Deplazierten in Ausstellungshäusern und Festivals, generell an sämtlichen Offline- oder Reallife-Orten hinterlässt, wie es z.B. die Ausstellung net_condition im ZKM (1999/2000) vermuten lässt. Dennoch hält die Rezeption beharrlich daran fest, Kunst aufgrund ihres Mediums zu klassifizieren. So bleibt weder das Internet noch die Kunst davor bewahrt, in Verbindung miteinander eine, besser unendlich viele Kategorien, wie die Net Art einzuführen und etablieren zu wollen. Um Missverständnissen vorzubeugen, soll darauf hingewiesen werden, dass es hier nicht darum geht, ein Urteil über die sogenannte Net Art zu fällen. In diesem Beitrag soll die Art der Betrachtungsweise, welche durch Kategorisierungen bestimmt ist, wie auch ihre Beschränkungen aufgezeigt werden. Dem gegenüber soll der Hypertext als möglicher, produktiver Umgang mit Gegenwartskunst im Generellen angeboten werden. Statt mit Gewohntem zu brechen, scheint auch auf dem Terrain des Internets die Macht des Kanons die Oberhand zu behalten, indem Kategorisierungen einzig aufgrund des verwendeten technischen Mittels eingerichtet werden. Alles, was sich auf der Ebene des über das Internet Abrufbaren befindet, gehöre zusammen. Intentionen, formale Fragen, Inhalte werden daraufhin benutzt, um Unterordnungen zu (er)finden2. Mal stehen diese Unterkategorisierungen, die sich bei Schiesser nur im Grade der Interaktion des Users unterscheiden (1999), allein, mal werden sie um weitere mediale Fragen ergänzt, so dass der Schluss nahe liegt, es genüge, alleinig an jede Hard- und Software das Suffix Art anzuhängen. Ein Klick auf Google reicht. Selbst die Google Art hat sich bereits aus dem Wulst kreativitätsgetriebener Medienproduzenten herausgequetscht, oder besser geFilterArt. Das Wesen der Net Art liegt in ihrer Begrifflichkeit Was vermittelt die Bezeichnung Net Art eigentlich? Die oft angeführte systemtheoretische Netzwerkmetapher kann nicht das Klassifizierende sein, sonst wären die Situationisten nicht nur als Vorläufer der Net Art, sondern als Teil von ihr deklariert worden. Heißt es etwa, dass ein User sich die Werke stets nur im Internet, jedoch weltweit verlinkt anschauen und einen gedanklichen Austausch mit den Tactical Media _S. 121 (Hirsch) selbst von seiner Ferienbehausung in der Karibik genießen kann? Diese spezifische Ausrichtung auf die Plattform Inter- Vier Belege für die Beschränkungen traditionell medialer Klassifizierungen Ich will nun aufzeigen, dass sich in Net Art Werken keine gängigen Definitionen von Net Art finden lassen, die ihren Ansprüchen gerecht werden. Das führt – wie schon bei anderen kunstgeschichtlichen Kategorien – dazu, dass vorhandene Definitionen so sehr geweitet werden müssen, dass sie gänzlich ihre Schärfe verlieren. Bedenklicher jedoch ist, dass jeglicher Versuch kategorialer Verortung unproduktiv ist und keine 22 23 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Net Art. Chancen als Metakatalysator angemessene Reaktion auf die Aufgabe des Umgangs mit Gegenwartskunst darstellt. plarischer Versuch, eine soziale Skulptur mit Hilfe der aktiven Auseinandersetzung der User entstehen zu lassen. Auf der Ebene der Weboberfläche gibt sich die Arbeit La Boite En Valise5 von JimPunk und Abe Linkoln _S. 34 (Klare) aus dem Jahr 2004 wie eine gewöhnliche Webpräsenz. Die einzelnen Links verweisen jedoch auf computerproduzierte Werke, welche allesamt als Versuch gelten können, nicht nur Duchamps Miniaturmuseum _S. 34 (Klare) in Kofferform aus den Jahren 1935 bis 1941, sondern Duchamps Schaffen im Allgemeinen auf die Ebene des Digitalen zu übertragen. Dem gegenüber versucht die Hackerin und Netzkünstlerin Cornelia Sollfrank _S. 52 (Artschwager) mit dem net.art generator6 von 1999, nicht nur ihre eigene Handschrift gänzlich von dem Fabrizierten zu lösen. Sie hinterfragt ebenso die Rolle des Urhebers, wenngleich sie auch dem Schöpfer der generierten Kunst wenig Einflussmöglichkeiten erlaubt. Der net.art generator nutzt als Material aus dem Internet genommene, beliebige Webseitenschnipsel und lässt diese nach dem Motto „A smart artist makes the machine do the work“ automatisch rekombinieren. In ihrer Arbeit Flag Metamorphoses3 aus dem Jahr 2005 lässt Myriam Thyes Länderflaggen zweier oder mehrer Staaten durch morphische Prozesse in Animationen Verbindungen eingehen. Dabei treten größtenteils Staaten in Verbindung, die vom Territorialen losgelöst miteinander verstrickt sind. Zum Einen kapselt Thyes sich durch die einladende Aufforderung an den User ihrer Webseite, diese Prozesse in FlashAnimationen zu verwirklichen, von dem Produktionsprozess ab; zum Anderen erkennt sie die Möglichkeiten des Internets, territoriale Zuordnungen aufzulösen und probiert andere Bedeutungszusammenhänge aus. Das Internet selbst spielt dabei in zweierlei Weise eine Rolle: Es bietet sowohl die Oberfläche, auf der die User ihren Austausch gestalten können, als auch in Folge seiner nichtterritorialen Struktur die Grundlage, weit entfernte Länder zusammen zu fügen. Spanien und Mexiko sind nur eine (Datei-) Endung voneinander entfernt. Unabhängig vom Netz wurden die Animationen auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt. Ähnlich partizipatorisch gibt sich die seit 1994 existierende digitale stad Amsterdam4, eine technologische und kulturelle Infrastruktur, in der sich eine Netzkultur aus kommunizierenden und interagierenden Usern entwickeln konnte. Allerdings spielen hier weder formale Fragen noch territoriale Überschreitungen eine Rolle. Bei dieser Virtual Community geht es um das, was Schiesser mit kollaborativen Werken bezeichnet: „Dem User, der Userin wird eine (vorgestaltete) Plattform oder ein Rahmensystem zur Verfügung gestellt, die er, sie für seine/ihre eigene Zwecke benutzen kann.“ Es ist ein exem- Ein Vergleich von Netzkunstwerken – bedenkt man die Produktivitätsgeschwindigkeit des Internets – ist beinahe unendlich fortführbar. Dennoch stellt sich schon nach einer flüchtigen Gegenüberstellung die Frage, wie hilfreich es ist, diesen Vergleich anzustellen. Beim Schreiben kommt es mir zumindest reichlich unproduktiv vor. Doch kommt jemand, der sich in der Kategorie Net Art bewegen will, nicht umhin, diesen Vergleich zumindest zu denken. Aber wie lässt sich dann mit künstlerischen Werken umgehen, die aufgrund ihrer Medialität anbieten, ja beinahe herausfordern, mit den gewohnten Kategorien zu brechen? Ich 24 25 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Net Art. Chancen als Metakatalysator bin der Meinung, dass sich anhand produktiver Fragestellungen Zusammenhänge ergeben, die zu neuen Ordnungsprinzipien führen werden. Eine Möglichkeit dieses Prozesses werde ich im Folgenden vorstellen. Meta-Tags und Hypertext als produktive Alternativen Bietet das Medium nicht doch eine mögliche Antwort auf meine anfängliche Fragestellung, die so noch nicht probiert wurde? Eine Möglichkeit des Umgangs lässt sich auf der technischen Seite des Internets erkennen. Mediale Kategorisierungen von Kunst suchen die Antwort auf die Frage ihrer Herangehensweise im richtigen Feld, allerdings stellen sie die falsche Frage. Die Technik des Mediums kann nicht alleinig durch ihre Präsenz Grundlage für die Heterogenität ihrer Auswüchse sein. Sie kann allerdings aus sich ein Mittel zur Gliederung anbieten. Einen Versuch im Kleinen macht das Internet mit den Meta-Tags von Webseiten. Meta-Tags sind vom Autor vergebene Indexate, die den Inhalt in eine strukturale Nachbarschaft zu ähnlich Bezeichnetem bringt. Meta-Tags sind eine Quelle, aus der Suchmaschinen ihre Ergebnisse erzielen und sollen vor allem die Durchsuchbarkeit des World Wide Webs bzw. einer einzelnen Webpräsenz verbessern. Die Chance auf eine gründlichere Auseinandersetzung künstlerischer Fragestellungen scheint gegeben. Beim Betrachten von Myriam Thyes Flag Metamorphoses wird die Möglichkeit, territoriale Grenzen mit Hilfe des Internets zu umgehen, offensichtlich. Doch ebenso wie das Internet noch auf seine Grenzenlosigkeit hin überprüft werden muss, lässt sich eine Erörterung über Grenzen unserer Gesellschaft sowie deren morphisch-geschichtlichen Veränderungen denken. Stößt die digitale stad Amsterdam soziale, aber auch netztheoretische Prozesse an, so lässt sich auch fragen, inwiefern es sich hierbei auch um kompositorische und damit um ästhetische Prozesse handelt. Wie schon Duchamp mit seinem mobilen Museum versucht hat, seinem Werk einen neuen Ort zu geben, so kann mit Hilfe des Netzarbeit von JimPunk und Abe Linkoln nach der Lokalisierung von Gegenwartskunst, aber auch nach der Repräsentation von Titel, Verkaufspräsenz, Werk oder Autor gefragt werden. Cornelia Sollfrank wiederum potenziert die medial vereinfachte Produktion von Kunstwerken und bringt Fragen der Urheberschaft auf den aktuellen Stand. Auf diese Weise thematisiert sie das Verhältnis eines Künstlers zu seinem Werk und zu seiner Gegenwart. Eine Herangehensweise, die umso produktiver erscheint, wie sehr sie die Unterschiede zwischen diesen aufgezählten Begriffen untersucht. Es könnten somit Herangehensweisen und Fragestellungen entstehen, die sich aus dem Wesen oder dem Inhalt einzelner Werke generieren und diese Verwandtschaften erkennen lassen. Interessanter und in seinen Charakteristika selbst wiederum produktiver ist der Hypertext. Dieser setzt Verweise auf außerhalb seiner selbst Liegendes. Er setzt Kontexte. Das, auf das wiederum verwiesen wird, sitzt eigenständig an einem dritten Ort, ist jedoch in der Lage, an mehreren Stellen Fußspuren, Anzeichen auf seine Anwesenheit zu hinterlassen. Ähnlich könnte ein produktiver Umgang mit der Zuschreibung von künstlerischen Werken aussehen: Sie stehen für sich an einem geschützten Ort – das Kunstwerk steht somit nicht mehr zwingend mit überviel Disparatem zusammen, sondern 26 27 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Net Art. Chancen als Metakatalysator bleibt eigenständig. Allerdings gibt es Verweise, Hinweisschilder auf das Kunstwerk. So könnte es zum Beispiel eine Fragestellung geben, die nach Utopien sucht. Diese bearbeitet das Thema und setzt innerhalb dessen einen Verweis, der einen sowohl direkt zur digitalen stad Amsterdam als auch zu Malevich führt. können zuvor unbeachtete Überlegungen und Diskurse in Gang gesetzt werden. Ähnlich der Kombination von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Operationstisch kann es dem Hypertext sogar gelingen, struktural Unterschiedliches in eine kurzzeitige Verwandschaft zu setzen, um so einer weiterführenden Überlegung den Boden zu bieten. Das eigentlich Entscheidende ist jedoch die Möglichkeit, dass diese Art der Auseinandersetzung, in der Brüche entstehen werden, produktiv wird und selbst kreiert – nämlich Brüche. Damit tritt die Kunstgeschichte viel energischer an eine sehr wichtige Eigenschaft von Kunst heran. Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass nicht versucht wird, die Bedeutung des Kunstwerks in einer Polyvalenz zu entkräften, sondern es im Gegenteil jeglicher festen Zuschreibung zu entledigen. Um bei den zuvor genannten Beispielen zu bleiben, könnten die Flag Metamorphoses ohne kategoriale Zuordnung für sich bleiben. Werden im künstlerischem Bereich Fragen zur Mutualität oder Kreierung eigener Territorien, zu Sinnwelten oder zur Verschmelzung und Verformung geometrischer Figuren oder Körper gestellt, so kann in diesem Diskurs ein Verweis auf den jeweiligen Aspekt von Miriam Thyes Werk gesetzt werden. Das Kunstwerk wäre auch ohne Zuordnung präsent. In der Rezeption dezimieren die Zuordnungen jedoch die Möglichkeiten der Auslegung bzw. der Interaktion mit einem Kunstwerk. 1 Auch wenn ich mich in diesem Text von dem Begriff Net Art lösen möchte, wird er im Folgenden weiter verwendet, um die in der Rezeption unter dieser Bezeichnung genannten Werke auf ihre Gemeinsamkeiten prüfen zu können. Dabei sind sowohl die technische Seite des Internets sowie die Attribute der sogenannten Net Art wie z.B. Konnektivität, Interaktivität, Navigation gemeint. Den Hypertext in den Diskurs der Kunstrezeption zu rufen, soll weder den Hypertext in seiner Signifikanz hervorheben noch im Diskurs der Rezeption nur einer Simplifizierung dienen. Die hier angestellten Überlegungen können nur von Wert sein, wenn der Hypertext zusätzlich in der Lage ist, ein Mehr an bzw. eine Konzentration in die Auseinandersetzungen der Kunstdiskurse zu tragen. An dieser Stelle tritt eine technikimmanente Eigenständigkeit des Hypertext zu Tage. Durch seine Tendenz, schnell strukturale Nähe verschiedener Objekte durch das einfache Setzen von Verweisen zu erzeugen, 28 29 2 Vgl. Schiesser 1999 http://www.xcult.org/texte/schiesser/netzkunst.html 3 http://www.thyes.com/flag-metamorphoses/flag-animation.html 4 http://www.dds.nl 5 http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html 6 http://www.net.art-generator.com http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse Je nach Klickverhalten des Users variiert das Gitterbild in dem Zusammenspiel seiner Frames, bis schlussendlich komplett schwarze Rechtecke auftauchen, die keine weitere Verknüpfung enthalten. Mit Ausnahme des einen, das Verlinkungen zu Olia Lialinas E-Mail-Adresse und dem MBCBFTW-Museum enthält. Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse Einleitung: Für die wissenschaftliche Analyse und ihrer Rezeption ist es hilfreich, das auf mehreren Ebenen agierende Kunstwerk auf eine visuelle Ebene zu bringen und damit die Entschlüsselung seiner internen Struktur zu veranschaulichen. Die Verknü-pfungsstruktur der Frames entspricht der eines Baum-modells. Das erstellte Baummodell enthält Abbildungen der Frames in ihrer verhältnisgetreuen Größe sowie ihre Titel. Mit dieser Art der Darstellung werden Abhängigkeit und Unab-hängigkeit der Frames untereinander verständlich und damit mögliche Wege, durch die sich der User klicken kann, d.h. die Variationen der Narration (durch Text und Bild) offen gelegt. Das Baummodell in dieser Gestaltung ermöglicht eine große Anzahl an Informationen auf einem Blick. Cora Waschke Vom Framegitter zum Baummodell Die Idee, die Arbeit My Boyfriend Came Back From The War (1996) der russischen Netzkünstlerin Olia Lialina in einem Baummodell darzustellen, entstand vor dem Hintergrund, dieses Netzkunstwerk einer wissenschaftlichen Analyse im kunsthistorischen Rahmen zugänglich machen zu wollen. Erläuterung: Das MBCBFTW-Baummodell Das Kunstwerk erscheint zunächst als ein schwarzes Rechteck mit weißem Text. Angeklickt taucht an Stelle des alten ein neues schwarzes Rechteck mit weißen Bildinhalten auf, das durch Anklicken wiederum von zwei Rechtecken ersetzt wird, die zusammen die Größe des vorherigen bilden. Das Linke bleibt ohne Verknüpfung als Permanentbild erhalten, das Rechte teilt sich bei weiteren Klicks zunehmend in kleiner werdende Flächen auf. Es entsteht ein Framegitter aus zusammen gesetzten Vierecken. Sie sind schwarz mit weißem Rand oder umgekehrt und enthalten meist ebenfalls in schwarz/weiß gehaltene Bild- oder Textinhalte. Das Baummodell veranschaulicht die Verknüpfungsstruktur der einzelnen Frames von MBCBFTW, aus der sich eine variable, aber nicht uneingeschränkte Leserichtung des Users ergibt. Es bringt die in der Originalversion nacheinander sichtbaren Frames auf eine Ebene, wodurch ein Überblick des Gesamtkunstwerks entsteht. Die von der Künstlerin formulierten Titel sind jeweils über den Frames platziert. Sie geben vage Auskunft über die Reihenfolge der Frames (alphabetisch und chronologisch) und die Anzahl ihrer weiteren Verknüpfungen (ab „warb.htm“: war + Buchstabe.htm > 1 Link; Zahl.htm= 1 Link). Bei herkömmlichem 30 31 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse Klickverhalten tritt der Titel eines Frames nicht in Erscheinung, kann aber bei unten angegebener Hard- und Software über Apfel-Klick als Überschrift des geöffneten Frames im Rahmen eines neuen Tabs aufgerufen werden. Der User bewegt sich aus gegebenen Umständen nicht ‚klickend‘, sondern ‚scrollend‘ durch das Kunstwerk. Er kann dabei der von der Originalversion vorgegebenen Reihenfolge nachgehen oder mit dem Blick durch das Baummodell ‚springen‘, wodurch eine neue, in der Version von Olia Lialina ungeplante Verknüpfung von Text und Bildern möglich wird. Frames noch lesbar sind, muss ein bestimmtes Mindestmaß eingehalten werden. Unter Berücksichtigung dieses Aspektes ergeben die gemäß ihrer Verknüpfung angeordneten Frames auf einer Ebene im Baummodell eine Gesamtmaße von 200 x 80 cm. Das Kunstwerk von Olia Lialina braucht hingegen nie mehr als die ungefähre Größe jedweden Computerbildschirms. Das Kunstwerk passt sich der Hardware an. Der Betrachter des Baummodells sieht, zoomt er sich bis zur lesbaren Größe heran, entsprechend dem Rahmen seines Bildschirmes nur einen Ausschnitt, den er durch Scrollen verschieben kann. Die Umsetzung der Netzarbeit in ein Baummodell lässt allerdings ein paar Eigenheiten unberührt. Unter anderem wurde folgende Besonderheit der Arbeit Olia Lialinas in dem Baummodell nicht aufgenommen: Ein bestimmter Frame nimmt im Moment des Mausklicks eine veränderte Erscheinung an. Da es sich um den temporären Zustand eines Frames handelt, nicht aber um einen eigenständigen Frame mit eigenem Titel, der aufgerufen werden könnte, fällt er im Baummodell weg. Dieses Phänomen macht die Probleme der Übersetzung eines vielschichtigen Mediums in herkömmliche Systeme deutlich. Es kann zur Erstellung neuer Darstellungsweisen anregen, oder aber verschiedene bekannte Modelle können angewendet werden, um sich dem digitalen Werk zu nähern. Aus dem Versuch, diese Arbeiten in ihrer Ganzheit zu fassen, würden vielfältige Ergebnisse hervorgehen. Das analoge MBCBFTW-Baummodell Bei der Erstellung des analogen Baummodells muss je nach finanziellen und präsentationsspezifischen Umständen auf die Lesbarkeit der Frames verzichtet werden, denn sowohl die Druckkosten als auch die Verwendbarkeit des Formats sind zu berücksichtigen. Kann das definierte Mindestmaß nicht eingehalten werden, bietet eine angefügte Legende die Möglichkeit die Texte der Frames unter ihren Titeln aufzuführen. Beim Druck muss dann auf die Lesbarkeit der Legende und der Titel über den Frames im Baummodell geachtet werden. Die Struktur ist auch im kleinen Format nachvollziehbar. Die Qualität der Abbildungen nimmt allerdings kongruent zur Verkleinerung der Frames ab. Quelle My Boyfriend Came Back From the War, Html, frames, 1996, Olia Lialina http://www.teleportacia.org/war/war.html Das digitale MBCBFTW-Baummodell (http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008 ShortguideNetart-mbcbftw.pdf) Die digitale Version des Baummodells soll die Qualität der Rezeption im Vergleich zu der Rezeption der Arbeit von Olia Lialina möglichst wenig verändern. Damit auch die kleinsten Verwendete Hard- und Software Mac OS X (Version 10.3.9), Prozessor 1.33 GHz PowerPC G4, Speicher 768 MB DDR SDRAM, Safari 1.3.2 (v312.6), Mac OS X Freemind 080, Adobe Photoshop CS 32 33 Duchamps Erben Duchamps Erben Abb. 1: Marcel Duchamp: Die Schachtel im Koffer (La boîte en valise), 1935-1941, Quelle: http://www.ddart.co.jp/Boite-en-valise.html (letzter Zugriff 09.09.07, 18:22 Uhr). Marcel Duchamp (1887-1968) gilt als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Sein Schaffen beeinflusste viele nachfolgende Künstler und wurde zum Ausgangspunkt ihrer Werke. Mit seiner revolutionären Idee des Readymade wies er schon früh darauf hin, dass sich in der Industriegesellschaft auch die künstlerische Produktion gegenüber den industriellen Techniken und Materialien neu bestimmen wird. Während Duchamp nur sporadisch mit Foto und Film gearbeitet hat, beziehen sich seit den 60er Jahren zahlreiche Medienkünstler auf ihn. Auch zeitgenössische Netzkünstler versuchen, Duchamps Ideen wieder neu aufzugreifen und weiterzudenken. Ein Netzkunstwerk, welches sich als eine deutliche Bezugnahme auf Duchamps Werke zu Beginn und Mitte des 20. Jahrhunderts präsentiert, ist ‚La Boite en valise‘1. Diese Arbeit gehört zu dem Webprojekt ‚Screenfull‘2. Die beiden Netzkünstler JimPunk und Abe Linkoln _S. 21 (Rackoll) arbeiten unter Verwendung digitaler Medien mit verschiedenen Möglichkeiten des Kunstzitats. Kompositorisch, inhaltlich oder Ann-Christin Klare 34 thematisch werden verschiedene Werke Duchamps wieder aufgenommen und in einen neuen Kontext gestellt. Hinzukommen direkte Zitate, die das Original digitalisiert und weitgehend unbearbeitet zeigen, sowie Arbeiten, die ausschließlich durch den Titel auf ein Werk von Marcel Duchamp zurückzuführen sind. Bereits der Titel ‚La Boite en valise‘ verweist auf das gleichnamige Miniaturmuseum in Kofferform von Marcel Duchamp aus den Jahren 1935-41 (vgl. Abb. 1), welches die Verwaltung von Kunstgegenständen in griffiger und transportabler Form thematisiert. Die Grundidee der Arbeit Duchamps lässt sich relativ simpel auf das Konzept der digitalen Arbeit von Jim Punk und Abe Linkoln übertragen. Auch hier wird eine Sammlung von Werken der beiden Netzkünstler komprimiert zusammengefasst. Der wesentliche Unterschied zu Duchamps analoger ‚Schachtel im Koffer‘ ist jedoch, dass es sich bei den digitalen Werke nicht um Kopien oder Reproduktionen von Originalen handelt. Die digitalen Arbeiten von JimPunk und Abe Linkoln sind selbst die „Originale“, und ‚La 35 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Duchamps Erben Abb. 2: Marcel Duchamp, Akt eine Treppe hinabsteigend Nr. 2 (Nu descendant un escalier N°2), Öl auf Leinwand, 1912, in: Mink, Janis: Marcel Duchamp, 1887-1968, Kunst als Gegenkunst, Köln 1994, S. 26 Abb. 2 Abb. 3: nude descending a staircase (abe linkoln's 2004 mix), Quelle: http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise .html (Screenshot) Abb. 4: Nu descendant un escalier (in La Boite... V1- Rem:x 2004, Quelle: http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise .html (Screenshot) 1 Abb. 3 Boite en valise‘ ist der „Ort“ ihrer Erstpräsentation. Inwiefern die digitalen Umsetzungen, welche mit der Linksammlung ‚La Boite en valise‘ zusammengefasst sind, eine Weiterentwicklung von Duchamps Ideen und Konzepten ist, lässt sich an dessen Werk ‚Nu descendant un escalier’ (1912, vgl. Abb. 2) genauer verdeutlichen. Drei verschiedene Zitate des Originals werden auf screenfull. net präsentiert: ‚nude descending a staircase (abe linkoln’s 2004 mix)‘4 (vgl. Abb. 3) zeigt ein bearbeitetes Bild von Paris Hilton, wie sie leicht bekleidet eine Treppe hinuntersteigt. Zwei Fenster überlagern sich und geben trotzdem das vollständige Bild wieder. In dem unteren Fenster werden zusätzlich einige Konturen mit einer sich scheinbar bewegenden Linie nachgezogen. Abe Linkoln zitiert hier das Original Duchamps in thematischer Hinsicht und erprobt durch die Auswahl eines neuen Bildes und dessen simpler Bearbeitung eine eigene Interpretation des Originals. Mit der Arbeit ‚Nu descendant un escalier (in La Boite... V1Rem:x 2004‘5 (vgl. Abb. 4) wird Duchamp ein zweites Mal zitiert. Beim Öffnen der Seite und nach einem Klick auf den stufenförmig geschriebenen Titel am linken Rand (mit Unterstrichen formatiert) öffnen sich nacheinander 22 kleinere Fenster. Ihre Anordnung folgt der von Treppenstufen. So bildet sich langsam von oben nach unten eine Treppenformation. Die Fenster sind jeweils mit einem Buchstaben betitelt. Von oben nach unten lässt sich schließlich lesen: „Nude descendant un escalier“. Hier liegt der Schwerpunkt in der Interpretation nun nicht mehr auf der „Nackten“, sondern auf der Thematik sowie der Form der Treppe. Durch die sich sukzessiv aufbauenden Fenster entsteht im Bild eine Bewegung, die in dieser Form auf analoge Weise nicht hergestellt werden kann. Der Betrachter bekommt beinahe das Gefühl, eine Treppe hinab zu steigen und kann sie im Gegenzug auch selbst wieder hoch steigen, indem er aktiv die Fenster von unten nach oben mittels eines Klicks schließt. Als ironische Aufnahme der „Nackten“ können die Fenster selbst als solche bezeichnet werden; sie sind leer, haben keinen Inhalt, erscheinen also nackt. 3 36 37 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Duchamps Erben kommt sogar noch die Selektion des Bildes von Paris Hilton aus einer Masse von Bildern im Netz hinzu. Auch der zweite Aspekt, die Eliminierung der persönlichen Handschrift, wird weitestgehend erfüllt und weitergeführt. Das Foto von Paris Hilton wird zwar graphisch bearbeitet, diese Bearbeitung bleibt aber anonym, so dass sie nicht als Signatur oder gar künstlerische Eigenheit in der Gestaltung beschrieben werden kann. Auch die sich öffnenden Fenster beim zweiten Zitat (vgl. Abb. 4) haben keine persönlichen Merkmale, ebenso wie das digitalisierte Foto der Präsentation im Hörsaal des dritten Beispiels (vgl. Abb. 5). Das dritte Kriterium, dem sich die Arbeiten stellen müssen, führt zu einer ersten Gewichtung der einzelnen Arbeiten: Die eingeforderte Interaktivität wird in erster Linie von der Arbeit ‚Nu descendant un escalier (in La Boite... V1- Rem:x 2004‘ umgesetzt (vgl. Abb. 4). Diese Form der Interaktivität – indem der Betrachter durch das Schließen der Einzelfenster in Eigenzeit dem Treppenverlauf von unten nach oben folgt – ist eine klare Erweiterung und Fortsetzung der kunsttheoretischen Vorstellungen Duchamps. Bei dem Zitat ‚nude descending a staircase (abe linkoln’s 2004 mix)‘ (vgl. Abb. 3) existiert diese Steigerung zum analogen Material nicht. Die letzt angeführte Version ‚Nu descendant un escalier.rem:x #1- public presentation 2004 jimpunk‘ (vgl. Abb. 5) scheint zunächst alle Kriterien zu vereinen und sogar noch zu erweitern. Die Arbeit repräsentiert Interaktivität und demonstriert zusätzlich eine neue Auseinandersetzung mit Kunst. Sie ist überall möglich und nimmt neue Formen an, sie ist nicht zum Anfassen, lässt aber den Betrachter trotzdem teilnehmen. Aber: Schon der Titel weist darauf hin, dass es sich letztlich um eine Repräsentation/ Demonstration handelt, die Interaktion in einem Bild „einfriert“ und mittels des Mediums ihrer selbst beraubt. Abb. 5: Nu descendant un escalier.rem:x #1- public presentation 2004 jimpunk, Quelle: http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html (Screenshot) Eine dritte Variante von ‚Nu descendant un escalier‘ findet sich unter ‚Nu descendant un escalier.rem:x #1- public presentation 2004 jimpunk‘6 (vgl. Abb. 5). Hier zeigt sich dem User ein digitalisiertes Bild, auf dem ein Hörsaal mit Studenten in Rückenansicht zu sehen ist, die auf einer großen Leinwand die eben vorgestellte, sich öffnende Fenstertreppe betrachten. In diesen drei digitalen Umsetzungen werden die wesentlichen Charakteristika, die Duchamps Werke bestimmen, unterschiedlich aufgegriffen und individuell bearbeitet. Zu den zentralen Kriterien, an denen sich JimPunks und Abe Linkolns Arbeiten messen lassen müssen, zählen nach gängiger Kunstgeschichtsschreibung erstens die Selektion des Objekts vor dessen Produktion, zweitens die Eliminierung der persönlichen Handschrift und drittens die Interaktivität der Werke.7 Das erste Kriterium, die Selektion vor die Produktion zu stellen, wird von allen drei Umsetzungen erfüllt. Das Kunstwerk ‚Nu descendant un escalier‘ wird aus einer Masse ausgewählt und bearbeitet. Bei dem ersten Zitat (vgl. Abb. 3) 38 39 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html 1 http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html 2 http://www.screenfull.net 3 bzw. http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html und die jeweiligen Unterseiten 4 http://www.screenfull.net/stadium/2004/12/nude-descending-staircase-abe-linkolns.html 5 http://www.screenfull.net/stadium/2004/12/nu-descendant-un-escalier-in-la-boite.html 6 http://www.screenfull.net/stadium/2004/12/nu-descendant-un-escalierremx-1-public.html Duchamps Erben Webseiten Marcel Duchamp. Hrg.: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 09.09.2007, 18:22 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Marcel_Duchamp&o ldid=44407182 Konzeptkunst. Hrg.: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 09.09.2007, 18:22 UTC. URL: http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Konzeptkunst&oldid =43336316 Abe Linkoln/JimPunk: La Boite en valise: http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise (letzter Zugriff: 09.09.2007, 18:22 Uhr) Abe Linkoln/JimPunk: screenfull.net. We crash your browser with content: http://www.screenfull.net (letzter Zugriff: 09.09.2007, 18:22 Uhr) 7 Vgl. Marcel Duchamp und Readymade. In: Der Brockhaus. 2006. S. 201f. und 743. Daniels, Dieter: Vom Readymade zum Cyberspace. 2003. S. 58ff. Buchmann, Sabeth: Conceptual Art. In: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. 2002. S. 49. Literaturverzeichnis Buchmann, Sabeth: Conceptual Art. In: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Hrsg. v. Hubertus Butin. Köln 2002. S. 49-53. Broer, Werner u.a. (Hrsg.), (Begr. von Otto Kammerlohr): Epochen der Kunst. Bd. 5. 20. Jahrhundert: Vom Expressionismus zur Postmoderne. 2. Auflage. München, Wien 1997. Daniels, Dieter: Vom Readymade zum Cyberspace. Kunst/Medien/Interferenzen. Ostfieldern-Ruit 2003. Der Brockhaus, Kunst: Künstler, Epochen, Sachbegriffe. Hrsg. von der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus. Mannheim. 3., aktualisierte und überarb. Aufl. Mannheim, Leipzig 2006. Lucie-Smith, Edward: Bildende Kunst im 20. Jahrhundert. Köln 1999. Mink, Janis: Marcel Duchamp. 1887-1968. Kunst als Gegenkunst. Köln 1994. Steiner, Theo: Duchamps Experiment. Zwischen Wissenschaft und Kunst. Paderborn, München 2006. 40 41 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Mission Eternity – netzwerk-kunst als evolutionäre net.art Mission Eternity netzwerk-kunst als evolutionäre net.art Mission Eternity (Label-Form: M∞) ist eine Arbeit der Künstlergruppe etoy, die 2004, also nach dem ‚Internet Hype‘ am Ende der 1990er Jahre entstand und zeitlich unbegrenzt ist. Dieser Aspekt der Temporalität ist bei M∞ zentral; der Anonymität, der temporären Existenz von Avatar und dem TTL hält etoy die Nutzung der konnektiven Medien zur endlosen Erhaltung entgegen, es ist ein ‚Totenkult für das Informationszeitalter‘. Daniel Becker Abb. 1: Innenansicht SARCOPHAGUS Die M∞.ARCANUM CAPSULE, ein digitales Portrait des PILOTS, tritt nach dem Tod an dessen Stelle und erhält den ‚post mortem plan‘ und visuelle Informationen oder Stimmbeispiele des PILOTS „für die Ewigkeit“. Diese Datenpakete können über die M∞.BRIDGES wie dem SARCOPHAGUS abgerufen werden. In seiner Funktion als realer Zugang zirkuliert er global, um eine mögliche große Anzahl User zu erreichen. Abb. 2: Der SARCOPHAGUS in seiner Entstehung Ein gewöhnlicher Cargo-Container, Symbol der ökonomischen Globalisierung und materielles Pendant zum digitalen Datennetz, wird im Innenraum mit 17.000, 6 x 6 cm großen, einzelnen LED-Pixel verkleidet. Bis zu 400 PILOTS sind hier physisch existent, da die Asche zu einem Würfel, dem M∞.TERMINUS, gegossen wird, der jeweils eine LED-Anzeige im SARCOPHAGUS ersetzt und als toter Pixel des 3D-Bildschirms auftaucht. In seiner visuellen Gestaltung knüpft dieses Objekt an die klassische Skulptur an. Der SARCOPHAGUS konnte bisher als einziges Element, aber aus ökonomischen Gründen nur als Unikat verwirklicht werden. Nachdem er durch eine neue Generationen von M∞.BRIDGES abgelöst wird, verschwindet auch seine globale Präsenz und somit sein funktionaler Aspekt. Die Umsetzung bis 2016 konzentriert sich hierbei auf drei Gebiete: die M∞.ARCANUM CAPSULES, M∞.ANGEL APPLICATION und M∞.BRIDGES. Bei letzterem im Speziellen auf die Realisierung des SARCOPHAGUS (Abb. 1 und 2), einem realen und öffentlichen Zugang zu der ‚Virtuellen Welt‘, der nach seiner technischen Obsoletheit Galerien oder Museen in der Funktion einer Skulptur erhalten bleibt. Die einzelnen Formen können detailliert im M∞.DOSSIER1, dem Pendant zum klassischen Manifest, nachgelesen werden. Diese Explikation der Information, der Dokumentation und 42 43 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Mission Eternity – netzwerk-kunst als evolutionäre net.art ist hierbei, dass die ‚Tactical Media‘ gleichzeitig an Prozessualität geknüpft und im Grunde eine Form des Aktivismus ist, der diese vor allem in Hinsicht auf mediale Aufmerksamkeit anwendet, um überhaupt existent zu sein. Aus dieser Abhängigkeit von sozialem Interesse folgt, dass M∞ sich nach den medienspezifischen, kommerziellen Strukturen richten muss, um eine intermediale Präsenz zu bekommen. Wenn diese Intermedialität nun beabsichtigt ist – man kann bei M∞ angesichts einer intensiven PR-Arbeit davon ausgehen –, hieße das, dass die Autorenschaft bei M∞ ihre Autonomie verliert, sich relativiert. Abb. 3: M∞-Logo etoy imitiert durch die Nutzung eines Logos Unternehmens- bzw. Wirtschaftsstrategien und die damit konnotierte Seriösität. Das Logo labelt zudem jegliche Elemente des Projekts, indem es, wie auch sonst für etoy charakteristisch, als Präfix gebraucht wird. M∞ ist „hybrid art“2, diese Hybridisierung liegt hier in der Verbindung von Kunst, Religion, biologischem Tod und durch die öffentliche Dokumentation auch in der Finanzierung und Publikation. Daran zeigen sich die Merkmale der „Konnexion“ und der „Heterogenität“, die nach Deleuze und Guattari eine rhizomatische Struktur kennzeichnen3. Im Hinblick auf dieses Netzwerk sind die Irritationen, die Prozesse, die zeitlich und räumlich teilweise unabhängig voneinander die Gestalt des Projektes bestimmen, wie auch die Auffassung, M∞ „is too complex to explain“4, gleichzeitig ein signifikantes Merkmal der Struktur, in konzeptioneller, wie auch rhizomatischer Hinsicht, da es deren Heterarchie kennzeichnet. Dadurch nutzt M∞ die Struktur als Material, als einen transformierbaren Stoff. Der Begriff net.art scheint daher nicht mehr angemessen, stattdessen schlage ich den Begriff der netzwerk-kunst vor, da er nicht nur die technische und die strukturelle Ebene erfasst, sondern eine etymologische Verwandtschaft zu net.art besitzt, ohne jedoch dessen Assoziation zum Internet, zur ‚Webness‘ zu wecken. der Entstehungskontexte steht bei der Internetseite von M∞ im Vordergrund. Man betrachtet die Seite hierbei nicht unter dem Aspekt des Bildnerischen oder des Gestalterischen, sondern unter dem des Inhalts, der Funktion und dem der operativen Struktur. Der Entstehungsprozess und -kontext wird hierdurch Teil des Projekts; durch diese Darlegung von ökonomischen und technischen Zusammenhängen verliert das Werk seine ‚Aura‘. Obwohl M∞ damit das Internet nur nutzt, um zugänglich zu sein und es hierbei in einer ‚trivialen‘ Form als Kommunikationsplattform verwendet, die dichotom in User und Administrator unterteilt ist, wird im Kontext der net.art deutlich, dass M∞ auf ästhetische Mittel wie Unvollkommenheit, Selektivität und Fragmentarität zurückgreift, die mit denen der net.art interoperabel sind. So gebraucht etoy Begriffe der Raumfahrt, Religion oder Naturwissenschaft, wie den Terminus ‚Mission‘ oder die Lemniskate des Logos (Abb. 3), um den damit konnotierten Progress auf M∞ zu übertragen. Im Zusammenhang eines medialen Projekts, wie M∞ es ist, kann man dieses détournement als ‚Tactical Media‘ _S. 121 (Hirsch) bezeichnen. Wichtig 44 45 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Das Motiv von M∞ ist nicht neu, es ist ein Totenkult und reflektiert somit (Denk-)Systeme, die schon in den letzten Jahrtausenden vorhanden waren. Neu ist der Umgang damit und die Nutzung struktureller Anwendungen des Informationszeitalters, wie die der ‚Tactical Media‘, die prozessual, metamorph, transformationsfähig und nie definitiv sind. In dieser Ewigkeit der Unvollkommenheit der Struktur und Erscheinung, die folglich immer undeterminiert und „too complex to explain“5 sind, besteht die ästhetische Wirkung. Der Begriff netzwerk-kunst beschreibt nun nicht diese unvollkommenen und unscharfen Elemente, die von vornherein obsolet sind, sondern die Struktur, die diese Wirkung erzielt. Im Hinblick auf das Informationszeitalter, das diese Struktur zwar nicht erst grundlegend ermöglicht, aber doch mit Ausmaß und Komplexität erst kompatibel macht, könnte man bei netzwerk-kunst auch von einer Folge-Generation der net.art im Sinne des Numerals 2.0 sprechen, da sie in diesem Sinne ‚netz-spezifisch‘ ist und grundsätzlich beide informationstechnischen Ebenen, nicht nur die strukturelle, sondern auch die der visuellen und technischen Erscheinung reflektiert. Deshalb versteht sich diese Ausführung auch nicht als endgültig, sondern als Teil des Prozesses und des Projekts M∞. Ceci n’est pas une page Web. Birte Kleine-Benne Webseiten http://www.etoy.com http://missioneternity.org 1 http://missioneternity.org/files/etoymissioneternity_doku_ars_lowresv301.pdf 2 Vgl.: etoy.CORPORATION: DISCLAIMER, 2007. in: http://www.missioneternity.org/disclaimer 3 Vgl.: Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977. S. 11-20 4 Vgl.: etoy.CORPORATION: DISCLAIMER, 2007. in: http://www.missioneternity.org/disclaimer 5 Vgl.: etoy.CORPORATION: DISCLAIMER, 2007. in: http://www.missioneternity.org/disclaimer 46 47 „Ceci n’est pas une pipe“ schrieb René Magritte 1929 unter die erste Version seines Öl-Abbilds einer Tabakpfeife und startete damit sein künstlerisches Spiel mit Sprachzeichen und Bildelementen. Magritte hielt mit seinen 2-D-Positionen alles in der Schwebe und brachte – mit systematischer Unauslotbarkeit – die Unvereinbarkeit und Unentscheidbarkeit von Wort und Bild zur Darstellung: Wort und Bild sind nie deckungsgleich, auch dann nicht, wenn sie offensichtlich dasselbe, nämlich die Pfeife, bezeichneten. Diese immerwährende Lücke zwischen Wort und Bild nutzten Christoph Wachter und Mathias Jud nun für ihr Projekt picidae und klärten damit wie beiläufig ein scheinbar unlösbares Problem realpolitischer Relevanz: Das Kunstprojekt unterwandert nämlich federleicht die aktive Internetzensur, wie China sie zum Tiananmen-Massaker 1989 auf dem Pekinger Platz des himmlischen Friedens praktiziert oder Deutschland zu rechtsradikalen Parolen oder der Iran zu Pornografie oder Saudia Arabien zu islamkritischen Positionen.1 Denn statt auf HTML-Seiten, so der Kunstgriff, surft der http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ceci n’est pas une page Web. User auf Abbildern von Webseiten. Und Bilder, Abbilder von Webseiten sind nicht mehr wie der Quelltext von HTMLSeiten algorithmisch nach unerwünschten Schlüsselwörtern durchsuchbar, dadurch zu indizieren und in der Folge zu blockieren. Sie sind vielmehr digitale Verschlüsselungen, die die Kontrolle zu unterlaufen in der Lage sind. Anders gesagt: Das Bild der Pfeife ist nicht die Pfeife. Oder: Das Bild einer Webseite ist nicht die Webseite. Rankings und Ratings oder Zensurmaßnahmen durch Behörden, Dienstleister, Portalbetreiber oder Provider, die den Zugang zum Netz am Arbeitsplatz einschränken oder regional unterschiedliche Suchergebnisse produzieren, werden durch die Bilder der codierten Webseiten einfach ausgehebelt. Die Software selbst steht unter dem Prinzip des Copyleft der GNU General Public Licence und gewährt damit als Freie Software eine Nutzungs-, Verteilungs- und Veränderungsfreiheit; einzig unter der Bedingung der GPL, dass der Quellcode der veränderten Version wiederum verfügbar gemacht wird und Folgelizensierungen ebenfalls unter GPL-Bedingungen erfolgen. Um der eigenen drohenden Zensur entgegen zu wirken, rufen Wachter und Jud folgerichtig auf, entweder einen pici-Server oder einen pici-Proxy-Server (der auf einen piciServer verweist) zu betreiben oder einfach nur das Projekt zu verlinken. Im Netz entstünde mit einer pici-Community ein weiteres, dezentrales Netzwerk, das sich Zensur, Eingriff oder anderen Filtermaßnahmen zu entziehen in der Lage wäre. picidae – der Specht, der in die Firewall netzzensierender Länder Schlupflöcher schlägt Im Frühjahr 2007 reisten Wachter und Jud zu einem Selbstversuch nach Beijing und Shanghai, um in den streng kontrollierten Internet-Cafés (Ausweiskontrolle, Registrierung, Überwachungskameras) im Netz zu Themen wie den Menschenrechten oder dem Tibet zu recherchieren und Homepages wie beispielsweise von der BBC oder von Wikipedia aufzurufen – ohne Erfolg. Erklärungsversuche wie Netzwerkprobleme oder Zeitüberschreitungsmitteilungen der Browser, Umleitungen auf andere Webseiten oder Rückstellungen von Verbindungen (Connection Reset) tarnten die (zunächst nicht erkennbare) Zensur. Erst mit picidae waren die unterdrückten Seiten jenseits der Firewall anzuwählen – die pici-Software erwies sich als funktionsfähig und zuverlässig: Wird picidae aufgerufen, erscheint vor weißem Hintergrund ein Feld zur Eingabe einer beliebigen Webadresse. Der sog. pici-Server, der einerseits Teil des Internets und andererseits als Metaebene wirksam ist, erstellt ein Bild der angeforderten Webseite und sendet dieses vollständig und inklusive aller aktiver Links zurück. Zwischengeschaltete Filter wie Die unberechenbare Macht des Bildes Es wäre keine Produktion aus dem Hause Wachter/Jud, wenn sich die Arbeit einzig oder primär auf die Überwindung elektronischer Restriktionen beschränken würde: Wie „Ceci n’est pas une pipe“ (der Bildtitel lautet ‚La trahison des images‘) exemplarisch als Position der Moderne gilt, indem Magritte verschiedene Wahrnehmungsebenen ineinander verschränkt, die wiederum je nach Betrachtungsart des Bildes variieren, dient picidae als Werkzeug, unsere Wahrnehmungsgrenzen zur Ansicht zu bringen. Meinen wir nicht noch immer, das Internet verkörpere per Definition die grenzenlose Gleichheit und Gleichzeitigkeit? Picidae macht über 48 49 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Ceci n’est pas une page Web. die Technik des Vergleichens der unterschiedlichen (Internet-) Ansichten blinde Flecke sichtbar. Die Auslassungen offenbaren überdies konkret zuordbares (realpolitisches) Begehren, was (visuell und damit wahrnehmungs- und handlungsrelevant) unsichtbar (gemacht) wird. Zu ‚La trahison des images‘ gibt es zahlreiche Deutungsversuche, der wohl bekannteste ist Michel Foucaults mit dem Titel ‚Ceci n’est pas une pipe: Sur Magritte‘ aus dem Jahr 1973 (dt. 1974). Hier macht Foucault neben der bekannten Deutung, dass ein Abbild mit dem Originalgegenstand nicht identisch sei und die Differenzen zwischen Wort und Bild, zwischen Zeigen und Nennen, zwischen Nachahmen und Bezeichnen geleugnet würden, auch darauf aufmerksam, dass Magritte durch das explizite Aufzeigen dieses scheinbaren Paradoxons die Rezipienten zur Reflexion zwinge, was sie unter der Realität eines Dinges verstünden. Demnach treibt Magritte mit der Begegnung des Abbilds eines Gegenstandes mit seiner Bezeichnung einen Keil zwischen der scheinbar so bekannten und eindeutigen Realität und unserer Wirklichkeit, und zwar mitten in die Betrachter. Und so konfrontieren Wachter und Jud mit picidae jeden Einzelnen mit seinen Vorstellungshorizonten: Wie funktioniert eigentlich dieser Entstehungsprozess von Realität und Wirklichkeit, von Zuschreibungen, Aussparungen und Tabuzonen? Wie können wir die wirklichkeitskonstituierenden Kräfte, die uns als Sprache, Vorstellungen, Konventionen etc. durchdringen, zur Anschauung bringen? Können wir uns einer Definitionsmacht, die in unsere Sprache und unsere je eigenen Vorstellungen eingeschrieben ist, widersetzen? Gleichzeitig eröffnet das Kunstwerk, das wie immer bei Arbeiten von Wachter/Jud auf polyvalenten – z.B. auf politischen, investigativen, wahrnehmungsphysiologischen, analy- tischen und selbst-/reflexiven – Ebenen agiert, auch einen Diskurs über die ästhetische Illusion. Bedingte diese noch bis knapp ins 20. Jahrhundert eine jede künstlerische Produktion, wird hier thematisch die Illusion eines globalen Konzepts von Kunst attackiert. Nicht nur damit weist sich picidae in der Tradition bildender Kunst aus. Denn mit picidae in der Doppelfunktion des Internets als Gegenstand und als Mittel ist die Illusion eines freien, gleichen und globalen Internets, das die spezifischen Bedingungen der unterschiedlichen Zugänge ausblendet, zur ANSCHAUUNG freigegeben. 1 Zu Zensurmaßnahmen, dem Umfang der Filterung und den variierenden Techniken vgl. OpenNet Initiative (http://map.opennet.net) und Reporters Sans Frontieres (http://www.rsf.org). Hier wird über aktuelle Ereignisse informiert, dass z.B. der 12. März 2008 von ‚Reporter ohne Grenzen‘ als der erste ‚International Online Free Expression Day‘ unter Schirmherrschaft der UNESCO ausgerufen und eine 24-Stunden-Online-Demonstration gegen die Internetzensur organisiert wurde. Aktuell sind 63 Cyberdissidenten inhaftiert und von ‚Reporter ohne Grenzen‘ 13 Länder als sog. Internetfeinde benannt: Weißrussland, Burma, China, Kuba, Ägypten, Iran, Nord Korea, Saudi Arabien, Syrien, Tunesien, Turkmenistan, Usbekistan, Vietnam. 50 51 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html /Cornelia_Sollfrank Entwicklung des Kultursponsoring auch für die Kunst nutzbar gemacht.1 Daraus resultierten Werbeeffekte, die ‚frauen-undtechnik‘ zugleich nutzten und aufdeckten. Sollfrank nahm mit ‚frauen-und-technik‘ u.a. 1992 an dem Fernsehprojekt Piazza Virtuale während der documenta IX teil. 1993 ging aus ‚frauen-und-technik‘ die neue Gruppe ‚–Innen‘ hervor. ‚–Innen‘ arbeitete an der Schaffung einer gemeinsamen Identität und somit an der Kollektivierung von Autorschaft. Fragen zum Urheberrecht, zu Originalität und Autorschaft im Netz wurden zu zentralen Themen. In der künstlerischen Forschung, den Performances und Interventionen fand eine medienkritische Auseinandersetzung, insbesondere mit dem Fernsehen statt.2 ‚–Innen‘ produzierte u.a. für den Hamburger Offenen Kanal 1996 eine Gameshow und intervenierte auf der Computermesse CeBIT in Hannover. 1996 löste sich die Gruppe auf, seither arbeitet Sollfrank als freischaffende Künstlerin, Journalistin und Theoretikerin im Bereich Netzkultur und Netzkunst. /Cornelia_Sollfrank Cornelia Sollfrank (*1960 in Feilershammer) ist Hackerin, Cyberfeministin, Journalistin, Theoretikerin, Konzept- und Netzkünstlerin. Von 1987 bis 1994 studierte sie Malerei an der Kunstakademie in München (bei Professor Helmut Sturm) und Freie Kunst an der Hochschule für bildende Künste Hamburg (bei Professor Bernhard Johannes Blume). Sie schloss ihr Studium mit Auszeichnung ab. Wencke Artschwager Sollfranks Interesse an kollektivem Arbeiten und ihr anhaltendes Interesse am elektronischen Medium führte zur Gründung des Netzwerks OBN (Old Boys Network) 1997 in Berlin, gemeinsam mit einigen ehemaligen Mitglieder von ‚–Innen‘ (Ellen Nonnenmacher und Susanne Ackers) sowie Mitgliedern der australischen Künstlerinnengruppe VNS Matrix (Julianne Pierce und Josephine Starrs).3 Diese Allianz aus Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen praktiziert bis heute einen experimentellen Umgang mit Netzwerkstrukturen, um Cyberfeminismus4 nicht nur zu thematisieren oder zu theoretisieren, sondern strukturbildend zu verwirklichen: „The Mode is the Message – The Code is the Collective.“ Ebenfalls 1997 organisierte Sollfrank mit den Kolleginnen des Bereits während ihres Studiums war Sollfrank Gründerin und Mitglied zweier Künstlerinnengruppen: 1990 entstand in Hamburg die Gruppe ‚frauen-und-technik‘. Gemeinsam mit neun weiteren Künstlerinnen beschäftigte sich Sollfrank weniger mit der Geschlechterfrage – wie der Titel vermuten lässt – als vielmehr mit Strategien von Marketing und Werbung. Die Entwicklung eindeutiger Zeichen (Logos) oder Erscheinungsbilder (Corporate Identity) Ende der 1980er Jahre, die die Philosophie eines Unternehmens repräsentieren, wurde nun nicht mehr nur für das Produkt eines Wirtschaftsunternehmens, sondern mit der zeitgleichen 52 53 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html /Cornelia_Sollfrank Old Boys Network die erste internationale CyberfeminismusKonferenz, die die hundert Anti-Thesen zur Frage, was Cyberfeminismus sei, aufsetzte: „Cyberfeminism is not an ism. Cyberfeminismus ist keine Entschuldigung. Cyberfeminisme n’est pas une pipe...“. Dieses internationale Treffen von Medienkünstlerinnen und Medientheoretikern (first Cyberfeminist International), das im Medienlabor Hybrid Workspace auf der documenta X in Kassel stattfand, fokussierte das Thema Frauen in der Netzkunst bzw. Netzkultur. 1999 und 2001 folgten zwei weitere Konferenzen.5 Im Zentrum der Arbeit zum Thema Cyberfeminismus steht für Sollfrank die Erforschung künstlerischer Strategien im Hinblick auf ihre politischen Potenziale. Bezeichnend für Sollfranks Arbeiten ist der spielerische Charakter ihrer Interventionen in sozialen Systemen und ihr Changieren zwischen Zweckfreiheit und politischer Intention. Ausgehend von Social Engineering und Social Hacking definiert Florian Cramer die Kunst Sollfranks als einen Hack des Sozialen mit digitalen und nicht-digitalen Mitteln. Hierbei konzentriere sich die Künstlerin mit dem Kunstbetrieb und der Computerkultur auf zwei Subsysteme, die sich mit der spielerischen Manipulation von Systemen im Allgemeinen und ihrer selbst im Speziellen befassen.7 Sollfrank selbst bezeichnet ihre Arbeit als situativ, d.h. sie macht Einschnitte in soziale Systeme, deren Teil sie selbst ist. Sie will hierdurch nicht sichtbare, aber durchaus einflussreiche Beziehungen und Machtverhältnisse aufdecken, die sonst im Verborgenen blieben.8 So kritisierte Sollfrank beispielsweise den Umgang mit Netzkunst im musealen Bereich (Female Extension). Sie stört und unterwandert das System Museum und macht sich die Strukturen dieser Institution zu Nutze, um die Besonderheiten und Probleme, die durch diese Strukturen vor allem für die Netzkunst auftreten, aufzuzeigen: „Netzkunst hatte für mich nichts mit Galerien und Museumsbetrieb zu tun, mit Jurierung und Preisen, weil das der ‚Natur’ des Netzes widerspricht. Netzkunst ist einfach im Netz, und dazu ist kein Museum erforderlich und kein Juror, der entscheidet, was die beste Netzkunst ist.“9 Von 1999 bis 2005 dozierte Sollfrank an verschiedenen Hochschulen und Universitäten, unter anderem an der Hochschule für bildende Künste Hamburg, der Universität Lüneburg, der Universität Oldenburg und an der Bauhaus Universität in Weimar.6 2004 wurde Sollfrank als aussichtsreiche Kandidatin für die künstlerische Geschäftsführung der Linzer Ars Electronica in Nachfolge Gerfried Stockers gehandelt. Künstlerische Strategien Sollfrank dekonstruiert seit Mitte der neunziger Jahre tradierte Begriffe und Konzepte von Werk, Originalität, Genialität oder Autorschaft, die noch heute den Kunstbetrieb oder auch das gültige Urheberrecht bestimmen. Mittels künstlerisch-subversiver, zum Teil auch gender-spezifischer Strategien erprobt sie im digitalen Medium neue Formen von performativer, kollaborativer und vernetzter Autorschaft. 54 55 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html /Cornelia_Sollfrank übertrug sie 127 Arbeiten der Künstlerinnen auf den Museumsserver. Innerhalb des Kunstkontexts, also der Ausschreibung des Museums, wurden die Netzkünstlerinnen demnach kritiklos als Künstlerinnen anerkannt. Die Unterwanderung des Wettbewerbs wurde auch nach Einsendeschluss nicht bemerkt. Erst mit der Bekanntgabe der Sieger, zwei Tage vor der Preisverleihung, gab Sollfrank eine Presseerklärung ab, in der sie ihre Intervention aufdeckte. Die Kunsthalle hätte den Hack wahrscheinlich nie bemerkt. Während der laufenden Ausschreibung schmückte sich die Galerie der Gegenwart insbesondere mit der hohen weiblichen Beteilung von zwei Dritteln der 280 Teilnehmer. Einen Preis sollte zwar keine der Frauen erhalten, aber die Juroren (Uwe M. Schneede, Rainer Wörtmann, Dellbrügge & deMoll, Valie Export und Dieter Daniels) nutzten die fingierte Beteiligung, um in der Öffentlichkeit hervorzuheben, wie aktuell und nah die neue Ausstellungshalle doch am gegenwärtigen Kunstgeschehen sei. Die schlechte Qualität des „HTMLSchrotts“ wurde wahrgenommen, aber nicht weiter thematisiert.10 Werke und Ausstellungen: 1992: Penisspiele, Beitrag zur documenta IX (Kunstfernsehen mit van-Gogh TV) 1993: Narzissmus in den Medien am Beispiel Fernsehen, Performance, Produzentengalerie Kunstitut, Stuttgart The New Woman, Postkartenaktion 1994: information art, Performance, Hochschule für bildende Künste, Hamburg 1996: New Media – Old Roles, Intervention auf der Computermesse CeBit, Hannover Reality Check, net.art Event im Rahmen des Projekts ‚Skin Laboratory‘, Hamburg Remote Viewing, Ars Electronica, Linz Female Extension Bei der Arbeit ‚Female Extension‘ handelt es sich um einen Hack, dessen Ziel es war, die Ausschreibung der Hamburger Kunsthalle zum Thema ‚Extension. Das Netz als Material und Gegenstand‘ im Jahr 1997 zu stören. Auch um den Mangel an weiblichen Autoren auszugleichen, kreierte Sollfrank 289 fiktive Künstlerinnen mit internationalen Identitäten, vollständigen Adressen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Als Nächstes schuf sie mit Hilfe des ersten ‚net.art generators‘ scheinbar individuelle Werke, die sie ihren Künstlerinnen zuordnete. Für jede einzelne Netzkünstlerin erhielt Sollfrank ein Zugangspasswort, d.h. alle Künstlerinnen wurden von der Kunsthalle für den Wettbewerb zugelassen. Anschließend 1998: The New Woman, NEID Show, Künstlerhaus Bethanien, Berlin First Cyberfeminist International, Reader-Präsentation, Ars Electronica, Linz net.art generator Das Computerprogramm, das in der Arbeit ‚Female Extension‘ zur Herstellung von 127 Netzkunstprojekten diente, ist Grundlage des seit 1998 als eigenständige Arbeit jedem User zugänglichen Projekts ‚net.art generator‘ 56 57 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html (http://net.art-generator.com). Dafür beauftragte Sollfrank die Programmierer Ryan Johnston, Luka Frelih, Barbara Thoens und Ralf Prehn, Richard Leopold und Panos Galanis, unterschiedliche Softwarelösungen zu entwickeln, die sich in ihrer Abfrageund Kombinationsstruktur sowie in der Komplexität der Ergebnisse unterscheiden sollten. Mit dem net.art generator ironisiert Sollfrank allgemeine Vorstellungen von subjektiver Schöpferkraft, indem sie den kreativen Teil der Maschine überlässt: das leicht zu bedienende Programm kombiniert Bild- und Textmaterial aus dem Netz nach Zufallsparametern. Jeder kann hier zum Netzkünstler werden, ganz nach dem Motto des Projekts „A smart artist makes the machine do the work“. Doch das trifft nur bedingt zu: Durch das Abspeichern der collagierten Kunst häuft der belustigte User Material an, das Sollfrank unter ihrem Namen ausstellt. Ute Vorkoeper erweitert auf Grund dessen das Motto des Netzkunstgenerators: „A smart artist orders programs which make the user do the work“.11 /Cornelia_Sollfrank net.art generator, Installation in der Ausstellung ‚KunstmaschinenMaschinenkunst‘ in der Schirn Kunsthalle Frankfurt (18.10.2007 bis 27.01.2008). Illustration: Janine Sack 2002: net.art generator, GENERATOR, Spacex Gallery, Exeter, GB Guided tour through hackerland, Performance, Chaos Communication Congress, Berlin 2003: fem snd - party & workshop, mit Musikerinnen (elektronische Musik), (Laurence Rassel and Maya C. Sternel), Melkweg Amsterdam in Zusammenarbeit mit next5minutes, Amsterdam net.art generator, Sammlung für zeitgenössische Kunst der Volksfürsorge, Le Royal Meridien, Hamburg 2000: Have Code-Will Destroy, Tenacity – Cultural Practices in the Age of Global Information- and Biotechnologies, Shedhalle, Zürich Have Code-Will Destroy, UFO Strategies, Medienkunsthaus Oldenburg Liquid Hacking Laboratory, Log-in, Kunstverein Nürnberg Unauthorized Access, CrossFemale-Metaphors of the Female, Künstlerhaus Bethanien, Berlin 2004: Legal Perspective, plug.in Medienfoum, Basel have script, will destroy, Mostra Internacional de Film deDones, Barcelona Automatisch generierte Autorschaft, Hörspiel, Reihe des ORFKunstradios, Wien 2001: Künstlerbilder, Galerie Mesaoo Wrede, Hamburg networked reality, Solo Show, Galleri 21, Malmö improved television, cyberfem spirit, Medienkunsthaus, Oldenburg 2005: Warhol Flowers, Verkaufsshow, HGKZ, Zürich TammTamm – Künstler informieren Politiker, http://www.tamm-tamm.info 58 59 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html /Cornelia_Sollfrank die an die Tradition der „Institutional Critique“ der achtziger Jahre und konkret an das 1992 in New York installierte, unabhängige Kommunikations- und Informationsnetzwerk THE THING anknüpft und sich in das internationale THE THINGNetzwerk Rom, Amsterdam, Wien, Frankfurt und Berlin einreiht.13 Sollfrank arbeitet zur Zeit an ihrer Dissertation an der Universität in Dundee, Schottland zum Thema ‚An Artistic Investigation of the Conflicting Relationship of Copyright and Art‘. 2006: THIS IS NOT BY ME, Kunstverein Hildesheim 2007: MuseumShop, Märkisches Museum Witten, http://artwarez.org/museumshop Der MuseumShop ist eine Agentur, die hochwertige Reproduktionen einiger ausgewählter Werke aus der Sammlung des Märkischen Museums in Witten produziert und verkauft. Das Märkische Museum, das weder eine Datenbank, noch eine eigene Homepage besitzt, ist in seiner finanziell angespannten Situation darauf angewiesen, langfristig die eigenen Ressourcen nutzbar zu machen, wie z.B. seine Rechte und Eigentumspositionen an den künstlerischen Werken auszuwerten. In diesem Projekt erforscht Sollfrank den Zusammenhang zwischen praktischer Museumsarbeit und geschützten Urheberrechten. „Dabei ergeben sich vielfältige Widersprüche zwischen privaten und öffentlichen Interessen, die das Projekt ‚MuseumShop‘ mit künstlerischen Mitteln auf die Spitze treiben wird.“12 1 Sollfrank, Cornelia 2001: Erfolgsstrategien und Selbstboykott. Wie entkomme ich dem Kunstmarkt und werde gleichzeitig eine erfolgreiche Künstlerin?, http://www.obn.org/inhalt_index.html (letzter Zugriff 04.02.2008) 2 Ebd. 3 Ebd. 4 Oldenburg, Helene von, What is Cyberfeminism?, http://www.obn.org/reading_room/writings/html/statistics.html (letzter Zugriff 04.02.2008). Weitere Texte zum Thema Cyberfeminismus vgl. http://obn.org 5 1999 fand die Konferenz ‚next Cyberfeminist International‘ in Rotterdam statt, http://www.obn.org/nCI (letzter Zugriff 04.02.2008). 2001 wurde die Hamburger Konferenz ‚very Cyberfeminist International‘ von OBN organisiert, http://www.obn.org/obn_pro/vCI/start.html (letzter Zugriff 04.02.2008). Weitere Texte und Reader der Konferenzen vgl. http://www.obn.org/inhalt_index.html I DON’T KNOW, Interview mit Andy Wahrhol, Video/Installation (1968/2006), Shift Festival der elektronischen Künste, Basel 6 Vgl. Curriculum Vitae, http://www.artwarez.org/?p=20 (letzter Zugriff 07.06.2007) 7 Cramer, Florian 2003: Social Hacking, revisited, http://plaintext.cc:70/all/social_hacking_revisited_sollfrank/social_hacking _revisited_sollfrank-deutsch.pdf (letzter Zugriff 04.02.2008) 8 http://www.artnet.de/magazine/features/quest/quest01-11-07.asp (letzter Zugriff 04.02.2008) Aktuelles Schaffen: 9 Sollfrank in einem Interview mit Tilla Telemann zur Hack-Aktion Female Extension, vgl. http://www.artwarez.org/femext/content/interview.html Sollfrank ist Betreiberin der Webpräsenz artwarez.org, hier informiert sie über ihre eigene Arbeit, publiziert Interviews und betreut einen Blog. Sollfrank ist Initiatorin und seit 2006 Mitbetreiberin der Internetplattform für Kunst und Kritik THE THING HAMBURG, 10 Vgl. u.a. http://wwww.artwarez.org/femext 11 Vorkoeper, Ute 1999: Programmierte Verführung. Cornelia Sollfranks Netzkunstgeneratoren testen das Autorenmodell, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3466/1.html (letzter Zugriff 04.02.2008) 60 61 12 http://www.knotenpunkte.net/kp-de/kuenstler6.html 13 http://www.thing-hamburg.de http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo auf der Grundlage seiner bisher verwendeten Farbpaletten vorher sagen zu können. Oder die Daten können in verschiedenen Dateiformaten herunter geladen werden, um sie etwa in die eigene Arbeit zu integrieren und Bilder in Anlehnung an die Farbpaletten berühmter Maler zu erstellen. Die im Pool berücksichtigten Bilder eines einzelnen Künstlers werden darüber hinaus in chronologischer Abfolge ihrer Entstehung aufgeführt und im Farbraum verortet, so dass sie auch in einen individuellen Werkzusammenhang gestellt werden können. Außerdem ermittelt die Anwendung Systematisierungsvariationen, sie erstellt beispielsweise Zusammenhänge zwischen Bildern unterschiedlicher Künstler, aber doch mit ähnlichen Farbeigenschaften. Das Netzprojekt kann in mehrfacher Hinsicht als eine rhizomatische4 Arbeit bezeichnet werden. Abgesehen davon, dass sich die Seite selbst durch einen non-linearen, rhizomatischen Aufbau auszeichnet und mit externen Links u.a. zu einem projektbezogenen Blog5 ausgestattet ist, handelt es sich bei ‚In The Mod: Colors Analytics (ITM)‘ auf der Produktionsebene um eine Kombination aus Bild, Text und downloadbaren Tools. Die Arbeit lässt sich demnach als hypermedial bezeichnen, zumal sie auch Kunst im traditionellen Sinn, nämlich Gemälde mit digitaler Kunst verbindet und so eine neue Form der Annäherung und der Kommunikation zwischen klassischer Kunst und dem Medium Computer als Entstehungsort für Kunst schafft. In ihrer Funktion ist sie auf das Internet angewiesen, da die Möglichkeit, direkt Anwendungen herunterladen zu können, ein wesentlicher Bestandteil des Kunstwerks ist. Die Arbeit stellt ein Gemälde seiner digitalen Entsprechung gegenüber, die zum einen als Auflösung, zumindest aber als eine Verfremdung gesehen werden kann. Zum anderen handelt es Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo Bei der Arbeit ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘1 handelt es sich um eine Softwareentwicklung des aus Albuquerque (New Mexico) stammenden Künstlers, Designers und Entwicklers Dr. Woohoo2, der seit 1993 mit digitalen Medien arbeitet. Die hier ausgewählte Arbeit ermöglicht, mit einer Serie von farbanalytischen Algorithmen3 Farbpaletten von Gemälden zu analysieren. Im Bilderpool, der durch jeden User beliebig angereichert werden kann, befinden sich aktuell 74 Werke von gleichermaßen namenhaften (Andy Warhol, Josef Albers, Henri Matisse) wie auch von weniger bekannten Künstlern. Die Anwendung selbst extrahiert eine gewisse Zahl an Farben eines jeweiligen Gemäldes und ordnet diese mit Hilfe von Algorithmen, basierend erstens auf der Häufigkeit ihrer Farbverteilung und zweitens zentraler Tendenzen. Auf diese Weise werden hunderttausende von Farben aus der jeweiligen Farbpalette auf einige wenige hundert reduziert. Die gewonnenen Daten werden in einem variablen, zufallsgesteuerten zweidimensionalen Farbraum visualisiert und tragen entweder dazu bei, das nächst mögliche Bild eines Künstlers Nikola Weseloh 62 63 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo ersten Blick überschaubar und kann nur durch Navigieren und Durchklicken in seinem vollen Ausmaß erfahren werden. Seine Struktur ist dem Rezipienten zunächst einmal uneinsichtig, wodurch sich die Notwendigkeit einer Interaktion ergibt. Der Rezipient wird daher automatisch zum User, da er das Kunstwerk erforschen und sich seinen Weg durch das Geflecht der Links bahnen muss. Vom Künstler sind zwar die einzelnen Stationen, nicht aber die Reihenfolge ihrer Aufrufbarkeit vorgegeben, was jedes derart konzipierte Werk für den User auf unterschiedliche Weise erfahrbar und begreifbar macht. In vielen Fällen wird der Rezipient in ein unfertiges Projekt integriert und trägt somit erst zu seiner Entstehung bei. Es gibt daher auch keinen ersten Eindruck, wie er in der Regel bei der Betrachtung eines Gemäldes oder einer Plastik hergestellt wird. Die einzelnen Puzzle-Teile, aus denen das Werk zusammengesetzt ist, müssen erst einmal aufgedeckt werden, woraus sich dann ein Gesamteindruck ergibt. In eben dieser Unvollständigkeit und Fragmentarität liegt das Spezifische einer rhizomatischen Arbeit wie der vorliegenden. Ebenso werden neue Anforderungen an den Rezipienten gestellt, da sich beispielsweise der 2-D Farbraum, in dem Informationen aus den entsprechenden Farbpaletten der Gemälde visualisiert werden, auf vielfache und miteinander kombinierbare Weise verändern lässt. Dadurch ergibt sich eine Fülle an Kombinationsmöglichkeiten, die den Rezipienten in die Gestaltung der Arbeit mit einbezieht. Er folgt keiner festgelegten linearen Struktur, die einen Anfangsund einen Endpunkt besitzt, sondern schafft sich einen eigenen, persönlichen Zugang zu dem Werk. Nach Huber6 lässt sich Dr. Woohos Arbeit als eine partizipative Arbeit, nach Bookchin und Shulgin7 als eine formale Arbeit Quelle: http://www.inthemod.com/inthemod.html sich bei der Bearbeitung mit der ITM-Software auch um eine Erweiterung des klassischen Kunstwerks. In jedem Fall spielt der Künstler mit den Möglichkeiten der von ihm entwickelten Software und kann nun zwei Kunstformen, die ansonsten nur isoliert voneinander betrachtet werden können, miteinander in Beziehung setzen. So organisiert Dr. Woohoos Arbeit auf konzeptioneller Ebene Relationen zwischen Gemälden und Net.art, stellt zwischen einem einzelnen Werk und der psychischen Verfasstheit seines Künstlers Beziehungen her und erarbeitet Bezüge zwischen bekannten und weniger bekannten Malern. Auf der Grundlage ihrer Farbpaletten werden Bilder gattungs- und motivübergreifend sowie unabhängig von Entstehungszeit und -kontext zueinander in Beziehung gesetzt. Kunsthistorisch kanonisierte Kategorisierungen und bisherige Zuordnungen qua Schule, Entstehungsdatum, Motiv oder Intention werden durchkreuzt und/oder aufgelöst. Dieses internetbasierte, rizomatische Kunstwerk unterscheidet sich auch auf der Rezeptionsebene in wesentlichen Punkten von einem statischen Gemälde: Es ist nicht auf den 64 65 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo bezeichnen, die von der Interaktion des Rezipienten lebt. Eine derartige Rezeption eines Kunstwerks bezieht den Rezipienten mit ein und macht ihn zum Teil seiner selbst. Der User schafft selbst Kunst, modifiziert die Anwendung, indem er eigene Kunst hochladen und sie in den Bilderpool einspeisen kann und lässt ihn seinen ganz eigenen Weg durch das Labyrinth von Optionen und Links finden. Die Interpretation solcher Werke fällt also noch weniger eindeutig aus, als es bisher bei traditioneller Kunst der Fall ist, da die Herangehensweise an eine solche Arbeit jedes Mal eine neue sein kann, vermutlich auch sein wird. Das Netzkunstwerk ist darüber hinaus flüchtiger und kann sich, je nach Zeitpunkt seiner Betrachtung, bereits verändert haben. Der Kunsthistoriker Hans Dieter Huber schreibt explizit zur veränderten kunsthistorischen Rezeption: „Ferner entsteht zum ersten Mal in der Geschichte der Kunstgeschichte die faszinierende Möglichkeit, dass Kunsthistoriker nicht nur historische Entwicklungen, die bereits abgeschlossen sind, rekonstruieren und nacherzählen, sondern aktiv als Gestalter, Layouter und Designer in den Prozess der Konstruktion von Geschichte eingreifen können.“8 Konnexion, der Heterogenität, der Vielheit, des asignifikanten Bruchs, der Kartographie sowie der Dekalkomonie auszeichnet. Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix 1977: Rhizom, Berlin (frz. 1976) 5 http://www.inthemod.com/blog 6 Huber schlägt vier Kategorisierungen für das Rezeptionsverhalten vor: Reaktive Werke: „Der User kann sich nur durch Klicken und Scrollen durch das Projekt bewegen.“ Interaktive Werke: „Der User kann durch Eingabeflächen, Java Applets oder CGI-Skripte den Server veranlassen, eine momentane Veränderung des Zustandes des jeweiligen Webprojekts zu veranlassen. Wenn der User aber die Seite verlässt, geht das Projekt wieder in seinen Ausgangszustand zurück. Die Veränderungen des Projektes sind also nur temporär.“ Partizipative Werke: „Der User kann durch a) Download, b) Bearbeiten, c) Einsenden von Text, Bildern, Tönen, Filmen und/oder d) Steuern von Robotern zu einer dauerhaften Formveränderung des jeweiligen Projektes beitragen.“ Kontextsysteme: „Dem User wird eine bestimmte, vorgestaltete Plattform oder ein Rahmensystem zur Verfügung gestellt, die er für seine eigenen Zwecke benutzen kann.“ Hans Dieter Huber, Zur Geschichte der Netz.Kunst. Problemstellungen, Stand der Dinge, Ausblicke, 1998. http://www.hgb-leipzig.de/artnine/netzkunst/geschichte Schiesser schlägt vor, statt von Kontextsystemen von kollaborativen Werken zu sprechen und liefert folgende Definition: „Dem User, der Userin wird eine (vorgestaltete) Plattform oder ein Rahmensystem zur Verfügung gestellt, die er, sie für seine/ihre eigene Zwecke benutzen kann. Die KünstlerInnen geben also einzig den Anfangsimpuls; Struktur, Entwicklung und Veränderung des ,Kunstwerkes in Bewegung‘ (Umberto Eco) ist danach einzig abhängig von den Entscheidungen einzelner bzw. vieler UserInnen.“ Giaco Schiesser, Kategorisierung von Netzkunst – exemplarische Beispiele, 1999. http://www.xcult.ch/texte/schiesser/netzkunst.html http://www.inthemod.com/inthemod.html, archiviert auf rhizome.org http://rhizome.org/object.php?46757 7 2 8 1 Nathalie Bookchin, Alexej Shulgin, Introduction to net.art (1994-1999), 1999. http://subsol.c3.hu/subsol_2/contributors/bookchintext.html Hans Dieter Huber, Die digitalen Obdachlosen. Kunsthistoriker und das Internet, 1996. http://www.hgb-leipzig.de/artnine/huber/aufsaetze/obdachlose.html http://www.drwoohoo.com 3 „Der Begriff ‚Algorithmus‘ bezeichnet in Mathematik und Informatik eine Anweisung, die eine Aufgabe in einzelnen Schritten präzise und vollständig beschreibt.“ Thomas Dreher, Konzeptuelle Kunst und Software Art: Notationen, Algorithmen und Codes, 2005. http://iasl.uni-muenchen.de/links/NAKS.html 4 Ich beziehe mich auf die Definition des Rhizom des französischen Philosophen Gilles Deleuze und des Psychiaters und Psychoanalytikers Félix Guattari von 1977, nach der sich ein Rhizom durch das Prinzip der 66 67 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Exhibiting the Dot Programm des Ausstellungsprojekts. Folglich ging es nicht um spezifische Kunstwerke an sich, sondern um die Suche nach geeigneten Darstellungsformen künstlerischer Arbeitsprozesse. Die angestrebte soziale Vernetzung der teilnehmenden Künstler auch außerhalb des virtuellen und privaten Raumes konnte laut Andreas Broeckmann nicht vollends verwirklicht werden. Hierzu: Broeckmann, Andreas. 1998. Sind Sie online? Präsenz und Partizipation in Netzkunstprojekten: http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/ festival_artikel.asp?iProjectID=8387 Ars Electronica 1997 Projektdokumentation: http://www.aec.at/fleshfactor/projects_doku.html Exhibiting the Dot Ausgewählte Netzkunstausstellungen im deutschsprachigen/europäischen Raum net_condition, Zentrum für Kunst & Medientechnologie Karlsruhe, 1999/2000: Diese Ausstellung war vom ZKM in Karlsruhe als multilokale, global vernetzte Ausstellung geplant, die das Spannungsfeld reziproker Beeinflussung von Gesellschaft sowie Wirtschaft und technologischer Entwicklung – und mit dieser letztlich das Internet – in den Mittelpunkt stellte. Kritiker warfen der Ausstellung vor, dass zu sehr die Quantität der Werke forciert wurde und diese jeweils auf einem Rechner installiert waren. Trotz aller Kritik ist ‚net_condition‘ jedoch eine Vorreiterrolle zuzuschreiben. Hierzu: Homepage der Ausstellung: http://on1.zkm.de/netcondition Baumgärtel, Tilman. Jetzt wird aufgetischt: Netzkunst am Fließband. In: Telepolis 20.10.1999. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3444/1.html Inga Reimers Hybrid Workspace, documenta X, Kassel (Orangerie), 1997: Im Hybrid Workspace der documenta X wurde in etwa zwölf Workshops der Versuch gestartet, die Arbeitsprozesse von Netzkünstlern einem zumeist netzkunstunerfahrenen Publikum näher zu bringen. Durch verschiebbare Raumelemente sollten ständig neue Assoziationen ermöglicht und die Beziehung zwischen virtuellem und realem Raum hinterfragt werden. Als problematisch erwiesen sich rückblickend Konflikte zwischen den teilnehmenden Künstlern und vor allem die Vermittlung des abstrakten Gegenstands der Ausstellung an die Besucher. Weiterer Kritikpunkt war die nicht vorhandene Verbindung der präsentierten Werke mit dem Netz, obwohl Konnektivität präsentiert werden sollte. Hierzu: Schulz, Pit. Die Hybrid Workspace Story, Ein Arbeitsbericht, Abschnitt 1.1. In: Telepolis 24.07.1997. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6174/2.html Projektbeschreibung: http://www.xplicit.de/xxface2face/f2fprojects/f2fprojects.html Written in Stone, Oslo Museum of Contemporary Art, 2003: Näheres zu der Ausstellung im Text. Weitere Informationen und Kommentare: Olia Lialina: Little Heroes and big dot. 2003. http://art.teleportacia.org/observation/oslo/oslo.html Bosma, Josephine. Written in Stone, a net.art archaeology. 2003. http://www.notam02.no/motherboard/articles/03_netart_bosma.html My Own Private Reality, Edith-Ruß-Haus für Medienkunst Oldenburg, 2007: Diese Ausstellung beabsichtigte eine Retrospektive der Netzkunst zeitlich vor dem Web 2.0 sowie eine aktuelle Betrachtung der veränderten Open X, Ars Electronica, Empore des Linzer Design Centers, 1997: „Das Werk wurde durch den Prozeß abgelöst.“ So heißt es in der Open XProjektbeschreibung auf den Webseiten der Ars Electronica und war somit 68 69 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Exhibiting the Dot Bedingungen. Die Auswahl, Kombination und Präsentation sollte eine intensive Diskussion anregen. Obwohl auf traditionelle Präsentationstechniken zurückgegriffen wurde, überzeugte die Ausstellung auch durch den Einbezug von Online-Offline-Transformationen (u.a. Olia Lialina/Dragan Espenschied). Webseite und Blog der Ausstellung: http://myownprivatereality.wordpress.com diskutiert, aber bis heute nicht überwunden. Vor allem die Frage der Inventarisierbarkeit und Archivierbarkeit von Medienkunst im Allgemeinen stellt ein Ausschlusskriterium für den regulären Museumsbetrieb dar. Auch die Abgrenzung des weißen Ausstellungsraumes nach außen und infolgedessen das Kappen von Anschlüssen wie zum Beispiel ins Internet stehen den Prinzipien der Netzkunst scheinbar unvereinbar gegenüber. Diese Entwicklung soll im Folgenden skizziert und kommentiert werden und schließlich in zwei Ausblicken münden. Beim Vergleich des Netzkunstwerks mit dem „herkömmlichen“ Kunstwerk, wie zum Beispiel einer Malerei, fällt schnell ein großer Unterschied ins Auge: Eine der konstituierenden Eigenschaften der Netzkunst ist ihr ephemerer Charakter, ihre ständige Veränderung durch den interagierenden Nutzer, Benutzer, Rezipienten. So konstatiert Roy Ascott schon 1995 in seinen Gedanken zum „digitalen Museum“, dass sich der Gegenstand des Kunstmuseums mit der Ausstellung von Netzkunst und zunehmender Digitalisierung transformiert: „In der Telematik-Kultur verschiebt sich daher das Hauptaugenmerk des Kunstmuseum von den bildenden (plastischen) Künsten zu den xenoplastischen Künsten, den Künsten der Vernetzung und Interaktion.“1 Somit wird schnell deutlich, dass die bisherigen Versuche, möglichst viele Netzkunstwerke auf möglichst vielen Rechnern im Museumsraum zu installieren, nicht die Antwort auf den sich verändernden, digitalen Gegenstand der zeitgenössischen Kunst sein kann. Vielmehr sollte hinterfragt werden, inwiefern Mechanismen, Handlungsmuster und Zuschreibungen sowohl auf Produzenten-, als auch auf Konsumentenseite erfahrbar und ausstellbar gemacht werden können. Auch in heutigen Netzkunstausstellungen wird häufig noch der You_ser: Das Jahrhundert des Konsumenten, Zentrum für Kunst & Medientechnologie Karlsruhe, 2007: Seit Herbst 2007 stellt das ZKM mit dieser Ausstellung explizit den Nutzer, den User in den Mittelpunkt der Medien- und Netzkunstrezeption. Der Kultur- und Medienwissenschaftler Robert Hauser fühlt sich jedoch eher von Kunst benutzt, als dass er seine Rolle als Nutzer und Mitgestalter von Inhalten repräsentiert sieht. Hauser, Robert. YOU_ser Art – Benutzerkunst oder Kunstbenutzer? In: Telepolis 10.11.2007. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26578/1.html Homepage der Ausstellung: http://www02.zkm.de/youser Weibel, Peter. User Art_ Nutzerkunst. In: Telepolis 02.12.2007: http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26653/1.html Nahezu alle Bereiche des realen Lebens finden sich mittlerweile im Internet wieder. So besetzt auch die Kunst in Form der Netzkunst bereits seit den Anfängen des Internets festes Terrain. Und denkt man an Kunst, liegt auch der Gedanke an Kunstmuseen und –ausstellungen nahe. Diese Beziehung zwischen Internet und Museum, so genanntem virtuellen und realen Raum wird nun seit mehr als einem Jahrzehnt in diversen Ausstellungen erprobt, wie die fragmentarische Zusammenstellung am Anfang des Textes belegt. Der bloße Kunstbetrachter hat sich im Falle der Netzkunst zum Nutzer (User) gewandelt und ist in der Regel an der Generierung von Inhalten beteiligt. Weiterhin wurden besonders die traditionellen Formen des Ausstellens von Kunst, insbesondere die des White Cubes, in Frage gestellt und 70 71 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Exhibiting the Dot klassische Weg verfolgt, dem Besucher einzelne Netzkunstwerke auf je einem Rechner zu präsentieren. Hier ist es wichtig zu wissen, dass in den meisten Fällen nicht etwa die Projekte selbst oder gar die Hardware, sondern Prinzipien ausgestellt oder durch bewusste Kombination bestimmter Werke derzeitige gesellschaftliche Strömungen hinterfragt werden sollen. In einigen Fällen sind auch die Netzkünstler selbst vor Ort und geben Auskunft über ihre Arbeit. Olia Lialina2 _S. 30 (Waschke) hat in diesem Zusammenhang die Begriffe OBJEKT und ZOO in die Diskussion eingebracht: Als OBJEKT bezeichnet sie „die um einen Computer herum arrangierte Ästhetik“3, also zum Beispiel die Kennzeichnung des Arrangements mit dem Werknamen und die zusätzliche ästhetisierende Gestaltung der Einheit Rechner und Bildschirm mittels Samt oder Ähnlichem. Hierbei ist eine Reziprozität zwischen dem Werk selbst und seiner Umgebung festzustellen, denn je aufwändiger das Arrangement ist, desto mehr tritt das Werk hinter ihm zurück: „Je umfangreicher das OBJEKT, desto lebloser wird das Kunstwerk.“4 Ein ZOO bietet zusätzlich zu der beschriebenen Umgebung die Anwesenheit des Netzkünstlers, der dann bei der ‚Arbeit‘ zu beobachten oder auch zu befragen ist. Als einzig sinnvolle Art der Präsentation schlägt Lialina die KONFERENZ vor, bei der der Netzkünstler seine Arbeit in Vortragsform erläutert und (sich) zur Diskussion stellt. Eine andere Möglichkeit, Netzkunst in den musealen Raum und somit in den Kunstdiskurs einzubringen5, kann die Transformation des virtuellen, immateriellen Kunstwerks in materielle Formen sein. Als besonderes Beispiel sei an dieser Stelle die Ausstellung ‚Written in Stone: a net.art archeology‘ genannt. Diese Ausstellung im Osloer Museum für Zeitgenössische Kunst im Frühjahr 2003 versuchte gar nicht erst, Rechner mit ausgewählten Werken auszustellen. Im ganzen Ausstellungsraum gab es keine vernetzten Rechner, sondern nur nach den Prinzipien des White Cubes ausgestellte Artefakte: eine auf Kissen in einer Vitrine gebettete, glänzende Metallkugel, die den ‚Punkt‘ (the dot) repräsentiert, ohne welchen keine URL funktionieren würde, gerahmte Screenshots von bekannten Netzkunstwerken oder auch auratische Dinge, wie zum Beispiel eine Jacke Olia Lialinas. Auratisch deshalb, weil diesem Alltags- und Gebrauchsgegenstand einer zur Ikone stilisierten Netzkünstlerin nun auch eine musealisierte Bedeutung zugeschrieben wurde. Skulpturen, die u.a. Olia Lialina, Vuk Cosic und Alexej Shulgin in Gips abbildeten, ordneten die Netzkunst/NetzkünstlerIn in eine kunsthistorische Tradition ein. Gleichzeitig hinterfragte die Ausstellung – oft ironisierend –, was netzbasierte Kunst und bildende Kunst, wie im Fall der Skulpturen, gemeinsam haben. Bei der Betrachtung der vorangestellten, exemplarischen Ausstellungen lassen sich gegenwärtig zwei Tendenzen beim Ausstellen von Netzkunst feststellen: Einmal die chronologisch-bilanzierende Ausstellung, welche retrospektiv versucht, die Entwicklung von Netzkunst nachzuzeichnen. Im Mittelpunkt stehen meist Rechner mit Netzkunstarbeiten, allerdings gibt es oft ein übergeordnetes Thema, unter dem die Kunstwerke betrachtet werden (sollen). Bei der zweiten Art von Netzkunstausstellungen wird der User oder auch der Netzkünstler mit seinen Beziehungen und Handlungsmustern in den Mittelpunkt gestellt. Hier ist die Intention, Arbeitsprozesse transparent zu machen. Des Weiteren wird versucht, den derzeitigen Stand der Netzkunst darzustellen und zusätzlich die sozialen, kulturellen und technischen Bedingungen des Internets und der Kunst des Netzes zu thematisieren. 72 73 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Exhibiting the Dot Da Netzkunst letztlich weniger Objekt (Objekt ist hier die Hardware und evtl. noch die ästhetische Umgebung) als Prozess und deshalb schwerer ausstell- und sammelbar ist, gestaltet es sich nach der traditionellen Logik von Museen schwierig, Netzkunstwerke im Ausstellungsraum zu präsentieren, zu bewahren und zu sammeln. Idealerweise besteht mit diesen Ausstellungen aber auch die Möglichkeit, die räumlichen Grenzen und somit die Grenzen des White Cubes per Netzverbindung zu überwinden. Somit kann auch das bisherige Raum-Zeit-Modell der Ausstellungsräume neu gedacht werden: Durch Netzkunst/das Internet wird ein weiterer (Ausstellungs-) „Raum“ und somit auch eine Ortspluralität bei gleicher Zeitdimension eröffnet. Ausblick I: Wirklichkeitserfahrung Wie nun aber umgehen mit der Netzkunst? Die Bestrebungen, Museen direkt und auch nur im Netz zu errichten, scheinen keine Alternative zu sein, handelt es sich doch in den meisten Fällen um bloße Linksammlungen mit dokumentarischem Charakter. In diesem Sinne kann nicht von einer Konkurrenz zum klassischen Museum die Rede sein. Ein bislang unschlagbarer Vorteil des Museums ist die Multisensorik, die es den Besuchern je nach Ausstellungsdesign bieten kann. Diesen Vorteil werden die Museen so lange nutzen können, bis der technologische Fortschritt ein nicht nur audiovisuelles, sondern auch haptisches Internet erschaffen hat. Das derzeitige Bestreben, museale Erfahrungsräume zu kreieren, setzt der Internetnutzung/ Netzkunstrezeption im privaten Raum eine Möglichkeit der multisensorischen Wirklichkeitserfahrung entgegen. Auch Hans Peter Schwarz meinte schon 1995, einen Trend in diese Richtung feststellen zu können: „Ein Museum wird immer jener einprägsame Ort bleiben müssen, an dem man sich seiner eigenen Wirklichkeit und der materiellen Wirklichkeit der historischen und künstlerischen Zeugen der Geschichte vergewissern kann. Vielleicht ist es gerade im Zeitalter der totalen Simulationen, die uns in unseren Wirklichkeitserfahrungen immer unsicherer zurücklassen, das Museum, das eines der letzten Refugien für die sinnliche Überprüfbarkeit der Realität bereitstellen könnte.“7 In diesem Fall wäre das Museum jedoch ein Gegenentwurf zu der als flüchtig und immateriell beschriebenen Netzkunst und einem medial bestimmten Alltag. Verfolgt man diese These weiter, könnte den Museen am Ende die Stärke des Internets sogar nutzen. Dazu jedoch mehr im zweiten Ausblick. Wie soll oder wird sich die hier beschriebene Verbindung von Netzkunst und Ausstellungsraum nun in Zukunft entwickeln? Wo liegen Chancen und Potentiale? Sicherlich wird ein wesentlicher Punkt für die Museen das Schaffen von Kommunikations-, Begegnungs- und Erfahrungsräumen sein, um dem „Virtuellen“ bzw. dem Diskurs des Virtuellen ein Kontrastprogramm zu bieten. Weiterhin sollten Museen noch stärker als bisher die Möglichkeit nutzen, über das Internet zusätzlich zum Beispiel über den Entstehungsprozess eines Werkes zu informieren.6 Die Verlegung der privaten Internetnutzung und Netzkunstrezeption in den öffentlichen Raum und die daraus entstehende mögliche Verwirrung ist dementsprechend als Chance für die Museen und die Produzenten zu sehen. Hier ist bei der Präsentation von Netzkunst zum Beispiel auch an die Form des Workshops zu denken. Weitere Ideen folgen nun in zwei fragmentarisch gestalteten Ausblicken: 74 75 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Exhibiting the Dot Mit der Beschreibung des Museums als Erlebnisraum bekommt die hier ausgestellte Netzkunst im Zusammenwirken mit dem Besucher einen Happening -Charakter und ist maßgeblich auf die Interaktion außerhalb des Netzes im so genannten realen Raum angewiesen. Dieses trifft mit dem Boom der Science-Center oder ähnlichen Einrichtungen und Ausstellungen zusammen, in denen die Besucher vom reinen Betrachten hin zum interaktiven Erfahren, Erleben und Lernen geführt werden. Sicherlich stellt sich die Frage, ob sich diese Zielgruppe mit denen der Kunstmuseen deckt, jedoch ist dann an dieser Stelle zu überlegen, ob die Gruppe der Netzkunstinteressierten sich nicht ohnehin von derjenigen der traditionellen Kunstrezipienten unterscheidet. ersten Blick schwer fällt, Netzkunst als Kunst zu erkennen bzw. zu begreifen. Peter Weibel, Kurator der Ausstellung ‚You_ser: Das Jahrhundert des Konsumenten‘ im ZKM in Karlsruhe weist dem Museum in diesem Prozess die Rolle einer Raum gebenden Institution zu, welchen letztlich der Besucher mit Inhalten füllt: „Die Nutzer-Kunst übernimmt diese Strategie für das Kunstsystem. Die Besucher als Nutzer erzeugen die Inhalte und Angebote im Museum selbst, sie tauschen sie untereinander aus und verteilen sie frei im Netz oder im Museum. Das Museum und die klassischen Künstler sind gewissermaßen die Provider, sie stellen die Infrastruktur zur Verfügung. Die Nutzer, die emanzipierten Konsumenten, liefern den Inhalt oder sind selbst der Inhalt. Die Nutzer sind die ,prosumer‘ (pro/ducer und con/sumer).“8 Folgt man der These, dass durch die übergreifende Relevanz und Nutzung des Internets eine stärkere Verquickung von Kunst und Alltag stattfindet, spräche einiges dafür, das Museum eben doch als einen Raum der Konservierung und als Gegenentwurf des Alltäglichen anzusehen. Dieses würde dann für die Netzkunst bedeuten, dass sie sich an anderer Stelle einen Weg zum Rezipienten bahnen müsste. Dieses könnte stärker auf persönlichen Kontakt angelegte Veranstaltungen wie eben Festivals und Kongresse sein, in denen neben der Präsentation der Netzkunst die Auseinandersetzung über (gesellschaftliche) Bedingungen für die Produktion von Netzkunst im Mittelpunkt stünden. Sieht man Netzkunst in diesem starken Alltagsbezug, böten sich eher Ausstellungen an, die vor allem die Umstände und Umgebungen der Netzkunstrezeption, also den Rezipienten in den Mittelpunkt stellen würden. Ausblick II: Internet – Kunst – Alltag Durch die künstlerische Nutzung des Mediums Internet findet eine Verquickung oder auch Zusammenführung von Alltäglichem einerseits und der Kunstproduktion wie auch der Kunstrezeption andererseits statt. NetzkünstlerInnen arbeiten in und mit einem Medium, das nicht per se ein künstlerisches ist, sondern aktuell größtenteils für die Beschaffung und Verbreitung jeglicher Art von Informationen genutzt wird. In der Folge verschwimmen die Grenzen zwischen dem so genannten virtuellen und dem realen Raum. Auch die Rezeption von jeglichen Webseiten ist zunächst einmal ein alltäglicher Handlungsakt und in diesem Fall unterscheidet sich der Prozess der Kunstrezeption im Netz nicht vom browsen zum Beispiel auf einer Nachrichtenseite. Deshalb gehe ich davon aus, dass auch der Kunstkonsum mit der Netzkunst alltäglicher geworden ist. Dieses ist sicherlich auch einer der Aspekte, warum es vielen Rezipienten auf den 76 77 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html 1 Ascott, Roy. 1995. S. 77 2 http://art.teleportacia.org Exhibiting the Dot Shaw, Jeffrey / Schwarz, Hans Peter. Perspektiven der Medienkunst. In: Schwarz, Hans Peter. Perspektiven der Medienkunst, Museumspraxis und Kunstwissenschaft antworten auf die digitale Herausforderung. Karlsruhe 1995. S. 8f Schwarz, Hans Peter. Das digitale Museum – Multimedialer Bilderterror oder Chance zur Neubestimmung der Museen? In: Schwarz, Hans Peter. Perspektiven der Medienkunst, Museumspraxis und Kunstwissenschaft antworten auf die digitale Herausforderung. Karlsruhe 1995. S.67-116 Weibel, Peter. User Art _ Nutzerkunst. 2007 http://www02.zkm.de/youser/index.php?option=com_content &task=view&id=16&Itemid=24 3 Lialina, Olia. Ein Link wäre schon genug. 2000. http://art.teleportacia.org/observation/du.html 4 Ebd. 5 In diesem Zusammenhang hat Tilman Baumgärtel 1999 in der Diskussion um die Ausstellung ‚net_condition‘ im ZKM den Begriff der „Duchampschen Operation“ eingebracht: Es gehe bei der Ausstellung darum, „Arbeiten oder, technisch genauer gesagt: Dateien, die bisher ohne die Legitimierung als Kunst im Internet zu sehen waren, ins Museum zu transferieren und ihnen so die noch fehlende Legitimierung durch diese Institution zu verleihen. In der Diskussion über Netzkunst war es von Anfang an ein wichtiger Topos, dass Netzkunst dadurch, dass sie im Internet existiert, keine unmittelbare Markierung als Kunst hat.“ Telepolis 20.10.1999 http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3444/1.html 6 Das Fernsehen oder auch das Radio nutzt diese Möglichkeit bereits stärker, indem zum Beispiel Sendungen im Internet angesehen werden können oder auf zusätzlich bereitgestellte Informationen im Netz – ähnlich einer Fußnote – verwiesen wird. Siehe hierzu die ZDF-Mediathek. http://www.zdf.de/ZDFmediathek/content/9602?inPopup=true 7 Schwarz, Hans Peter. 1995. S. 71 8 Weibel, Peter. 2007 Weiterführende Texte und Links zum Thema Ascott, Roy. Das digitale Museum. In: Schwarz, Hans Peter. Perspektiven der Medienkunst, Museumspraxis und Kunstwissenschaft antworten auf die digitale Herausforderung. Karlsruhe 1995. S.76-83 Baumgärtel, Tilman. Jetzt wird aufgetischt: Netzkunst am Fließband. Telepolis 20.10.1999. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3444/1.html Lialina, Olia. Ein Link wäre schon genug. 2000. http://art.teleportacia.org/du.html 78 79 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics weder explizit auf kunsthistorische Vorbilder referieren oder etablierte Mechanismen des Betriebssystems Kunst angreifen und hinterfragen und dazu Strategien wie Aneignung, Fakes und Hacks verwenden. Diesen Punkt möchte ich am Beispiel des slowenischen Net.art Künstlers Vuk Cosic genauer beschreiben und untersuchen, wie er mit seinen Arbeiten ‚classics of net.art‘ und dem „Diebstahl“ der documenta XWebseite in das System der Kunst eingreift. Ein großer Teil der bekannten Arbeiten Vuk Cosics ist auf dem von ihm mitbegründeten Internet-Medienportal ljudmila.org archiviert und noch immer zugänglich. Auf der Startseite des Portals wird man über die Zusammensetzung des Namens (ljubljana digitial media lab) informiert und findet rasterförmig unter thematischen Rubriken mit englisch-sprachigen Überschriften wie Festivals, Musik, Bücher etc. alphabetisch geordnete Links. Unter der Rubrik ‚Künstler und Gruppen‘ findet sich unter seinem Vornamen Vuk der Link zu Cosics aktueller Webseite4. Diese Eingangsseite ist ebenfalls als Link-Katalog angelegt und zeigt nebeneinander drei hochrechteckige Felder, die drei verschiedene Rubriken – mit den Titeln Vuk Cosic, contemporary ascii und net.art – begrenzen und die sich in den Farben Weiß, Schwarz und Hellgrau von dem mittelgrauen, monochromen Hintergrund abheben. Unter der erstgenannten Rubrik findet man Cosics E-Mail-Adresse, eine piktogrammartige Figur, Links zu anderen Net.art-Künstlern und zu einer alten Version seiner Seite. Die beiden anderen Rubriken bezeichnen zwei Werkgruppen und führen mit Links zu den einzelnen Arbeiten. Trotz dieser schlichten Struktur und Optik lassen sich bereits hier Hinweise zum Selbstverständnis des Urhebers ausmachen. So kategorisiert er sich durch den Slogan „No Land’s Man“ als Weltbürger, als jemand, der überall und nirgends oder Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics Seitdem sich das Internet Anfang bis Mitte der 1990er Jahre durch technische Neuerungen wie die Erfindung von Browsern weltweit zu einem für eine größere Anzahl von Usern verfügbaren Medium entwickelte, wurde es ab etwa 1994 auch Teil künstlerischer Interventionen und Betätigungen, die über die bisherige Computerkunst hinausgingen. Der Computer in Verbindung mit dem World Wide Web bot neuartige Kreations- und vor allem auch Präsentations- und Interaktionsmöglichkeiten. Steve Dietz1 sowie Lev Manovich2 entwickelten Kriterienkataloge für die Definition von Net.art in Abgrenzung zu Kunst im Netz. Wie wir im Laufe des Seminars feststellen konnten, lassen sich vielfältige Kategorien von Net.art ausmachen. So etwa eine umfangreiche Anzahl stark selbstreferenziell geprägter Arbeiten, die sich mit den spezifischen Bedingungen des Computers und des Netzes, sprich mit Oberflächen, Codes, Frames, Programmiersprachen3 etc. auseinandersetzen und dabei kulturelle, ästhetische sowie politische Aspekte des Internet thematisieren. Inhaltlich fällt auf, dass eine Reihe von Net.art-Künstlern ent- Simone Thürnau 80 81 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics eben im World Wide Web seine Heimat gefunden hat. Das darunter stehende Piktogramm kann als Selbstporträt Cosics verstanden werden. Es zeigt eine männliche PiktogrammFigur, deren Kopf durch das Auflegen eins Lupenglases stark vergrößert erscheint. Im Fokus liegt demnach nicht etwa (im übertragendem Sinn) die Hand des Künstlers, also handwerkliches Geschick oder kunstfertige Programmierungen, sondern der Kopf, also das Denken, die Ideen. Zwei von Cosic vormalig verwendete Domains, vuk.org und vukcosic.org, wurden offensichtlich aufgegeben und werden mittlerweile von zwei unterschiedlichen, kommerziellen, USamerikanischen Betreibern verwendet5. Ein erstaunlicher Vorgang, bedenkt man den ideellen und teils auch materiellen Wert von Domainnamen, die exakt auf Firmen- oder Eigennamen lauten. Eine gewollte Irritation oder eine bewusste Entscheidung, nicht mehr als Einzelperson, sondern im Kontext des ljudmila.org-Netzwerks präsent zu sein? Blickt man auf den heutigen Inhalt der Seiten, eine Pornoseite und ein Werbeportal, und dann auf Punkt 5.C.1. der ‚Introduction to net.art‘ von Bookchin und Shulgin (1999)6, könnte man meinen, dass Cosic die heutigen Betreiber gezielt ausgewählt hätte, denn dort heißt es, das Internet sei nach Net.art eine Mall, ein Pornoshop und ein Museum. zunächst vergeblich. Die documenta X im Jahr 1997 integrierte erstmalig das Internet und die Netzkunst in die 100-tägige Kunstpräsentation in Kassel und machte sie damit erstmalig einem breiterem Publikum zugänglich. Die künstlerische Leiterin Catherine David verpflichte mit Simon Lamunière zudem einen Kurator, der für den umfangreichen, mit zahlreichen Links auf externe Seiten versehenen Internetauftritt und die Auswahl der Netzkünstler verantwortlich war. Besucher der documenta X konnten in einem Computerraum für Internet-Surfer ausgewählte Webseiten von Künstlern wie Heath Bunting, Holger Friese und dem Künstlerduo JODI7 – darunter auch einige im Auftrag der documenta erstellte Arbeiten – auf Monitoren sowie über einen Beamer aufrufen und zusätzlich einen so genannten Hybrid WorkSpace in der Orangerie, an dem etwa Geert Lovink und Pit Schulz mitwirkten, Einblicke in Arbeitsprozesse nehmen8. Analog zum Ende der Ausstellung9 ging die offizielle Webseite der documenta wie angekündigt offline. Vuk Cosic kopierte zuvor mit einem einfachen und legal verfügbaren Programm den gesamten Inhalt der Seite auf seinen Server und stellt diese kopierte Version am selben Tag, dem 28.9.1997, erneut online10. Er selbst ist es auch, der mit im Internet gestreuten „Meldungen“ auf die Kopie der Seite aufmerksam macht, sich als Autor der Kopie benennt und gleich dazu das Aufmerksamkeit sichernde Vokabular für Pressemeldungen mitliefert, welches seitdem als Vokabular mit dieser Aktion untrennbar verknüpft ist: „Eastern European Hacker Steals Documenta X Web Site. A Slovenian hacker Vuk Cosic, who calls himself a ‚net.artist‘, is identified as the person behind the major international art theft that is creating waves of shock among surfers on the net, as well as in the art circles. ...His gesture, announced Folgt man auf Vuk Cosics Webseite dem Link mit dem Titel ‚Documenta.Done‘, dem einzigen in einer größeren Schrift, der zusätzlich mit einer Art Schatten hinterlegt ist, die an eine Taste denken lässt, gelangt man auf eine Startseite mit dem dx-Logo der documenta X. Von dort aus kann man sich weiterklicken und es wird schnell deutlich, dass man sich auf einer „alten“ offiziellen Internetseite bewegt, einen Hinweis auf Cosic und einen Grund für diesen Link sucht man jedoch 82 83 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics only hours before the closing of the official web site of Documenta X, has by now not been denounced officialy as an infringement of material copyright, but it is surely suspicious when the ‚author‘ speaks of ‚net critique through positive engagement‘...“11 Die Geste bleibt vom Wesen her gleich. Der Unterschied besteht darin, dass der Kontext – in diesem Fall das Internet bzw. der Computermonitor – in welchem der User die Seite betrachtet, identisch bleibt, wie auch die Kopie der Seite keine technischen Merkmale einer Kopie ausweist, sondern identisch ist. Der Transfer in einen anderen Kontext, sei es ein Produkt aus der Warenwelt (Duchamp), ein Werbebild (Prince) oder ein anderes Kunstwerk (Levine) in einen Galerie- oder Museumsraum, wo die Kunst als solche erkannt, benannt und mit (eventuell neuer) Autorenschaft versehen wird, ist bei Cosics Arbeit nicht sichtbar vorhanden. Laut Cosics sei ja bereits das normale Aufrufen einer beliebigen Internetseite genau genommen bereits das Erstellen einer Kopie und dass er beabsichtige, „Hacken und Diebstahl zum Teil der Kunstgeschichte zu machen“. Andererseits ist dieser Vorgang für ihn kein explizit künstlerischer, da sein Anliegen sei, die Grenzen zwischen Leben und Kunst zu verwischen14. Der entscheidende Unterschied besteht also darin, dass die Arbeit Vuk Cosics nicht als Werk im Kunstkontext auftritt, sondern als eine Aktion. Meiner Meinung nach bietet es sich an, bei dieser Arbeit den Begriff des Fake15 zu verwenden und sie als Kommentar zum Themenkomplex Sammeln und Archivieren von Kunst und Netzkunst, der Frage nach der Macht und Autorität von (Kunst-) Institutionen sowie der Glaubwürdigkeit von Informationen im Netz zu verstehen. Betrachtet man die im Internet lancierten Informationen als Teil des Werkes, so müsste man wie Hunger richtig bemerkt, sogar von einem doppelten Fake sprechen. Eine mögliche Motivation für den „Diebstahl“ der Seite wäre, dass Cosic diesen „Ritterschlag“ für die Net.art weiterhin dokumentiert sehen und ein Veto gegen die in seinen Augen unnötige Abschaltung der Seite einlegen wollte. Mittlerweile ist auf der documenta-Webseite ein Archiv mit der gesamten ursprünglichen Seite zugänglich.12 Die Intervention gegen ein Verschwinden von Spuren im Netz war demnach erfolgreich. Doch dies allein beschreibt den Hintergrund von Cosics Aktion nur unzureichend, geht es doch auch um eine vom Inhalt unabhängige Geste gegenüber der Kunstwelt im allgemeinen, wie Cosic in einem Interview erläutert: „...my basic intention with the dX gesture, was to experiment in detourning (from détournement) the ready-made strategy, of course not in order to comment on ready made but to make a comment about the art system.“13 Aber worin besteht der Unterschied – wenn es denn einen gibt – etwa zum Ready-made eines Marcel Duchamp, auf den sich Vuk Cosic explizit bezieht, oder zur Appropriation Art von Richard Prince oder Sherrie Levine? Vorhandene Bilder oder Informationen, im großzügigen Sinn „Objekte“, werden aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst, kopiert, umbenannt und nachproduziert. Als genuin schöpferischer Akt des Künstlers verbleibt die Geste der Anneignung und des Transfers. Auch Vuk Cosic kopiert eine Internetseite, benennt sie um bzw. läd sie neu unter einer anderen Adresse. Auf seiner Internetseite bietet Vuk Cosic eine Buchreihe mit dem Titel ‚classics of net.art‘ zum Kauf an16. Wählt man den entsprechenden Link auf seiner Webseite, erscheint in der 84 85 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics Mitte der Seite der affirmative Text „READ BOOKS“ und links ein rot hinterlegtes Navigationsmenü als schmaler Streifen. ‚The Official History of Net.art volume II‘ wird dort angekündigt, ‚classics of net art‘ inklusive der drei Links ‚welcome‘, ‚catalogue‘ und ‚order‘. Unter dem ersten Link stellt ein Herausgeber mit Namen Keiko Suzuki die Buchreihe vor. Schaut man in den Katalog, sieht man vier individuell mit Werken der Künstler gestaltete Buchcover flankiert von äußerst euphorischen Begleittexten zum jeweiligen Künstler. Die Bücher sind Monographien über die – so wird durch den Titel der Serie suggeriert – vier wichtigsten Netzkünstler: Jodi, Heath Bunting, Alexej Shulgin und Vuk Cosic. Schon allein deshalb wird der Betrachter sich über diesen Shop auf einer Künstlerseite kaum wundern, liegt es doch nahe, Publikationen über Netzkunst im Netz zu vertreiben. Aber auch dieser kleine Shop und ebenso die Bücher sind ein Fake, der Autor Keiko Suzuki frei erfunden bzw. ein Pseudonym Vuk Cosics. Die Verwendung der für Bestellungen und Fragen angegebenen Adresse ([email protected]) führte direkt zu einem Account der Mailingliste 7-11, der für alle User dieser Community offen lesbar war. Cosic und sein Netzwerk konnten also alle Anfragen, Bestellungen und Bitten um kostenlose Rezensionsexemplare online mitverfolgen, damit einen heimlichen Blick auf die „andere Seite“ werfen und sehen, welche Kritiker, Kuratoren und Museen sich für sie interessieren17. Mit ‚classics of net.art‘ hat Cosic Geschichtsschreibung in eigener Sache betrieben, denn tatsächlich werden auffallend häufig genau die vier Künstler dieser Serie genannt, wenn von den wichtigsten Protagonisten der Net.art die Rede ist. Ähnlich wie die dx-Kopie allein mit nicht über die Seite selbst zu erschliessenden Informationen als Arbeit wahrzunehmen und zu verstehen ist, verhält es sich auch mit den falschen Büchern. Der Diskurs, die Irritation ist demnach auch das eigentlich Wichtige für Vuk Cosic, „the html files... were just used the stimulate or illustrate the dialogue“18. Thomas Wulffen prägte 1994 mit seinen Beiträgen in Kunstforum International den Begriff „Betriebssystem Kunst“19 in Anlehnung an den Luhmannschen Begriff des Kunstsystems, beschrieb den Kunstbetrieb als ein Netzwerk, benannte die Teilnehmer und analysierte die Mechanismen. Interessanterweise entlehnte er den Begriff Betriebssystem aus der Computerwelt20. Dem folgenden Versuch einer Einordnung Vuk Cosics in dieses Schema liegt das Diagramm aus der erwähnten Publikation zugrunde (Abb.). Daraus ist zu entnehmen, dass zu diesem System nicht nur der Künstler und sein Werk, sondern ebenso Presse, Publikum, Publikationen und Dokumentationen zählt sowie der Bereich, der von Wulffen als „Projektion“ bezeichnet wird. Darunter fallen etwa neben Museen, Galerien und Auktionshäusern auch das jeweils zugehörige Personal. Versucht man Vuk Cosics Standpunkt in diesem System zu lokalisieren, ist klar ersichtlich, dass eine eindeutige Positionsbestimmung nicht vorgenommen werden kann, da der Künstler – wie anhand der vorgestellten Beispiele erläutert – sowohl als Künstler, Galerist, „PR-Beauftragter“, Produzent des eigenen Werkzeugs21, Ausstellungskurator22 und Sammler23 wie – wenn auch fiktiv – als Autor seiner eigenen Monographie aktiv ist. Doch mit den spezifischen Konditionen der Net.art ändert sich nicht nur die Position des Künstlers. Denn, alsbald die Net.art in ihrer Medialität den klassischen White Cube verlassen hat und der Betrachter von Net.art zum User und Partizipienten wird, dem das Werk von jedem beliebigen Computer mit Internetzugang weltweit, ohne räumliche und zeitliche Einschränkungen und 86 87 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics Schema Betriebssystem Kunst aus: Thomas Wulffen: Konzept für eine internationale Kunstausstellung. In: Kunstforum International, Bd. 125, 1994, S. 214-215 ohne zusätzliche Kosten zugänglich ist, ist auch ein eigenständiges Netzwerk ausserhalb des Betriebssystems denkbar. Was resultiert aus dieser multifunktionalen Position im Betriebssystem Kunst? Ist das Anliegen die schon erwähnte Absicht, Kunst und Leben zusammenzuführen, die Grenzen aufzuheben? Ist es eine bewusst gewählte Strategie, das System zu überlisten, Mechanismen wie etwa die des Marktes zu umgehen? Cosic äußert sich hierzu in einem Vortrag: „We did not want to be incorporated by the art world – or at least to our rules.“24 Die Frage, ob Net.art eine noch aktuelle oder schon historische Avantgardebewegung ist, lässt sich meiner Ansicht nach wenig eindeutig beantworten. So wurde bereits um die Jahrtausendwende vielfach das Ende der Net.art proklamiert; Heath Bunting bezeichnete sich schon 1999 als Net.artist im Ruhestand25, auch Vuk Cosic wandte sich einem anderen Thema, der ASCII-Art, zu. Nimmt man die documenta als Indikator für wichtige Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst und vergleicht die Präsenz der Netzkunst auf den letz- ten drei documenta-Schauen, kommt man zu der Erkenntnis, dass die gezeigte Netzkunst von 1997 zu 2002 abnahm und in diesem Jahr überhaupt nicht mehr präsent war. Laut Kuni ist Netzkunst „aus dem Radius der Institutionen des Betriebssystems ebenso schnell wieder verschwunden..., wie sie in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre dort – das heißt in einigen wenigen Museen und Ausstellungshäusern, die damals mit eigenen Webseiten ans Netz gingen – aufgetaucht war“.26 Sieht man von den technischen Schwierigkeiten einmal ab, etwa Netzkunst aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre adäquat zu präsentieren, so verwundere dies, laut Kuni, umso mehr, als die documenta 12 ansonsten Kunst aller Gattungen (Malerei, Skulptur, Video, Fotografie, Performance etc.) zeigte. Betrachtet man den Künstler Banksy, der in kurzer Zeit mit subversiven Arbeiten im Mainstream des Kunstmarktes angekommen zu sein scheint, stellt sich die Frage, ob die Net.art aufgrund ihrer Immaterialität, der Präsentationssituation und der Unvereinbarkeit mit merkantilen Mechanismen zum heutigen Stand zwar keine neuartige Avantgarde 88 89 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics 26 mehr darstellt, aber trotzdem in einem diskursiven Randbereich des Betriebssystem Kunst fortbesteht. Um es mit Cosics Worten zu sagen: „The reality is that we are irelevant mainstream artists.“27 Vgl.: Verena Kuni, Auslegungssache. Die Netze der documenta 12, 2007 27 Vuk Cosic, 2006 im Interview mit we make money not art.com, http://www.we-make-money-not-art.com/archives/008056.php Literaturverzeichnis Letztmaliger Aufruf aller Internet-Quellen am 14.10.2007. 1 Interactivity, Connectivity, Computability; Dietz, 2000. http://www.walkerart.org/archive/5/B473851A45B7748A6161.htm Inke Ans: Unformatierter ASCII-Text sieht ziemlich gut aus – Die Geburt der Netzkunst aus dem Geiste des Unfalls. 2001. http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/netzkunst2.html Tilman Baumgärtel: Kunst war nur ein Ersatz für das Internet. Interview mit Vuk Cosic. 26.06.1997. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6157/1.html Tilman Baumgärtel: net.art. Materialien zur Netzkunst. Nürnberg 1999 Tilman Baumgärtel: net.art 2.0. Neue Materialien zur Netzkunst. Nürnberg 2001 Thomas Dreher, NetArt Einführung. http://iasl.uni-muenchen.de/links/NAEinf.html#top31 Vuk Cosic im Interview mit we make money not art, 17.2.2006. http://www.we-make-money-not-art.com/archives/008056.php Guido Hirschsteiner: Netzkunst als Avantgarde. Magisterarbeit. München 2000. http://www.hirschsteiner.de/netzkunst_als_avantgarde.pdf Hans Dieter Huber: Über das Schreiben, Interpretieren und Verstehen von internetbasierten Werken, 2004. http://www.xcult.org/texte/hdhuber/huber.html Francis Hunger: Copyleft in der Kunst und Copyright in der Popkultur – Vom stillen Ignorieren und bewußten Verletzen. Leipzig 2001. http://www.hgb-leipzig.de/~francis/irmielin/ writings/copyright_and_copyleft_2001.pdf 2 Database, Interface, Spatalisation, Navigation; Manovich, 1998. http://jupiter.ucsd.edu/~culture/symposium.html 3 etwa die Künstler Jodi und 01.org. 4 http://www.ljudmila.org/~vuk 5 laut den Angaben unter http://www.check-domain.net 6 http://subsol.c3.hu/subsol_2/contributors/bookchintext.html 7 eine Liste dieser Arbeiten unter: http://www.documenta12.de/archiv/dx/deutsch/frm_news.htm 8 Vgl.: KUNSTFORUM International, Bd. 133, 1997, Die documenta X, S. 240ff 9 Ausstellungszeitraum der documenta X: 21.6.-28.9.1997 10 http://www.ljudmila.org/~vuk/dx 11 zitiert nach Francis Hunger, 2001: http://www.hgbleipzig.de/~francis/irmielin/writings/copyright_and_copyleft_2001.pdf 12 http://www.documenta12.de/archiv/dx 13 zitiert nach Fancis Hunger, 2001, a.a.O 14 Vgl.: Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3 und Bookchin/Shulgin, 1999 15 Vgl.: Stefan Roemer: Der Begriff des Fake, Diss., Berlin, 1998 16 http://www.ljudmila.org/~vuk/books 17 Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3 18 Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3 19 Thomas Wulffen, Kunstforum International 125, 1994 20 Vgl.: Wulffen, 1994, S. 51 21 Interactivity, Connectivity, Computability; Dietz, 2000 22 Interactivity, Connectivity, Computability; Dietz, 2000 23 so etwa die Linksammlung auf dem Rechner oder der Webseite 24 Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3 25 Baumgärtel, 1999 90 91 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Gottfried Kerscher: Der ducumenta x-cite und die Abstraktion von Wirklichkeit. 1997. http://user.unifrankfurt.de/~kerscher/dx.html Verena Kuni: Auslegungssache. Die Netze der documenta 12. 2007. http://www.thing-hamburg.de/index.php?id=690 Thomas Wulffen: Betriebssystem Kunst – Eine Retrospektive. In: Kunstforum International, Bd. 125, 1994, S.50-58 Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst „The final abstract expression of every art is a number.“1 Audioquelle Vuk Cosic, 25.05.2003. Vortrag anlässlich der Fissage der Ausstellung ‚Written in stone. A net.art archaeology‘ im National Museum of Contemporary Art, Oslo. http://www.notam02.no/motherboard/Vuk_finissage.mp3 Ulrike Kuhn Wie bei Wölfflin in seinen kunstgeschichtlichen Grundbegriffen so wird auch in der Aussage Wassily Kandinskys deutlich, dass es nicht um die Inhalte der Bilder handelt, sondern um ihre kompositorischen Regeln. In seinem grundlegenden Werk ‚Kunstgeschichtliche Grundbegriffe‘2 formuliert Wölfflin aufgrund von Werkanalysen formale Dichotomien, die die jeweiligen Werke aus der Renaissance und dem Barock charakterisieren. Die Inhalte und das Genre – Architektur oder Gemälde – sind dabei zweitrangig. Er geht vielmehr der Frage nach, welche Sichtweise einem Werk zugrunde liegt und welche Regeln sich aus seiner Komposition ableiten lassen.3 Durch seine Vortragsweise der Doppelprojektion von Dias konnte Wölfflin Verwandtschaften oder Differenzen der Werke verdeutlichen und die Form der binären Dichotomie abbilden. Darin wird Wölfflins Wunsch nach Exaktheit deutlich, bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Kunst der jeweiligen Epochen nachzuweisen. Dieses Anliegen ist gerade in der 2. Hälfte des 19. 92 93 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst Abb. 1-3: Links: Albrecht Dürer, Eva, sign. «1512 AD», Federzeichnung, 28 x 17,1 cm, London. Rechts: Rembrandt, Weiblicher Akt, schwarze Kreidezeichnung, 26 x16 cm, Budapest. nach: Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 2004. In: Stefan Heidenreich, Form und Filter – Algorithmen der Bildverarbeitung und Stilanalyse, in: Zeitenblicke 2 (2003), Nr. 1 [08.2003], http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/heidenreich/index/html Jahrhunderts nachzuvollziehen, welches von einem Stilpluralismus gekennzeichnet ist, der sich in Ismen ausdrückt wie Realismus, Symbolismus, Impressionismus, Pointillismus. Das neue Medium, die Diaprojektion, wird in eine neue Methode überführt. Und so (erfindet) Wölfflin seine Begriffe, „um den Bildern eine kunsthistorische Ordnung anzusehen“.4 Der Speicher, in dem die Differenzen wissenschaftlicher Bildanalyse stattfinden, ist nicht nur für Wölfflins analysierte Epochen Renaissance und Barock entscheidend. Denn mit seinen Dichotomien sind wir bei der Möglichkeit eines binären Codes angelangt, der Grundlage der Computersprache ist. Und so führen uns Wölfflins ‚Kunstgeschichtliche Grundbegriffe‘ zu den Kunstwerken im Netz als auch zu den durch das Netz generierten Kunstwerken als Ergebnis von Algorithmen. Hier haben wir wieder ein neues Medium, welches in eine neue Methode überführt wird. Sowohl eine bildverarbeitende als auch eine bildproduzierende Maschine basiert auf einzuspeichernde Anzahlen, die zu einem künstlerischen Ergebnis – durchaus auch mit inhaltlicher Aussage – führen.5 Für diese beiden Bereiche digitaler Bildarchivierung – Kunst im Netz – und durch das Netz generierte Kunst – Netzkunst – könnte Wölfflins Ansatz der Dichotomien als Ausgangspunkt für die Analyse und Einordnung von Kunstwerken durchaus in Anspruch genommen werden. Die im Anhang aufgeführten Bildbeispiele von Stefan Heidenreich (Abb.1-3)6 verdeutlichen die Folge von Filterbzw. algorithmischen Bildoperationen. Die durch das Weichzeichnen verschliffenen Kanten weisen gerade auf ihre Bedeutung im Bild hin. Sie sind wichtig, da sie eine Differenz ins Bild tragen. Diese wird gebraucht, um Bereiche zu segmentieren, diese dann als Objekte zu isolieren. Die Kante ist also der wichtigste Weg, um die in Bildern gezeigten Dingen – den Inhalt – aus ihnen heraus zu lösen und sie in die Welt des Symbolischen zu überführen. Der Weg lässt sich auch umkehren: von dem weich gezeichneten Bild in eine Hard Edge Version. Wenn man daher die unscharfe von der scharfen Variante Pixel für Pixel abzieht, bleiben die Kanten übrig. 94 95 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst Subtrahiert man die verschwommene Version Pixel für Pixel – Nummer für Nummer – von dem Original, markiert PixelGleichheit – gleiche Nummer – als hell und Unterschiede – unterschiedliche Nummern – als dunkel, erhält man als Ergebnis die Abweichung des unscharfen vom scharfen Bild und damit die ursprünglich vom Filter geglätteten Kanten. Die Parallele zwischen Wölfflinscher kunsthistorischer und algorithmischer Betrachtung wird deutlich: linear und malerisch – ein Gegensatzpaar, das durch die Bildverarbeitung bestätigt wird: Dürer konturiert durch Kanten, bei Rembrandt stimmen Umrissformen und Kanten selten überein. Das gilt sicher auch für die anderen Gegensatzpaare, ganz offensichtlich hier für die Gegensatzpaare Klarheit – Unklarheit, Einheit – Vielheit. Abb. 4: Claude Monet, Am See von Grenouièllere, 1869, Öl auf Leinwand, 75 x 100 cm, Metropolitan Museum of Art, New York. Quelle: Wikipedia wohlgemerkt nicht über den Inhalt, sondern über die Darstellungsfrequenzen – eindeutig einer Epoche oder/und einem Maler zuordnen. Ein noch eindeutigeres Beispiel scheint mir ‚La Grande Jatte‘ von Seurat zu sein (Abb. 7). Die extrem hochfrequente Darstellungsweise weisen hier Seurats Stil aus und lassen doch zugleich eindeutig Inhalte und Formen erkennen. „Am Ende des Prozesses bleiben schlicht und einfach nur noch Muster übrig, die über einen Stil und einen Namen eindeutig zugeordnet werden können, solange Museen und Kunstgeschichte die Zuordnung erinnern. Maler wie Jackson Pollock oder Ad Reinhardt repräsentieren zwei möglich Enden der Frequenzcodierung, der eine im höherfrequenten, der andere im niedrigfrequenten Bereich.“10 (Abb.5 und 6) Die Codierung von Frequenzbereichen ist eine erfolgreiche Strategie der modernen Malerei, so z.B. im Kubismus, Pointillismus oder in der Hard Edge Malerei.7 Sie erscheint wie eine konsequente Weiterführung der aufgrund der Technik – Diaprojektion – entwickelten Methode Wölfflinscher Bildanalyse. Zur Stilentwicklung der Moderne8 formuliert Heidenreich folgende These: „Die malerische Avantgarde in dieser Zeit filterte Frequenzbereiche der Bilder heraus, um sie dem Aspekt der Abbildung zu entziehen und für stilistische Distinktionen auszubeuten.“9 Als Beispiel führt er das Werk ‚Am See von Grenouillière‘ (Abb. 4) an, das sowohl Monet als auch Renoir gleichzeitig vor dem See sitzend gemalt haben. Der Inhalt wird ungenau, der Stil genauer, anders gesagt: Inhaltliche Bildanteile sind einer niedrigfrequenten Darstellung, stilistische Distinktionen einer hochfrequenten Darstellung vorbehalten. Somit können wir dieses Werk – Der Satz „The Medium is the Message“ von Marshall McLuhan11 wird durch das oben Beschriebe „verbildlicht“. Er ist nicht nur für die Netzkunst bedeutend, sondern auch schon für Wölfflins Dichotomien anwendbar und findet in der Netzkunst seinen vorläufigen Höhepunkt. Die Analyse von Werken 96 97 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst Abb. 6: Ad Reinhardt, Abstract Painting No. 5, 1962, Öl auf Leinwand, 152,4 x 152,4 cm, Tate Collection. Quelle: http://www.tate.org.uk Abb. 7: Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag auf der Insel Grande Jatte, 1884/86, Öl auf Leinwand, 207,6 x308 cm, Art Institute of Chicago. Quelle: Wikipedia durch das Medium der Diaprojektion führen zum Vergleich der Formelemente statt der Inhalte. Das Ergebnis verweist bei Wölfflin auf die unterschiedliche Seh- und Wahrnehmungsweise in den verschiedenen Epochen (vgl. Abb. 1 und 2).12 Die Netzkunst bedient sich der Möglichkeit des Computers, aufgrund bestimmter Algorithmen Kunst zu erzeugen – eine Kunst als Ergebnis von „numbers“ (Kandinsky). Die Netzkunst arbeitet also mit dem, was Helmholtz in seinen Untersuchungen zur Art der Betrachtung eines Bildes feststellte: Bilder sind Punktmengen (vgl. Anm. 3). Dies kann man sowohl auf die Wahrnehmung als auch auf das Ergebnis der Wahrnehmung beziehen. Ich verweise hier noch einmal auf das Werk von Seurat ‚La Grande Jatte‘, auf dem Punktmengen sozusagen Programm werden (Abb. 7). Und in der Netzkunst? „Hugh Pryor und Jeremy Wood markieren unsichtbare Punkte auf dem Globus, die mit entsprechenden Geräten sichtbar gemacht werden. Als technisch gerüsteter Teilnehmer erkennt man diese ‚Zeichnungen‘, kann selber mitmachen.“13 Künstler und Betrachter können auf Wahrgenommenes dar- Abb. 5: Jackson Pollock, Blue Poles: Number 11, 1952, 1952, Emaille und Aluminiumfarbe gemalt mit Glas auf Leinwand, 488,9 x 212,9 cm, National Gallery of Australia, Canberra, Detail. Quelle: http://www.ngv.vic.gov.au/pollock 98 99 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst die Regeln der Geometrie und dem Ideal der Proportionen. stellend verändernd einwirken. Diese Intervention zwingt sie zur Verantwortung ihres Eingriffs. Die hier auftauchende Verbindung von Form und Inhalt ist in der Kunstgeschichte nichts Neues. Sicher war auch der Maler in der Renaissance für sein Werk verantwortlich. Doch die technischen Möglichkeiten des Mediums Computer – durch Algorithmen weltweit und in Sekundenschnelle Welten verändern und Neues entstehen lassen zu können – haben Produktionsmöglichkeiten und Verantwortlichkeit in eine andere Dimension gerückt. „Das Medium ist schließlich so hybrid wie seine Inhalte, ein Spiegel unserer Welt in Bits“, die „unser Verhältnis zur Kulturproduktion [...] entscheidend verändert. [...] Die beste Netzkunst ist deshalb politisch motiviert, bedient sich der Strategien von Konzeptkunst und Aktivismus [...]. Repräsentation allein wird weder dem Internet noch der Kunst mit ihm gerecht.“14 6 Stefan Heidenreich (wie Anm. 4), Abb. 1-3 7 Die Handschrift des Künstlers zeigte sich durch den Pinselduktus und den Farbauftrag. Dadurch wurde eine bestimmte Oberflächenstruktur geschaffen. Man sagt, der Impressionismus habe die Strategie stilistischer Unterscheidungen begründet, die in der Moderne fortgesetzt wurde. 8 Die malerische Avantgarde zwischen ca. 1870 und 1960: Monet und Renoir malen gemeinsam am See von Grenouillière; hier Monets Werk, Abb. 4; Heidenreich (wie Anm. 4) 9 Heidenreich (wie Anm. 4) 10 Heidenreich (wie Anm. 4) 11 Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, Düsseldorf, 1968. 12 In seinem Buch ‚Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und moderne Kultur‘ (Frankfurt am Main, 2002) führt Jonathan Crary u.a. die Ergebnisse der modernen Kunst auf die Art der Wahrnehmung im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, unter Einbeziehung der technischen Entwicklungen (Foto, Video, Film etc.) und der experimentellen Untersuchungsergebnissen aus der Ophthalmologie von Hermann von Helmholtz (vgl. Anm. 3). 13 Matthias Weiß über die junge Geschichte der Netzkunst, Spiegle unserer Welt in Bits, in: KUNSTZEITUNG 1/2008, S. 20 1 Zit. nach Raymond Guido Lauzzana/Lynn Pocock-Williams, A Rule System for Analysis in the Visual Arts, in: Leonardo 21, No. 4 (1988), 445-452 (445) in: Wolfgang Ernst/Stefan Heidenreich, http://www.hyperdis.de/txt/alte/cd_docu/ZITAT183.htm 14 2 Die kunstgeschichtlichen Grundbegriffe sind folgende: Linear – Malerisch; Fläche – Tiefe; Geschlossen – Offen; Einheit – Vielheit; Klarheit – Unklarheit. Erstmals 1915 3 Diese Art der Betrachtung des Bildes als Endzustand eines Abtastprozesses geht einher mit den Ergebnissen der Experimente in der Ophthalmologie von Hermann von Helmholtz: Bilder sind als Punktmengen zu sehen. H. von Helmholtz, Das Sehen des Menschen, in: Die Neueren Fortschritte in der Theorie des Sehens, Vorlesungen aus Frankfurt am Main und Heidelberg, Preuss, Jahrbücher 1868. 4 Stefan Heidenreich, Form und Filter – Algorithmen der Bildverarbeitung und Stilanalyse, in: Zeitenblicke 2 (2003), Nr. 1 [08.2003], http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/heidenreich/index/html 5 Künstlerische Produktionen nach ihren kompositorischen Regeln zu definieren, ist nicht neu: so in der Antike der „goldene Schnitt“, in der Renaissance 100 101 Weiß (wie Anm. 13), S. 20 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Error 404. [Net.]Art not found. Malerei zu subsumieren ist. Erst mit einem 1999 gehaltenen Amsterdamer Symposium5 kamen Mixed-Media-Arbeiten als relevante Untersuchungsgegenstände hinzu – der Bereich Netzkunst wurde hier allerdings noch ausgespart. Was passiert, wenn der Kunstgegenstand ungegenständlich, das Objekt ereignishaft und das Dauerhafte prozessual wird? Mit diesen Fragen beschäftigt sich unter anderem das 2001 gegründete Variable Media Network (VMN)6, dessen Mitglieder unterschiedlichster Fachdisziplinen transmediale Methoden zur Bewältigung von Alterungsprozessen künstlerischer Arbeiten entwickeln. So soll mittels eines vom Guggenheim-Kuratoren John Ippolito entwickelten Fragebogens7 gemeinsam mit einem begleitenden Interview jedes einzelne Kunstwerk systematisch erfasst und in einer institutionsübergreifenden Datenbank zugänglich gemacht werden. Die Kategorisierung ist gewissermaßen die Basis; hieraus lassen sich geeignete Maßnahmen zur Erhaltung oder aber zur Wiederherstellung jeder einzelnen künstlerischen Arbeiten ableiten – wobei nicht pauschal, sondern ‚von Fall zu Fall‘ vorgegangen werden soll.8 Die vom VMN zum Teil generierten und favorisierten vier Strategien im Umgang mit Unvorhersagbarem sind: Dokumentation/Speicherung, Migration, Emulation und ReInterpretation. Die erstgenannte Strategie, Kunst mittels Textund Bildmaterial zu dokumentieren und somit für die Zukunft zu speichern, ist bei Netzkunst nicht nur eine Begleitung des restauratorischen Eingriffs, sondern kann zur eigentlichen Methode avancieren bzw. sogar Teil des künstlerischen Prozesses werden; was eine Auswahl der durch Cornelia Sollfranks ‚net.art generator‘ _S. 52 (Artschwager) generierten Bilder9 verdeutlicht, die 2004 als Buchpublikation unter dem Titel ‚Net.Art Generator – programmierte Verführung‘ Error 404. [Net.]Art not found.1 Im letzten Jahrhundert gab es viel Bewegung auf dem Gebiet Sarah Niesel der Restaurierungswissenschaft, dennoch wird bei dem Wechsel in die zeitgenössische Kunst Eines deutlich: Methoden, praktische Maßnahmen, ethische Prinzipien, selbst die Begriffe Konservierung und Restaurierung basieren auf einem gegenständlich orientierten Kunst-Begriff. Die 1964 entstandene Charta von Venedig2, die noch heute die Konservierungs- und Restaurierungsethik und -praxis maßgeblich bestimmt, fordert, die Restaurierung lediglich als Ausnahme-Methode zur Wiederherstellung der Original-Substanz anzusehen und zunächst die konservatorischen, d.h. der Erhaltung dienenden Maßnahmen auszuschöpfen. Die uneingeschränkte Achtung vor dem Original, Authentizität, Reversibilität und Unterscheidbarkeit jeden Eingriffs, die interdisziplinäre Untersuchung und eine ausführliche Dokumentation sind in der Charta, in den Berufsrichtlinien für Restauratoren3 1993 sowie im ICOM4 1986 manifestiert. Dennoch hat sich die Restaurierungswissenschaft bis vor wenigen Jahren einzig mit derjenigen Kunst beschäftigt, die unter die klassische Gattungstrias Gemälde/Plastik(Skulptur)/ 102 103 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Error 404. [Net.]Art not found. herausgegeben und damit vom prozessualen Medium Netz in das dauerhafte Medium Buch überführt wurden.10 In Analogie zur Netzstruktur und insbesondere aufgrund der Störanfälligkeit von Hardware plädieren VMN für eine Datenspeicherung mittels Software. Eine gelungene Umsetzung der digitalen Speicherung ist mit etoys ‚Mission Eternity‘, dem Totenkult für das Informationszeitalter, belegt _S. 42 (Becker). Das Künstlerkollektiv erfasst ausgewählte Personen digital und erstellt aus Text-, Bild- und Audiodateien ein je individuelles Porträt, das als digitales Vermächtnis nach dem Tod per Server und Handy abrufbar ist. Das sog. File-Sharing (einem gemeinsamen Datenzugriff) erweist sich im Rahmen dieser ‚netzwerk-kunst‘ nicht nur programmatisch als eine ‚netz- bzw. netzwerk-gerechte‘ Methode: Die in den ‚Capsules‘ gespeicherten Daten der Verstorbenen „veralten“ nicht und gehen im Falle einer großen Userschaft nicht verloren, so dass der Traum für ein Leben nach dem Tod zumindest symbolisch erfüllt werden könnte. Obwohl ‚Mission Eternity‘ keine explizit wissenschaftliche Methode ist, verdeutlicht dieses Beispiel, wie Migration mittels File-Sharings prinzipiell funktionieren könnte: Migration bezeichnet das VMN als eine Maßnahme, die für ein stetiges Update bei dem gleichen Medientyp sorgt, sodass eine zukünftige Lesbarkeit gewährleistet wird. Hierbei handelt es sich um Anpassungsmaßnahmen an die medialen Neuerungen sowohl auf Hardware- als auch auf SoftwareEbene, wobei das VMN fordert, sowohl Klon11 als auch Original zu erhalten. Um das möglicherweise veraltete Original wieder abrufen zu können, ist eine Art Übersetzer erforderlich, der sowohl auf Software- als auch auf HardwareBasis agieren kann, so dass es laut VMN bei der Emulation zu vier verschiedenen Möglichkeiten der Erhaltung von Kunst Cory Arcangel, I Shot Andy Warhol, 2002. Installation, American Museum of the Moving Image, New York, 2002. Quelle: http://variablemedia.net/e/seeingdouble kommen kann: Hardware kann durch Hardware oder Software emuliert werden und umgekehrt, wobei lediglich der situative Rezeptionskontext an die dynamischen Strukturen des Netzes angepasst wird. Bei der vierten Methode, der ReInterpretation, hingegen wird in die originale Substanz des Werkes eingegriffen und somit – nach Absprache und in Zusammenarbeit mit Künstlern und Experten – letztendlich Inhalt wie Kontext verändert und eine Neuauflage kreiert. Auf der Ausstellung ‚Seeing Double – Emulation in Theory and Practice‘12 2004 im Guggenheim Museum wurde diese Methode auch direkt angewendet und das Original dem migrierten oder emulierten Klon gegenübergestellt13 – dieses kann aber auch bedeuten, das Original unangetastet zu lassen, wie das folgende Beispiel belegt: Bei Cory Arcangels Arbeit ‚I shot Andy Warhol‘ (siehe Abb.) nimmt der Rezipient die Rolle Valerie Solanis‘ ein, die 1968 versuchte, Warhol zu ermorden. Bewaffnet mit einer Lightgun soll der digitale Andy Warhol erschossen werden. Das gehackte Spiel wurde in seiner Spiellogik nicht verändert, nur die graphische und 104 105 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Error 404. [Net.]Art not found. Figuren betreffende Ebene wurden modifiziert. Bereits 2002 wurde die Arbeit auf einer New Yorker Ausstellung als Installation präsentiert, das originalgetreue Duplikat wurde in eben diesem Zustand – auf einem 1990er Sony Triniton Fernseher mit einer veralteten Nintendo Console sowie Lightgun (Zapper) – zwei Jahre später auf der ‚Seeing Double‘ zusammen mit dem Original ausgestellt. Diese Art der Re-Creation ist ein mögliches Konzept zur Konservierung von Netzkunst und wurde zusammen mit dem Künstler erarbeitet. Dieser sprach sich in dem erwähnten Interview gegen eine Migration oder auch Emulation aus, um den RetroCharakter zu bewahren; eine Re-Interpretation durch Migration mittels eines Flachbildschirms anstelle des veralteten Fernsehers wäre aus Arcangels Sicht dem Werk nicht angemessen gewesen.14 Obwohl das VMN interessante Methoden zur Erhaltung von Netzkunst vorgestellt hat, so sollte man deren Ergebnisse eher als eine Heuristik werten, die mindestens zwei große Fragen aufwirft: 1) Was bleibt von Net.Art übrig? 2) Ist Net.Art bereits so kanonisiert, dass sie auf die traditionellen Techniken und ethischen Richtlinien der Restaurierung und Konservierung zurückgreifen kann bzw. muss, sollte sie überhaupt erhalten werden? An dieser Stelle lässt sich der von Kemp 1991 diagnostizierte „Geburtsfehler“15 der Kunstgeschichte, nämlich das einsame, isolierte und segmentierte Einzelwerk als Orientierungsgröße kunstgeschichtlicher Betrachtungen zu vereinbaren, auf den Gegenstand der Erhaltung von Netzkunst übertragen: Wenn Netzkunst erhalten werden soll, können offenbar lediglich Fragmente entkontextualisiert, d.h. ‚entnetzt‘ bewahrt werden. Net.Art steht Social Art, Happening oder Fluxus strukturell weitaus näher als anderen traditionellen Kunstformen, so dass die Netz- künstler und -theoretiker Blank und Jeron 2001 behaupteten, dass konservierte Netzkunst weniger Netzkunst sei als konservierte Malerei noch Malerei.16 Wie also Net.Art erhalten? Aus derzeitiger Perspektive gibt es nur wenige Lösungsangebote: Die Migration passt die originale Substanz an den sich ständig verändernden Kontext an, beeinträchtigt aber letztlich die Authentizität. Auch die Emulation, die zwar den Inhalt meint unangetastet zu lassen, beeinflusst die Rezeptionssituation.17 Die Re-Interpretation ist zwar eine durchaus akzeptable Strategie, doch erhält man hier nicht das Original, sondern erstellt ein Duplikat und schafft somit ein neues Kunstwerk, wie die traditionelle Restaurierungsethik argumentieren könnte. Sollte sich demnach keine Regel von über einhundert Jahren Restaurierungswissenschaft auf die Net.Art anwenden lassen? Für mich steht fest, dass die Begriffe Original, Authentizität oder auch die moralische Trennung in Konservierung und Restaurierung zwar für den Netzkunstbereich unbedingt mit anderen Inhalten gefüllt werden müssen, jedoch als abstraktes Prinzip Gültigkeit bewahren. Zweitens ist Netzkunst m.E. eine erhaltenswerte Kunstform, selbst wenn zum Teil bereits jetzt nur noch „Spurensuche“18 betrieben werden kann. Netzkunst nicht zu konservieren, hieße, einen sozio-kulturellen Verlust zu forcieren, so dass es bald heißen könnte: Error 404. [Net.]Art not found. 1 Ich spiele hier zugleich auf Projekte an, die der Erhaltung von Netzkunst dienen, vgl. u.a. http://404project.hmkv.de/hintergruende/das_projekt/index.html, sowie auf die tägliche Erfahrung, dass Websites nicht mehr abrufbar sind. 2 http://www.restauratoren.de/fileadmin/red/pdf/charta_venedig.pdf 3 Vgl. http://www.ig-restauratorinnen.at/ecco_beruf_restaurator.htm 4 International Council of Museum, vgl. http://www.icom-deutschland.de/client/media/6/dicom.pdf 5 106 107 Ijsbrand Hummelen u. Dionne Sillé (Hg.): Modern Art: Who cares? An interdis- http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Error 404. [Net.]Art not found. ciplinary research project and an international symposium on the conservation of modern and contemporary art, Foundation for the Conservation of Modern Art and the Netherland Institute for Cultural Heritage, Amsterdam 1999 14 Da sich ‚I shot Andy Warhol‘ in dem privaten Besitz des Künslers befand, genoss Arcangel eventuell den Vorteil, dass er die letztendliche Entscheidungsfreiheit besaß. 15 Wolfgang Kemp: Kontexte. Für eine Kunstgeschichte der Komplexität. In: Texte zur Kunst, 2/1991, S. 89-101 6 http://variablemedia.net. Hierbei handelt es sich um eine Initiative des Guggenheim Museum New York und der Daniel Langlois Foundation for Art, Science, and Technology in Kooperation mit weiteren Instituten wie dem Walker Art Center Mineapolis und der Netzplattform rhizome.org. 7 16 Vgl. http://joachimblank.com/texte/conserve_netart.pdf 17 Bei Flanagan etwa funktioniert [phade] trotz Emulator schneller als bei einem PC, auch die Betriebssysteme 98 und XP sind aus rezeptionsästhetischer Sicht unterschiedlich, obwohl es sich um den gleichen Medientyp handelt. http://variablemedia.net/pdf/Ippolito.pdf 8 Vgl. auch das von Richard Rinehart entwickelte Media Art Notation System (M.A.N.S.), http://www.coyoteyip.com/rinehart_leonardo.pdf 18 9 Bei den Bildern handelt es sich um zufällige Kombinationen von Bild- und Textmaterial aus dem Netz, demnach sekundäre Produkte der eigentlichen künstlerischen Arbeit. 10 Annette Schindler, Ute Vorkoeper, Cornelia Sollfrank, Florian Cramer, Sarah Cook, Verena Kuni, Institut für moderne Kunst e.V. (Jg.): Cornelia Sollfrank, net.art generator: Programmierte Verführung, 2004. Das von Sollfrank festgelegte Motto des Netzkunstgenerators „A smart artist makes the machine do the work“, das bereits von Ute Vorkoeper erweitert wurde zu „A smart artist orders programs which make the user do the work“ kann ein weiteres Mal umgeschrieben werden: „A smart artist orders programs which make the user do the work but gets the honour“. 11 Das VMN spricht hier von „clone“ – oder auch Duplikat – in Abgrenzung zum Original. Vgl. das Glossar zu der Publikation ‚Permanence Through Change: The Variable Media Approach‘, http://variablemedia.net/pdf/Glossary_ENG.pdf 12 Mit der Ausstellung ‚Seeing Double: Emulation in Theory and Practice‘ präsentierte das Solomon R. Guggenheim New York vom 19.03. bis 16.05.2004 eine Auswahl originaler Kunstproduktionen gepaart mit ihren Nachbildungen: http://variablemedia.net/e/seeingdouble 13 Die Netzkünstlerin Mary Flanagan entschied sich bei ihrer Arbeit [phade] sogar für zwei Strategien, Emulation und Migration. Das 1998 entstandene Original war eine Art Bildschirmschoner, der von Flanagan entworfen und zum Download von ihrer persönlichen Hardware angeboten wurde; die ausgestellte, originale Version ist von deren persönlicher Hardware heruntergeladen worden und lief auf einem PC mit Windows 98. Bei der ‚Seeing Double‘ migrierte die Künstlerin [phade], indem sie mit Windows XP arbeitete und emulierte, sodass mittels eines Hardware-Emulators auch die zahlreichen Mac-User bedient wurden. 108 109 Vgl. http://joachimblank.com/texte/conserve_netart.pdf http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Das russische Internet also muss man regelrecht von einem neuen Territorium ausgehen, ohne die alten, aber mit neuen Grenzen.“ (Olja Lialina 2000, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/5/5818/1.html) Nicht unwichtig ist die Tatsache, dass das frühe russische Web überwiegend von Emigranten gestaltet wurde, von Russen, die einerseits den Zugang zu dem neuen und angesehenen westlichen Kommunikationsmedium Internet hatten und andererseits „der alltäglichen Kommunikation in ihrer Muttersprache entbehrten. In ihrer Selbstidentifikation waren sie schon immer in besonderem Maße auf das Feld von Sprache und literarischer Kultur ausgerichtet. Das russische Web war Ersatz für Küchengespräche, Radio und Fernsehen, Treffen auf der Straße oder auf Parties und wurde für sie hiermit ein Ort, an dem sie lauter ‚kleine Russlands‘ errichten konnten.“ (Roman Leibov 2000, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/5/5818/1.html) In Russland fiel die Entwicklung des Internets als eines eigenständigen Massenmediums mit den politischen Ereignissen der 90er Jahre und dem darauffolgenden medialen Wandel zusammen. 1991 zerfiel die Sowjetunion, gleichbedeutend mit dem Ende einer fast 70-jährigen Isolation. Die russische Kultur war nicht mehr zweigeteilt in die landesinterne und die von russischen Emigranten erschaffene. Millionen von ihnen erhielten auf einmal die Möglichkeit zur Rückkehr zu ihren historischen Wurzeln. Nicht viele sind zurückgekommen, um wieder in Russland zu leben, vielmehr entstand eine kontinuierliche Bewegung hin und her zwischen dem Osten und Westen, und das Internet wurde zu dem Medium der Kommunikation und der Erschaffung unterschiedlichster Communities. Kurze Chronologie: In den Jahren 1991-1992 wurde Windows1251 programmiert, eine Kodierung für russische Varianten von Microsoft. Es folgten KOI-8 für Kodierung kyrillischer Buchstaben (Juli 1993) und UTF-8 (Unicode = Standardkodie- Das russische Internet „Es heißt zwar, das Internet hätte keine Grenzen, aber eine Grenze zumindest ist offensichtlich: die sprachliche Grenze. Sprachen ziehen neue Grenzen durch das Internet.“ (Olia Lialina, 2000) Svetlana Auer Die Bezeichnung RUNET setzt sich zusammen aus dem Domain-Namen ‚.ru‘ (für Russisch) und dem Postfix ‚net‘ (Netz), sie entstand in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre, wobei der genaue Ursprung unbekannt ist. Was bedeutet RUNET? So nennen liebevoll die Russen das russischsprachige Segment des Internets. Wohlgemerkt das russischsprachige und nicht das russische – eines der beliebtesten Missverständnisse im westlichen Raum. „Das russische Netz besteht ja nicht nur aus Servern, Providern, Autoren und Künstlern, die in Russland angesiedelt sind. Es handelt sich vielmehr um eine Community von Menschen, die russisch sprechen, schreiben und denken. Diese Menschen leben in Amerika, Israel, Deutschland, Russland, Australien, ehemaligen Sowjetrepubliken und so weiter. In diesem Fall 110 111 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Das russische Internet Screenshot der Seite ‚Glasnet‘ (=Glasnost + Network) aus dem Jahr 1991. Bildquelle: http://www.nethistory. ru/chronology/1043433075.html GlasNet war der erste Internet-Provider in der Sowjetunion (seit 1989). Er wurde gefördert von der amerikanischen ‚Association for Progressive Communications‘ (APC). GlasNet war ursprünglich ein nichtkommerzielles Netz (gemeinnützige Organisation), 1993 wurde es kommerzialisiert. Bildquelle: http://www.mult.ru rung, die Zeichen nahezu aller Sprachen darstellen kann). Das Windows ’95 wies eine allgemein zugängliche Standardkodierung für das Kyrillische – dies ermöglichte das Erschaffen von russischsprachigen Webseiten ohne Ausweichen auf Translit1 wie bisher. Somit stieg die Nachfrage nach dem Internet enorm und rasend schnell. RUNET hörte auf, eine amerikanisierte Technologie zu sein, und begann, eine eigene Spezifik zu entwickeln. Auch von den Usern wurde das RUNET nach und nach nicht mehr als Importprodukt gesehen, sondern als etwas ursprünglich und wahrlich Russisches. Highlight 1: Masjanja als russische Antwort auf Beavis und Butthead? Masjanja (die „niedliche Kleine“) ist die Cyberheldin eines Flash-Zeichentrickfilms, die mittlerweile einen Kultstatus genießt. Es gibt kaum einen RUNET-User, der sie nicht kennt. Zuerst erschien sie auf der Webseite von Oleg Kuvaev im Oktober 2001 und bereits im April 2002 war diese Seite die meist besuchte im Netz mit ca. 30.000 Besuchen pro Tag. Masjanja verführte die User jede Woche zu einem Trip durch den St. Petersburger Alltag. Sie verband Satire mit Melancholie, Poesie und derbem Slang. Aus der Masjanja Komödie wurde allerdings eine Tragödie. Jeden Montag brachte die beliebte Serie die Server zum Zusammenbrechen. Streitigkeiten über die Autorenrechte beendeten die Erfolgsgeschichte im Jahre 2005 (es bestehen jedoch mehrere virtuelle Archive mit allen Serien). Masjanja bewies, dass Kommerz und Urheberrecht nur schwer mit russischer Ethik, Kultur und Kollektivität vereinbar sind. Da der Rahmen meines Beitrags begrenzt ist, werde ich mich auf drei Highlights des RUNET konzentrieren, die exemplarisch die Spannbreite der über zehnjährigen Netzkultur des RUNET skizzieren sollen und die auch dem westlichen User die Mentalität der russischsprachigen User etwas näher bringen können. Mehr Informationen können Sie meiner weiterführenden Linkliste entnehmen.2 112 113 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Das russische Internet Wie ist Masjanja? Sie ist humorvoll und schlagfertig, trägt einen Top und einen Minirock sogar bei Minusgraden und bevorzugt einen „ungesunden“ Lebensstil: Sie trinkt Bier, besucht Nightclubs, raucht, mitunter auch Cannabis, sitzt tageund nächtelang vor dem Bildschirm ihres PCs und surft (und das sehr gekonnt!). Politik interessiert sie nicht. Geld verdient sie mit folgenden, ständig wechselnden Jobs: Zeitungen verkaufen, mit ihrer Rock-Band in Kneipen auftreten, in der SBahn Gitarre spielen, (kostümiert als ein Riesenkaninchen) für Pillen werben, im Radio und Fernsehen auftreten und sogar Passanten nach Geld für ein Eis fragen. Moschkow in Copyright-Auseinandersetzungen: „Unterstützt Lib.ru – Bradbury klagt nicht gegen Moschkow.“ „Gogol klagt nicht gegen Moschkow.“ „Ich klage nicht gegen Moschkow.“ Bildquelle: http://inogda.net/nale/zalibru.html Zitate (eigene Übersetzung): „Oh man, alles ist schlecht: Überall herrscht Krieg, Tod, Dummheit... und wir sitzen hier und trinken...“ “So sitze ich hier allein, traurig und nichts interessiert mich... Nicht mal Cognac... Oder Wurst... Obwohl... Wenn ich es mir genau überlege... Möchte ich sowohl Cognac als auch Wurst, gebt mir die mal beide her…!“ E-Books bietet sie auch diverse „Selbst-schreibe-Portale“ und stellt seit Jahren einen literarischen Lebensquell für Landesregionen und im Ausland ansässige Diaspora. Der Kläger in diesem Prozess, die kostenpflichtige Web Bibliothek lib.km.ru, klagte im Namen populärer AutorInnen (u.a. der bekannten Detektivautorin Alexandra Marinina) gegen kostenfreie Web-Bibliotheken wegen Verletzung der Autorenrechte. Der Klagewert wegen „moralischer Kränkung“ belief sich auf 500.000 Dollar. Juristisch gesehen war der Kläger selbst unvertretbar, denn die lib.km.ru stellt auf ihrer Plattform MP3-Files und Bücher zur Verfügung, die sie im Internet illegal kopiert. Es war der bisher hitzigste Prozess zum Thema RUNET. Im Leseland Russland ist man stolz auf die Größe der russischen Online-Bibliotheken und auf ihre kollektive Nutzung. Eine Unterstützerkampagne im Internet verbreitete sich wie ein Lauffeuer, inklusive Boykott-Aufruf der besagten Seite und eines offenen Briefes an viele AutorInnen. Highlight 2: Der Fall Moschkow – Copyright vs. Kollektiveigentum Im April 2004 lief der Prozess gegen einige kostenfrei zugängliche und gemeinschaftlich organisierte Web-Bibliotheken an. Sie sollen das Copyright missachtet haben. Darunter befand sich auch die des berühmten Maksim Moschkow, der als Vater der russischen Online Bibliotheken gilt. Seine lib.ru ist die größte russische Literaturbibliothek mit einem kostenlosen Angebot sowohl an Klassikern als auch an zeitgenössischen AutorInnen. Sie ist das Pionierprojekt des RUNET und wird als „Flagschiff“ der russischen Netzkultur angesehen. Außer 114 115 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Das russische Internet Das Zentrum des internationalen RUNET-Widerstandes gegen die Kommerzialisierung der Literatur bildete die Live-JournalCommunity. Obwohl nach und nach fast alle Autoren nicht zuletzt wegen des heftigen Web-Widerstandes für eine freie Verbreitung ihrer Bücher im Netz eintraten, waren der Ausgang und die Folgen dieses Prozesses für die digitale „Erfindung Russlands“ (Boris Groys) lange ungewiss. Am 30. März 2005 entschied das Gericht, dass Moschkow eine Summe von 3.000 Rubel an den Autor Gevorkjan (der als einziger unter der Gruppe der Autoren einen Anspruch hatte) zu zahlen hat, wegen „moralischer Kränkung“. Die Klage wegen Verletzung der Autorenrechte wurde abgelehnt. Praktisch zur gleichen Zeit erhielt lib.ru eine Summe von 1.000.000 Rubel, die RosPechat (die staatliche Druckerei) für die Entwicklung der Bibliothek gespendet hatte. Hier ist ein Auszug (eigene Übersetzung): „Wählt Aljona! Lasst uns NEIN sagen zu der Politik des Mainstreams! Verschickt dieses Foto überall hin, soviel ihr könnt! Wir werden siegen! Wir haben das Recht zu entscheiden!!!“ Von den Lesern des Live.Journal wurde angeblich auch Aljonas Support-Webpage http://stopbarbie.org.ru in nur wenigen Stunden erstellt. Bildquelle: http://www.netlore.ru/alena-pisklova letzter Zugriff: 19.12.2007 ihre Anhänger auf einer eilig erstellten Webseite, sei ein flammender Protest gegen die „Barbifizierung“ der Gesellschaft, gegen falsche Gefühle, Lächeln auf Fotos, Schönheitswahn und falsche Pop-Musik, gegen nikotinfreie Zigaretten und koffeinfreien Kaffee, kurz, Aljona stehe für Natürlichkeit und Authentizität, das wahre Leben eben. Die Begeisterung hielt selbst dann noch an, als das Votum für Aljona via SMS kostenpflichtig wurde. Highlight 3: Alena Pisklowa alias Anti-Barbie – vom Werdegang einer Ikone des Individuellen Nach einem kometenhaften Aufstieg hat es Aljona Pisklowa zur Galionsfigur einer russischen Anti-Barbie-Bewegung geschafft. Aljona wäre sogar um ein Haar im Juni 2004 als russische Kandidatin für die Wahl zur Miss Universe nach Quito, Ecuador gefahren und das mit 164 Zentimetern Körpergröße und eher unbarbiehaften Proportionen (90-75100). Aber gerade in dieser Durchschnittlichkeit liegt für ihre Anhänger das Besondere. Bei den Vorausscheidungen für den Cat Walk in Quito, die erstmals in Russland via InternetVotum auf der Seite http://www.miss.rambler.ru abgegeben wurden, erhielt Aljona in wenigen Tagen 10.000 Hits, so der Veranstalter Rambler. Für Aljona zu stimmen, so erläuterten Der Veranstalter löste die Situation so, dass Aljona wegen ihres Alters (mit 15 Jahren 3 Jahre zu jung für die MissWahlen) nicht weiter als in das Halbfinale kam. Sie erhielt den Preis der Zuschauer-Sympathien. Im RUNET ist nachzulesen, dass ein Beitrag auf LiveJournal.com (einem Blog-Server, der aktuell knapp über eine Million russisch-sprachige User listet) für dieses Massenphänomen und den Riesenskandal im RUNET gesorgt hat. 116 117 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Das russische Internet „Das russische Internet hat sich zu seinem 10. Geburtstag gleich mit zwei großen Skandalen (Moschkows OnlineBibliothek-Prozess und Pisklowas Kandidatur und SupportKampagne bei den Misswahlen) selbst beschert, die seine Lebendigkeit unter Beweis und auf die Probe stellen. Nach gut einem Jahrzehnt der Formierung ist das Runet in der weltweiten Realität des Copyrights und des Kommerzes endgültig angekommen. Auf der einen Seite stehen die Attacken der kommerziellen Literatur- und Kulturanbieter, die versuchen, private Initiativen aus dem Netz zu verdrängen oder durch Werbestrategien zu marginalisieren. Auf der anderen Seite formiert sich der Widerstand gegen die wachsenden Kommerzialisierungstendenzen. […] Angesichts seines Schattendaseins bis Ende der 90er Jahre ist das Widerstandspotential gerade des russischen Internet noch lange nicht erschöpft. Im Gegenteil: Mit der wachsenden Anzahl von Usern und der steigenden Popularität vergrößern sich sowohl die Möglichkeiten als auch die Notwendigkeiten der Schaffung von Gegenöffentlichkeiten, siehe dazu insbesondere die Arbeiten des russischen Internet-Forschers Jewgeni Gorny, die zum Teil auch in englischer Sprache (http://www.zhurnal.ru/staff/gorny/english) vorliegen. Ob diese in Zukunft auch stärker an gesellschaftspolitische Zielsetzungen geknüpft sein werden, bleibt abzuwarten. Die zur Zeit laufenden Diskussionen zum Thema Copyright könnten durchaus richtungsweisend sein.“ (Henrike Schmidt/Katy Teubener, 2004. Schmidt/Teubener leiten ein von der Volkswagen-Stiftung gefördertes Forschungsvorhaben zum Thema der kulturellen Identitätsbildung im russischen Internet, zu finden unter http://www.Russian-Cyberspace.com) Bildquelle: http://stopbarbie.org.ru letzter Zugriff: 19.12.2007 Wie man sieht, lassen sich die russischen User für eine breite Palette an Thematiken begeistern, insbesondere, wenn diese einen Protest gegen feste Normen, das Establishment, die westliche Kommerzialisierung oder den Mainstream bedeuten, kurzum, einen wie auch immer gearteten revolutionären Inhalt haben. Erfahrungsgemäß sind Russen mit einem Internet-Zugang sozial äußerst aktiv. Die Geschichte des Landes, aber auch persönliche Erfahrungen lassen viele Russen das Internet als wichtiges Instrument der demokratischen Entwicklung wahrnehmen. Der Computerbildschirm wird für sie ein Fenster zur Welt. Die Menschen begreifen: Im Gegensatz zu den traditionellen Medien ist es sehr schwierig, dem Internet einen fremden Willen aufzuzwingen oder „es an die Kette zu legen“. Und ihrerseits suchen die im Ausland lebenden ehemaligen Sowjets die Kommunikation mit ihresgleichen, sowohl in der neuen als auch in der alten Heimat. 118 119 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Russion-Cyberspace.com versucht, den Schleier um das RUNET mit einer wissenschaftlichen Präzision und Neutralität zu lüften. Für mich persönlich auch in Bezug auf die technische Ausführung ein eindeutiger (und so viel ich weiß, einziger) Vorreiter, da diese Seite trilingual aufgezogen ist – d.h., alle Texte sind alternativ Russisch, Englisch und Deutsch auswählbar. In Bezug auf unser Thema bietet das auch einem deutschsprachigen User eine einzigartige Möglichkeit, sich über das RUNET zu informieren. Darin sehe ich einen zukunftsweisenden Trend, später durchaus auch für das gesamte RUNET und andere sprachliche Exoten, die zur „Netz-Völkerverständigung“ führen könnten. Tactical Media Daniel Hirsch Kulturgeschichtlich kann man die Entwicklung von RUNET zum Teil von der des westlichen World Wide Web ableiten. Jedoch werden auf uns alle immer wieder neue Überraschungen warten, denn die russische Mentalität wird immer die Flammen um die sagenumwobenen Differenzen zwischen Ost und West schüren. 1 Translit ist eine Methode, um kyrillische Schrift mit lateinischen Buchstaben darzustellen. Da die meiste Computerhardware und -software an der englischen Sprache orientiert war und die Zeichenkodierung oft sogar inkompatibel zur kyrillischen Sprache, war Translit die einzige Möglichkeit, um in der kyrillischen Muttersprache (z.B. Russisch, Ukrainisch, Weißrussisch, Bulgarisch) zu kommunizieren. Weiterführender Link: http://de.wikipedia.org/wiki/Translit 2 Weiterführende Weblinks: http://en.wikipedia.org/wiki/Runet – Runet und seine Chronologie http://www.mult.ru – Zeichentrickfilm-Site mit allen Masjanja-Serien http://www.livejournal.com/community/za_lib_ru/35779.html#cutid1 – Banner ‚Für Lib.ru‘ http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/145/30115/ – Über Aljona Pisklowa (auch http://www.google.de) http://www.russian-cyberspace.org – Forschungsprojekt Russisches Internet Unter dem Begriff Tactical Media hat sich innerhalb der letzten Jahre ein Kanon aus Praktiken entwickelt, der entlang den Schnittstellen von Politik, Kunst, Theorie und Aktivismus, Medien und Gesellschaft kritisch hinterfragt. Insbesondere durch die rasante Weiterentwicklung und die massenhafte Verbreitung von Medientechnik und Internet haben medienkritische Kunstaktionen einen entscheidenden Auftrieb erhalten. Der australische Medienwissenschaftler Graham Meikle hat das Thema Tactical Media mit einem Politikmodell von Michael Margolis und David Resnick in Zusammenhang gebracht, das die politischen Phänomene des Internets beschreibt. Dabei unterscheiden Resnick/Margolis zwischen „Intra-Net Politics“, also denjenigen Regeln, die das Verhalten und Auftreten im Internet regeln und bestimmen, „Politics that Affects the Net“, solchen Politiken, die zwar in der realen Welt stattfinden, aber durch ihre Existenz das Internet in seiner Form als solches nachhaltig beeinflussen und „Political 120 121 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Tactical Media Use of the Net“. Margolis/Resnick verstehen unter dieser Kategorie jeden Versuch, mit vernetzten Computern sozialen oder kulturellen Wandel in der Offline-Welt zu bewirken. Es handelt sich dabei also um eine Politik, die von innen nach außen heraus zu wirken sucht. Neben politischen Parteien, NGOs und sozialen Bewegungen, die das Netz nutzen, um ihre Anliegen voranzutreiben, ist diese Form der Internetnutzung auch Ansatz der Tactical Media. Per Selbstdefinition versteht sich Tactical Media als „critical usage and theorization of media practices that draw on all forms of old and new, both lucid and sophisticated media for achieving a variety of non-commercial goals and pushing all kinds of potentially subversive political issues.“1 Tactical Media verfolgt also grundsätzlich immer nichtkommerzielle und politische Ziele, wie dies u.a. auch soziale Bewegungen tun. Die Medientheoretiker Geert Lovink und David Garcia beschreiben Tactical Media als Ausdrucksform von Gruppen oder Individuen, die sich von der „wider culture“ ausgeschlossen oder gekränkt fühlen. Doch im Gegensatz beispielsweise zur Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er Jahre ist Tactical Media nicht Ausdrucksform einer Bewegung in einer institutionalisierten Organisationsform, sondern vielmehr das Ergebnis von kleinen temporären Koalitionen, die sich finden, um gegen bestimmte Themen gezielt vorzugehen und Kampagnen ins Leben zu rufen. Dabei spielt auch die Verschiedenartigkeit der Tactical Media Praktizierenden eine große Rolle. Tactical Media-Koalitionen können sich beispielsweise aus Künstlern, Wissenschaftlern, Technikern, Aktivisten usw. zusammensetzen und bekommen dadurch einen hybriden Charakter. In diesem Licht können auch politische Netzkunstarbeiten wie Female Extension (1997) der Künstlerin Cornelia Sollfrank _S. 52 (Artschwager) gesehen werden, mit der die Geschlechterdiskrimminierung im Kunstbetrieb thematisiert wurde. Bei der Programmierung von Sollfranks Netzkunstgenerators, mit dem sie massenhaft Netzkunst anfertigte, um sie unter den fiktiven Identitäten mehrerer Dutzend Frauen bei einem Wettbewerb einzureichen, arbeitete sie mit einem Programmierer zusammen. Ein wichtiger Unterschied zu sozialen Bewegungen besteht auch darin, dass sich die Veranstalter von Tactical Media nicht zwangsläufig als Sprachrohr der Benachteiligten sehen oder selbst von einem Missstand betroffen sein müssen, sondern lediglich Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken wollen. Bedingt durch ihren temporären Charakter ist Tactical Media außerdem nicht das, was man landläufig unter ‚Alternative Media‘ oder ‚Indymedia‘ versteht. Alternative Medien sind in der Regel mittel- bis langfristig angelegte Medienprojekte, die durch die Schaffung einer Alternativöffentlichkeit versuchen, auf bestimmte Missstände aufmerksam zu machen. Neben dem Aspekt der Langfristigkeit unterscheidet sich Tactical Media ganz grundlegend zur Alternative Media in der Akzeptanz der Massenmedien als Kommunikationskanal. Es geht vielmehr darum, mit oder durch die selbst veranstalteten Aktionen in den Massenmedien aufzutauchen, um auf Probleme aufmerksam zu machen, statt eigene Medien zu schaffen, die kein Gehör finden. Besonders deutlich wird dieser Punkt in den Praktiken des Culture Jammings, einer Seitenrichtung der Tactical Media, die als selbstreferentiell bezeichnet werden kann, da sie ausschließlich Massenmedien und das von ihnen transportierte Bild der Welt kritisch thematisiert. Trotz dieser formalen Unterschiede komplementieren sich die Methoden von Culture Jamming, Alternative Media, Tactical Media und 122 123 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Tactical Media Aktionen, wie wir sie von sozialen Bewegungen kennen, häufig in konkreten Kampagnen. Im speziellen bei medienkritischen Projekten ist es für Tactical Media Praktizierende nicht immer einfach, Eingang in die Massenmedien zu finden. Daher müssen Möglichkeiten schnell erkannt werden, um die klassische Berichterstattung zu unterminieren. Die Natur der Tactical Media ist daher eine flexible und mobile, die schnell handeln muss. Man spricht in diesem Zusammenhang auch von Kommunikationsguerilla. Der Begriff der Kommunikationsguerilla steht für ein Handeln, das dadurch bestimmt ist, dass es nur kurzzeitig als solches sichtbar ist und ebenso schnell verschwindet, wie es aufgetaucht ist. Darin liegen auch die ephemere Natur und der performative Charakter der Tactical Media begründet, die nach dem Ende einer Aktion meist nur in der Erinnerung der Beteiligten weiterlebt. das Internet haben ein Instrumentarium geschaffen, das die Möglichkeiten für Tactical Media exorbitant vergrößert hat. Gerade das Internet erlaubt es, ohne hohen finanziellen Aufwand, effizient auf der ganzen Welt durch die Nutzung neuer „Möglichkeitsräume“3 Informationen im Sinne einer Kampagne der Tactical Media zu verbreiten. So wurde beispielsweise die Gruppe The Yes Men mit einer Kopie der Homepage der WTO (World Trade Organization) bekannt, die sie mit abgeändertem und vollkommen überzogenem Inhalt auf der von ihnen registrierten Domain gatt.org (nach dem General Agreement of Tariffs and Trade) veröffentlichten. Trotz des absurden Inhalts wurden sie wiederholt und über Jahre hinweg zu Interviews und als scheinbare Redner der WTO auf Konferenzen eingeladen. The Yes Men greifen in dieser Aktion – dem Kopieren der Homepage und dem Auftreten als WTO-Redner – die Elemente der Récupération, auch Camouflage genannt4, sowie des Détournement aus der Philosophie der Situationisten auf. Als Détournement wird eine Nutzung bereits existierender ästhetischer Elemente in einem neuen Kontext bezeichnet, in dem diese meist satirisch-parodistische Züge bekommen. Dies war beispielsweise beim Kopieren der WTO-Homepage der Fall. Das NichtErkennen der Homepage als Fake und die daraus resultierenden Einladungen ermöglichten in diesem Fall den Einsatz der Recuperation, die als Gegenteil des Détournement verstanden werden kann. Der Gedanke hier ist, sich auf bestehende Systeme einzulassen, um ohne Bedrohung durch das System zu Stärke kommen zu können und von innen heraus zurück zu schlagen. So taten es auch die Yes Men, indem sie als Vertreter der WTO anreisten und sich erst während ihrer Rede auf den Konferenzen als Aktivisten zu erkennen gaben. Übervater des Gedankens eines taktischen Handelns ist der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau. Der Begriff der Taktik, wie er als integraler Bestandteil des selbst gegebenen Namen Tactical Media Einzug findet, wird direkt von ihm übernommen. Im Gegenzug zur Strategie definiert er die Taktik als ein berechnendes Handeln, dass durch das Fehlen eines eigenen Ortes charakterisiert ist. Deshalb muss durch temporäre Lücken im System des Gegners, beispielsweise dem System Medien, dessen Terrain unterminiert werden, um von dort aus zu agieren2. Mit dem Fortschritt der Technik ist es für Tactical Media Praktizierende in den letzten Jahrzehnten immer einfacher geworden, alternative Propaganda durch diese Lücken, wie de Certeau sie beschreibt, zu verbreiten. Kopierer, Camcorder, Bildbearbeitungsprogramme und nicht zuletzt 124 125 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Tactical Media Die Nutzung von Détournement und Récupération wenden sich gegen das Spektakel, eine der zentralen Vorstellungen der Situationisten. Guy Debord, einem Gründungsmitglied der Situationistischen Internationalen zufolge ist das Spektakel „die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung über sich selbst hält, ihr lobpreisender Monolog“5. Eine Scheinwelt aus Werbung, Klischees und Propaganda, die reales Erleben durch repräsentierende Zeichen ersetzt, die dem Grunde nach inhaltslos sind. Auch die Medien folgen mit ihrem Programm diesem Prinzip, der Repräsentation des Spektakels, nach dem Motto: „Was erscheint, ist gut, was gut ist, erscheint.“6 Dadurch ist aber ein gesellschaftlicher Fortschritt ausgeschlossen. Wenn Nachrichten nur dem Kanon der Simulation des Spektakels entspringen, sind Geschichte und Zeit wie gelähmt7. Das mächtige Subjekt, wie De Certeau es beschrieben hat, kann im Fall der Tactical Media mit dem Spektakel gleichgesetzt werden. Die Aufgabe der Tactical Media kann also als die Schaffung einer Art von AntiSpektakel verstanden werden, um Geschichte und Zeit wieder in Gang zu bringen, oder wie Lassn es beschreibt, wenigstens „den Strom des Spektakels so lange anzuhalten, bis man sein System neu eingestellt hat“8. In diesem Kontext verwundert es kaum, dass häufig eine Kriminalisierung von Tactical Media stattfindet. Inwiefern die von Tactical MediaPraktizierenden selbst genutzte Kriegsrhetorik, beispielsweise im Zusammenhang mit Aktionen wie dem ‚toywar‘ der Künstlergruppe etoy _S. 42 (Becker), mit-/verantwortlich ist, sei dahingestellt. sifizieren. Diese sind in erster Linie Aneignung, Desinformation, Collage und ironische Inversion. Die beiden erstgenannten bilden die Kategorie der Camouflage. Sie funktionieren nur, wenn sie nicht sofort als Subversion durch das Spektakel verstanden werden. Die Taktik der Aneignung gibt sich dabei solange als Teil des Spektakels aus, bis sie sich in diesem etabliert hat, um anschließend das System mit der ihr durch das System selbst verliehenen Macht zurück zu schlagen. Die Taktik der Desinformation setzt eher darauf, das System außer Gefecht zu setzen, indem es dieses mit falschen Informationen versorgt oder mit Informationen, welche für die Ordnung des Systems eine Gefährdung darstellen. Durch die verursachte Ablenkung des Spektakels können dann die eigenen Ziele vorangetrieben werden. Die Taktiken des Détournement können im Gegensatz dazu von Anfang an als Subversion auftreten. Die Taktik der Collage stellt dabei die Nebeneinanderstellung von Symbolen des Spektakels mit dem Inhalt der Tactical Media dar. Die ironische Inversion und die Übertreibung karikieren die Symbole des Spektakels und versuchen diese unglaubwürdig erscheinen zu lassen. Etwas nüchterner als vom „Kampf gegen das Spektakel“ spricht Arns, wenn sie beschreibt, dass es darum ginge, bestimmte versteckte Strukturen wieder sichtbar zu machen oder etwas „rückzuführen“. Im Prinzip meint Arns genau dasselbe wie ein Culture Jammer, wenn er davon spricht, ein durch das Spektakel belegtes Zeichen zurück erobern zu wollen: „Netzkulturelle Projekte, die sich mit den politischen und ökonomischen Strukturen des Internets auseinandersetzen und diese hinterfragen, lassen die Transparenz informationstechischer Strukturen opak werden. Das Sichtbarmachen eigentlich unsichtbarer, postoptischer Strukturen bedeutet lediglich die Rückführung des informatisch definierten Die dichotomische Unterscheidung zwischen Recuperation und Détournement eignet sich weiter hervorragend dazu, die wesentlichen Wirkungsstrategien der Tactical Media zu klas- 126 127 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Tactical Media Begriffs der Transparenz (= Durchsichtigkeit des Interface, Information Hiding) in seine ursprüngliche Bedeutung von Übersichtlichkeit, Klarheit und Kontrollierbarkeit durch Einsehbarkeit.“9 Generell lässt sich sagen: Wenn es um die Transparentmachung von Transparenz geht, hat Tactical Media, die über das Internet zu wirken sucht, den entscheidenden Vorteil, mit diesem über einen Kommunikationskanal zu verfügen, der gewissermaßen als Erfüllung der Brechtschen Vision eines Kommunikationsapparates die Massenkommunikation auch tatsächlich umkehren kann. Die neuen Formen der Tactical Media, die das Internet ermöglicht, werden meist unter den Begriff Hacktivismus untergeordnet – oft ungeachtet der Tatsache, ob es sich dabei um Beispiele der Tactical Media oder eines normalen Hacks handelt. Inke Arns weist hier auf das Phänomen der Netzkulturen hin, die ganz unterschiedliche Interessengruppen sind und alle gemäß ihrer Gruppenethik das Netz „nichtmajoritär“ nutzen.10 Vermutlich ist diese nicht-majoritäre Nutzung als Gemeinsamkeit der an sich autonomen Netzkulturen – im Gegensatz zu einer majoritären Nutzung, wie beispielsweise dem E-Commerce – der Grund, den Begriff Hacktivismus grob und undifferenziert zu betrachten. Dass Hack nicht zwangsläufig ein negativ belegtes Wort sein muss, wurde bereits in verschiedenen Zusammenhängen erörtert. Der Cultural Studies-Professor McKenzie Wark beschreibt den Hack in seinem ‚Hacker Manifest‘ gar als gesellschaftlichen Innovationsmotor. Im Zusammenhang mit Tactical Media beschreibt der Begriff Hacktivismus eine Reihe von neuartigen Vorgehensweisen, die durch Hacks möglich werden und der Verbreitung und Durchführung politischen Aktivismus dienen, etwa durch die Nutzung der graphischen und multimedialen Möglichkeiten sowie textbasierten An- wendungen des Netzes. Mögliche Vorgehensweisen des Hacktivismus können so verschiedene Praktiken umfassen, die von einfachen Shut-Downs bestimmter Seiten bis zu Graffiti-Hacks, also Eingriffen in die Oberfläche fremder Homepages reichen. Viele dieser Methoden genießen jedoch auch in der Tactical Media-Szene einen zweifelhaften Ruf, da es sich hierbei eher um Cracks als um Hacks handelt; also um solche Hacks, die das System des Gegners nachhaltig beschädigen können. Arns trifft im Zusammenhang von Tactical Media und Hacktivismus die hilfreiche Unterscheidung zwischen einem so genannten „ermöglichenden Gebrauch“ und einem „blockierenden Gebrauch“.11 Während es um den ermöglichenden Gebrauch, also die zur Kommunikation vernetzenden Möglichkeiten des Internets und deren Nutzung, innerhalb der Tactical Media-Szene kaum Streitigkeiten gibt, steht man den Praktiken des blockierenden Gebrauchs oft eher kritisch gegenüber. So schlägt Lassn lediglich den virtuellen Sit-in als einzige blockierende Maßnahme im Zusammenhang mit dem Internet vor.12 Der virtuelle Sit-in wurde Anfang der 1990er Jahre vom Critical Art Ensemble unter dem Titel Electronic Civil Disobedience (also elektronischer bürgerlicher Ungehorsam) als neue Aktivismusform erdacht, aber erst gegen Ende des Jahrzehnts erstmals umgesetzt. Wie der reale Sit-in durch das Blockieren öffentlicher Gebäude durch Aktivisten den Zugang erschwert, verursacht der virtuelle Sit-in Zugriffsschwierigkeiten auf eine bestimmte Homepage, die Ziel der Attacke ist. Durch eine Überforderung des Servers, beispielsweise durch das automatisierte und wiederholte Anwählen nicht vorhandener URLs auf einer Homepage, oder das massenhafte Versenden von Emails ist ein Zugang zur angegriffe- 128 129 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Tactical Media nen Homepage nur mit sehr langen Wartezeiten oder auch gar nicht möglich. Der Vorteil eines virtuellen Sit-ins besteht seinem realen Vorgänger gegenüber darin, dass er keine physische Präsenz der Teilnehmer erfordert und so grundsätzlich jeder Mensch auf der Welt, der mit einem Internetzugang ausgestattet ist, teilnehmen kann. Gleichwohl finden Probleme, die bei einem Sit-in in der realen Welt auftreten können, ihre virtuelle Entsprechung: So kann die Bandbreite für alle User unter dem Sit-in leiden und zu längeren Wartezeiten für viele User führen, wie in der realen Welt beispielsweise Staus verursacht werden können. Und genauso wie man in der realen Welt von der Polizei registriert werden könnte, kann es passieren, dass die IP-Adressen der Rechner durch staatliche Organisationen registriert werden.13 1 Definition aus CAE 2001, S. 5. 2 deCerteau 1988, S. 89. 3 Arns 2002, S. 43. 4 Autonome A.F.R.I.K.A. Gruppe 2003, S. 98. 5 Debord 1996, S. 21f. 6 Wie Anm. 5, S. 17. 7 Wie Anm. 5, S. 139. 8 Lassn 2005, S. 115. 9 Arns 2005, S. 442. Hervorhebung im Original. 10 Arns 2002, S. 42ff. 11 Wie Anm. 10, S. 44. 12 Lassn 2005, S. 134. 13 Meikle 2002, S. 143f. Literaturverzeichnis: Arns, Inke (2002): This is not a toy war. Politischer Aktivismus in Zeiten des Internet, in Münker, Stefan/Roesler, Alexander (Hrsg.): Praxis Internet. Kulturtechniken der vernetzten Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp Arns, Inke (2005): Netzkulturen im postoptischen Zeitalter, in: Schade, Siegrid/Sieber, Thomas/Tholen, Georg Christoph (Hrsg.): SchnittStellen. Basler Beiträge zur Medienwissenschaft, Basel: Schwabe, S. 429-444 Critical Art Ensemble (2001): Digital Resistance. Explorations in Tactical Media, New York: Autonomedia Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin: Edition Tiamat DeCerteau, Michel (1988): Die Kunst des Handelns, Berlin: Merve Lassn, Kalle (2005): Culture Jamming. Die Rückeroberung der Zeichen, Freiburg: Orange Press Margolis, Michael/Resnick, David (2000): Politics as usual. The cyberspace „revolution“, Thousand Oaks: Sage Publications Meikle, Graham (2002): Future Active. Media Activism and the Internet, New York: Routledge 130 131 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar Appropriation Art Appropriation Art [...] ist eine Ausdrucksform des zeitgenössischen künstlerischen Schaffens. Sie wird meist der Konzeptkunst zugeordnet, weil das Verständnis der zugrunde liegenden Überlegungen und Theoreme wichtig für ihr Verständnis ist. Im engeren Sinn spricht man von Appropriation Art, wenn Künstler bewusst und mit strategischer Überlegung die Werke anderer Künstler kopieren, wobei der Akt des Kopierens und das Resultat selbst als Kunst verstanden werden sollen (andernfalls spricht man von Plagiat oder Fälschung). Glossar Dieses Glossar basiert, soweit nicht anders angemerkt, auf den „Freien Inhalten“ GNU in der deutschen und englischen Version der Online-Enzyklopädie Wikipedia (http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite, http://en.wikipedia.org/wiki/Main_Page; 11.04.2008, 18:00 UTC). Es sind Zitate der einzelnen Artikel-Expositionen und dienen einer anfänglichen Verständlichkeit vor allem bei einer OfflineNutzung des Shortguides. Ars Electronica Die Ars Electronica wurde am 18. September 1979 im Rahmen des internationalen Brucknerfestes als verbindendes Festival von Technologie, Kunst und Gesellschaft gemeinsam mit der ersten Linzer Klangwolke und der Musik von Bruckners achter Symphonie eröffnet. Aktivist, Als Aktivist [...] wird eine Person bezeichAktivismus net, die ohne finanziellen Anreiz, also aus innerer Überzeugung oder aus persönlichen Motiven, in besonders intensiver Weise, mit Aktivismus, für die Durchsetzung bestimmter Ziele eintritt. Algorithmus Unter einem Algorithmus versteht man allgemein eine genau definierte Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder einer bestimmten Art von Problemen in endlich vielen Schritten. [...] Algorithmen sind eines der zentralen Themen der Informatik und Mathematik. In Form von Computerprogrammen und elektronischen Schaltkreisen steuern sie Computer und anderen Maschinen. ASCII American Standard Code for Information Interchange [...] ist eine 7-Bit-Zeichenkodierung und bildet die US-Variante von ISO 646 sowie die Grundlage für spätere mehrbittige Zeichensätze und -kodierungen. Avatar Ein Avatar ist eine künstliche Person oder ein grafischer Stellvertreter einer echten Person in der virtuellen Welt, beispielsweise in einem Computerspiel. 132 133 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar Browser, Webbrowser [...] ([dt.:] „Durchstöberer“, browsen „Blätterer“) sind spezielle Computerprogramme zum Betrachten von Webseiten im World Wide Web. Das Durchstöbern des WWWs respektive das aufeinanderfolgende Abrufen beliebiger Hyperlinks als Verbindung zwischen Web-seiten mit Hilfe solch eines Programms wird auch als Internetsurfen bezeichnet. sches Buch) versucht im weitesten Sinne, das Medium Buch mit seinen medientypischen Eigenarten in digitaler Form verfügbar zu machen. Flash- Adobe Flash [...] (kurz Flash, ehemals Animationen, Macromedia Flash [...]) ist eine proprietäre Adobe Flash integrierte Entwicklungsumgebung zur Erstellung multimedialer Inhalte, so genannter „Flash-Filme“. Camouflage Camouflage, also known as cryptic coloration or concealing coloration, allows an otherwise visible organism or object to remain indiscernible from the surrounding environment. Frame Ein Frame ist ein verschiebbarer Teilbereich einer HTML-Seite, in dem eine andere HTML-Seite dargestellt werden kann. Das einzelne Segment wird dabei als Frame ([dt.:] Rahmen) bezeichnet, die Definition aller Frames als Frameset. Culture Jamming Culture jamming is a resistance movement to cultural hegemony and the homogenous nature of popular culture, executed by means of guerrilla communication. The movement is a form of public activism which is generally in opposition to commercialism, and the vectors of corporate image. GNU-Lizenz für Die GNU-Lizenz für freie Dokumentation freie [...] ist eine der gebräuchlichsten Lizenzen Dokumentation für so genannte Freie Inhalte. [...] Wenn ein Urheber bzw. Copyrightinhaber (Lizenzgeber) ein Werk unter diese Lizenz stellt, bietet er damit jedermann weitgehende Nutzungsrechte an diesem Werk an: Die Lizenz gestattet die Vervielfältigung, Verbreitung und Veränderung des Werkes, auch zu kommerziellen Zwecken. Im Gegenzug verpflichtet sich der Lizenznehmer zur Einhaltung der Lizenzbedingungen. Diese sehen unter anderem die Pflicht zur Nennung des Autors bzw. der Détournement In détournement, an artist reuses elements of well-known media to create a new work with a different message, often one opposed to the original. E-Books Ein E-Book (auch "eBook" oder "ebook", von engl. electronic book), selten eingedeutscht E-Buch oder eBuch (von elektroni- 134 135 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar Autoren vor und verpflichten den Lizenznehmer dazu, abgeleitete Werke unter dieselbe Lizenz zu stellen (CopyleftPrinzip). Hard Edge Hard Edge [...] ist eine Form und Stilrichtung der Malerei in der Bildenden Kunst, die ab 1958 durch den US-amerikanischen Kunstkritiker Jules Langsner ihren Namen bekam. Langsner hat den Begriff im Zusammenhang mit einer von ihm im Sommer 1959 organisierten Ausstellung im Los Angeles im County Museum verwendet, um damit die besondere nichtfigürliche (abstrakte) Darstellung zu kennzeichnen. Hacker, Hacker hat [...] mehrere Bedeutungen. Das Hacktivismus Wort wird alltagssprachlich gebraucht, um jemand zu bezeichnen, der über ein Netzwerk unerlaubt in fremde Computersysteme eindringt und zugleich Teil einer entsprechenden Subkultur ist. In engerem Sinne gebrauchen seit den 1950er Jahren weitere Subkulturen den Ausdruck zur Selbstbezeichnung. Gemeinsames Merkmal ist dabei, dass ein Hacker ein Technikenthusiast ist, der umfangreiche technische, vor allem computertechnische Grundlagenkenntnisse besitzt. In einem übergreifenden Sinn umfasst Hacker Personen, die mit ihren Fachkenntnissen eine Technologie beliebiger Art außerhalb ihrer normalen Zweckbestimmung oder ihres gewöhnlichen Gebrauchs benutzen. Host Als Host [...] wird in der Informationstechnik ein Computer in einem Netzwerk bezeichnet, auf dem ein oder mehrere Server betrieben werden. Aus diesem Zusammenhang heraus werden Hosts umgangssprachlich häufig auch als Server bezeichnet. HTML, Die Hypertext Markup Language (HTML Hypertext [...]), oft auch kurz als Hypertext bezeichnet, ist eine textbasierte Auszeichnungssprache zur Strukturierung von Inhalten wie Texten, Bildern und Hyperlinks in Dokumenten. Happening Das Happening ist neben Fluxus eine der wichtigsten Formen der Aktionskunst der 1960er Jahre. Kurz gesagt ist Happening eine Art von Improvisation direkt vor dem Publikum, bei dem unterschiedlich auf das Publikum reagiert und eingegangen wird. Hyperlinks Als Hyperlink [...], auch kurz Link (engl. für Verknüpfung, Verbindung, Verweis), bezeichnet man einen Verweis auf ein anderes Dokument innerhalb eines Hypertextes, der automatisch durch das „Hypertextsystem“ verfolgt werden kann. 136 137 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar Interface Die Schnittstelle oder das Interface ([...] englisch „Grenzfläche“) ist der Teil eines Systems, der der Kommunikation dient. Der Begriff stammt ursprünglich aus der Naturwissenschaft und bezeichnet die physikalische Phasengrenze zweier Zustände eines Mediums. Er beschreibt bildhaft die Eigenschaft eines Systems als Black Box, von der nur die „Oberfläche“ sichtbar ist, und daher auch nur darüber eine Kommunikation möglich ist. Zwei benachbarte black Boxes können nur miteinander kommunizieren, wenn ihre Oberflächen „zusammenpassen“. punktuelle Operationen bemüht, auf den Bereich von Information und Kommunikation übertragen. Lemniskate Eine Lemniskate ist die Figur einer liegenden 8 (∞). Diese Figur ist als Symbol für Unendlichkeit und Unbegrenztheit bekannt. Lightgun Eine Lightgun ist ein Eingabegerät für Videospiele. [...] [Sie] sind ballistischen Waffen nachempfunden (meist Pistolen oder Bazookas) und dienen dem Zweck, Objekte auf einem Bildschirm ins Visier zu nehmen. [...] Die bekannteste Lightgun ist Nintendos Zapper Gun für das Nintendo Entertainment System, jedoch erschienen auch Geräte für Sony PlayStation, Sega Master System, Sega Saturn, Sega Dreamcast, Magnavox Odyssey, XBox und viele andere Plattformen. IP-Adresse Eine IP-Adresse (Internet-ProtocolAdresse) dient zur eindeutigen Adressierung von Rechnern und anderen Geräten in einem IP-Netzwerk. [...] Allen am Internet teilnehmenden Rechnern wird eine IP-Adresse zugeteilt. Die IP-Adresse entspricht funktional der Telefonnummer in einem Telefonnetz. Link Als Hyperlink, auch kurz Link (engl. für Verknüpfung, Verbindung, Verweis), bezeichnet man einen Verweis auf ein anderes Dokument innerhalb eines Hypertextes, der automatisch durch das „Hypertextsystem“ verfolgt werden kann. Kommunika- Kommunikationsguerilla (auch Informatitionsguerilla onsguerilla, Medienguerilla) ist eine Form des Aktivismus (bzw. eine Gruppe oder Bewegung, die sich dieser Form bedient), bei der gezielt Information bzw. Desinformation eingesetzt wird, um Ziele zu erreichen. Dabei wird die klassische GuerillaTaktik, die sich um möglichst effektive 138 139 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar Meta-Tags Meta-Tags sind (versteckte) HTML-Elemente auf einer Webseite, die Metadaten über das betreffende Dokument enthalten. Performance Performance [...] ist eine Form der Aktionskunst seit etwa 1960. [A]ls künstlerisches Medum überwindet [sie] Auffassungen, nach denen nur dauerhafte, werthaltigen, beliebig verschiebbare und verkäufliche Objekt relevante Kunst seien. Performance ist situationsbezogen, handlungsbetont und vergänglich. net.art [a.] net.art is a group of artists who worked in internet art from 1994. The members are usually referenced as Vuk Cosic, Jodi.org, Alexei Shulgin, Olia Lialina, Heath Bunting. This group was united as a parody of avantgarde movements by writers such as Tilman Baumgärtel, Josephine Bosma, Hand Dieter Huber and Pit Schultz but their individual works have little in common. [b.] net.art is also used as a synonym for net art or internet art and covers a much wider range of artistic practices. In this wider definition, net.art means art that uses the internet as its medium and that cannot be experienced in any other way. Often net.art has the internet as (part of) its subject matter but this is certainly not required. Provider Internetdienstanbieter oder auch Internetdiensteanbieter (engl.: Internet Service Provider, abgekürzt ISP), im deutschsprachigen Raum auch oft nur Provider, weniger häufig auch nur Internetanbieter genannt, sind Anbieter von Diensten, Inhalten oder technischen Leistungen, die für die Nutzung oder den Betrieb von Inhalten und Diensten im Internet erforderlich sind. Rekuperation [Unterkategorie Kultur] In der Politik Recuperation bezeichnet Rekuperation die Reintegration eines einstmals revolutionären Ansatzes in den Mainstream, in welchem er als affirmierendes Moment weiterexistiert. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff von der Künstlergruppe Situationistische Internationale S.I. definiert als „Vereinnahmung rebellischer Tendenzen durch das, gegen das eigentlich rebelliert wird“. NGO Eine Nichtregierungsorganisation (NRO), d.h. eine nichtstaatliche Organisation, (engl. non-governmental organization, abgekürzt NGO) ist eine nicht auf Gewinn gerichtete, von staatlichen Stellen weder organisierte noch abhängige Organisation. 140 141 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar Rhizom Rhizom [...] ist der Bezeichnung für Wurzelgeflechte (Rhizome) von Pflanzen abgeleitet. Bei Deleuze und Guattari dient er als Metapher für ein postmodernes beziehungsweise poststrukturalistisches Modell der Wissensorganisation und Weltbeschreibung, das ältere, durch eine BaumMetapher dargestellte, hierarchische Strukturen ersetzt. Kontaktaufnahme eines ClientProgrammes wartet und nach Kontaktaufnahme mit diesem Nachrichten austauscht. Die Kommunikation erfolgt dabei nach dem sogenannten ClientServer-Modell. Die Regeln, die das Format sowie die Bedeutung der zwischen Server und Client ausgetauschten Nachrichten bestimmen, nennt man Protokoll. Host Science Center Ein Science Center (auch Hands-onMuseum) ist die Umsetzung eines Ausstellungskonzeptes, in dem versucht wird, den Besuchern mittels „Learning by doing“, das heißt durch eigenständiges, spielerisches Experimentieren in „Mitmachausstellungen“ technische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Phänomene nahe zu bringen. Situationisten, Die Situationistische Internationale (S.I.) Situationistische war eine 1957 gegründete, linksradikal oriInternationale entierte Gruppe europäischer Künstler und Intellektueller (darunter politische Theoretiker, Architekten, freischaffende Künstler u.a.), die vor allem in den 1960er Jahren aktiv war. Die Situationisten übten dabei sowohl Einfluss auf die politische Linke aus vor allem im Umfeld des Pariser Mai ’68 sowie in der Entwicklung der Methoden der Kommunikationsguerilla wie auch auf die internationale Kunstszene sowie insbesondere auf die Popkultur. Screenshot Unter einem Screenshot [...] oder Bildschirmfoto, früher auch Hardcopy, versteht man in der EDV das Abspeichern oder die Ausgabe des aktuellen graphischen Bildschirminhalts als Rastergrafik. Social Social Engineering [...] (engl. eigentlich Engineering „angewandte Sozialwissenschaft“, auch „soziale Manipulation“) nennt man zwischenmenschliche Beeinflussungen mit dem Ziel, unberechtigt an Daten oder Dinge zu gelangen. Social Engineers spionieren das persönliche Umfeld ihres Opfers aus, täuschen falsche Identitäten Scrollen Als [Scrollen oder] Bildlauf wird das Verschieben von Bildschirminhalten (sowohl Text als auch Grafik) bezeichnet. Server Ein Server [(dt.: bedienen)] ist ein Programm, welches auf die 142 143 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar vor oder nutzen Verhaltensweisen wie Autoritätshörigkeit aus, um Dinge wie geheime Informationen oder unbezahlte Dienstleistungen zu erlangen. Meist dient Social Engineering dem Eindringen in ein fremdes Computersystem, um vertrauliche Daten einzusehen; man spricht dann auch von Social Hacking [...]. TTL Time-to-live oder TTL ist der Name eines Header-Felds des Internetprotokolls, das verhindert, dass unzustellbare Pakete unendlich lange weitergeroutet werden. URL Als Uniform Resource Locator [...] bezeichnet man eine Unterart von Uniform Resource Identifiern (URIs). URLs identifizieren eine Ressource über das verwendete Netzwerkprotokoll (beispielsweise http oder ftp) und den Ort [...] der Ressource in Computernetzwerken. Software Software [...] bezeichnet alle nichtphysischen Funktionsbestandteile eines Computers bzw. eines jeden technischen Gegenstandes, der mindestens einen Mikroprozessor enthält. Dies umfasst vor allem Computerprogramme sowie die zur Verwendung mit Computerprogrammen bestimmten Daten. User Der englische Begriff User (Anwender, Verwender, Benutzer) ist in der elektronischen Datenverarbeitung gebräuchlich für den Benutzer eines Computers, also eine reale Person, einen Internetnutzer – Netcitizen, einen Kunden in der IT-Branche (egal, ob Hardware oder Software), ein Benutzerkonto, das mit bestimmten Rechten zum Zugriff auf den Computer ausgestattet ist. Im Kontext der net.art bezeichnet User eine Erweiterung des Rezipienten, indem dieser nicht mehr nur als Empfänger, sondern als Nutzer aufgefasst wird, der z.B. durch das Scrollen oder das Wählen von Links aktiv an der Konstruktion des Kunstwerks beteiligt ist [Anm. d. Autors]. Telematik Telematik (zusammengesetzt aus Telekommunikation und Informatik) ist eine Technologie, welche die Technologiebereiche Telekommunikation und die Informatik verknüpft. Telematik ist also das Mittel der Informationsverknüpfung von mindestens zwei EDV-Systemen mit Hilfe eines Telekommunikationssystems, sowie einer speziellen Datenverarbeitung. Der Begriff wurde von Nora und Minc (1978) geprägt. 144 145 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Glossar Web 2.0 [Unterkategorie] Der Begriff Web 2.0 bezieht sich weniger auf spezifische Technologien oder Innovationen, sondern primär auf eine veränderte Nutzung und Wahrnehmung des Internet und wird seit etwa 2005 zunehmend genutzt. Hauptaspekt: Benutzer erstellen und bearbeiten Inhalte in quantitativ und qualitativ entscheidendem Maße selbst. Maßgebliche Inhalte werden nicht mehr nur zentralisiert von großen Medienunternehmen erstellt und über das Internet verbreitet, sondern auch von einer Vielzahl von Individuen, die sich mit Hilfe sozialer Software zusätzlich untereinander vernetzen. Typische Beispiele hierfür sind Wikis, Blogs, Foto- und Videoportale (z.B. Flickr und YouTube), soziale Online-Netzwerke wie MySpace, Social-Bookmarking-Portale wie del.icio.us, aber auch die schon länger bekannten Tauschbörsen. insbesondere zeitgenössische Kunst, in farbneutralem Weiß zu zeigen, um die Ausstellungsarchitektur deutlich hinter das Kunstwerk zu stellen und eine Interaktion zwischen Architektur und Kunstwerk zu vermeiden. Wikipedia Wikipedia [...] ist ein Projekt zur Erstellung einer Online-Enzyklopädie in mehreren Sprachversionen. Der Begriff Wikipedia – ein Kofferwort – setzt sich aus „Wiki“ (Hawaiisch für „schnell“) und „Encyclopedia“ (Englisch für Enzyklopädie) zusammen. Das Hauptmerkmal: jedermann kann unmittelbar Artikel einstellen oder verändern. Bestand hat, was von der Gemeinschaft akzeptiert wird. Bisher haben international etwa 285.000 angemeldete und eine unbekannte Anzahl von nicht angemeldeten Benutzern Artikel zum interaktiven Projekt beigetragen. Mehr als 7.000 Autoren arbeiten regelmäßig an der deutschsprachigen Ausgabe mit. Das im Januar 2001 gegründete Projekt bezeichnet sich als „freie Enzyklopädie“, weil alle Inhalte unter freien Lizenzen stehen [...]. GNU Weichzeichnen Weichzeichnen [...] ist der Oberbegriff für Bildveränderungen, welche die Bildschärfe herabsetzen. Viele digitale Bildoperationen haben Entsprechungen in der AnalogFotografie. White Cube Unter White Cube [...] versteht man das Ausstellungskonzept, Kunst in weißen Räumen zu präsentieren. Seit den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts ist es üblich, ZKM Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe gilt als größte Einrichtung für Medienkunst weltweit. Es wurde 1997 in einem großen ehemaligen Fabrikgebäude eröffnet. 146 147 Anhang (1) Analysewerkzeuge für Netzkunst. Work-in-progress v03.08 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008Shortguide Netart-AnalyseNetartv0308.pdf 148 149 INTRODUCTION TO NET.ART (1994-1999) Natalie Bookchin & Alexei Shulgin B. Specific Features of net.art 1. Formation of communities of artists across nations and disciplines 2. Investment without material interest 3. Collaboration without consideration of appropriation of ideas 4. Privileging communication over representation 5. Immediacy 6. Immateriality 7. Temporality 8. Process based action 9. Play and performance without concern or fear of historical consequences 10. Parasitism as Strategy a. Movement from initial feeding ground of the net b. Expansion into real life networked infrastructures 11. Vanishing boundaries between private and public 12. All in One: a. Internet as a medium for production, publication, distribution, promotion, dialogue, consumption and critique b. Disintegration and mutation of artist, curator, pen-pal, audience, gallery, theorist, art collector, and museum 1. net.art at a Glance A. The Ultimate Modernism 1. Definition a. net.art is a self-defining term created by a malfunctioning piece of software, originally used to describe an art and communications activity on the internet. b. net.artists sought to break down autonomous disciplines and outmoded classifications imposed upon various activists practices. 2. 0% Compromise a. By maintaining independence from institutional bureaucracies b. By working without marginalization and achieving substantial audience, communication, dialogue and fun c. By realizing ways out of entrenched values arising from structured system of theories and ideologies d. T.A.Z. (temporary autonomous zone) of the late 90s: Anarchy and spontaneity 3. Realization over Theorization a. The utopian aim of closing the ever widening gap between art and everyday life, perhaps, for the first time, was achieved and became a real, everyday and even routine practice. b. Beyond institutional critique: whereby an artist/individual could be equal to and on the same level as any institiution or corporation. c. The practical death of the author 2. Short Guide to DIY net.art A. Preparing Your Environment 1. Obtain access to a computer with the following configuration: a. Macintosh with 68040 processor or higher (or PC with 486 processor or higher) 150 151 14. Form Art 15. Multi-User Interactive Environments 16. CUSeeMe, IRC, Email , ICQ, Mailing List Art b. c. 2. a. b. c. At least 8 MB RAM Modem or other internet connection Software Requirements Text Editor Image processor At least one of the following internet clients: Netscape, Eudora, Fetch, etc. d. Sound and video editor (optional) D. Production 3. What You Should Know A. Current Status B. Chose Mode 1. 2. 3. 4. 5. 1. net.art is undertaking major transformations as a result of its newfound status and institutional recognition. 2. Thus net.art is metamorphisizing into an autonomous discipline with all its accouterments: theorists, curators, museum departments, specialists, and boards of directors. Content based Formal Ironic Poetic Activist B. Materialization and Demise C. Chose Genre 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 1. Movement from impermanence, immateriality and immediacy to materialization a. The production of objects, display in a gallery b. Archiving and preservation 2. Interface with Institutions: The Cultural Loop a. Work outside the institution b. Claim that the institution is evil c. Challenge the institution d. Subvert the institution e. Make yourself into an institution f. Attract the attention of the institution g. Rethink the institution h. Work inside the institution 3. Interface with Corporations: Upgrade Subversion Net as Object Interaction Streaming Travel Log Telepresent Collaboration Search Engine Sex Storytelling Pranks and Fake Identity Construction Interface Production and/or Deconstruction ASCII Art Browser Art, On-line Software Art 152 153 a. The demand to follow in the trail of corporate production in order to remain up-to-date and visible b. The utilization of radical artistic strategies for product promotion 6. 7. 8. 9. Invitations E-mail Airplane tickets Money 4. Critical Tips and Tricks for the Successful Modern net.artist 5. Utopian Appendix (After net.art) A. Promotional Techniques A. Whereby individual creative activities, rather than affiliation to any hyped art movement becomes most valued. 1. Attend and participate in major media art festivals, conferences and exhibitions. a. Physical b. Virtual 2. Do not under any circumstances admit to paying entry fees, travel expenses or hotel accommodations. 3. Avoid traditional forms of publicity. e.g. business cards. 4. Do not readily admit to any institutional affiliation. 5. Create and control your own mythology. 6. Contradict yourself periodically in email, articles, interviews and in informal off-the-record conversation. 7. Be sincere. 8. Shock. 9. Subvert (self and others). 10. Maintain consistency in image and work. 1. Largely resulting from the horizontal rather than vertical distribution of information on the internet. 2. Thus disallowing one dominant voice to rise above multiple, simultaneous and diverse expressions. B. The Rise of an Artisan 1. The formation of organizations avoiding the promotion of proper names 2. The bypassing of art institutions and the direct targeting of corporate products, mainstream media, creative sensibilities and hegemonic ideologies a. Unannounced b. Uninvited c. Unexpected 3. No longer needing the terms "art" or "politics" to legitimize, justify or excuse one's activities B. Success Indicators: Upgrade 2 1. 2. 3. 4. 5. Bandwidth Girl or boy friends Hits on search engines Hits on your sites Links to your site C. The Internet after net.art 1. A mall, a porn shop and a museum 2. A useful resource, tool, site and gathering point for an artisan 154 155 a. Who mutates and transforms as quickly and cleverly as that which seeks to consume her b. Who does not fear or accept labeling or unlabeling c. Who works freely in completely new forms together with older more traditional forms d. Who understands the continued urgency of free two-way and many-to-many communication over representation US/Russia, 1999 (2) Natalie Bookchin & Alexei Shulgin, Introduction to Net.art (1994-1999), 1999. Quelle: http://subsol.c3.hu/subsol_2/ contributors/bookchintext.html 156 Dieser Vertrag wurde am 23.11.1998 zwischen Holger Friese und Max Kossatz (nachstehend Künstler genannt), wohnhaft in Berlin und Wien, und Hans Dieter Huber (nachstehend Sammler genannt), wohnhaft in Mannheim, geschlossen. Präambel Der Künstler hat ein bestimmtes Kunstwerk geschaffen (nachstehend Werk genannt) bestehend aus: 1. Dem Domainnamen: antworten.de 2. Alle Scripte, Grafiken und html-Seiten, die zur Darstellung des Werks nötig sind. 3. Einer Backup Festplatte In keinem Fall sind die elektronisch erzeugten und elektronisch dokumentieren Zugriffe der Benutzer von http://www.antworten.de/ Teil des Werkes. (3) Artist's Reserved Rights Transfer and Sale Agreement, Seth Siegelaub, 24.02.1971. Quelle: http://www.fuenfnullzwei.de/ pieces/antworten/siegelaub.html 161 (a) Er muss einen Vertrag nach Inhalt und Form gemäß dem unten wiedergegebenen, einen wesentlichen Bestandteil des Vertrages bildenden Muster ausfüllen, datieren, selbst unterzeichnen und vom Erwerber des Werkes unterzeichnen lassen und den Vertrag innerhalb 30 Tagen nach erfolgter Veräußerung, Übertragung oder Auszahlung der Versicherungssumme dem Künstler an dessen eingangs bezeichneter Anschrift übergeben. (b) Er muß innerhalb von 30 Tagen nach erfolgter Veräußerung 15% des erzielten eventuellen Mehrwerts (gemäß der nachstehenden Definition) dem Künstler an dessen eingangs bezeichneter Anschrift zahlen. Der Künstler und der Sammler sind bereit, das Werk zu den nachstehenden wechselseitigen Rechten, Pflichten und Bedingungen zu verkaufen beziehungsweise zu kaufen. Sammler und Künstler sind sich bewußt, daß der Wert des Werkes, anders als bei einer gewöhnlichen beweglichen Sache, von anderen Arbeiten des Künstlers beeinflußt wird, die dieser bereits geschaffen hat oder noch schaffen wird. Auch wird der Wert des Werkes durch den Sammler und den Ankauf beeinflußt. Sammler und Künstler anerkennen, daß es richtig und angemessen ist, beide Parteien an einer auf diese Weise zustande kommenden Wertsteigerung seines Werkes teilhaben zu lassen. Die Parteien wünschen, daß die im Werk zum Ausdruck gebrachten Ideen und Aussagen des Künstlers erhalten bleiben und daß der Künstler darauf durch seinen Rat Einfluß nehmen kann. Auf Grund dieser Voraussetzungen und der nachstehenden wechselseitigen Verpflichtungen schließen die Parteien diesen Vertrag mit folgendem Vertragsinhalt: Artikel 3 Preis/Wert Der in den Vertrag einzusetzende Preis oder Wert ist (a) der tatsächliche Verkaufspreis, wenn das Werk für Geld verkauft wird, oder (b) der Geldwert, wenn das Werk für eine geldwerte Gegenleistung getauscht wird, oder (c) der gemeine Wert, wenn das Werk in anderer Weise veräußert wird. Artikel 1 Kauf Hiermit verkauft der Künstler und kauft der Sammler das Werk zu den vertraglichen Bedingungen zum Preis von xxxxxxDM. Artikel 4 Mehrwert Artikel 2 Spätere Veräußerung Der Mehrwert des Werkes im Sinne des Vertrages ist die Differenz zwischen dem in einem ordnungsgemäß ausgestellten und übergebenen Vertrag angegebenen Preis oder Wert und dem vorangegangenen ordnungsgemäß ausgestellten und übergebenen Vertrag oder - wenn kein noch kein solcher Für den Fall, daß der Sammler später das Werk verkauft, verschenkt, hergibt, tauscht, abtritt, überträgt oder in anderer Weise veräußert, verpflichtet sich der Sammler oder sein persönlicher Beauftragter zu folgendem: 162 163 Vertrag vorhanden ist - dem in Artikel 1 dieses Vertrages angegebenen Preis oder Wert. Falls ein ordnungsgemäß ausgestellter Vertrag nicht fristgerecht gemäß Artikel 2 übergeben wird, kommt der Mehrwert genauso zum Ansatz als wenn der Vertrag ordnungsgemäß ausgestellt und übergeben worden wäre, und zwar zu jenem Preis oder Wert, der dem gemeinen Wert im Zeitpunkt der erfolgten Übertragung oder Ihrer Entdeckung entspricht. Geschichte und das rechtmäßige Eigentum des Sammlers und seiner Nachfolger am Werk schriftlich bestätigt und auf billiges Verlangen des Sammlers eine solche Bestätigung auch an Kritiker und Privatgelehrte ausstellt. Die genannten Verzeichnisse sind und bleiben ausschließlich Eigentum des Künstlers. Artikel 7 Ausstellungen Artikel 5 Eintritt der Erwerber in den Vertrag Künstler und Sammler vereinbaren folgendes: Der Sammler verpflichtet sich, das Werk nur dann zu verkaufen, verschenken, tauschen, übertragen oder in anderer Weise zu veräußern, wenn der Erwerber alle Bedingungen dieses Vertrages vorher anerkennt und bestätigt, sich als an den Vertrag gebunden erklärt und sich durch die Unterzeichnung eines ordnungsgemäß ausgestellten und übergebenen Vertrages verpflichtet, die hierin genannten Verpflichtungen des Sammlers zu übernehmen und zu erfüllen. Als Ausstellung ist definiert (a) im realen Raum: Die Ausstellung der Back-Up-Festplatte sowie die Verfügbarmachung des elektronischen Teils des Werks mittels Computern oder jeder anderen Form der Präsentation. (b) im virtuellen Raum: Die Einbindung des Werkes in eine andere Oberfläche. Artikel 6 Herkunft Als Ausstellung gelten nicht: Die bloße Erreichbarkeit des Werkes über elektronische Netze sowie ein reiner Verweis auf das Werk (Hyperlink). Der Künstler verpflichtet sich, daß er selbst ein Verzeichnis aller Übertragungen des Werkes führt, für die ein Vertrag gemäß Artikel 2 ausgestellt wird, und auf Verlangen des Sammlers oder dessen nachweislichen Nacheigentümern diesen schriftliche Angaben über Geschichte, Herkunft und Weg unter Heranziehung des genannten Verzeichnisses und der von den Sammlern gemachten Mitteilungen über vorgesehene öffentliche Ausstellungen gibt, ferner die Herkunft, die Künstler und Sammler vereinbaren folgendes: Der Sammler muß den Künstler schriftlich davon unterrichten, wenn er das Werk ausstellen oder ausstellen lassen will, und muß dem Künstler alle Einzelheiten über eine solche vorgesehene Ausstellung mitteilen, soweit sie der Aussteller dem Sammler bekanntgegeben hat. Diese Unterrichtung des Künstlers muss erfolgen, bevor dem Aussteller zugesagt oder der Offentlichkeit bekanntgegeben wird, daß der Sammler das 164 165 Werk öffentlich ausstellt oder ausstellen läßt. Der Künstler teilt sodann innerhalb von zwei Wochen dem Sammler und den Aussteller alle Anweisungen und Wünsche mit, welche die vorgesehene Ausstellung des Werkes betreffen. Der Sammler darf das Werk nur dann öffentlich ausstellen oder ausstellen lassen, wenn die Bedingungen diese Artikels erfüllt sind. Artikel 9 Keine Änderungen Der Sammler verpflichtet sich, jegliche vorsätzliche Zerstörung, Beschädigung oder Veränderung des Werkes zu unterlassen. Hiermit ist insbesondere die Verpflichtung zur rechtzeitigen und vollständigen Begleichung der Ansprüche des Providers oder den Verwaltern des Domainnamens (hier De-Nic, oder dessen Rechtsnachfolger) in Bezug auf den Erhalt des Domainnamens festgeschrieben. Der Sammler hat das Recht, die Arbeit jederzeit vom Netz zu nehmen sowie den Domainnamen zu kündigen. Bei Absicht der Kündigung des Domainnamens durch den Sammler ist der Künstler im Voraus rechtzeitig zu benachrichtigen. Er hat dann das Recht, den Domainnamen wieder zu übernehmen. Ab dem Zeitpunkt der Übernahme des Domainnamens durch den Künstler ist der Künstler für die Begleichung der anfallenden Kosten verantwortlich. Unterbleibt eine fristgerechte Äußerung des Künstlers auf eine fristgerechte Mitteilung des Sammlers, so gilt dies als Verzicht des Künstlers auf seine ihm aus diesem Artikel zustehenden Rechte hinsichtlich der fraglichen Ausstellung, so daß die Zustimmung des Künstlers zu der Ausstellung und zu allen Einzelheiten, von denen der Künstler rechtzeitig unterrichtet wurde, als gegeben zu erachten ist. Artikel 8 Verfügungsanspruch des Künstlers Künstler und Sammler vereinbaren, daß der Künstler das Recht hat, nach einer dem Sammler spätestens 120 Tage vor dem vorgesehenen Versandtage zugegangenen schriftlichen Mitteilung höchstens 60 Tage über das Werk zu dem alleinigen Zweck zu verfügen, durch oder über eine öffentliche oder gemeinnützige Institution ohne jegliche Kosten für den Sammler öffentlich auszustellen. Der Sammler kann den Nachweis verlangen, daß ein ausreichender Versicherungsschutz besteht, daß die Transportkosten im Voraus bezahlt sind und daß alle sonstigen finanziellen Voraussetzungen erfüllt sind. Der Verfügungsanspruch des Künstlers an dem Werk beschränkt sich auf den Zeitraum von höchstens 60 Tagen alle fünf Jahre. Artikel 10 Reparaturen Der Sammler verpflichtet sich, im Falle einer Beschädigung des Werkes den Künstler vor Inangriffnahme der Reparaturoder Restaurierungsarbeiten zu konsultieren und ihm soweit möglich die Gelegenheit zu geben, die erforderliche Reparatur oder Restauration selbst vorzunehmen. Artikel 11 Mieten Erlangt der Sammler einen Geldanspruch als Miete oder sonstiges Entgelt für die Verwendung seines Werkes auf einer 166 167 öffentlichen Ausstellung, so muß der Sammler von dem eingenommenen Geld (abzüglich der Kosten für Provider und Domainnamenverwaltung für diesen Zeitraum) innerhalb von 30 Tagen, nachdem es an den Sammler zahlbar geworden ist, die Hälfte an den Künstler zahlen. Gleiches gilt umgekehrt auch für den Fall, daß der Künstler eine Mieteinnahme oder ein sonstiges Entgelt durch die Ausstellung des besagten Werkes erzielt. Auch hier ist innerhalb von 30 Tagen nach der Zahlung an den Künstler die Hälfte an den Sammler zu zahlen. Artikel 13 Hinweis Künstler und Sammler vereinbaren, daß am Werk ein Hinweis über das Vorhandensein diese Vertrages dauerhaft anzubringen ist. Dieser Hinweis muß die Form des nachstehenden, einen wesentlichen Bestandteil des Vertrages bildenden Musters haben und darauf hinweisen, daß Eigentum, Übertragung, Ausstellung und Reproduktion des Werkes den Bestimmungen dieses Vertrages unterliegen. Da das Werk derart beschaffen ist, daß der Auszug aus der Datenbank des Domainnamen- Verwalters (De-Nic) als integraler und unveräußerlicher Bestandteil des Werkes erachtet wird, genügt es, wenn der Hinweis dauerhaft mit diesem Auszug verbunden wird. Artikel 12 Reproduktion Alle Rechte an einer Kopierung oder Reproduktion des Werkes gehen auf den Sammler über. Der Sammler darf seine Zustimmung zu einer Reproduktion des Werkes in Katalogen oder für ähnliche, mit einer öffentlichen Ausstellung des Werkes zusammenhängende Zwecke ohne wichtigen Grund nicht versagen. Der Künstler verpflichtet sich, keine weiteren Kopien der Arbeit (außer einer privaten Sicherungskopie) anzufertigen, aufzubewahren, öffentlich auszustellen, zu veräußern oder sonstwie zu verbreiten. Die persönliche Sicherungskopie darf weder vervielfältigt, noch ausgestellt, noch veräußert noch sonstwie in der Öffentlichkeit präsentiert werden. Sie ist nach dem Tode des Künstlers zu vernichten. Das einzige Original der Arbeit ist somit der im Besitze des Sammlers befindliche Domainname plus der signierten und datierten Back-Up-Festplatte, auf der alle Scripte, Grafiken und html-Seiten zur Darstellung des Werks gespeichert sind. Artikel 14 Dauer Die Pflichten des Sammlers haften am Werk und gelten bis 21 Jahre nach dem Tode des Künstlers beziehungsweise, jedoch mit der Ausnahme, daß die Verpflichtungen gemäß Artikel 7 nur während der Lebenszeit des Künstlers bestehen. Artikel 15 Keine Berufung auf Verzichte Verzichtet eine Partei auf ein ihr zustehendes vertragliches Recht, so gilt dies nicht als eine andauernder Verzicht, der eine spätere Geltendmachung eines solchen Rechtes ausschließt. Unterläßt es eine Partei, auf der strikten Erfüllung durch die andere Partei zu bestehen, so darf sich die andere Partei nicht darauf berufen, daß dadurch auch auf die spätere 168 169 Erfüllung dieser oder einer anderen Verpflichtung verzichtet werde; vielmehr bleiben alle vertraglichen Verpflichtungen voll in Kraft. (5) Artikel 16 Vertragsänderungen Jede Beendigung oder Änderung dieses Vertrages muß schriftlich erfolgen und von beiden Parteien unterzeichnet werden. Zur Bestätigung des Vorstehenden haben die Vertragsparteien diesen Vertrag am eingangs bezeichneten Tage unterschrieben. Holger Friese und Max Kossatz Schönfließer Straße 1 10439 Berlin Hans Dieter Huber Grillparzerstr. 5 68167 Mannheim (4) Vertrag antworten.de, 23.11.1998 Quelle: http://www.inmeinernaehe.de/502/vertrag.html 170 171 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Internet arbeitet, beziehen wir uns auf zwei Texte des Kataloges. Vor allem angeregt hat uns vermöge seiner international recherchierten Offenheit und Kompetenz die Untersuchung von Margit Rosen «Die Maschinen sind angekommen». Peter Weibel stellt mit einem, über dem Kriterium der Programmiertheit formulierten, Modell «K hoch 8» die ganz neue Ausgangslage her. Von den frühen Computerzeichnungen zu Bilderchat und anderen Netzkunstaffairen Nachfolgend unsere Skizze in drei Schritten. Schritt 1. Wir sprechen, zusätzlich zur Werke schaffenden Kunst, vom Begehren des Künstlers nach Botschaft, von Kunst als Austausch - das ist Kunst ohne Publikum und ohne Werkproduktion. Künstlerische ‚Visuelle Forschung‘ war nicht nur ein erfolgreiches Label einer in den 60er Jahren im blockfreien Zagreb gewachsenen zwölfjährigen Ausstellungs-Plattform von acht internationalen Kunstbewegungen ‚Nove tendencije‘, zugleich war es Kennzeichen einer künstlerischen Epoche, zeitgleich mit der Wissenschaftsgesellschaft. Nach 7 Jahren Aktivitäten von sieben künstlerischen Richtungen luden die Zagreber Kuratoren 1968 als achte Bewegung die neuen Computerkünstler und ihre Informationsästhetik ein, „kompjuteri i vizuelna istrazivanja“. Faktisch boten diese in der Mehrzahl aber nur Erfüllung der schon vorhandenen künstlersischen Ideen, statt eines gewünschten Aufbruchs. Von heute aus gesehen war das internationale Zusammentreffen jedoch der konstituierende Schritt für die erfolgreiche Verbindung von Kunst und Computer. Zu neuen Ufern, denen der Interaktivität, brachen Kunst und Computer anderenorts auf. Gleichwohl war zur Zagreber Plattform, neben dem proklamierten Projekt ‘visueller Forschung‘ (Künstler als Forscher) Interaktivität als ‚Parti- Kurd Alsleben, Antje Eske Von der alten Kunstgeschichte bis zur autonomen Kunst fehlt es nicht an Referenzen für Künste des Austauschens, der Sozialität. Gerade jetzt bietet eine Ausstellung des ZKM Karlsruhe, «bit international. [Nove] tendencije - Computer und visuelle Forschung. Zagreb 1961-1973», davor in Graz, die Möglichkeit, solche Kunst ohne Publikum auch im Rahmen der Gegenwartskunst abzuleiten, in drei Schritten: (1.) Kunst nimmt den Computer an, (2.) der Computer entfaltet Interaktivität in der Medienkunst, (3.) mit dem Netz entwickelt sich eine Kunst als Austausch. Neben den Exponaten der Grazer Ausstellung, die Darko Fritz kuratierte, der ebenso wie Margit Rosen sagt, Kurd Alsleben sei der einzige der 1960er Tendencije-Künstler, der heute im 172 173 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html zipationskunst‘ von Karl Gerstner schon entwickelt und ‚Austausch‘ von Kurd Alsleben / Cord Passow prospektiv bereits erfahren. Beides fand sich im vierstufigen Modell der Kybernetik 1964 von Helmar Frank theoretisch erklärt. Helmar Frank ist einer der drei Begründer der Informationsästhetik, der diese mathematisch entwickelte. Schritt 2. Interaktivität zwischen Mensch und Maschine breitete sich als Idee und Praxis von den USA ausgehend (J.C.R. Licklider) ab 1960 paradigmatisch aus. Also wurde der Unterschied zu zwischenmenschlicher Interaktion schliesslich mental unwahrnehmbar. In der Medienkunst entwickelte sich mit dieser Idee die Interaktive Kunst vom ‚Partizipant‘ zum ‚Interaktor‘. Im zagreber Verständnis des Künstlers als Forscher wurde ab 1992, Science-fiktion fortschreibend, ‚künstliches Leben‘ thematisiert und demonstriert. Zur genannten Prospektierung von ‚Austausch‘ sei ausgeführt, dass um 1960 Digitalcomputer mit Dialogverarbeitung begannen und Analogcomputer auf dem Markt überholten. Kurd Alsleben erinnert sich, sein Freund Cord Passow arbeitete damals mit einem Analogcomputer, die per se interaktiv sind. Wir wollten freie Zeichnungen mit ihm machen. Cord machte per Potentiometer mathematische Eingaben. Kurd, ich stand seitlich am Plottertisch und sah das Zeichnen. Für mich Laien war der Computer keine Rechenmaschine, sondern gemäss damaligem Common sense eine Denkmaschine mit hoher Komplexität, der ich Wahrnehmungen innerer Befindlichkeit zutrauen konnte. Tatsächlich zeichnete das Wesen auch, spontan nicht erklärbare, Unregelmässigkeiten. Ich soll, nach Cords Erzählung, aufgeregt immer wieder neue Eingaben von ihm verlangt haben. Das Erlebnis hatte für mich zwei Folgen. Einmal die Idee, den Computer zur Verbesserung des Austausches meine ästhetischen Wahrnehmungsweisen als phänomanale Metriken zu lehren, ein Projekt zu dem mir die Kompetenz fehlte. Die zweite wirkungsreiche Folge war, dass ich Künstlerautor mich in der Kunst in einer dialogischen Situation als Botschaft Begehrenden beobachtete. Die gültige Künstlerrolle stimmte nicht mehr. Ideen zu Hypertextnetwork und Hypertextmedia von Ted Nelson, in dem manche den Cézanne unserer Tage erkennen, mögen hier eine der Medienkunst zeitlich parallele andere Richtung der Entwicklung kennzeichnen, in der Künstler sich nicht als Erkenntnissuchende verstanden, sondern sich in einem erweiterten Kunstbegriff (Beuys) mit dem Neuentwickeln von Kommunikation und deren umfassenden Auswirkungen beschäftigten. In diese Richtung strebten wir in der Visuellen Kommunikation der Hamburger Hochschule für bildende Künste. Im Kontext des emanizipatorischen Feldes der sozialen Bewegungen gelang es Anfang der 70er Jahre, das über alle ideologischen Fraktionen hinweg herrschende SenderEmpfänger-Modell ‚Kommunikationskette‘, mit ihrer Analogie zum gültigen Modell Künstler-Werk-Publikum, in Frage zu stellen und zu überwinden, denn Kommunikation wurde so von uns nicht erfahren. Uns gelang ein Verknüpfen zwischen den sozialen Bewegungen und (anthropologisch ansetzender) Kybernetik. 174 175 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Antje Eske erinnert sich: bei meinem Versuch, den einseitig ausgerichteten Formen der Vermittlung von Lehrer --> Schüler, die in den 60ern an Werkkunstschulen praktiziert wurden, zu entwachsen, landete ich 1966 an der HbK in Hamburg und kam mitten hinein in eine Umbruchphase, die gradewegs auf die Studentenrevolte zusteuerte. Begeistert ließ ich mich auf die Auseinandersetzungen in Gruppen und die Gruppenarbeit ein, die neue Vermittlungsformen und Neubegründung von Autorität zur Folge hatten. Von 1969 bis 71 war ich allein in 17 Arbeitsgruppen engagiert. Ich lebte in Wohngemeinschaften, initiierte Haus- und Arbeitsgemeinschaften, wobei wir alle Aspekte dieses neuen Miteinanderumgehens zu vereinen suchten, sowohl den themenbezogenen, den sozialen, den psychologischen als auch den politischen. Der ganzheitliche Traum der daraus erwuchs, hieß: „Zusammen leben und zusammen arbeiten“. Mit Kurd verwirkliche ich ihn seit nunmehr 30 Jahren. Sieben Jahre arbeiteten wir an Handlungsmedien, die über Austausch mediens Verzettelungen, verzweigenden Lehr/ Lernmaschinen, Randlochkarten, Sammlungen in Umordnern zu Handlung führen sollten, wir richteten eine Sofortmedienwerkstatt ein und schnitten den Büchern den Rücken ab. Aus den Erfahrungen entstanden die Parolen „Ich weiss allein nicht weiter. Wie wäre es denn schön?“, „Alles ist zu sehen“, „Wir suchen nach Wegen“, „Den Betroffenen die Medien in die Hand geben!" und „Kunst als Verkehr“ sowie die Begriffe „Anderweite“ und „Antwortnot“. Eine Computerei mit LAN und der Software HyperCard in der Kunsthochschule einzurichten, gelang in den 1980er Jahren. Als Akteure der Hamburger Datenkunstbewegung waren wir an der damaligen Pro-und-Contra-Debatte ‚Computer als Werkzeug\ Computer als Medium‘ beteiligt. (Die heftigen öffentlichen Debatten entpuppte sich später als Marketing-Kampagne) Die Rolle des Künstlers im Austauschen ruft Fragen nach seinem Expertsein herauf, die wir mit einer Laikologie ansatzweise beantworten können. Kunstaffairen laufen nicht speziell unter Künstlern, Beteiligte sollen ja Angehörige eines jeden Berufes sein (vgl. Eberhard Schnelle Im INTERFACE3-network 1995). Schritt 3. Austausch. In der Gegenwart reüssiert die Netzkunst. Gegenüber Linearperspektive oder Pyramide ist Netz eine Verknüpfungsräumlichkeit. Bedeutung der zeittypischen NetzSemantik ist, bezogen auf Menschen, Austausch. In der Netzkunst sind mutuelle Formen gesamtsensorischen Austauschens mehrerer Personen untereinander verwirklicht – nicht privat, nicht öffentlich, sondern im offiziösen Raum. Der Netzkünstler ist kein Produzent, auch kein Koproduzent und auch kein Moderator. Er begehrt Botschaft. „Dies ist vielleicht das, was der Kunst zugrunde liegt, kairós als Zeit der geteilten Bedeutung“ (Bernhard Taureck). Die Ästhetik, als Lehre von den Künsten verstanden, wird sich unter Umständen gegenwärtig mit neu konstituierten Sinnesorganen beschäftigen: dem in der Mitte des vorigen Jahrhunderts auftretenden Gedankensinn (vgl. den Künstler Marcel Duchamp), als auch mit dem ästhetischen Sensus communis, der der Netzkunst zu Grunde liegt. Wir begreifen ihn als Sozialitätssinn. Bei allem selbstorganisierenden Kultivieren (kulturelle Bewegungen) wird er mit ‚gesundem Menschenverstand‘ und ‚Anerkennen‘ die Grundlage für den 176 177 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Austausch sein. Wir stellen die Netzkunst hier so dar, als herrsche Konsens darüber, den Austausch oder allgemeiner Kommunikation als ihren basalen Sinn zu verstehen. Das ist unsere Auffassung, doch gibt es ausser eigener Erfahrung dafür auch Stimmen anderer (vgl. Baumgärtel 2006). Im NetzkunstWörterBuch hat Heiko Idensen, der selbst mit seinem frühen Pool-Processing eher Austausch als Produktion betrieb, über das ‚Electronic Café‘ 1984 in San Francisco geschrieben. Das früheste grafische Multi User Dungeon ‚Habitat‘ von 1984 wird im selben Buch beschrieben. Zweifellos sind beides Austausche, ebenfalls Detlev Fischers kollaborative Software ‚Schwamm‘ in 17 HyperCardStapeln von 1988/89ff. Insbesondere sind Stefan Becks ‚multi.trudi‘ seit den 1990er Jahren faktisch Austausche, auch Parc Fiction in Hamburg kann so verstanden werden. Die neuste Software von Steffi Beckhaus und ihrer Gruppe an der Informatik der Universität Hamburg, erwirkt ebenso Austauschaffairen. Das sind ein paar Fälle, um diesen 3. Teil unserer Skizze zu beleuchten. Auffällig an einer Affaire ist der Zeitsprung, also eine Sequenz, in der im Kurzzeitgedächtnis ausschließlich Informationen eines begrenzten Bedeutungsfeldes gehalten werden. Der Spieler kennt es, der Forscher auch, die schöpferische Situation ist so. Kunstbezogen gibt es keine Rollen im Sinne von Künstler und Publikum. Es geht auch nicht um Erkenntnis, sondern um Sozialität. Jeder sinnt zwanglos dem Anderen seine Lebensform an (Heidi Salaverría). Wohin eine Affaire führt, weiß niemand von vornherein. Kunstaffairen werden nicht produziert - sie werden angebahnt, eingefädelt, angesponnen oder man ergreift sie, kairós, beim Schopfe. Sie sind zwanglos, interesselos und agieren im Feld ästhetischen Sensus communis. Informationsärmer kennt man das von smalltalk oder Geselligkeiten. Antje Eske pflegt seit 2001 in der Social softwar Swiki regelmäßig Bilderchats, die auf ihre jahrzehntelangen Austausche im Medienwechsel ab den 70ern bis 2007 zurückgehen. Lange Jahre schon unter Anderen mit Georg Nees. Unausweichlich wichtig war auch für uns, die Netzkunst mit der Kunstgeschichte zu verbinden. 1999 bereiteten wir, unterstützt von Matthias Meyer und Angela Mrositzki, einen internationalen IRChat entlang der Sala delle Veglie in Urbino/Italien. Dieser Chat am Ursprungsort der neuzeitlichen Konversationskunst, zwischen 1503 und 1508, verkörpert uns den historischen Zusammenhang. Während des vorbereitenden Besuches erlebten wir dort damals ein Erdbeben und flüchteten nach Mailand – Antje: „Was auch immer kommt, wir machen es auf alle Fälle“. Affaire ist ein Wort, das sich inzwischen in der Kunst gut bewährt hat. Es ist immer eine Affaire zwischen Menschen. In der Regel sind es mehr als zwei Personen, denn solches wäre eher eine Liebesaffaire. Der Raum für Kunstaffairen ist weder privat noch öffentlich, sie werden im offiziösen Raum angebahnt. Sind der Beteiligten zu viele, wird der Umgang miteinander unpersönlich. Wir nennen solche offiziöse Gruppe ein Consort in Anlehnung an eine Bezeichnung aus barocker englischer Kammermusik; entsprechend sind die Kunstbeteiligten die Consorten. 178 179 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html In der Kulturgeschichte weist, an Urbino anknüpfend, eine 200 Jahre währende kulturelle Epoche die Suche nach neuen Formen menschlicher Kommunikation und Nähe aus: die französiche Salonkultur des 17./18. Jahrhunderts. In der REGELmäßigkeit der Salons fand eine Erneuerung zwischenmenschlicher Verbindungen und Verbindlichkeiten menschlicher Kommunikation statt. Hier liegt wiederum unsere Anknüpfung einer veränderten Kunstauffassung über ‚autonome Kunst‘ hinaus, die neben der Erschaffung von Werken für Publikum das Kunstniveau vernetzter Konversationen erkennt und will. Damals überschnitten sich die Zirkel der einzelnen Salons und zu den Habitués gehörten viele ausländische Besucherinnen und Besucher, so dass im Laufe von zwei Jahrhunderten europaweit ein internetähnliches, kulturelles Netz entstand. Ausschnitt aus einem bisher unveröffentlichten Interview mit Antje Eske und Kurd Alsleben, geführt von Torsten Rackoll am 2.4.2008 [...] Torsten: Das fand ich ganz schön: Ich weiß gar nicht mehr, wo ich das aufgeschnappt habe. Von dir war, glaube ich, dass „Hypertext Ausdruck ist“. Also in gewisser Weise, dass Hypertext auch eine Form ist. Nicht eine technische Sache, sondern eben ein künstlerischer Ausdruck. Die Semantik Netz unserer Zeit ist vorwiegend technisch begründet, die Bedeutung ist aber gleichermaßen sozial, so dass wir unter Netzkunstaffairen sowohl Affairen mediens Internet als auch visavis verstehen müssen. Dass die technischen Medien Computer und Netz, mit ihren Ubiquitäten, Verlinkungen und hypermedialen Ausdrucksmöglichkeiten entscheidende Impulse in den zwischenmenschlichen Umgang gebracht haben und so rückwirkend Einfluss auf das Soziale nehmen, ist offenbar. Dieser Austausch vermag sich sowohl verstärkend als auch befreiend hinsichtlich fabrizierter Common senses auswirken. Kurd: Ja. Antje: Stimmt. Also eine Ausdrucksform. Kurd: In diesem Sinne könnte man auch sagen, dass der Computer eine Sprache ist. ...das ist jetzt ein bisschen metaphorisch. Aber weil er eben Ausdrucksformen hat, die eigen und besonders sind: den Link. So kann man das schon sagen. Dass das so ein eigenes Zeichensystem enthält, ...multimedial, wie man sagt. Aber der Link ist eben eine eigene Ausdrucksmöglichkeit, ein eigenes Medienformat. ...das ist banal, nicht? Der Link ist nicht dazu da, es komfortabler (6) Auszug aus Alsleben/Eske (Hg.): Siebenundzwanzig bremer Netzkunstaffairen. Edition kuecocokue, erscheint im Juni 2008 180 181 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html zu machen. Klick und dann kommt von hinten etwas heran, wie es, sagen wir mal, das Internet eigentlich ursprünglich gemacht hat und der Sinn des Internet wohl auch war: das Komfortable. Du holst dir von fern her einen Text und hast ihn dann da. ...das kann man jetzt nicht mehr sagen. Das ist ja alles schon recht verwachsen. Wenn du jetzt klickst, wenn du browserst, ist das ein ganz anderes Verhalten. ...auch nicht mehr, dass du dir jetzt etwas von weit her holst. Das ist es ja nicht mehr bloß. Aber ursprünglich war es schon so. Und wir hatten ja mit dem Hypertext etwas anderes gemacht. Im Sinne von ‚gemacht‘, ...eine Formulierungsweise. Dieser Ansatz ist leider erst einmal verloren gegangen mit dem Internet. ...im Internet waren die Intentionen andere. Eben die, etwas ranzuholen und nicht, damit eine Formulierung zu finden. Also, dass der Link, dass die Bedeutung des Links wichtig ist. Nicht bloß seine technische Fähigkeit oder die Komfortabilität, etwas heranzuziehen, sondern seine Bedeutung. An der Stelle bedeutet es etwas. Du gehst der Bedeutung nach oder nicht. Heute ist das ganz anders. hast du ja sonst auch nicht. Wenn du ein Buch hast, dann musst du jetzt noch eine CD dazutun. Aber du kriegst es nie so direkt zusammen. Das ist noch eine andere Verständigungsoder Austauschmöglichkeit. Kurd: Das hast du ja im Internet so auch nicht. ...da musst du etwas programmieren. Sagen wir mal Swiki oder Wiki, ...da kannst du jetzt etwas reinschreiben. Aber wenn du bloß Typografisches verändern willst, ist das schon recht mühsam. Du schreibst, dann mußt du etwas davor setzen und so weiter. Dann mußt du erstmal eine Vorschau angucken und so weiter... Das war beim HyperCard – natürlich war das eine Vorstufe – direkter. Da konntest du richtig anschaulich formulieren. Antje: Was auch noch ganz interessant ist, ist die Spamwelle.... Kurd: ...natürlich kannst du Bilder ins Netz stellen oder Filmstückchen... Antje: Ja, einmal das. Und: Wir hatten ja früher dieses HyperCard. Das war unheimlich schön, mit diesen Links zu arbeiten. Aber das ist dann irgendwann eingestellt worden. Das gab es dann nicht mehr. Ich hatte dann mit Hyperstudio weitergemacht. Aber... Antje: ...du kannst auch Links machen, von irgendwo nach irgendwo. Kurd: Aber ... es lohnt sich nicht, das zu programmieren. Und du selbst kannst nicht einfach HTML programmieren. Wer kann denn das? ...wenn einer rankommt an irgendeine Stelle, dann klingt eine Marginalie auf. Natürlich kann das ein professioneller Seitengestalter. Aber ich zum Beispiel nicht. Wer kann das schon? Das heißt, du kannst also nicht das, was wir mit Volker [Volker Lettkemann, Anm. des Verf.] gemacht haben. ... Wie lang habt ihr das gemacht? Jahrelang bestimmt... Kurd: ...im Netz gab es das überhaupt nicht: HyperCard. Das ist eine Legende. Antje: Was ja auch noch wieder anders ist, sowohl im Netz als auch in HyperCard oder Hyperstudio, dass du eben multimedial arbeiten kannst, mit Tönen, Bildern und Texten. Das 182 183 http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html Antje: ...5 bis 10 Jahre. Kurd: ...10 Jahre – ein Austausch... Antje: Ewig lange. Dann mal eine Pause, dann wieder angefangen. ...mit HyperCard über das Komische, was ich vorhin schon gesagt hab. [...] 184