Net.art REader

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Net.art REader
Shortguide | Kurzführer: Net.art
Shortguide | Kurzführer: Net.art
Diese Publikation erscheint im Rahmen des Seminars Net.art
am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg im
Sommersemester 2007 unter Seminarleitung von Birte Kleine-Benne.
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
„Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder.“
7 Birte Kleine-Benne
Net Art. Chancen als Metakatalysator
21 Torsten Rackoll
Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse
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Cora Waschke
Duchamps Erben
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Anne-Christin Klare
Mission Eternity – netzwerk-kunst als evolutionäre net.art
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Daniel Becker
Ceci n’est pas une page Web.
47 Birte Kleine-Benne
Shortguide | Kurzführer: Net.art ist ein Gemeinschaftsprojekt des Seminars Net.art im
Sommersemester 2007 an der Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar
Autoren: Wencke Artschwager, Svetlana Auer, Daniel Becker, Daniel Hirsch, Anne-Christin
Klare, Birte Kleine-Benne, Ulrike Kuhn, Sarah Niesel, Torsten Rackoll, Inga Reimers,
Simone Thürnau, Cora Waschke, Nikola Weseloh
Lektorat: Birte Kleine-Benne
Redaktion: Daniel Becker, Daniel Hirsch, Torsten Rackoll, Inga Reimers
Layout Offline: Torsten Rackoll
/Cornelia_Sollfrank
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Wencke Artschwager
Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod:
© bei den Autoren Artschwager, Auer, Klare, Kleine-Benne, Kuhn, Thürnau, Waschke,
Weseloh, 2008
Creative Commons-Lizenz (http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/2.0/de) bei
den Autoren Becker, Hirsch, Niesel, Rackoll, Reimers, 2008
Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo
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Abbildung: Ceci n’est pas une page Web. picidae, Christoph Wachter und Mathias Jud,
2007.
Nikola Weseloh
Exhibiting the Dot
Wir danken den KunstproduzentInnen und AutorInnen, deren Material uns als
Untersuchungsgegenstand diente.
Weitere Informationen zum Seminar, Bookmarks zu Net.art und ausgewählte Literatur:
http://www.bkb.eyes2k.net/uniHH07.html
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Inga Reimers
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Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel
von Arbeiten Vuk Cosics
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Kostenloser Download des Shortguide | Kurzführer: Net.art: http://www.uni-hamburg.de
/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
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Simone Thürnau
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
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Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst
93 Ulrike Kuhn
„Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder.“ (Vuk Cosic 1997)
Error 404. [Net.]Art is not found
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Sarah Niesel
Vorbemerkungen
von Birte Kleine-Benne
Das russische Internet
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Svetlana Auer
Tactical Media
121 Daniel Hirsch
Glossar
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Daniel Becker
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Anhang
Seitdem der Cyberspace Anfang der neunziger Jahre
zunächst selbst zu einem „medialen Gesamtkunstwerk“
(Rötzer/Weibel 1993) erklärt und etwa zeitgleich die Formel
„net = art“ (Heath Bunting) aufgestellt wurde, haben sich mit
und im Internet verschiedene künstlerische Praktiken herausgebildet. Wesentlich für Net.art, die ihren Begriff dem Mythos
nach einem Unfall verdankt, ist ihr spezifischer Umgang mit
den technischen Eigenschaften, den Regeln, Technologien
oder Protokollen des Internets. Net.art, spezifischer dann
Software Art, Browser Art oder Blog Art, wird der Medienkunst, einem Sammelbegriff für künstlerisch-technologische
Kooperationen, zugeordnet – eine Gattung, deren Auflösung
neuerlich auf der transmediale 2007 angeregt wurde.
In Abgrenzung zur Net.art steht die sog. Kunst im Netz als
Bezeichnung für diejenigen Aktivitäten, die das Internet als
Arena der Repräsentation oder als ein sekundäres Reproduktions- oder Distributionsmedium nutzen. Die Unterscheidung zwischen Net.art und Art on the Net (Blank 1996) kann
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder.
durch drei Kriterien präzisiert werden: Interactivity, Connectivity
und Computability bestimmen die sog. Webness (Dietz 2000).
schen. Denn obwohl oder gerade weil sich die Netzkunst aus
konzeptuellen und/oder technischen Gründen einer KunstKanonisierung entzieht, fordert sie die Strategien der Institutionalisierung geradezu heraus. Sie trägt – wenn auch lückenhaft – ausgewählte Operationen im Kunstsystem in
„Duchampscher“ (Baumgärtel) Geste vor und gibt Auskünfte
zur Verfasstheit des metastabilen Betriebssystems Kunst.
Jüngstes Beispiel für eine fortgesetzte Institutionalisierung ist
die Gründung des Linzer LBI Instituts
Medien.Kunst.Forschung., das Forschung in der Entwicklung
von Dokumentations-, Beschreibungs- und Erhaltungsstrategien für digitale Kunstwerke und Medienkunst betreiben
will. Unser Shortguide | Kurzführer: Net.art soll hierzu einen
Beitrag leisten.
Die junge Geschichte der Net.art, die in eine kunsthistorische
Tradition u.a. von Situationismus, Konzeptkunst und Fluxus
gestellt werden kann, ist trotz ihrer Kürze eine bewegte und
wechselhafte und wird wegen der abwechselnden Nachrufe
von Produzenten- und Kritikerseiten als eine tragische bedauert (Weiss 2008):
Der ledigliche Rückgriff auf künstlerische Konzepte der siebziger und achtziger Jahre (Fake, Appropriation und Institutionskritik), die selbstorganisierten Gründungen eigener netzspezifischer Institutionen wie Festivals, Webzines und Wettbewerbe
sowie die Ununterscheidbarkeit zwischen Kunst und Kontext
qua Medium veranlasste Isabelle Graw, in Texte zur Kunst
1998 eine scharfe Trennlinie zu verkünden: Gewissermaßen
freiwillig habe die Netzkunst darauf verzichtet, als Kunst im
herkömmlichen Sinne zu funktionieren. Ein Jahr zuvor behauptete Vuk Cosic, Repräsentant des slowenischen Pavilions auf
der Biennale in Venedig 2001, leidenschaftlich: „Kunst war nur
ein Ersatz für das Internet.“ Andere schwärmen von einem
subtilen Ikonoklasmus, einer Attacke auf die Idee des Bildes
als materieller Substanz (Hartl 2001), wiederum andere
bezeichnen die Netzkunst als einen „Joke“ (Medosch 2008
zitiert Cosic), von dem heute „doch schon lange niemand
mehr [spricht]“ (Medosch 2008).
...demnach ein hervorragender Untersuchungsgegenstand und
Grund genug, unbeeindruckt der kompetitiven Kämpfe im kulturellen Feld (Bourdieu) zum Komplex Netzkunst, u.a. zu einzelnen Netzkünstlern und deren Produktionen, zu kunstsystemischen Interventionen, zu assoziierten Themen und zu
Potentialen für Kunstwissenschaft und Kunstgeschichte zu for-
Zu Beginn bescheinigt Torsten Rackoll
[torsten.rackoll(at)web.de] der Net.art Chancen, als
Metakatalysator wirksam sein und mit der Macht des Kanons
brechen zu können, Kunst nämlich nicht mehr nur einzig aufgrund des Mediums bzw. des verwendeten technischen
Mittels zu klassifizieren. Rackoll schlägt der kunstgeschichtlichen Forschung vor, insbesondere den netzspezifischen
Hypertext als alternative Systematisierungstechnik einzusetzen und mit dieser sowohl inhaltliche als auch formale Aspekte zu indizieren, gleichsam damit das Kunstwerk von der
festschreibenden Kontextlast zu befreien.
Aus der Riege der sog. Netzheroes Bunting, Cosic, Jodi,
Lialina und Shulgin, die 2003 als Gipsbüsten auf Sockeln in
ironischer Zwanzig-Zentimenter-Größe im Museum (of
Contemporary Art in Oslo) landeten, fokussieren wir in unserem Shortguide eine Netzarbeit von Olia Lialina.
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Cora Waschke [cora.waschke(at)web.de] übersetzt den
Netzkunstklassiker ‚My Boyfriend Came Back From The War‘
aus dem Jahr 1996 in ein Baummodell und bringt mittels
ihrer Strukturanalyse (einschließlich einer textlichen Analyse
der Übersetzungsprobleme) den sukzessiven Bildverlauf der
Einzelframes auf eine visuelle Fläche. Der Versuch, einen
Gesamtüberblick über die formale Text-/Bild-Komposition
dieser Netzarbeit zu gewinnen, soll in der digitalen Variante
das MBCBFTW-Museum erweitern, das bisher 22 Variationen des Klassikers Lialinas in unterschiedlichen Formaten
wie Video, Audio, Gouache oder Comic ausstellt. Waschkes
kunstwissenschaftliche Analyse bietet erstmals eine theoretisierende Fassung. (Baummodell siehe http://www.unihamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetartmbcbftw.pdf)
Unser Exkurs zu Duchamp knüpft inhaltlich an die wesentlichen selbstreferentiellen Kennzeichen von Net.art an, die
Netzkunst auch in die Tradition der Konzeptkunst der späten
sechziger und frühen siebziger Jahre und der Kontextkunst der
neunziger Jahre stellt:
„[...] aber die konzeptuellen Mittel, die Marcel Duchamp oder
Joseph Beuys oder die frühen Konzeptkünstler entwickelt
haben, sind heute zu vollkommen normalen Vorgängen geworden, die Du jedesmal wiederholst, wenn Du nur eine Email verschickst. Jedesmal, wenn Du Netscape öffnest und wahllos
eine Webadresse bei Yahoo! anklickst! Vor 80 Jahren wäre dieser Akt, der jetzt zum vollkommen normalen Alltagsleben
gehört, die modernste Kunstpraxis gewesen, die man sich nur
vorstellen konnte und die niemand außer Duchamp und seinen
beiden besten Freunden verstanden hätte.“ (Cosic 1997)
Mit künstlerischen Mitteln der Appropriation und einem strategischen Re-Mix aus Dada, Situationismus, Konzeptkunst
und Punk entwickelten JimPunk und Abe Linkoln 2004 in
einem Blog-Format virtuose Netzkunst-Referenzen, u.a. auf
Marcel Duchamp. Ann-Christin Klare [anne-christin(at)klareonline.de] prüft die Netzarbeit ‚La Boite en valise‘ auf ihre
Konzept- und Zitatgenauigkeit des gleichnamigen Miniaturmuseums in Kofferform von Duchamp aus den Jahren 1935
bis 1941 und geht der Frage nach, welche Veränderungen,
welche Möglichkeitserweiterungen, aber auch welche
Möglichkeitsbegrenzungen die digitale Umsetzung und
Bearbeitung der etwa 70 Jahre alten analogen Schachtel im
Koffer anstößt. Klare bestätigt neuerlich die Definition von
bildender Kunst als Feld für Verhandlungen.
Daniel Becker [danielbecker2000(at)gmx.de] gelingt es, den
hybriden und komplexen Kunstprozess ‚Mission Eternity‘ der
Schweizer Medienkunstgruppe etoy, einem Totenkult für das
Informationszeitalter (seit 2005), in kürzester Präzision vorzustellen. etoy ist mit Mission Eternity Preisträger des spanischen Medienkunstpreis VIDA AWARD 2007 der Telefonica
Foundation. Becker schlägt für diese und vergleichbare
Arbeiten die Folgekategorisierung von Net.art, die der ‚netzwerk-kunst‘ vor. Diese würde die technische und die strukturelle Ebene erfassen und besäße darüber hinaus eine etymologische Verwandtschaft zu ‚net.art‘, ohne jedoch zwingend dessen Assoziation zum Internet, zur ‚Webness‘ zu wecken.
„Ceci n’est pas une pipe“ schrieb René Magritte 1929 unter
die erste Version seines Öl-Abbilds einer Tabakpfeife und startete damit sein künstlerisches Spiel mit Zeichen und codierten
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Bildern. Magritte hielt mit seinen 2-D-Positionen alles in der
Schwebe und brachte die Unvereinbarkeit von Wort und Bild
zur Darstellung: Wort und Bild sind nie deckungsgleich, auch
dann nicht, wenn sie offensichtlich dasselbe, nämlich die
Pfeife, bezeichneten. Diese immerwährende Lücke zwischen
Wort und Bild nutzten die beiden Schweizer Christoph
Wachter und Mathias Jud für ihr Projekt ‚picidae‘ (2007) und
klärten damit wie beiläufig ein scheinbar unlösbares Problem
realpolitischer Relevanz: die Internetzensur, ob in China,
Korea oder in den arabischen Ländern, in Deutschland,
Frankreich und der Schweiz, in Firmen, Institutionen oder
Organisationen. Statt eines freien und gleichen Internets zeigen sich institutionelle, regionale, nationale oder geografische
Unterschiede und die Auslassungen offenbaren konkret
zuordbares realpolitisches Begehren, was (visuell und damit
wahrnehmungs- und handlungsrelevant) unsichtbar (gemacht)
wird.
Cosic schwärmte bereits 1997: „Wir haben jetzt dieses Kommunikationssystem, das mich ein bisschen an die Kommunikation zwischen den Futuristen erinnert oder später zwischen
den Dadaisten: zwei Typen in Berlin, vier in Paris, zwei in
Rußland [...].“
Beeinflussen die veränderten Sehgewohnheiten von Frames,
digitalen Bildmodulen und zuckenden Pixeln auch die Rezeption und kann diese in verschiedenen Varianten von Useraktivitäten (in unterschiedlichen Graden) ausdifferenziert werden?
Nikola Weseloh [nikolaibiza(at)hotmail.com] setzt sich in
ihrem Text thematisch mit einem weiteren Aspekt unseres
Themenkomplexes, dem der Rezeption von Netzkunst am
Beispiel der Softwarekunst ‚In The Mod: Color Analytics
(ITM)‘ des aus New Mexico stammenden Künstlers,
Designers und Entwicklers Dr. Woohoo auseinander. Diese
Arbeit zeigt sich nicht als ein fertiges Endprodukt, sondern
seit 2003 als ein Work-in-progress zur Herstellung verschiedenster Relationen und interessierte uns insbesondere aufgrund seiner kunsthistorischen Un-/Ordnungsmöglichkeiten.
Da die Konzept- und Netzkünstlerin, Cyberfeministin und
Hackerin des Betriebssystems Kunst Cornelia Sollfrank 2008
noch immer nicht über einen Wikipedia-Eintrag verfügt, formatiert Wencke Artschwager ihre Auseinandersetzungen mit
Sollfranks künstlerischem Schaffen als einen lexikalischen
Text. Dieser soll in die Online-Enzyklopädie implementiert und
damit zur kollektiven Weiterarbeit in kollaborativer Autorschaft
freigegeben werden. Sollfrank als Initiatorin und Mitbetreiberin der Internetplattform für Kunst und Kritik THE THING
HAMBURG, die an die Tradition des 1992 in New York installierten unabhängigen Kommunikations- und Informationsnetzwerkes THE THING anknüpft, nimmt außerdem eine Verlinkung von THE THING und unserem Shortguide vor und praktiziert damit den kollektiven Code von Netzwerkstrukturen.
Zieht die Produktion netzbasierter Kunstformen auch einen
neu zu definierenden Typus von Präsentation und Vermittlung
nach sich, gewissermaßen als gattungstypische Antwort auf
die veränderten Möglichkeiten von Kunstproduktion?
Inga Reimers [swinga(at)web.de] stellt in ihrem Text mit dem
prägnanten Titel ‚Exhibiting the Dot‘ ausgewählte Netzkunstausstellungen seit 1997 vor, arbeitet im Rückgriff auf Roy
Ascotts Unterscheidung von plastischen und xenoplastischen
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Künsten in der heutigen Telematik-Kultur (1995) die Folgekonsequenzen von Vernetzung und Interaktion für den Ausstellungsbetrieb heraus und entwirft zwei mögliche Zukünfte für
die Präsentation von Netzkunst. Statt die Anschlüsse nach
White-Cube-Strategie zu kappen und einzelne, kontextlose
und archivierbare Endprodukte durch eine weiße Wand, einen
Sockel, eine Vitrine oder einen Lichtspot herzustellen, beobachtet Reimers aktuell zwei Tendenzen für die Präsentation
von Netzkunst: zum einen die chronologisch-bilanzierende
Retrospektive, die die Netzkunstproduktionen (zumeist unter
ein übergeordnetes Thema subsumiert) in das Zentrum des
Ausstellungsinteresses stellt, zum anderen die Fokussierung
des Netzproduzenten mit einem Interesse an dessen
Arbeitsprozessen.
Avantgarde mehr“ dar, besteht aber dennoch in einem „diskursiven Randbereich des Betriebssystem Kunst“ fort.
„The final abstract expression of every art is a number“
behauptete Wassily Kandinsky und bietet mit dieser Aussage
die argumentative Grundlage für eine gedankliche Verlinkung
durch Ulrike Kuhn [ulrike.kuhn(at)gmx.net]: zwischen dem
durch das Netz generierten Kunstwerk – durchaus mit inhaltlicher Aussage – als Ergebnis eines Algorithmus einerseits und
den Dichotomien, die Heinrich Wölfflin erstmals 1915 in seinen ‚Kunstgeschichtlichen Grundbegriffen‘ in methodischer
Folge eines neuen Mediums (der Doppelprojektion von Dias)
erfindet andererseits. Marshall McLuhans populäre These,
dass das Bedeutende eines Mediums dessen Wirkung sei, ist
somit auch für Wölfflins fünf binäre Begriffspaare anwendbar,
mit denen vor knapp einhundert Jahren in Folge quantitativ
explodierender Bilddaten (Ernst/Heidenreich 1999) die kunstgeschichtlichen Untersuchungsgegenstände neu zu ordnen
waren, und findet, so Kuhn, ihren vorläufigen Höhepunkt in
der Netzkunst.
Diese Überlegungen provozieren die Fragen, welche organisierenden Methoden die Kunstgeschichte künftig in Folge des
Anwachsens digitaler Bildarchive bereit zu stellen hat.
Simone Thürnau [simone-thuernau(at)gmx.net] stellt ausgewählte Arbeiten des Künstlers, Galeristen, „PR-Beauftragten“,
Kurators, Sammlers wie auch Autors der eigenen Monographie Vuk Cosics vor: zum einen die ‚classics of net.art‘
(1997), einer Geschichtsschreibung in eigener Sache, zum
anderen den „Diebstahl“ der documenta-X-Webseite (1997)
inklusive mitgeliefertem Vokabular für Pressemitteilungen,
einem „Kommentar zum Themenkomplex Sammeln und
Archivieren von Kunst und Netzkunst, der Frage nach der
Macht und Autorität von (Kunst-) Institutionen sowie der
Glaubwürdigkeit von Informationen im Netz“. Thürnau untersucht den expliziten Rekurs auf kunsthistorische Vorbilder
sowie den Angriff auf Mechanismen des Betriebssystems
Kunst mittels künstlerischer Strategien und stellt abschließend fest: Net.art stellt trotz „ihrer Immaterialität, der Präsentationssituation und der Unvereinbarkeit mit merkantilen
Mechanismen zum heutigen Stand [...] keine neuartige
Sarah Niesel [sarah.niesel(at)gmx.net] stellt die noch heute
maßgeblich bestimmenden Konservierungs- und Restaurierungsprinzipien, wie sie in der Charta von Venedig 1964 verankert sind, in Beziehung zu den aktuellen Erfordernissen im
Umgang mit Netzkunst. Denn: Konservierte Netzkunst sei
weniger Netzkunst als konservierte Malerei noch Malerei,
zitiert sie die Netzexperten Blank und Jeron. Das Variable
Media Network, 2001 als eine Initiative u.a. des Guggenheim
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Museum New York, der Langlois Foundation und der Netzplattform rhizome.org gegründet, erarbeitet medial übergreifende Strategien im Umgang mit unvorhersagbaren Alterungsprozessen künstlerischer Arbeiten. Eine institutionsübergreifende Datenbank soll beispielsweise werkkonkrete, in
Kooperation mit dem jeweiligen Urheber erarbeitete Strategien zugänglich machen.
„das ohne hohen finanziellen Aufwand, effizient auf der ganzen
Welt durch die Nutzung neuer Möglichkeitsräume Informatio-nen
im Sinne einer Kampagne der Tactical Media zu verbreiten“ erlaubt.
Hirsch bindet überdies exemplarische Fallbeispiele aus der
Kunstpraxis, u.a. von The Yes Men, etoy oder des Critical Art
Ensembles ein und koppelt damit unseren Shortguide an relevante
theoretische Diskussionen der Netzkunst- und Netzkulturszene.
Svetlana Auer [lilit333(at)gmx.de] weitet den Kontext unseres
Shortguides und informiert über das RUNET, dem russischsprachigen Teil des Internets, und damit über die sprachlichen Grenzen des Internets. Drei ausgewählte Beispiele skizzieren exemplarisch die Spannbreite der über zehnjährigen
Netzkultur einer Gemeinschaft von Menschen, „die russisch
sprechen, schreiben und denken“ und rund um die Welt verstreut leben. Ob Pop, Skandale, Urheberrechtsdebatten oder
Kommerzialisierungen – das Runet ist nach einem Jahrzehnt
seiner Formierung, so Auer, nun endgültig „in der Realität
angekommen“.
Unser Anhang versammelt für uns wichtige Primärtexte, auf die wir
explizite Aufmerksamkeit lenken möchten.
Zuvor gibt unser Glossar, zusammen gestellt von Daniel Becker,
insbesondere für eine Offline-Nutzung unseres Shortguides eine
Übersicht über von uns verwendete und sich wiederholende
Termini, deren Erläuterung wir der Online-Enzyklopädie Wikipedia
entnommen haben. Statt die Internetquellen jeweils mit Permalink,
Abrufdatum und weiteren bibliografischen Daten zu benennen, weisen wir hier exponiert auf die Auskunftsquelle für das Zitieren aus
der Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Wikipedia:Zitate oder auf
die Spezial-Zitierhilfe der Wikipedia http://de.wikipedia.org/
wiki/Spezial:Cite hin.
‚Whatever happened to Tactical Media?‘ fragte die transmediale im Februar 2007 zur Relevanz des taktischen Mediengebrauchs im Zeitalter von Web 2.0. Daniel Hirsch
[daniel(at)dreiundsiebzig.de] klärt vorab Selbstdefinitionen
(z.B. von Geert Lovink und David Garcia), Abgrenzungen (z.B.
zu Alternative Media und Indymedia), Seitenrichtungen (z.B.
die Praktiken des Culture Jamming), historische bzw. theoretische Vorläufer (z.B. die Theorien des Kulturphilosophen
Michel de Certeau), nimmt Begriffsschärfungen (z.B. in Abgrenzung zum Hacktivismus) vor, behandelt ästhetische
Strategien (z.B. die Récupération und das Détournement des
Situationismus) und untersucht die Schnittstelle zum Netz,
Zum Anhang:
(1) Als Reaktion auf die veränderten medial-technischen
Bedingungen künstlerischer Produktion lag ein Schwerpunkt des
Seminars auf der Beschreibung und Analyse von Netzkunstarbeiten
– mit dem Ergebnis, hier eine Übersicht möglicher Analysewerkzeuge als ein Work-in-progress v03.08 anbieten zu können, die in
produktions-, werk-, rezeptions- und wirkungsorientierte
Analyseansätze unterscheidet und der aktuellen Forschung bei der
Entwicklung von Beschreibungsstrategien dienen kann. (Analysewerkzeuge für Netzkunst siehe http://www.uni-hamburg.de/
Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart-AnalyseNetartv0308.pdf)
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Ja, irgendwie sind wir Duchamps ideale Kinder.
Auch muss die Urheberrechtsgesetzgebung (UrhG) als
Ausgleich zwischen den Rechten der Urheber und der
Allgemeinheit, das nicht selten in seiner reformbedürftigen
Fassung von 1965 die Rechte der Kunstproduzenten
begrenzt und die digitalen und technischen Möglichkeiten
vernachlässigt, überarbeitet werden. Der Zweite Korb der
Novellierung des Urheberrechts, in deren Folge der Urheber
seit 1.1.2008 an den Verwerter bislang noch unbekannte
Nutzungsarten schon im Voraus abtritt, stellt neuerlich eine
Schwächung des Urhebers dar.
(2) Mit ihrem Net.art-Manifest stellten Natalie Bookchin und
Alexei Shulgin 1999 programmatisch eine erste definitorische
Übersicht zur Net.art zusammen, die über Spezifika,
Techniken und in Aussicht stehende Transformationen des
Kunstsystems informiert und Netzkunstproduzenten Tipps zu
Ausstattung und Attitüden gibt.
(3) Im Februar 1971 ließ der Galerist Seth Sieglaub von dem
New Yorker Rechtsanwalt Bob Projanski den ,Artist’s
Reserved Rights Transfer and Sale Agreement‘ aufsetzen, der
„allgemein bekannte Ungerechtigkeiten in der Kunstwelt
beseitigen [will], insbesondere den fehlenden Einfluss des
Künstlers auf die Verwendung seines Werkes und seiner
Nichtbeteiligung an Wertsteigerungen, nachdem er sein Werk
aus den Händen gegeben hat“.
(6) Kurd Alsleben und Antje Eske führen zu ihrer aktuellen
These (2008) aus, dass in einem historischen Dreierschritt
zunächst in den sechziger Jahren die erfolgreiche Verbindung
von Kunst und Computer startete, sich dann die Idee der
Interaktivität zwischen Mensch und Maschine paradigmatisch
in der Medienkunst entfaltete und sich in der Gegenwart mit
der Netzkunst eine „Kunst des Austauschs“ und zwar „ohne
Publikum und ohne Werkproduktion“ entwickele. Er, der
Netzkünstler, sei weder Produzent, Koproduzent noch Moderator, er begehre Botschaft. Darauf gibt Torsten Rackoll
Einblick in ein mit Antje Eske und Kurd Alsleben am 2.4.2008
geführtes Interview.
(4) Der Kaufvertrag der Netzkunstarbeit ‚www.antworten.de‘
(1997) vereinbart zwischen den Netzkunstproduzenten Holger
Friese und Max Kossatz einerseits und dem Netzkunstkäufer
Hans Dieter Huber, Professor für Kunstgeschichte der Gegenwart, Ästhetik und Kunsttheorie an der Staatlichen Akademie
der Bildenden Künste Stuttgart, andererseits im Jahr 1998
u.a. den Verkauf, die Ausstellungskonditionen, die Verfügungsansprüche der Künstler, die Änderungsunterlassungen
des Käufers, die Reparaturzuständigkeiten, die Reproduktionsrechte und die Beteiligungen z.B. an Vermietungen.
Ein abschließendes Wort:
Unser Shortguide wirft einzelne Spots auf verschiedene
Aspekte der Net.art (für die im Übrigen die unterschiedlichsten, zum Teil auch synonymen Bezeichnungen zur Anwendung kommen und von uns im Folgenden nicht homogenisiert werden: Netz.Kunst oder net.art, Netzkunst oder NetzKunst). Statt das Spektrum von Produktion, Rezeption,
(5) Eine weiße Seite soll Interessensvertreter der Medienkunst
anregen, einen Open-Content-Mustervertrag für kreatives
Schaffen in der digitalen Welt aufzusetzen, der je individuell
die Verkäufe von Medienkunst im Allgemeinen an Sammler,
Museen oder Unternehmen zu vereinbaren in der Lage wäre.
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Präsentation und Distribution (vorgeblich) vollständig zu
beleuchten, ist die vorliegende Collage vom wissenschaftlichen Interesse der einzelnen Beteiligten geleitet. Gerade die
Diversität der stichprobenartigen Texte, die in dem Format
eines (seriell fortsetzbaren) Shortguides konstruktiv versammelt sind, hält das Spektrum weit.
Festzuhalten sind allemal veränderte Bedingungen für die
Produktion, Rezeption, Präsentation, Vermittlung und Archivierung von ‚Bildern‘. Und die Freude, am Gegenstand
Netzkunst gegenwärtig kunsthistorisch arbeiten zu können.
Net Art1. Chancen als Metakatalysator
Birte Kleine-Benne [bkb(at)eyes2k.net], im April 2008.
Torsten Rackoll
Die Frage ist nicht, ob das Internet nur eine andere Form bekannter
Fragestellungen ist, sondern ob und wie das Internet, Klärung und
Einsichten in diese Fragestellungen ermöglicht.
Technische Erneuerungen haben bislang stets dazu beigetragen, einer Entwicklungsgeschichte frischen Wind in die Segel
zu pusten. Was sich in der Militärgeschichte, der Bewegungsgeschichte, aber auch im Buchwesen und in der Industrie
abzeichnet, bleibt in der Kunstwelt nicht aus. Ein Beispiel
wäre der Anschub in den Produktionsweisen wie auch im
Kunstverständnis, den jede Vervielfältigungstechnik – vom
Holzdruck, über den Buchdruck zu den technischen, reproduzierenden Medien – der Kunstwelt gebracht haben.
Viel zitiert ist in diesem Zusammenhang Walter Benjamins
Aufsatz zur Reproduzierbarkeit in der Kunst (1936). In diesem, so beschreibt es Ranciére, leiten sich Charakteristika
der Kunst aus ihren technischen Eigenschaften ab (2006). Als
Gegenentwurf zu Benjamin schlägt er vor, dass die technisch
reproduzierbaren Künste zunächst erst einmal als Künste
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Net Art. Chancen als Metakatalysator
Anerkennung zu finden hätten. Dazu müssten sie ihre ästhetische Form finden, die nur zu Teilen aus dem Faktor der Reproduzierbarkeit hervorgeht. Die technische Seite, auf die
Benjamin seinen Text fokussiert, die Vervielfältigung, sei nur
ein Aspekt, nicht aber der alleinig Konstituierende.
net könnte zumindest ein Grund dafür sein, dass die sogenannte Net Art einen Hauch des Deplazierten in Ausstellungshäusern und Festivals, generell an sämtlichen Offline- oder
Reallife-Orten hinterlässt, wie es z.B. die Ausstellung
net_condition im ZKM (1999/2000) vermuten lässt.
Dennoch hält die Rezeption beharrlich daran fest, Kunst aufgrund ihres Mediums zu klassifizieren. So bleibt weder das
Internet noch die Kunst davor bewahrt, in Verbindung miteinander eine, besser unendlich viele Kategorien, wie die Net Art
einzuführen und etablieren zu wollen.
Um Missverständnissen vorzubeugen, soll darauf hingewiesen werden, dass es hier nicht darum geht, ein Urteil über die
sogenannte Net Art zu fällen. In diesem Beitrag soll die Art
der Betrachtungsweise, welche durch Kategorisierungen bestimmt ist, wie auch ihre Beschränkungen aufgezeigt werden.
Dem gegenüber soll der Hypertext als möglicher, produktiver
Umgang mit Gegenwartskunst im Generellen angeboten werden.
Statt mit Gewohntem zu brechen, scheint auch auf dem
Terrain des Internets die Macht des Kanons die Oberhand zu
behalten, indem Kategorisierungen einzig aufgrund des verwendeten technischen Mittels eingerichtet werden. Alles, was
sich auf der Ebene des über das Internet Abrufbaren befindet, gehöre zusammen. Intentionen, formale Fragen, Inhalte
werden daraufhin benutzt, um Unterordnungen zu (er)finden2.
Mal stehen diese Unterkategorisierungen, die sich bei
Schiesser nur im Grade der Interaktion des Users unterscheiden (1999), allein, mal werden sie um weitere mediale Fragen
ergänzt, so dass der Schluss nahe liegt, es genüge, alleinig
an jede Hard- und Software das Suffix Art anzuhängen. Ein
Klick auf Google reicht. Selbst die Google Art hat sich bereits
aus dem Wulst kreativitätsgetriebener Medienproduzenten
herausgequetscht, oder besser geFilterArt.
Das Wesen der Net Art liegt in ihrer Begrifflichkeit
Was vermittelt die Bezeichnung Net Art eigentlich? Die oft
angeführte systemtheoretische Netzwerkmetapher kann nicht
das Klassifizierende sein, sonst wären die Situationisten
nicht nur als Vorläufer der Net Art, sondern als Teil von ihr
deklariert worden.
Heißt es etwa, dass ein User sich die Werke stets nur im
Internet, jedoch weltweit verlinkt anschauen und einen gedanklichen Austausch mit den Tactical Media _S. 121 (Hirsch)
selbst von seiner Ferienbehausung in der Karibik genießen
kann? Diese spezifische Ausrichtung auf die Plattform Inter-
Vier Belege für die Beschränkungen traditionell medialer
Klassifizierungen
Ich will nun aufzeigen, dass sich in Net Art Werken keine gängigen Definitionen von Net Art finden lassen, die ihren Ansprüchen gerecht werden. Das führt – wie schon bei anderen
kunstgeschichtlichen Kategorien – dazu, dass vorhandene
Definitionen so sehr geweitet werden müssen, dass sie gänzlich ihre Schärfe verlieren. Bedenklicher jedoch ist, dass jeglicher Versuch kategorialer Verortung unproduktiv ist und keine
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Net Art. Chancen als Metakatalysator
angemessene Reaktion auf die Aufgabe des Umgangs mit
Gegenwartskunst darstellt.
plarischer Versuch, eine soziale Skulptur mit Hilfe der aktiven
Auseinandersetzung der User entstehen zu lassen.
Auf der Ebene der Weboberfläche gibt sich die Arbeit La
Boite En Valise5 von JimPunk und Abe Linkoln _S. 34 (Klare)
aus dem Jahr 2004 wie eine gewöhnliche Webpräsenz. Die
einzelnen Links verweisen jedoch auf computerproduzierte
Werke, welche allesamt als Versuch gelten können, nicht nur
Duchamps Miniaturmuseum _S. 34 (Klare) in Kofferform aus
den Jahren 1935 bis 1941, sondern Duchamps Schaffen im
Allgemeinen auf die Ebene des Digitalen zu übertragen. Dem
gegenüber versucht die Hackerin und Netzkünstlerin
Cornelia Sollfrank _S. 52 (Artschwager) mit dem net.art
generator6 von 1999, nicht nur ihre eigene Handschrift gänzlich von dem Fabrizierten zu lösen. Sie hinterfragt ebenso die
Rolle des Urhebers, wenngleich sie auch dem Schöpfer der
generierten Kunst wenig Einflussmöglichkeiten erlaubt. Der
net.art generator nutzt als Material aus dem Internet genommene, beliebige Webseitenschnipsel und lässt diese nach
dem Motto „A smart artist makes the machine do the work“
automatisch rekombinieren.
In ihrer Arbeit Flag Metamorphoses3 aus dem Jahr 2005 lässt
Myriam Thyes Länderflaggen zweier oder mehrer Staaten
durch morphische Prozesse in Animationen Verbindungen
eingehen. Dabei treten größtenteils Staaten in Verbindung,
die vom Territorialen losgelöst miteinander verstrickt sind.
Zum Einen kapselt Thyes sich durch die einladende Aufforderung an den User ihrer Webseite, diese Prozesse in FlashAnimationen zu verwirklichen, von dem Produktionsprozess
ab; zum Anderen erkennt sie die Möglichkeiten des Internets,
territoriale Zuordnungen aufzulösen und probiert andere
Bedeutungszusammenhänge aus.
Das Internet selbst spielt dabei in zweierlei Weise eine Rolle:
Es bietet sowohl die Oberfläche, auf der die User ihren Austausch gestalten können, als auch in Folge seiner nichtterritorialen Struktur die Grundlage, weit entfernte Länder zusammen zu fügen. Spanien und Mexiko sind nur eine (Datei-)
Endung voneinander entfernt.
Unabhängig vom Netz wurden die Animationen auf verschiedenen Ausstellungen gezeigt.
Ähnlich partizipatorisch gibt sich die seit 1994 existierende
digitale stad Amsterdam4, eine technologische und kulturelle
Infrastruktur, in der sich eine Netzkultur aus kommunizierenden und interagierenden Usern entwickeln konnte. Allerdings
spielen hier weder formale Fragen noch territoriale Überschreitungen eine Rolle. Bei dieser Virtual Community geht es
um das, was Schiesser mit kollaborativen Werken bezeichnet:
„Dem User, der Userin wird eine (vorgestaltete) Plattform oder
ein Rahmensystem zur Verfügung gestellt, die er, sie für
seine/ihre eigene Zwecke benutzen kann.“ Es ist ein exem-
Ein Vergleich von Netzkunstwerken – bedenkt man die
Produktivitätsgeschwindigkeit des Internets – ist beinahe
unendlich fortführbar. Dennoch stellt sich schon nach einer
flüchtigen Gegenüberstellung die Frage, wie hilfreich es ist,
diesen Vergleich anzustellen. Beim Schreiben kommt es mir
zumindest reichlich unproduktiv vor. Doch kommt jemand,
der sich in der Kategorie Net Art bewegen will, nicht umhin,
diesen Vergleich zumindest zu denken.
Aber wie lässt sich dann mit künstlerischen Werken umgehen, die aufgrund ihrer Medialität anbieten, ja beinahe herausfordern, mit den gewohnten Kategorien zu brechen? Ich
24
25
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Net Art. Chancen als Metakatalysator
bin der Meinung, dass sich anhand produktiver Fragestellungen Zusammenhänge ergeben, die zu neuen Ordnungsprinzipien führen werden. Eine Möglichkeit dieses Prozesses werde
ich im Folgenden vorstellen.
Meta-Tags und Hypertext als produktive Alternativen
Bietet das Medium nicht doch eine mögliche Antwort auf
meine anfängliche Fragestellung, die so noch nicht probiert
wurde? Eine Möglichkeit des Umgangs lässt sich auf der
technischen Seite des Internets erkennen.
Mediale Kategorisierungen von Kunst suchen die Antwort auf
die Frage ihrer Herangehensweise im richtigen Feld, allerdings stellen sie die falsche Frage. Die Technik des Mediums
kann nicht alleinig durch ihre Präsenz Grundlage für die Heterogenität ihrer Auswüchse sein. Sie kann allerdings aus sich
ein Mittel zur Gliederung anbieten. Einen Versuch im Kleinen
macht das Internet mit den Meta-Tags von Webseiten.
Meta-Tags sind vom Autor vergebene Indexate, die den Inhalt
in eine strukturale Nachbarschaft zu ähnlich Bezeichnetem
bringt. Meta-Tags sind eine Quelle, aus der Suchmaschinen
ihre Ergebnisse erzielen und sollen vor allem die Durchsuchbarkeit des World Wide Webs bzw. einer einzelnen Webpräsenz verbessern. Die Chance auf eine gründlichere Auseinandersetzung künstlerischer Fragestellungen scheint gegeben.
Beim Betrachten von Myriam Thyes Flag Metamorphoses wird
die Möglichkeit, territoriale Grenzen mit Hilfe des Internets zu
umgehen, offensichtlich. Doch ebenso wie das Internet noch
auf seine Grenzenlosigkeit hin überprüft werden muss, lässt
sich eine Erörterung über Grenzen unserer Gesellschaft sowie
deren morphisch-geschichtlichen Veränderungen denken.
Stößt die digitale stad Amsterdam soziale, aber auch netztheoretische Prozesse an, so lässt sich auch fragen, inwiefern
es sich hierbei auch um kompositorische und damit um ästhetische Prozesse handelt.
Wie schon Duchamp mit seinem mobilen Museum versucht
hat, seinem Werk einen neuen Ort zu geben, so kann mit Hilfe
des Netzarbeit von JimPunk und Abe Linkoln nach der Lokalisierung von Gegenwartskunst, aber auch nach der Repräsentation von Titel, Verkaufspräsenz, Werk oder Autor gefragt
werden.
Cornelia Sollfrank wiederum potenziert die medial vereinfachte
Produktion von Kunstwerken und bringt Fragen der Urheberschaft auf den aktuellen Stand. Auf diese Weise thematisiert
sie das Verhältnis eines Künstlers zu seinem Werk und zu seiner Gegenwart. Eine Herangehensweise, die umso produktiver
erscheint, wie sehr sie die Unterschiede zwischen diesen aufgezählten Begriffen untersucht.
Es könnten somit Herangehensweisen und Fragestellungen
entstehen, die sich aus dem Wesen oder dem Inhalt einzelner
Werke generieren und diese Verwandtschaften erkennen lassen.
Interessanter und in seinen Charakteristika selbst wiederum
produktiver ist der Hypertext. Dieser setzt Verweise auf außerhalb seiner selbst Liegendes. Er setzt Kontexte. Das, auf
das wiederum verwiesen wird, sitzt eigenständig an einem
dritten Ort, ist jedoch in der Lage, an mehreren Stellen Fußspuren, Anzeichen auf seine Anwesenheit zu hinterlassen.
Ähnlich könnte ein produktiver Umgang mit der Zuschreibung
von künstlerischen Werken aussehen: Sie stehen für sich an
einem geschützten Ort – das Kunstwerk steht somit nicht
mehr zwingend mit überviel Disparatem zusammen, sondern
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Net Art. Chancen als Metakatalysator
bleibt eigenständig. Allerdings gibt es Verweise, Hinweisschilder auf das Kunstwerk. So könnte es zum Beispiel eine
Fragestellung geben, die nach Utopien sucht. Diese bearbeitet das Thema und setzt innerhalb dessen einen Verweis, der
einen sowohl direkt zur digitalen stad Amsterdam als auch zu
Malevich führt.
können zuvor unbeachtete Überlegungen und Diskurse in
Gang gesetzt werden. Ähnlich der Kombination von Nähmaschine und Regenschirm auf dem Operationstisch kann es
dem Hypertext sogar gelingen, struktural Unterschiedliches in
eine kurzzeitige Verwandschaft zu setzen, um so einer weiterführenden Überlegung den Boden zu bieten.
Das eigentlich Entscheidende ist jedoch die Möglichkeit, dass
diese Art der Auseinandersetzung, in der Brüche entstehen
werden, produktiv wird und selbst kreiert – nämlich Brüche.
Damit tritt die Kunstgeschichte viel energischer an eine sehr
wichtige Eigenschaft von Kunst heran.
Es ist dabei wichtig zu verstehen, dass nicht versucht wird,
die Bedeutung des Kunstwerks in einer Polyvalenz zu entkräften, sondern es im Gegenteil jeglicher festen Zuschreibung zu entledigen. Um bei den zuvor genannten Beispielen
zu bleiben, könnten die Flag Metamorphoses ohne kategoriale Zuordnung für sich bleiben. Werden im künstlerischem
Bereich Fragen zur Mutualität oder Kreierung eigener Territorien, zu Sinnwelten oder zur Verschmelzung und Verformung
geometrischer Figuren oder Körper gestellt, so kann in diesem Diskurs ein Verweis auf den jeweiligen Aspekt von
Miriam Thyes Werk gesetzt werden. Das Kunstwerk wäre
auch ohne Zuordnung präsent. In der Rezeption dezimieren
die Zuordnungen jedoch die Möglichkeiten der Auslegung
bzw. der Interaktion mit einem Kunstwerk.
1
Auch wenn ich mich in diesem Text von dem Begriff Net Art lösen
möchte, wird er im Folgenden weiter verwendet, um die in der Rezeption
unter dieser Bezeichnung genannten Werke auf ihre Gemeinsamkeiten
prüfen zu können. Dabei sind sowohl die technische Seite des Internets
sowie die Attribute der sogenannten Net Art wie z.B. Konnektivität,
Interaktivität, Navigation gemeint.
Den Hypertext in den Diskurs der Kunstrezeption zu rufen,
soll weder den Hypertext in seiner Signifikanz hervorheben
noch im Diskurs der Rezeption nur einer Simplifizierung dienen. Die hier angestellten Überlegungen können nur von Wert
sein, wenn der Hypertext zusätzlich in der Lage ist, ein Mehr
an bzw. eine Konzentration in die Auseinandersetzungen der
Kunstdiskurse zu tragen. An dieser Stelle tritt eine technikimmanente Eigenständigkeit des Hypertext zu Tage. Durch
seine Tendenz, schnell strukturale Nähe verschiedener Objekte durch das einfache Setzen von Verweisen zu erzeugen,
28
29
2
Vgl. Schiesser 1999 http://www.xcult.org/texte/schiesser/netzkunst.html
3
http://www.thyes.com/flag-metamorphoses/flag-animation.html
4
http://www.dds.nl
5
http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html
6
http://www.net.art-generator.com
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse
Je nach Klickverhalten des Users variiert das Gitterbild in dem
Zusammenspiel seiner Frames, bis schlussendlich komplett
schwarze Rechtecke auftauchen, die keine weitere Verknüpfung
enthalten. Mit Ausnahme des einen, das Verlinkungen zu Olia
Lialinas E-Mail-Adresse und dem MBCBFTW-Museum enthält.
Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse
Einleitung:
Für die wissenschaftliche Analyse und ihrer Rezeption ist es hilfreich, das auf mehreren Ebenen agierende Kunstwerk auf eine
visuelle Ebene zu bringen und damit die Entschlüsselung seiner
internen Struktur zu veranschaulichen. Die Verknü-pfungsstruktur der Frames entspricht der eines Baum-modells. Das erstellte
Baummodell enthält Abbildungen der Frames in ihrer verhältnisgetreuen Größe sowie ihre Titel. Mit dieser Art der Darstellung
werden Abhängigkeit und Unab-hängigkeit der Frames untereinander verständlich und damit mögliche Wege, durch die sich der
User klicken kann, d.h. die Variationen der Narration (durch Text
und Bild) offen gelegt. Das Baummodell in dieser Gestaltung
ermöglicht eine große Anzahl an Informationen auf einem Blick.
Cora Waschke
Vom Framegitter zum Baummodell
Die Idee, die Arbeit My Boyfriend Came Back From The War
(1996) der russischen Netzkünstlerin Olia Lialina in einem Baummodell darzustellen, entstand vor dem Hintergrund, dieses Netzkunstwerk einer wissenschaftlichen Analyse im kunsthistorischen
Rahmen zugänglich machen zu wollen.
Erläuterung:
Das MBCBFTW-Baummodell
Das Kunstwerk erscheint zunächst als ein schwarzes Rechteck
mit weißem Text. Angeklickt taucht an Stelle des alten ein neues
schwarzes Rechteck mit weißen Bildinhalten auf, das durch Anklicken wiederum von zwei Rechtecken ersetzt wird, die zusammen die Größe des vorherigen bilden. Das Linke bleibt ohne Verknüpfung als Permanentbild erhalten, das Rechte teilt sich bei
weiteren Klicks zunehmend in kleiner werdende Flächen auf. Es
entsteht ein Framegitter aus zusammen gesetzten Vierecken. Sie
sind schwarz mit weißem Rand oder umgekehrt und enthalten
meist ebenfalls in schwarz/weiß gehaltene Bild- oder Textinhalte.
Das Baummodell veranschaulicht die Verknüpfungsstruktur der
einzelnen Frames von MBCBFTW, aus der sich eine variable,
aber nicht uneingeschränkte Leserichtung des Users ergibt. Es
bringt die in der Originalversion nacheinander sichtbaren Frames
auf eine Ebene, wodurch ein Überblick des Gesamtkunstwerks
entsteht. Die von der Künstlerin formulierten Titel sind jeweils
über den Frames platziert. Sie geben vage Auskunft über die
Reihenfolge der Frames (alphabetisch und chronologisch) und
die Anzahl ihrer weiteren Verknüpfungen (ab „warb.htm“: war +
Buchstabe.htm > 1 Link; Zahl.htm= 1 Link). Bei herkömmlichem
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31
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Olia Lialina, MBCBFTW. Strukturanalyse
Klickverhalten tritt der Titel eines Frames nicht in Erscheinung,
kann aber bei unten angegebener Hard- und Software über
Apfel-Klick als Überschrift des geöffneten Frames im Rahmen
eines neuen Tabs aufgerufen werden. Der User bewegt sich aus
gegebenen Umständen nicht ‚klickend‘, sondern ‚scrollend‘
durch das Kunstwerk. Er kann dabei der von der Originalversion
vorgegebenen Reihenfolge nachgehen oder mit dem Blick durch
das Baummodell ‚springen‘, wodurch eine neue, in der Version
von Olia Lialina ungeplante Verknüpfung von Text und Bildern
möglich wird.
Frames noch lesbar sind, muss ein bestimmtes Mindestmaß eingehalten werden. Unter Berücksichtigung dieses Aspektes ergeben die gemäß ihrer Verknüpfung angeordneten Frames auf
einer Ebene im Baummodell eine Gesamtmaße von 200 x 80
cm. Das Kunstwerk von Olia Lialina braucht hingegen nie mehr
als die ungefähre Größe jedweden Computerbildschirms. Das
Kunstwerk passt sich der Hardware an. Der Betrachter des
Baummodells sieht, zoomt er sich bis zur lesbaren Größe heran,
entsprechend dem Rahmen seines Bildschirmes nur einen Ausschnitt, den er durch Scrollen verschieben kann.
Die Umsetzung der Netzarbeit in ein Baummodell lässt allerdings
ein paar Eigenheiten unberührt. Unter anderem wurde folgende
Besonderheit der Arbeit Olia Lialinas in dem Baummodell nicht
aufgenommen: Ein bestimmter Frame nimmt im Moment des
Mausklicks eine veränderte Erscheinung an. Da es sich um den
temporären Zustand eines Frames handelt, nicht aber um einen
eigenständigen Frame mit eigenem Titel, der aufgerufen werden
könnte, fällt er im Baummodell weg. Dieses Phänomen macht
die Probleme der Übersetzung eines vielschichtigen Mediums in
herkömmliche Systeme deutlich. Es kann zur Erstellung neuer
Darstellungsweisen anregen, oder aber verschiedene bekannte
Modelle können angewendet werden, um sich dem digitalen
Werk zu nähern. Aus dem Versuch, diese Arbeiten in ihrer Ganzheit zu fassen, würden vielfältige Ergebnisse hervorgehen.
Das analoge MBCBFTW-Baummodell
Bei der Erstellung des analogen Baummodells muss je nach
finanziellen und präsentationsspezifischen Umständen auf die
Lesbarkeit der Frames verzichtet werden, denn sowohl die
Druckkosten als auch die Verwendbarkeit des Formats sind zu
berücksichtigen. Kann das definierte Mindestmaß nicht eingehalten werden, bietet eine angefügte Legende die Möglichkeit die
Texte der Frames unter ihren Titeln aufzuführen. Beim Druck
muss dann auf die Lesbarkeit der Legende und der Titel über
den Frames im Baummodell geachtet werden. Die Struktur ist
auch im kleinen Format nachvollziehbar. Die Qualität der Abbildungen nimmt allerdings kongruent zur Verkleinerung der
Frames ab.
Quelle
My Boyfriend Came Back From the War, Html, frames, 1996, Olia Lialina
http://www.teleportacia.org/war/war.html
Das digitale MBCBFTW-Baummodell
(http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008
ShortguideNetart-mbcbftw.pdf)
Die digitale Version des Baummodells soll die Qualität der
Rezeption im Vergleich zu der Rezeption der Arbeit von Olia
Lialina möglichst wenig verändern. Damit auch die kleinsten
Verwendete Hard- und Software
Mac OS X (Version 10.3.9), Prozessor 1.33 GHz PowerPC G4, Speicher 768 MB
DDR SDRAM, Safari 1.3.2 (v312.6), Mac OS X Freemind 080, Adobe Photoshop CS
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Duchamps Erben
Duchamps Erben
Abb. 1: Marcel Duchamp: Die Schachtel im Koffer (La boîte en valise),
1935-1941, Quelle: http://www.ddart.co.jp/Boite-en-valise.html (letzter
Zugriff 09.09.07, 18:22 Uhr).
Marcel Duchamp (1887-1968) gilt als einer der bedeutendsten Künstler des 20. Jahrhunderts. Sein Schaffen beeinflusste viele nachfolgende Künstler und wurde zum Ausgangspunkt ihrer Werke. Mit seiner revolutionären Idee des Readymade wies er schon früh darauf hin, dass sich in der Industriegesellschaft auch die künstlerische Produktion gegenüber den industriellen Techniken und Materialien neu bestimmen wird. Während Duchamp nur sporadisch mit Foto und
Film gearbeitet hat, beziehen sich seit den 60er Jahren zahlreiche Medienkünstler auf ihn. Auch zeitgenössische
Netzkünstler versuchen, Duchamps Ideen wieder neu aufzugreifen und weiterzudenken.
Ein Netzkunstwerk, welches sich als eine deutliche Bezugnahme auf Duchamps Werke zu Beginn und Mitte des 20.
Jahrhunderts präsentiert, ist ‚La Boite en valise‘1. Diese Arbeit
gehört zu dem Webprojekt ‚Screenfull‘2. Die beiden Netzkünstler JimPunk und Abe Linkoln _S. 21 (Rackoll) arbeiten
unter Verwendung digitaler Medien mit verschiedenen Möglichkeiten des Kunstzitats. Kompositorisch, inhaltlich oder
Ann-Christin
Klare
34
thematisch werden verschiedene Werke Duchamps wieder
aufgenommen und in einen neuen Kontext gestellt. Hinzukommen direkte Zitate, die das Original digitalisiert und weitgehend unbearbeitet zeigen, sowie Arbeiten, die ausschließlich durch den Titel auf ein Werk von Marcel Duchamp
zurückzuführen sind.
Bereits der Titel ‚La Boite en valise‘ verweist auf das gleichnamige Miniaturmuseum in Kofferform von Marcel Duchamp
aus den Jahren 1935-41 (vgl. Abb. 1), welches die Verwaltung
von Kunstgegenständen in griffiger und transportabler Form
thematisiert. Die Grundidee der Arbeit Duchamps lässt sich
relativ simpel auf das Konzept der digitalen Arbeit von Jim
Punk und Abe Linkoln übertragen. Auch hier wird eine
Sammlung von Werken der beiden Netzkünstler komprimiert
zusammengefasst. Der wesentliche Unterschied zu
Duchamps analoger ‚Schachtel im Koffer‘ ist jedoch, dass es
sich bei den digitalen Werke nicht um Kopien oder Reproduktionen von Originalen handelt. Die digitalen Arbeiten von
JimPunk und Abe Linkoln sind selbst die „Originale“, und ‚La
35
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Duchamps Erben
Abb. 2: Marcel Duchamp, Akt eine
Treppe hinabsteigend Nr. 2 (Nu descendant un escalier N°2), Öl auf Leinwand,
1912, in: Mink, Janis: Marcel Duchamp,
1887-1968, Kunst als Gegenkunst, Köln
1994, S. 26
Abb. 2
Abb. 3: nude descending a staircase (abe
linkoln's 2004 mix), Quelle:
http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise
.html (Screenshot)
Abb. 4: Nu descendant un escalier (in La
Boite... V1- Rem:x 2004, Quelle:
http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise
.html (Screenshot)
1
Abb. 3
Boite en valise‘ ist der „Ort“ ihrer Erstpräsentation.
Inwiefern die digitalen Umsetzungen, welche mit der
Linksammlung ‚La Boite en valise‘ zusammengefasst sind,
eine Weiterentwicklung von Duchamps Ideen und Konzepten
ist, lässt sich an dessen Werk ‚Nu descendant un escalier’
(1912, vgl. Abb. 2) genauer verdeutlichen.
Drei verschiedene Zitate des Originals werden auf screenfull.
net präsentiert: ‚nude descending a staircase (abe linkoln’s
2004 mix)‘4 (vgl. Abb. 3) zeigt ein bearbeitetes Bild von Paris
Hilton, wie sie leicht bekleidet eine Treppe hinuntersteigt.
Zwei Fenster überlagern sich und geben trotzdem das vollständige Bild wieder. In dem unteren Fenster werden zusätzlich einige Konturen mit einer sich scheinbar bewegenden
Linie nachgezogen. Abe Linkoln zitiert hier das Original
Duchamps in thematischer Hinsicht und erprobt durch die
Auswahl eines neuen Bildes und dessen simpler Bearbeitung
eine eigene Interpretation des Originals.
Mit der Arbeit ‚Nu descendant un escalier (in La Boite... V1Rem:x 2004‘5 (vgl. Abb. 4) wird Duchamp ein zweites Mal
zitiert. Beim Öffnen der Seite und nach einem Klick auf den
stufenförmig geschriebenen Titel am linken Rand (mit Unterstrichen formatiert) öffnen sich nacheinander 22 kleinere Fenster. Ihre Anordnung folgt der von Treppenstufen. So bildet
sich langsam von oben nach unten eine Treppenformation.
Die Fenster sind jeweils mit einem Buchstaben betitelt. Von
oben nach unten lässt sich schließlich lesen: „Nude descendant un escalier“. Hier liegt der Schwerpunkt in der Interpretation nun nicht mehr auf der „Nackten“, sondern auf der
Thematik sowie der Form der Treppe. Durch die sich sukzessiv aufbauenden Fenster entsteht im Bild eine Bewegung, die
in dieser Form auf analoge Weise nicht hergestellt werden
kann. Der Betrachter bekommt beinahe das Gefühl, eine
Treppe hinab zu steigen und kann sie im Gegenzug auch
selbst wieder hoch steigen, indem er aktiv die Fenster von
unten nach oben mittels eines Klicks schließt. Als ironische
Aufnahme der „Nackten“ können die Fenster selbst als solche bezeichnet werden; sie sind leer, haben keinen Inhalt,
erscheinen also nackt.
3
36
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Duchamps Erben
kommt sogar noch die Selektion des Bildes von Paris Hilton
aus einer Masse von Bildern im Netz hinzu. Auch der zweite
Aspekt, die Eliminierung der persönlichen Handschrift, wird
weitestgehend erfüllt und weitergeführt. Das Foto von Paris
Hilton wird zwar graphisch bearbeitet, diese Bearbeitung bleibt
aber anonym, so dass sie nicht als Signatur oder gar künstlerische Eigenheit in der Gestaltung beschrieben werden kann.
Auch die sich öffnenden Fenster beim zweiten Zitat (vgl. Abb.
4) haben keine persönlichen Merkmale, ebenso wie das digitalisierte Foto der Präsentation im Hörsaal des dritten Beispiels
(vgl. Abb. 5).
Das dritte Kriterium, dem sich die Arbeiten stellen müssen,
führt zu einer ersten Gewichtung der einzelnen Arbeiten: Die
eingeforderte Interaktivität wird in erster Linie von der Arbeit
‚Nu descendant un escalier (in La Boite... V1- Rem:x 2004‘
umgesetzt (vgl. Abb. 4). Diese Form der Interaktivität – indem
der Betrachter durch das Schließen der Einzelfenster in
Eigenzeit dem Treppenverlauf von unten nach oben folgt – ist
eine klare Erweiterung und Fortsetzung der kunsttheoretischen
Vorstellungen Duchamps. Bei dem Zitat ‚nude descending a
staircase (abe linkoln’s 2004 mix)‘ (vgl. Abb. 3) existiert diese
Steigerung zum analogen Material nicht. Die letzt angeführte
Version ‚Nu descendant un escalier.rem:x #1- public presentation 2004 jimpunk‘ (vgl. Abb. 5) scheint zunächst alle Kriterien zu
vereinen und sogar noch zu erweitern. Die Arbeit repräsentiert
Interaktivität und demonstriert zusätzlich eine neue Auseinandersetzung mit Kunst. Sie ist überall möglich und nimmt
neue Formen an, sie ist nicht zum Anfassen, lässt aber den
Betrachter trotzdem teilnehmen. Aber: Schon der Titel weist
darauf hin, dass es sich letztlich um eine Repräsentation/
Demonstration handelt, die Interaktion in einem Bild „einfriert“
und mittels des Mediums ihrer selbst beraubt.
Abb. 5: Nu descendant un escalier.rem:x #1- public presentation 2004 jimpunk, Quelle:
http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html (Screenshot)
Eine dritte Variante von ‚Nu descendant un escalier‘ findet
sich unter ‚Nu descendant un escalier.rem:x #1- public presentation 2004 jimpunk‘6 (vgl. Abb. 5). Hier zeigt sich dem
User ein digitalisiertes Bild, auf dem ein Hörsaal mit Studenten in Rückenansicht zu sehen ist, die auf einer großen
Leinwand die eben vorgestellte, sich öffnende Fenstertreppe
betrachten.
In diesen drei digitalen Umsetzungen werden die wesentlichen Charakteristika, die Duchamps Werke bestimmen,
unterschiedlich aufgegriffen und individuell bearbeitet. Zu den
zentralen Kriterien, an denen sich JimPunks und Abe Linkolns
Arbeiten messen lassen müssen, zählen nach gängiger
Kunstgeschichtsschreibung erstens die Selektion des Objekts
vor dessen Produktion, zweitens die Eliminierung der persönlichen Handschrift und drittens die Interaktivität der Werke.7
Das erste Kriterium, die Selektion vor die Produktion zu stellen, wird von allen drei Umsetzungen erfüllt. Das Kunstwerk
‚Nu descendant un escalier‘ wird aus einer Masse ausgewählt und bearbeitet. Bei dem ersten Zitat (vgl. Abb. 3)
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
1
http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html
2
http://www.screenfull.net
3
bzw. http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise.html und die jeweiligen Unterseiten
4
http://www.screenfull.net/stadium/2004/12/nude-descending-staircase-abe-linkolns.html
5
http://www.screenfull.net/stadium/2004/12/nu-descendant-un-escalier-in-la-boite.html
6
http://www.screenfull.net/stadium/2004/12/nu-descendant-un-escalierremx-1-public.html
Duchamps Erben
Webseiten
Marcel Duchamp. Hrg.: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie.
Bearbeitungsstand: 09.09.2007, 18:22 UTC. URL:
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Marcel_Duchamp&o
ldid=44407182
Konzeptkunst. Hrg.: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie.
Bearbeitungsstand: 09.09.2007, 18:22 UTC. URL:
http://de.wikipedia.org/w/index.php?title=Konzeptkunst&oldid
=43336316
Abe Linkoln/JimPunk: La Boite en valise:
http://www.screenfull.net/LaBoiteEnValise (letzter Zugriff:
09.09.2007, 18:22 Uhr)
Abe Linkoln/JimPunk: screenfull.net. We crash your browser
with content: http://www.screenfull.net (letzter Zugriff:
09.09.2007, 18:22 Uhr)
7
Vgl. Marcel Duchamp und Readymade. In: Der Brockhaus. 2006. S. 201f. und 743.
Daniels, Dieter: Vom Readymade zum Cyberspace. 2003. S. 58ff. Buchmann, Sabeth:
Conceptual Art. In: DuMonts Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. 2002. S. 49.
Literaturverzeichnis
Buchmann, Sabeth: Conceptual Art. In: DuMonts
Begriffslexikon zur zeitgenössischen Kunst. Hrsg. v. Hubertus
Butin. Köln 2002. S. 49-53.
Broer, Werner u.a. (Hrsg.), (Begr. von Otto Kammerlohr):
Epochen der Kunst. Bd. 5. 20. Jahrhundert: Vom
Expressionismus zur Postmoderne. 2. Auflage. München,
Wien 1997.
Daniels, Dieter: Vom Readymade zum Cyberspace.
Kunst/Medien/Interferenzen. Ostfieldern-Ruit 2003.
Der Brockhaus, Kunst: Künstler, Epochen, Sachbegriffe.
Hrsg. von der Lexikonredaktion des Verlags F. A. Brockhaus.
Mannheim. 3., aktualisierte und überarb. Aufl. Mannheim,
Leipzig 2006.
Lucie-Smith, Edward: Bildende Kunst im 20. Jahrhundert.
Köln 1999.
Mink, Janis: Marcel Duchamp. 1887-1968. Kunst als
Gegenkunst. Köln 1994.
Steiner, Theo: Duchamps Experiment. Zwischen
Wissenschaft und Kunst. Paderborn, München 2006.
40
41
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Mission Eternity – netzwerk-kunst als evolutionäre net.art
Mission Eternity
netzwerk-kunst als evolutionäre net.art
Mission Eternity (Label-Form: M∞) ist eine Arbeit der Künstlergruppe etoy, die 2004, also nach dem ‚Internet Hype‘ am
Ende der 1990er Jahre entstand und zeitlich unbegrenzt ist.
Dieser Aspekt der Temporalität ist bei M∞ zentral; der
Anonymität, der temporären Existenz von Avatar und dem
TTL hält etoy die Nutzung der konnektiven Medien zur endlosen Erhaltung entgegen, es ist ein ‚Totenkult für das
Informationszeitalter‘.
Daniel Becker
Abb. 1:
Innenansicht SARCOPHAGUS
Die M∞.ARCANUM CAPSULE, ein digitales Portrait des PILOTS, tritt nach
dem Tod an dessen Stelle und erhält den ‚post mortem plan‘ und visuelle
Informationen oder Stimmbeispiele des PILOTS „für die Ewigkeit“. Diese
Datenpakete können über die M∞.BRIDGES wie dem SARCOPHAGUS abgerufen werden. In seiner Funktion als realer Zugang zirkuliert er global, um eine
mögliche große Anzahl User zu erreichen.
Abb. 2:
Der SARCOPHAGUS in seiner Entstehung
Ein gewöhnlicher Cargo-Container, Symbol der ökonomischen Globalisierung
und materielles Pendant zum digitalen Datennetz, wird im Innenraum mit
17.000, 6 x 6 cm großen, einzelnen LED-Pixel verkleidet. Bis zu 400 PILOTS
sind hier physisch existent, da die Asche zu einem Würfel, dem M∞.TERMINUS, gegossen wird, der jeweils eine LED-Anzeige im SARCOPHAGUS
ersetzt und als toter Pixel des 3D-Bildschirms auftaucht. In seiner visuellen
Gestaltung knüpft dieses Objekt an die klassische Skulptur an.
Der SARCOPHAGUS konnte bisher als einziges Element, aber aus ökonomischen Gründen nur als Unikat verwirklicht werden. Nachdem er durch eine
neue Generationen von M∞.BRIDGES abgelöst wird, verschwindet auch seine
globale Präsenz und somit sein funktionaler Aspekt.
Die Umsetzung bis 2016 konzentriert sich hierbei auf drei
Gebiete: die M∞.ARCANUM CAPSULES, M∞.ANGEL APPLICATION und M∞.BRIDGES. Bei letzterem im Speziellen auf
die Realisierung des SARCOPHAGUS (Abb. 1 und 2), einem
realen und öffentlichen Zugang zu der ‚Virtuellen Welt‘, der
nach seiner technischen Obsoletheit Galerien oder Museen in
der Funktion einer Skulptur erhalten bleibt. Die einzelnen
Formen können detailliert im M∞.DOSSIER1, dem Pendant
zum klassischen Manifest, nachgelesen werden.
Diese Explikation der Information, der Dokumentation und
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Mission Eternity – netzwerk-kunst als evolutionäre net.art
ist hierbei, dass die ‚Tactical Media‘ gleichzeitig an
Prozessualität geknüpft und im Grunde eine Form des
Aktivismus ist, der diese vor allem in Hinsicht auf mediale
Aufmerksamkeit anwendet, um überhaupt existent zu sein. Aus
dieser Abhängigkeit von sozialem Interesse folgt, dass M∞ sich
nach den medienspezifischen, kommerziellen Strukturen richten
muss, um eine intermediale Präsenz zu bekommen. Wenn diese
Intermedialität nun beabsichtigt ist – man kann bei M∞ angesichts einer intensiven PR-Arbeit davon ausgehen –, hieße das,
dass die Autorenschaft bei M∞ ihre Autonomie verliert, sich relativiert.
Abb. 3:
M∞-Logo
etoy imitiert durch die Nutzung
eines Logos Unternehmens- bzw.
Wirtschaftsstrategien und die
damit konnotierte Seriösität. Das
Logo labelt zudem jegliche
Elemente des Projekts, indem es,
wie auch sonst für etoy charakteristisch, als Präfix gebraucht wird.
M∞ ist „hybrid art“2, diese Hybridisierung liegt hier in der Verbindung von Kunst, Religion, biologischem Tod und durch die
öffentliche Dokumentation auch in der Finanzierung und Publikation. Daran zeigen sich die Merkmale der „Konnexion“ und
der „Heterogenität“, die nach Deleuze und Guattari eine rhizomatische Struktur kennzeichnen3.
Im Hinblick auf dieses Netzwerk sind die Irritationen, die
Prozesse, die zeitlich und räumlich teilweise unabhängig voneinander die Gestalt des Projektes bestimmen, wie auch die Auffassung, M∞ „is too complex to explain“4, gleichzeitig ein signifikantes Merkmal der Struktur, in konzeptioneller, wie auch rhizomatischer Hinsicht, da es deren Heterarchie kennzeichnet.
Dadurch nutzt M∞ die Struktur als Material, als einen transformierbaren Stoff.
Der Begriff net.art scheint daher nicht mehr angemessen, stattdessen schlage ich den Begriff der netzwerk-kunst vor, da er
nicht nur die technische und die strukturelle Ebene erfasst, sondern eine etymologische Verwandtschaft zu net.art besitzt, ohne
jedoch dessen Assoziation zum Internet, zur ‚Webness‘ zu wecken.
der Entstehungskontexte steht bei der Internetseite von M∞ im
Vordergrund. Man betrachtet die Seite hierbei nicht unter dem
Aspekt des Bildnerischen oder des Gestalterischen, sondern
unter dem des Inhalts, der Funktion und dem der operativen
Struktur. Der Entstehungsprozess und -kontext wird hierdurch
Teil des Projekts; durch diese Darlegung von ökonomischen und
technischen Zusammenhängen verliert das Werk seine ‚Aura‘.
Obwohl M∞ damit das Internet nur nutzt, um zugänglich zu sein
und es hierbei in einer ‚trivialen‘ Form als Kommunikationsplattform verwendet, die dichotom in User und Administrator unterteilt ist, wird im Kontext der net.art deutlich, dass M∞ auf ästhetische Mittel wie Unvollkommenheit, Selektivität und Fragmentarität zurückgreift, die mit denen der net.art interoperabel sind.
So gebraucht etoy Begriffe der Raumfahrt, Religion oder
Naturwissenschaft, wie den Terminus ‚Mission‘ oder die
Lemniskate des Logos (Abb. 3), um den damit konnotierten
Progress auf M∞ zu übertragen. Im Zusammenhang eines
medialen Projekts, wie M∞ es ist, kann man dieses détournement als ‚Tactical Media‘ _S. 121 (Hirsch) bezeichnen. Wichtig
44
45
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Das Motiv von M∞ ist nicht neu, es ist ein Totenkult und
reflektiert somit (Denk-)Systeme, die schon in den letzten
Jahrtausenden vorhanden waren. Neu ist der Umgang damit
und die Nutzung struktureller Anwendungen des Informationszeitalters, wie die der ‚Tactical Media‘, die prozessual,
metamorph, transformationsfähig und nie definitiv sind. In
dieser Ewigkeit der Unvollkommenheit der Struktur und
Erscheinung, die folglich immer undeterminiert und „too complex to explain“5 sind, besteht die ästhetische Wirkung. Der
Begriff netzwerk-kunst beschreibt nun nicht diese unvollkommenen und unscharfen Elemente, die von vornherein obsolet
sind, sondern die Struktur, die diese Wirkung erzielt. Im
Hinblick auf das Informationszeitalter, das diese Struktur zwar
nicht erst grundlegend ermöglicht, aber doch mit Ausmaß
und Komplexität erst kompatibel macht, könnte man bei
netzwerk-kunst auch von einer Folge-Generation der net.art
im Sinne des Numerals 2.0 sprechen, da sie in diesem Sinne
‚netz-spezifisch‘ ist und grundsätzlich beide informationstechnischen Ebenen, nicht nur die strukturelle, sondern auch
die der visuellen und technischen Erscheinung reflektiert.
Deshalb versteht sich diese Ausführung auch nicht als endgültig, sondern als Teil des Prozesses und des Projekts M∞.
Ceci n’est pas une page Web.
Birte
Kleine-Benne
Webseiten
http://www.etoy.com
http://missioneternity.org
1
http://missioneternity.org/files/etoymissioneternity_doku_ars_lowresv301.pdf
2
Vgl.: etoy.CORPORATION: DISCLAIMER, 2007. in:
http://www.missioneternity.org/disclaimer
3
Vgl.: Deleuze, Gilles / Guattari, Félix: Rhizom, Berlin 1977. S. 11-20
4
Vgl.: etoy.CORPORATION: DISCLAIMER, 2007. in:
http://www.missioneternity.org/disclaimer
5
Vgl.: etoy.CORPORATION: DISCLAIMER, 2007. in:
http://www.missioneternity.org/disclaimer
46
47
„Ceci n’est pas une pipe“ schrieb René Magritte 1929 unter
die erste Version seines Öl-Abbilds einer Tabakpfeife und
startete damit sein künstlerisches Spiel mit Sprachzeichen
und Bildelementen. Magritte hielt mit seinen 2-D-Positionen
alles in der Schwebe und brachte – mit systematischer Unauslotbarkeit – die Unvereinbarkeit und Unentscheidbarkeit
von Wort und Bild zur Darstellung: Wort und Bild sind nie
deckungsgleich, auch dann nicht, wenn sie offensichtlich
dasselbe, nämlich die Pfeife, bezeichneten.
Diese immerwährende Lücke zwischen Wort und Bild nutzten
Christoph Wachter und Mathias Jud nun für ihr Projekt picidae und klärten damit wie beiläufig ein scheinbar unlösbares
Problem realpolitischer Relevanz:
Das Kunstprojekt unterwandert nämlich federleicht die aktive
Internetzensur, wie China sie zum Tiananmen-Massaker 1989
auf dem Pekinger Platz des himmlischen Friedens praktiziert
oder Deutschland zu rechtsradikalen Parolen oder der Iran zu
Pornografie oder Saudia Arabien zu islamkritischen Positionen.1 Denn statt auf HTML-Seiten, so der Kunstgriff, surft der
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Ceci n’est pas une page Web.
User auf Abbildern von Webseiten. Und Bilder, Abbilder von
Webseiten sind nicht mehr wie der Quelltext von HTMLSeiten algorithmisch nach unerwünschten Schlüsselwörtern
durchsuchbar, dadurch zu indizieren und in der Folge zu
blockieren. Sie sind vielmehr digitale Verschlüsselungen, die
die Kontrolle zu unterlaufen in der Lage sind.
Anders gesagt: Das Bild der Pfeife ist nicht die Pfeife. Oder:
Das Bild einer Webseite ist nicht die Webseite.
Rankings und Ratings oder Zensurmaßnahmen durch Behörden, Dienstleister, Portalbetreiber oder Provider, die den
Zugang zum Netz am Arbeitsplatz einschränken oder regional
unterschiedliche Suchergebnisse produzieren, werden durch
die Bilder der codierten Webseiten einfach ausgehebelt.
Die Software selbst steht unter dem Prinzip des Copyleft der
GNU General Public Licence und gewährt damit als Freie
Software eine Nutzungs-, Verteilungs- und Veränderungsfreiheit; einzig unter der Bedingung der GPL, dass der Quellcode
der veränderten Version wiederum verfügbar gemacht wird
und Folgelizensierungen ebenfalls unter GPL-Bedingungen
erfolgen. Um der eigenen drohenden Zensur entgegen zu wirken, rufen Wachter und Jud folgerichtig auf, entweder einen
pici-Server oder einen pici-Proxy-Server (der auf einen piciServer verweist) zu betreiben oder einfach nur das Projekt zu
verlinken. Im Netz entstünde mit einer pici-Community ein
weiteres, dezentrales Netzwerk, das sich Zensur, Eingriff oder
anderen Filtermaßnahmen zu entziehen in der Lage wäre.
picidae – der Specht, der in die Firewall netzzensierender
Länder Schlupflöcher schlägt
Im Frühjahr 2007 reisten Wachter und Jud zu einem Selbstversuch nach Beijing und Shanghai, um in den streng kontrollierten Internet-Cafés (Ausweiskontrolle, Registrierung, Überwachungskameras) im Netz zu Themen wie den Menschenrechten oder dem Tibet zu recherchieren und Homepages
wie beispielsweise von der BBC oder von Wikipedia aufzurufen – ohne Erfolg. Erklärungsversuche wie Netzwerkprobleme
oder Zeitüberschreitungsmitteilungen der Browser, Umleitungen auf andere Webseiten oder Rückstellungen von
Verbindungen (Connection Reset) tarnten die (zunächst nicht
erkennbare) Zensur. Erst mit picidae waren die unterdrückten
Seiten jenseits der Firewall anzuwählen – die pici-Software
erwies sich als funktionsfähig und zuverlässig:
Wird picidae aufgerufen, erscheint vor weißem Hintergrund
ein Feld zur Eingabe einer beliebigen Webadresse. Der sog.
pici-Server, der einerseits Teil des Internets und andererseits
als Metaebene wirksam ist, erstellt ein Bild der angeforderten
Webseite und sendet dieses vollständig und inklusive aller
aktiver Links zurück. Zwischengeschaltete Filter wie
Die unberechenbare Macht des Bildes
Es wäre keine Produktion aus dem Hause Wachter/Jud, wenn
sich die Arbeit einzig oder primär auf die Überwindung elektronischer Restriktionen beschränken würde:
Wie „Ceci n’est pas une pipe“ (der Bildtitel lautet ‚La trahison
des images‘) exemplarisch als Position der Moderne gilt,
indem Magritte verschiedene Wahrnehmungsebenen ineinander verschränkt, die wiederum je nach Betrachtungsart des
Bildes variieren, dient picidae als Werkzeug, unsere Wahrnehmungsgrenzen zur Ansicht zu bringen. Meinen wir nicht
noch immer, das Internet verkörpere per Definition die grenzenlose Gleichheit und Gleichzeitigkeit? Picidae macht über
48
49
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Ceci n’est pas une page Web.
die Technik des Vergleichens der unterschiedlichen (Internet-)
Ansichten blinde Flecke sichtbar. Die Auslassungen offenbaren überdies konkret zuordbares (realpolitisches) Begehren,
was (visuell und damit wahrnehmungs- und handlungsrelevant) unsichtbar (gemacht) wird.
Zu ‚La trahison des images‘ gibt es zahlreiche Deutungsversuche, der wohl bekannteste ist Michel Foucaults mit dem
Titel ‚Ceci n’est pas une pipe: Sur Magritte‘ aus dem Jahr
1973 (dt. 1974). Hier macht Foucault neben der bekannten
Deutung, dass ein Abbild mit dem Originalgegenstand nicht
identisch sei und die Differenzen zwischen Wort und Bild,
zwischen Zeigen und Nennen, zwischen Nachahmen und
Bezeichnen geleugnet würden, auch darauf aufmerksam,
dass Magritte durch das explizite Aufzeigen dieses scheinbaren Paradoxons die Rezipienten zur Reflexion zwinge, was
sie unter der Realität eines Dinges verstünden. Demnach
treibt Magritte mit der Begegnung des Abbilds eines Gegenstandes mit seiner Bezeichnung einen Keil zwischen der
scheinbar so bekannten und eindeutigen Realität und unserer
Wirklichkeit, und zwar mitten in die Betrachter.
Und so konfrontieren Wachter und Jud mit picidae jeden
Einzelnen mit seinen Vorstellungshorizonten: Wie funktioniert
eigentlich dieser Entstehungsprozess von Realität und Wirklichkeit, von Zuschreibungen, Aussparungen und Tabuzonen? Wie können wir die wirklichkeitskonstituierenden
Kräfte, die uns als Sprache, Vorstellungen, Konventionen etc.
durchdringen, zur Anschauung bringen? Können wir uns einer
Definitionsmacht, die in unsere Sprache und unsere je eigenen Vorstellungen eingeschrieben ist, widersetzen?
Gleichzeitig eröffnet das Kunstwerk, das wie immer bei
Arbeiten von Wachter/Jud auf polyvalenten – z.B. auf politischen, investigativen, wahrnehmungsphysiologischen, analy-
tischen und selbst-/reflexiven – Ebenen agiert, auch einen
Diskurs über die ästhetische Illusion. Bedingte diese noch bis
knapp ins 20. Jahrhundert eine jede künstlerische Produktion,
wird hier thematisch die Illusion eines globalen Konzepts von
Kunst attackiert. Nicht nur damit weist sich picidae in der
Tradition bildender Kunst aus. Denn mit picidae in der
Doppelfunktion des Internets als Gegenstand und als Mittel
ist die Illusion eines freien, gleichen und globalen Internets,
das die spezifischen Bedingungen der unterschiedlichen
Zugänge ausblendet, zur ANSCHAUUNG freigegeben.
1
Zu Zensurmaßnahmen, dem Umfang der Filterung und den variierenden
Techniken vgl. OpenNet Initiative (http://map.opennet.net) und Reporters
Sans Frontieres (http://www.rsf.org). Hier wird über aktuelle Ereignisse informiert, dass z.B. der 12. März 2008 von ‚Reporter ohne Grenzen‘ als der erste
‚International Online Free Expression Day‘ unter Schirmherrschaft der
UNESCO ausgerufen und eine 24-Stunden-Online-Demonstration gegen die
Internetzensur organisiert wurde. Aktuell sind 63 Cyberdissidenten inhaftiert
und von ‚Reporter ohne Grenzen‘ 13 Länder als sog. Internetfeinde benannt:
Weißrussland, Burma, China, Kuba, Ägypten, Iran, Nord Korea, Saudi
Arabien, Syrien, Tunesien, Turkmenistan, Usbekistan, Vietnam.
50
51
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
/Cornelia_Sollfrank
Entwicklung des Kultursponsoring auch für die Kunst nutzbar
gemacht.1 Daraus resultierten Werbeeffekte, die ‚frauen-undtechnik‘ zugleich nutzten und aufdeckten. Sollfrank nahm mit
‚frauen-und-technik‘ u.a. 1992 an dem Fernsehprojekt Piazza
Virtuale während der documenta IX teil.
1993 ging aus ‚frauen-und-technik‘ die neue Gruppe ‚–Innen‘
hervor. ‚–Innen‘ arbeitete an der Schaffung einer gemeinsamen Identität und somit an der Kollektivierung von Autorschaft. Fragen zum Urheberrecht, zu Originalität und
Autorschaft im Netz wurden zu zentralen Themen. In der
künstlerischen Forschung, den Performances und Interventionen fand eine medienkritische Auseinandersetzung, insbesondere mit dem Fernsehen statt.2 ‚–Innen‘ produzierte u.a.
für den Hamburger Offenen Kanal 1996 eine Gameshow und
intervenierte auf der Computermesse CeBIT in Hannover.
1996 löste sich die Gruppe auf, seither arbeitet Sollfrank als
freischaffende Künstlerin, Journalistin und Theoretikerin im
Bereich Netzkultur und Netzkunst.
/Cornelia_Sollfrank
Cornelia Sollfrank (*1960 in Feilershammer) ist Hackerin,
Cyberfeministin, Journalistin, Theoretikerin, Konzept- und
Netzkünstlerin. Von 1987 bis 1994 studierte sie Malerei an
der Kunstakademie in München (bei Professor Helmut Sturm)
und Freie Kunst an der Hochschule für bildende Künste
Hamburg (bei Professor Bernhard Johannes Blume). Sie
schloss ihr Studium mit Auszeichnung ab.
Wencke
Artschwager
Sollfranks Interesse an kollektivem Arbeiten und ihr anhaltendes Interesse am elektronischen Medium führte zur Gründung
des Netzwerks OBN (Old Boys Network) 1997 in Berlin,
gemeinsam mit einigen ehemaligen Mitglieder von ‚–Innen‘
(Ellen Nonnenmacher und Susanne Ackers) sowie Mitgliedern
der australischen Künstlerinnengruppe VNS Matrix (Julianne
Pierce und Josephine Starrs).3 Diese Allianz aus Wissenschaftlerinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen praktiziert bis
heute einen experimentellen Umgang mit Netzwerkstrukturen, um Cyberfeminismus4 nicht nur zu thematisieren oder
zu theoretisieren, sondern strukturbildend zu verwirklichen:
„The Mode is the Message – The Code is the Collective.“
Ebenfalls 1997 organisierte Sollfrank mit den Kolleginnen des
Bereits während ihres Studiums war Sollfrank Gründerin und
Mitglied zweier Künstlerinnengruppen:
1990 entstand in Hamburg die Gruppe ‚frauen-und-technik‘.
Gemeinsam mit neun weiteren Künstlerinnen beschäftigte
sich Sollfrank weniger mit der Geschlechterfrage – wie der
Titel vermuten lässt – als vielmehr mit Strategien von
Marketing und Werbung. Die Entwicklung eindeutiger Zeichen
(Logos) oder Erscheinungsbilder (Corporate Identity) Ende
der 1980er Jahre, die die Philosophie eines Unternehmens
repräsentieren, wurde nun nicht mehr nur für das Produkt
eines Wirtschaftsunternehmens, sondern mit der zeitgleichen
52
53
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
/Cornelia_Sollfrank
Old Boys Network die erste internationale CyberfeminismusKonferenz, die die hundert Anti-Thesen zur Frage, was
Cyberfeminismus sei, aufsetzte: „Cyberfeminism is not an
ism. Cyberfeminismus ist keine Entschuldigung.
Cyberfeminisme n’est pas une pipe...“. Dieses internationale
Treffen von Medienkünstlerinnen und Medientheoretikern (first
Cyberfeminist International), das im Medienlabor Hybrid
Workspace auf der documenta X in Kassel stattfand, fokussierte das Thema Frauen in der Netzkunst bzw. Netzkultur.
1999 und 2001 folgten zwei weitere Konferenzen.5 Im
Zentrum der Arbeit zum Thema Cyberfeminismus steht für
Sollfrank die Erforschung künstlerischer Strategien im
Hinblick auf ihre politischen Potenziale.
Bezeichnend für Sollfranks Arbeiten ist der spielerische
Charakter ihrer Interventionen in sozialen Systemen und ihr
Changieren zwischen Zweckfreiheit und politischer Intention.
Ausgehend von Social Engineering und Social Hacking definiert Florian Cramer die Kunst Sollfranks als einen Hack des
Sozialen mit digitalen und nicht-digitalen Mitteln. Hierbei konzentriere sich die Künstlerin mit dem Kunstbetrieb und der
Computerkultur auf zwei Subsysteme, die sich mit der spielerischen Manipulation von Systemen im Allgemeinen und ihrer
selbst im Speziellen befassen.7 Sollfrank selbst bezeichnet
ihre Arbeit als situativ, d.h. sie macht Einschnitte in soziale
Systeme, deren Teil sie selbst ist. Sie will hierdurch nicht
sichtbare, aber durchaus einflussreiche Beziehungen und
Machtverhältnisse aufdecken, die sonst im Verborgenen blieben.8
So kritisierte Sollfrank beispielsweise den Umgang mit
Netzkunst im musealen Bereich (Female Extension). Sie stört
und unterwandert das System Museum und macht sich die
Strukturen dieser Institution zu Nutze, um die Besonderheiten
und Probleme, die durch diese Strukturen vor allem für die
Netzkunst auftreten, aufzuzeigen: „Netzkunst hatte für mich
nichts mit Galerien und Museumsbetrieb zu tun, mit Jurierung
und Preisen, weil das der ‚Natur’ des Netzes widerspricht.
Netzkunst ist einfach im Netz, und dazu ist kein Museum
erforderlich und kein Juror, der entscheidet, was die beste
Netzkunst ist.“9
Von 1999 bis 2005 dozierte Sollfrank an verschiedenen
Hochschulen und Universitäten, unter anderem an der
Hochschule für bildende Künste Hamburg, der Universität
Lüneburg, der Universität Oldenburg und an der Bauhaus
Universität in Weimar.6 2004 wurde Sollfrank als aussichtsreiche Kandidatin für die künstlerische Geschäftsführung der
Linzer Ars Electronica in Nachfolge Gerfried Stockers
gehandelt.
Künstlerische Strategien
Sollfrank dekonstruiert seit Mitte der neunziger Jahre tradierte
Begriffe und Konzepte von Werk, Originalität, Genialität oder
Autorschaft, die noch heute den Kunstbetrieb oder auch das
gültige Urheberrecht bestimmen. Mittels künstlerisch-subversiver, zum Teil auch gender-spezifischer Strategien erprobt
sie im digitalen Medium neue Formen von performativer, kollaborativer und vernetzter Autorschaft.
54
55
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
/Cornelia_Sollfrank
übertrug sie 127 Arbeiten der Künstlerinnen auf den
Museumsserver. Innerhalb des Kunstkontexts, also der
Ausschreibung des Museums, wurden die Netzkünstlerinnen
demnach kritiklos als Künstlerinnen anerkannt.
Die Unterwanderung des Wettbewerbs wurde auch nach
Einsendeschluss nicht bemerkt. Erst mit der Bekanntgabe
der Sieger, zwei Tage vor der Preisverleihung, gab Sollfrank
eine Presseerklärung ab, in der sie ihre Intervention aufdeckte. Die Kunsthalle hätte den Hack wahrscheinlich nie
bemerkt. Während der laufenden Ausschreibung schmückte
sich die Galerie der Gegenwart insbesondere mit der hohen
weiblichen Beteilung von zwei Dritteln der 280 Teilnehmer.
Einen Preis sollte zwar keine der Frauen erhalten, aber die
Juroren (Uwe M. Schneede, Rainer Wörtmann, Dellbrügge &
deMoll, Valie Export und Dieter Daniels) nutzten die fingierte
Beteiligung, um in der Öffentlichkeit hervorzuheben, wie aktuell und nah die neue Ausstellungshalle doch am gegenwärtigen Kunstgeschehen sei. Die schlechte Qualität des „HTMLSchrotts“ wurde wahrgenommen, aber nicht weiter thematisiert.10
Werke und Ausstellungen:
1992:
Penisspiele, Beitrag zur documenta IX (Kunstfernsehen mit
van-Gogh TV)
1993:
Narzissmus in den Medien am Beispiel Fernsehen,
Performance, Produzentengalerie Kunstitut, Stuttgart
The New Woman, Postkartenaktion
1994:
information art, Performance, Hochschule für bildende
Künste, Hamburg
1996:
New Media – Old Roles, Intervention auf der Computermesse
CeBit, Hannover
Reality Check, net.art Event im Rahmen des Projekts ‚Skin
Laboratory‘, Hamburg
Remote Viewing, Ars Electronica, Linz
Female Extension
Bei der Arbeit ‚Female Extension‘ handelt es sich um einen
Hack, dessen Ziel es war, die Ausschreibung der Hamburger
Kunsthalle zum Thema ‚Extension. Das Netz als Material und
Gegenstand‘ im Jahr 1997 zu stören. Auch um den Mangel
an weiblichen Autoren auszugleichen, kreierte Sollfrank 289
fiktive Künstlerinnen mit internationalen Identitäten, vollständigen Adressen, Telefonnummern und E-Mail-Adressen. Als
Nächstes schuf sie mit Hilfe des ersten ‚net.art generators‘
scheinbar individuelle Werke, die sie ihren Künstlerinnen
zuordnete. Für jede einzelne Netzkünstlerin erhielt Sollfrank
ein Zugangspasswort, d.h. alle Künstlerinnen wurden von der
Kunsthalle für den Wettbewerb zugelassen. Anschließend
1998:
The New Woman, NEID Show, Künstlerhaus Bethanien, Berlin
First Cyberfeminist International, Reader-Präsentation, Ars
Electronica, Linz
net.art generator
Das Computerprogramm, das in der Arbeit ‚Female
Extension‘ zur Herstellung von 127 Netzkunstprojekten diente, ist Grundlage des seit 1998 als eigenständige Arbeit
jedem User zugänglichen Projekts ‚net.art generator‘
56
57
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
(http://net.art-generator.com). Dafür beauftragte Sollfrank die
Programmierer Ryan Johnston, Luka Frelih, Barbara Thoens und
Ralf Prehn, Richard Leopold und Panos Galanis, unterschiedliche Softwarelösungen zu entwickeln, die sich in ihrer Abfrageund Kombinationsstruktur sowie in der Komplexität der
Ergebnisse unterscheiden sollten.
Mit dem net.art generator ironisiert Sollfrank allgemeine Vorstellungen von subjektiver Schöpferkraft, indem sie den kreativen Teil der Maschine überlässt: das leicht zu bedienende
Programm kombiniert Bild- und Textmaterial aus dem Netz nach
Zufallsparametern. Jeder kann hier zum Netzkünstler werden,
ganz nach dem Motto des Projekts „A smart artist makes the
machine do the work“. Doch das trifft nur bedingt zu: Durch das
Abspeichern der collagierten Kunst häuft der belustigte User
Material an, das Sollfrank unter ihrem Namen ausstellt. Ute
Vorkoeper erweitert auf Grund dessen das Motto des Netzkunstgenerators: „A smart artist orders programs which make
the user do the work“.11
/Cornelia_Sollfrank
net.art generator,
Installation in der Ausstellung
‚KunstmaschinenMaschinenkunst‘ in der Schirn
Kunsthalle Frankfurt (18.10.2007
bis 27.01.2008).
Illustration: Janine Sack
2002:
net.art generator, GENERATOR, Spacex Gallery, Exeter, GB
Guided tour through hackerland, Performance, Chaos Communication
Congress, Berlin
2003:
fem snd - party & workshop, mit Musikerinnen (elektronische Musik),
(Laurence Rassel and Maya C. Sternel), Melkweg Amsterdam in
Zusammenarbeit mit next5minutes, Amsterdam
net.art generator, Sammlung für zeitgenössische Kunst der
Volksfürsorge, Le Royal Meridien, Hamburg
2000:
Have Code-Will Destroy, Tenacity – Cultural Practices in the Age
of Global Information- and Biotechnologies, Shedhalle, Zürich
Have Code-Will Destroy, UFO Strategies, Medienkunsthaus
Oldenburg
Liquid Hacking Laboratory, Log-in, Kunstverein Nürnberg
Unauthorized Access, CrossFemale-Metaphors of the Female,
Künstlerhaus Bethanien, Berlin
2004:
Legal Perspective, plug.in Medienfoum, Basel
have script, will destroy, Mostra Internacional de Film deDones,
Barcelona
Automatisch generierte Autorschaft, Hörspiel, Reihe des ORFKunstradios, Wien
2001:
Künstlerbilder, Galerie Mesaoo Wrede, Hamburg
networked reality, Solo Show, Galleri 21, Malmö
improved television, cyberfem spirit, Medienkunsthaus,
Oldenburg
2005:
Warhol Flowers, Verkaufsshow, HGKZ, Zürich
TammTamm – Künstler informieren Politiker, http://www.tamm-tamm.info
58
59
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
/Cornelia_Sollfrank
die an die Tradition der „Institutional Critique“ der achtziger
Jahre und konkret an das 1992 in New York installierte, unabhängige Kommunikations- und Informationsnetzwerk THE
THING anknüpft und sich in das internationale THE THINGNetzwerk Rom, Amsterdam, Wien, Frankfurt und Berlin einreiht.13
Sollfrank arbeitet zur Zeit an ihrer Dissertation an der
Universität in Dundee, Schottland zum Thema ‚An Artistic
Investigation of the Conflicting Relationship of Copyright and
Art‘.
2006:
THIS IS NOT BY ME, Kunstverein Hildesheim
2007:
MuseumShop, Märkisches Museum Witten,
http://artwarez.org/museumshop
Der MuseumShop ist eine Agentur, die hochwertige Reproduktionen einiger ausgewählter Werke aus der Sammlung
des Märkischen Museums in Witten produziert und verkauft.
Das Märkische Museum, das weder eine Datenbank, noch
eine eigene Homepage besitzt, ist in seiner finanziell angespannten Situation darauf angewiesen, langfristig die eigenen
Ressourcen nutzbar zu machen, wie z.B. seine Rechte und
Eigentumspositionen an den künstlerischen Werken auszuwerten. In diesem Projekt erforscht Sollfrank den Zusammenhang zwischen praktischer Museumsarbeit und geschützten
Urheberrechten.
„Dabei ergeben sich vielfältige Widersprüche zwischen privaten und öffentlichen Interessen, die das Projekt
‚MuseumShop‘ mit künstlerischen Mitteln auf die Spitze treiben wird.“12
1
Sollfrank, Cornelia 2001: Erfolgsstrategien und Selbstboykott. Wie entkomme
ich dem Kunstmarkt und werde gleichzeitig eine erfolgreiche Künstlerin?,
http://www.obn.org/inhalt_index.html (letzter Zugriff 04.02.2008)
2
Ebd.
3
Ebd.
4
Oldenburg, Helene von, What is Cyberfeminism?,
http://www.obn.org/reading_room/writings/html/statistics.html (letzter Zugriff
04.02.2008). Weitere Texte zum Thema Cyberfeminismus vgl. http://obn.org
5
1999 fand die Konferenz ‚next Cyberfeminist International‘ in Rotterdam statt,
http://www.obn.org/nCI (letzter Zugriff 04.02.2008). 2001 wurde die Hamburger
Konferenz ‚very Cyberfeminist International‘ von OBN organisiert,
http://www.obn.org/obn_pro/vCI/start.html (letzter Zugriff 04.02.2008). Weitere
Texte und Reader der Konferenzen vgl. http://www.obn.org/inhalt_index.html
I DON’T KNOW, Interview mit Andy Wahrhol, Video/Installation (1968/2006), Shift Festival der elektronischen
Künste, Basel
6
Vgl. Curriculum Vitae, http://www.artwarez.org/?p=20 (letzter Zugriff 07.06.2007)
7
Cramer, Florian 2003: Social Hacking, revisited,
http://plaintext.cc:70/all/social_hacking_revisited_sollfrank/social_hacking
_revisited_sollfrank-deutsch.pdf (letzter Zugriff 04.02.2008)
8
http://www.artnet.de/magazine/features/quest/quest01-11-07.asp
(letzter Zugriff 04.02.2008)
Aktuelles Schaffen:
9
Sollfrank in einem Interview mit Tilla Telemann zur Hack-Aktion Female
Extension, vgl. http://www.artwarez.org/femext/content/interview.html
Sollfrank ist Betreiberin der Webpräsenz artwarez.org, hier
informiert sie über ihre eigene Arbeit, publiziert Interviews
und betreut einen Blog.
Sollfrank ist Initiatorin und seit 2006 Mitbetreiberin der
Internetplattform für Kunst und Kritik THE THING HAMBURG,
10
Vgl. u.a. http://wwww.artwarez.org/femext
11
Vorkoeper, Ute 1999: Programmierte Verführung. Cornelia Sollfranks
Netzkunstgeneratoren testen das Autorenmodell,
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3466/1.html (letzter Zugriff 04.02.2008)
60
61
12
http://www.knotenpunkte.net/kp-de/kuenstler6.html
13
http://www.thing-hamburg.de
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo
auf der Grundlage seiner bisher verwendeten Farbpaletten
vorher sagen zu können. Oder die Daten können in verschiedenen Dateiformaten herunter geladen werden, um sie etwa
in die eigene Arbeit zu integrieren und Bilder in Anlehnung an
die Farbpaletten berühmter Maler zu erstellen. Die im Pool
berücksichtigten Bilder eines einzelnen Künstlers werden darüber hinaus in chronologischer Abfolge ihrer Entstehung aufgeführt und im Farbraum verortet, so dass sie auch in einen
individuellen Werkzusammenhang gestellt werden können.
Außerdem ermittelt die Anwendung Systematisierungsvariationen, sie erstellt beispielsweise Zusammenhänge zwischen
Bildern unterschiedlicher Künstler, aber doch mit ähnlichen
Farbeigenschaften.
Das Netzprojekt kann in mehrfacher Hinsicht als eine rhizomatische4 Arbeit bezeichnet werden.
Abgesehen davon, dass sich die Seite selbst durch einen
non-linearen, rhizomatischen Aufbau auszeichnet und mit
externen Links u.a. zu einem projektbezogenen Blog5 ausgestattet ist, handelt es sich bei ‚In The Mod: Colors Analytics
(ITM)‘ auf der Produktionsebene um eine Kombination aus
Bild, Text und downloadbaren Tools. Die Arbeit lässt sich
demnach als hypermedial bezeichnen, zumal sie auch Kunst
im traditionellen Sinn, nämlich Gemälde mit digitaler Kunst
verbindet und so eine neue Form der Annäherung und der
Kommunikation zwischen klassischer Kunst und dem
Medium Computer als Entstehungsort für Kunst schafft. In
ihrer Funktion ist sie auf das Internet angewiesen, da die
Möglichkeit, direkt Anwendungen herunterladen zu können,
ein wesentlicher Bestandteil des Kunstwerks ist. Die Arbeit
stellt ein Gemälde seiner digitalen Entsprechung gegenüber,
die zum einen als Auflösung, zumindest aber als eine
Verfremdung gesehen werden kann. Zum anderen handelt es
Rezeption von Net.art
am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo
Bei der Arbeit ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘1 handelt es
sich um eine Softwareentwicklung des aus Albuquerque (New
Mexico) stammenden Künstlers, Designers und Entwicklers
Dr. Woohoo2, der seit 1993 mit digitalen Medien arbeitet. Die
hier ausgewählte Arbeit ermöglicht, mit einer Serie von farbanalytischen Algorithmen3 Farbpaletten von Gemälden zu
analysieren. Im Bilderpool, der durch jeden User beliebig
angereichert werden kann, befinden sich aktuell 74 Werke
von gleichermaßen namenhaften (Andy Warhol, Josef Albers,
Henri Matisse) wie auch von weniger bekannten Künstlern.
Die Anwendung selbst extrahiert eine gewisse Zahl an Farben
eines jeweiligen Gemäldes und ordnet diese mit Hilfe von
Algorithmen, basierend erstens auf der Häufigkeit ihrer
Farbverteilung und zweitens zentraler Tendenzen. Auf diese
Weise werden hunderttausende von Farben aus der jeweiligen Farbpalette auf einige wenige hundert reduziert. Die
gewonnenen Daten werden in einem variablen, zufallsgesteuerten zweidimensionalen Farbraum visualisiert und tragen
entweder dazu bei, das nächst mögliche Bild eines Künstlers
Nikola Weseloh
62
63
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo
ersten Blick überschaubar und kann nur durch Navigieren
und Durchklicken in seinem vollen Ausmaß erfahren werden.
Seine Struktur ist dem Rezipienten zunächst einmal uneinsichtig, wodurch sich die Notwendigkeit einer Interaktion
ergibt. Der Rezipient wird daher automatisch zum User, da er
das Kunstwerk erforschen und sich seinen Weg durch das
Geflecht der Links bahnen muss. Vom Künstler sind zwar die
einzelnen Stationen, nicht aber die Reihenfolge ihrer
Aufrufbarkeit vorgegeben, was jedes derart konzipierte Werk
für den User auf unterschiedliche Weise erfahrbar und
begreifbar macht. In vielen Fällen wird der Rezipient in ein
unfertiges Projekt integriert und trägt somit erst zu seiner
Entstehung bei. Es gibt daher auch keinen ersten Eindruck,
wie er in der Regel bei der Betrachtung eines Gemäldes oder
einer Plastik hergestellt wird. Die einzelnen Puzzle-Teile, aus
denen das Werk zusammengesetzt ist, müssen erst einmal
aufgedeckt werden, woraus sich dann ein Gesamteindruck
ergibt.
In eben dieser Unvollständigkeit und Fragmentarität liegt das
Spezifische einer rhizomatischen Arbeit wie der vorliegenden.
Ebenso werden neue Anforderungen an den Rezipienten
gestellt, da sich beispielsweise der 2-D Farbraum, in dem
Informationen aus den entsprechenden Farbpaletten der
Gemälde visualisiert werden, auf vielfache und miteinander
kombinierbare Weise verändern lässt. Dadurch ergibt sich
eine Fülle an Kombinationsmöglichkeiten, die den
Rezipienten in die Gestaltung der Arbeit mit einbezieht. Er
folgt keiner festgelegten linearen Struktur, die einen Anfangsund einen Endpunkt besitzt, sondern schafft sich einen eigenen, persönlichen Zugang zu dem Werk.
Nach Huber6 lässt sich Dr. Woohos Arbeit als eine partizipative Arbeit, nach Bookchin und Shulgin7 als eine formale Arbeit
Quelle: http://www.inthemod.com/inthemod.html
sich bei der Bearbeitung mit der ITM-Software auch um eine
Erweiterung des klassischen Kunstwerks. In jedem Fall spielt
der Künstler mit den Möglichkeiten der von ihm entwickelten
Software und kann nun zwei Kunstformen, die ansonsten nur
isoliert voneinander betrachtet werden können, miteinander in
Beziehung setzen. So organisiert Dr. Woohoos Arbeit auf konzeptioneller Ebene Relationen zwischen Gemälden und
Net.art, stellt zwischen einem einzelnen Werk und der psychischen Verfasstheit seines Künstlers Beziehungen her und
erarbeitet Bezüge zwischen bekannten und weniger bekannten Malern. Auf der Grundlage ihrer Farbpaletten werden
Bilder gattungs- und motivübergreifend sowie unabhängig
von Entstehungszeit und -kontext zueinander in Beziehung
gesetzt. Kunsthistorisch kanonisierte Kategorisierungen und
bisherige Zuordnungen qua Schule, Entstehungsdatum,
Motiv oder Intention werden durchkreuzt und/oder aufgelöst.
Dieses internetbasierte, rizomatische Kunstwerk unterscheidet sich auch auf der Rezeptionsebene in wesentlichen
Punkten von einem statischen Gemälde: Es ist nicht auf den
64
65
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Rezeption von Net.art am Beispiel von ‚In The Mod: Color Analytics (ITM)‘, Dr. Woohoo
bezeichnen, die von der Interaktion des Rezipienten lebt. Eine
derartige Rezeption eines Kunstwerks bezieht den
Rezipienten mit ein und macht ihn zum Teil seiner selbst. Der
User schafft selbst Kunst, modifiziert die Anwendung, indem
er eigene Kunst hochladen und sie in den Bilderpool einspeisen kann und lässt ihn seinen ganz eigenen Weg durch das
Labyrinth von Optionen und Links finden. Die Interpretation
solcher Werke fällt also noch weniger eindeutig aus, als es
bisher bei traditioneller Kunst der Fall ist, da die Herangehensweise an eine solche Arbeit jedes Mal eine neue sein
kann, vermutlich auch sein wird. Das Netzkunstwerk ist darüber hinaus flüchtiger und kann sich, je nach Zeitpunkt seiner
Betrachtung, bereits verändert haben. Der Kunsthistoriker
Hans Dieter Huber schreibt explizit zur veränderten kunsthistorischen Rezeption: „Ferner entsteht zum ersten Mal in der
Geschichte der Kunstgeschichte die faszinierende Möglichkeit, dass Kunsthistoriker nicht nur historische Entwicklungen, die bereits abgeschlossen sind, rekonstruieren und
nacherzählen, sondern aktiv als Gestalter, Layouter und
Designer in den Prozess der Konstruktion von Geschichte
eingreifen können.“8
Konnexion, der Heterogenität, der Vielheit, des asignifikanten Bruchs, der
Kartographie sowie der Dekalkomonie auszeichnet. Vgl. Deleuze,
Gilles/Guattari, Félix 1977: Rhizom, Berlin (frz. 1976)
5
http://www.inthemod.com/blog
6
Huber schlägt vier Kategorisierungen für das Rezeptionsverhalten vor:
Reaktive Werke: „Der User kann sich nur durch Klicken und Scrollen durch
das Projekt bewegen.“ Interaktive Werke: „Der User kann durch Eingabeflächen, Java Applets oder CGI-Skripte den Server veranlassen, eine momentane Veränderung des Zustandes des jeweiligen Webprojekts zu veranlassen.
Wenn der User aber die Seite verlässt, geht das Projekt wieder in seinen
Ausgangszustand zurück. Die Veränderungen des Projektes sind also nur
temporär.“ Partizipative Werke: „Der User kann durch a) Download, b)
Bearbeiten, c) Einsenden von Text, Bildern, Tönen, Filmen und/oder d)
Steuern von Robotern zu einer dauerhaften Formveränderung des jeweiligen
Projektes beitragen.“ Kontextsysteme: „Dem User wird eine bestimmte, vorgestaltete Plattform oder ein Rahmensystem zur Verfügung gestellt, die er für
seine eigenen Zwecke benutzen kann.“ Hans Dieter Huber, Zur Geschichte
der Netz.Kunst. Problemstellungen, Stand der Dinge, Ausblicke, 1998.
http://www.hgb-leipzig.de/artnine/netzkunst/geschichte
Schiesser schlägt vor, statt von Kontextsystemen von kollaborativen Werken
zu sprechen und liefert folgende Definition: „Dem User, der Userin wird eine
(vorgestaltete) Plattform oder ein Rahmensystem zur Verfügung gestellt, die
er, sie für seine/ihre eigene Zwecke benutzen kann. Die KünstlerInnen geben
also einzig den Anfangsimpuls; Struktur, Entwicklung und Veränderung des
,Kunstwerkes in Bewegung‘ (Umberto Eco) ist danach einzig abhängig von
den Entscheidungen einzelner bzw. vieler UserInnen.“ Giaco Schiesser,
Kategorisierung von Netzkunst – exemplarische Beispiele, 1999.
http://www.xcult.ch/texte/schiesser/netzkunst.html
http://www.inthemod.com/inthemod.html, archiviert auf rhizome.org
http://rhizome.org/object.php?46757
7
2
8
1
Nathalie Bookchin, Alexej Shulgin, Introduction to net.art (1994-1999),
1999. http://subsol.c3.hu/subsol_2/contributors/bookchintext.html
Hans Dieter Huber, Die digitalen Obdachlosen. Kunsthistoriker und das
Internet, 1996. http://www.hgb-leipzig.de/artnine/huber/aufsaetze/obdachlose.html
http://www.drwoohoo.com
3
„Der Begriff ‚Algorithmus‘ bezeichnet in Mathematik und Informatik eine
Anweisung, die eine Aufgabe in einzelnen Schritten präzise und vollständig
beschreibt.“ Thomas Dreher, Konzeptuelle Kunst und Software Art:
Notationen, Algorithmen und Codes, 2005.
http://iasl.uni-muenchen.de/links/NAKS.html
4
Ich beziehe mich auf die Definition des Rhizom des französischen
Philosophen Gilles Deleuze und des Psychiaters und Psychoanalytikers Félix
Guattari von 1977, nach der sich ein Rhizom durch das Prinzip der
66
67
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Exhibiting the Dot
Programm des Ausstellungsprojekts. Folglich ging es nicht um spezifische
Kunstwerke an sich, sondern um die Suche nach geeigneten
Darstellungsformen künstlerischer Arbeitsprozesse. Die angestrebte soziale
Vernetzung der teilnehmenden Künstler auch außerhalb des virtuellen und
privaten Raumes konnte laut Andreas Broeckmann nicht vollends verwirklicht werden. Hierzu:
Broeckmann, Andreas. 1998. Sind Sie online? Präsenz und Partizipation in
Netzkunstprojekten:
http://www.aec.at/de/archives/festival_archive/festival_catalogs/
festival_artikel.asp?iProjectID=8387
Ars Electronica 1997 Projektdokumentation:
http://www.aec.at/fleshfactor/projects_doku.html
Exhibiting the Dot
Ausgewählte Netzkunstausstellungen im
deutschsprachigen/europäischen Raum
net_condition, Zentrum für Kunst & Medientechnologie Karlsruhe,
1999/2000:
Diese Ausstellung war vom ZKM in Karlsruhe als multilokale, global vernetzte Ausstellung geplant, die das Spannungsfeld reziproker Beeinflussung von
Gesellschaft sowie Wirtschaft und technologischer Entwicklung – und mit
dieser letztlich das Internet – in den Mittelpunkt stellte. Kritiker warfen der
Ausstellung vor, dass zu sehr die Quantität der Werke forciert wurde und
diese jeweils auf einem Rechner installiert waren. Trotz aller Kritik ist
‚net_condition‘ jedoch eine Vorreiterrolle zuzuschreiben. Hierzu:
Homepage der Ausstellung: http://on1.zkm.de/netcondition
Baumgärtel, Tilman. Jetzt wird aufgetischt: Netzkunst am Fließband. In:
Telepolis 20.10.1999. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3444/1.html
Inga Reimers
Hybrid Workspace, documenta X, Kassel (Orangerie), 1997:
Im Hybrid Workspace der documenta X wurde in etwa zwölf Workshops der
Versuch gestartet, die Arbeitsprozesse von Netzkünstlern einem zumeist
netzkunstunerfahrenen Publikum näher zu bringen. Durch verschiebbare
Raumelemente sollten ständig neue Assoziationen ermöglicht und die
Beziehung zwischen virtuellem und realem Raum hinterfragt werden. Als
problematisch erwiesen sich rückblickend Konflikte zwischen den teilnehmenden Künstlern und vor allem die Vermittlung des abstrakten
Gegenstands der Ausstellung an die Besucher. Weiterer Kritikpunkt war die
nicht vorhandene Verbindung der präsentierten Werke mit dem Netz, obwohl
Konnektivität präsentiert werden sollte. Hierzu: Schulz, Pit. Die Hybrid
Workspace Story, Ein Arbeitsbericht, Abschnitt 1.1. In: Telepolis 24.07.1997.
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6174/2.html
Projektbeschreibung:
http://www.xplicit.de/xxface2face/f2fprojects/f2fprojects.html
Written in Stone, Oslo Museum of Contemporary Art, 2003:
Näheres zu der Ausstellung im Text. Weitere Informationen und
Kommentare:
Olia Lialina: Little Heroes and big dot. 2003.
http://art.teleportacia.org/observation/oslo/oslo.html
Bosma, Josephine. Written in Stone, a net.art archaeology. 2003.
http://www.notam02.no/motherboard/articles/03_netart_bosma.html
My Own Private Reality, Edith-Ruß-Haus für Medienkunst Oldenburg,
2007:
Diese Ausstellung beabsichtigte eine Retrospektive der Netzkunst zeitlich
vor dem Web 2.0 sowie eine aktuelle Betrachtung der veränderten
Open X, Ars Electronica, Empore des Linzer Design Centers, 1997:
„Das Werk wurde durch den Prozeß abgelöst.“ So heißt es in der Open XProjektbeschreibung auf den Webseiten der Ars Electronica und war somit
68
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Exhibiting the Dot
Bedingungen. Die Auswahl, Kombination und Präsentation sollte eine intensive Diskussion anregen. Obwohl auf traditionelle Präsentationstechniken
zurückgegriffen wurde, überzeugte die Ausstellung auch durch den Einbezug
von Online-Offline-Transformationen (u.a. Olia Lialina/Dragan Espenschied).
Webseite und Blog der Ausstellung:
http://myownprivatereality.wordpress.com
diskutiert, aber bis heute nicht überwunden. Vor allem die
Frage der Inventarisierbarkeit und Archivierbarkeit von
Medienkunst im Allgemeinen stellt ein Ausschlusskriterium für
den regulären Museumsbetrieb dar. Auch die Abgrenzung des
weißen Ausstellungsraumes nach außen und infolgedessen
das Kappen von Anschlüssen wie zum Beispiel ins Internet
stehen den Prinzipien der Netzkunst scheinbar unvereinbar
gegenüber. Diese Entwicklung soll im Folgenden skizziert und
kommentiert werden und schließlich in zwei Ausblicken münden.
Beim Vergleich des Netzkunstwerks mit dem „herkömmlichen“
Kunstwerk, wie zum Beispiel einer Malerei, fällt schnell ein
großer Unterschied ins Auge: Eine der konstituierenden
Eigenschaften der Netzkunst ist ihr ephemerer Charakter, ihre
ständige Veränderung durch den interagierenden Nutzer,
Benutzer, Rezipienten. So konstatiert Roy Ascott schon 1995
in seinen Gedanken zum „digitalen Museum“, dass sich der
Gegenstand des Kunstmuseums mit der Ausstellung von
Netzkunst und zunehmender Digitalisierung transformiert: „In
der Telematik-Kultur verschiebt sich daher das Hauptaugenmerk des Kunstmuseum von den bildenden (plastischen)
Künsten zu den xenoplastischen Künsten, den Künsten der
Vernetzung und Interaktion.“1
Somit wird schnell deutlich, dass die bisherigen Versuche,
möglichst viele Netzkunstwerke auf möglichst vielen Rechnern
im Museumsraum zu installieren, nicht die Antwort auf den
sich verändernden, digitalen Gegenstand der zeitgenössischen Kunst sein kann. Vielmehr sollte hinterfragt werden,
inwiefern Mechanismen, Handlungsmuster und Zuschreibungen sowohl auf Produzenten-, als auch auf Konsumentenseite
erfahrbar und ausstellbar gemacht werden können.
Auch in heutigen Netzkunstausstellungen wird häufig noch der
You_ser: Das Jahrhundert des Konsumenten, Zentrum für Kunst &
Medientechnologie Karlsruhe, 2007:
Seit Herbst 2007 stellt das ZKM mit dieser Ausstellung explizit den Nutzer,
den User in den Mittelpunkt der Medien- und Netzkunstrezeption. Der
Kultur- und Medienwissenschaftler Robert Hauser fühlt sich jedoch eher von
Kunst benutzt, als dass er seine Rolle als Nutzer und Mitgestalter von
Inhalten repräsentiert sieht.
Hauser, Robert. YOU_ser Art – Benutzerkunst oder Kunstbenutzer? In:
Telepolis 10.11.2007. http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26578/1.html
Homepage der Ausstellung: http://www02.zkm.de/youser
Weibel, Peter. User Art_ Nutzerkunst. In: Telepolis 02.12.2007:
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/26/26653/1.html
Nahezu alle Bereiche des realen Lebens finden sich mittlerweile im Internet wieder. So besetzt auch die Kunst in Form
der Netzkunst bereits seit den Anfängen des Internets festes
Terrain. Und denkt man an Kunst, liegt auch der Gedanke an
Kunstmuseen und –ausstellungen nahe. Diese Beziehung
zwischen Internet und Museum, so genanntem virtuellen und
realen Raum wird nun seit mehr als einem Jahrzehnt in diversen Ausstellungen erprobt, wie die fragmentarische Zusammenstellung am Anfang des Textes belegt.
Der bloße Kunstbetrachter hat sich im Falle der Netzkunst
zum Nutzer (User) gewandelt und ist in der Regel an der
Generierung von Inhalten beteiligt. Weiterhin wurden besonders die traditionellen Formen des Ausstellens von Kunst,
insbesondere die des White Cubes, in Frage gestellt und
70
71
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Exhibiting the Dot
klassische Weg verfolgt, dem Besucher einzelne Netzkunstwerke auf je einem Rechner zu präsentieren. Hier ist es wichtig zu wissen, dass in den meisten Fällen nicht etwa die
Projekte selbst oder gar die Hardware, sondern Prinzipien
ausgestellt oder durch bewusste Kombination bestimmter
Werke derzeitige gesellschaftliche Strömungen hinterfragt
werden sollen. In einigen Fällen sind auch die Netzkünstler
selbst vor Ort und geben Auskunft über ihre Arbeit. Olia
Lialina2 _S. 30 (Waschke) hat in diesem Zusammenhang die
Begriffe OBJEKT und ZOO in die Diskussion eingebracht: Als
OBJEKT bezeichnet sie „die um einen Computer herum
arrangierte Ästhetik“3, also zum Beispiel die Kennzeichnung
des Arrangements mit dem Werknamen und die zusätzliche
ästhetisierende Gestaltung der Einheit Rechner und Bildschirm mittels Samt oder Ähnlichem. Hierbei ist eine Reziprozität zwischen dem Werk selbst und seiner Umgebung festzustellen, denn je aufwändiger das Arrangement ist, desto
mehr tritt das Werk hinter ihm zurück: „Je umfangreicher das
OBJEKT, desto lebloser wird das Kunstwerk.“4 Ein ZOO bietet
zusätzlich zu der beschriebenen Umgebung die Anwesenheit
des Netzkünstlers, der dann bei der ‚Arbeit‘ zu beobachten
oder auch zu befragen ist. Als einzig sinnvolle Art der Präsentation schlägt Lialina die KONFERENZ vor, bei der der Netzkünstler seine Arbeit in Vortragsform erläutert und (sich) zur
Diskussion stellt.
Eine andere Möglichkeit, Netzkunst in den musealen Raum
und somit in den Kunstdiskurs einzubringen5, kann die
Transformation des virtuellen, immateriellen Kunstwerks in
materielle Formen sein. Als besonderes Beispiel sei an dieser
Stelle die Ausstellung ‚Written in Stone: a net.art archeology‘
genannt. Diese Ausstellung im Osloer Museum für Zeitgenössische Kunst im Frühjahr 2003 versuchte gar nicht erst,
Rechner mit ausgewählten Werken auszustellen. Im ganzen
Ausstellungsraum gab es keine vernetzten Rechner, sondern
nur nach den Prinzipien des White Cubes ausgestellte Artefakte: eine auf Kissen in einer Vitrine gebettete, glänzende
Metallkugel, die den ‚Punkt‘ (the dot) repräsentiert, ohne welchen keine URL funktionieren würde, gerahmte Screenshots
von bekannten Netzkunstwerken oder auch auratische Dinge,
wie zum Beispiel eine Jacke Olia Lialinas. Auratisch deshalb,
weil diesem Alltags- und Gebrauchsgegenstand einer zur
Ikone stilisierten Netzkünstlerin nun auch eine musealisierte
Bedeutung zugeschrieben wurde. Skulpturen, die u.a. Olia
Lialina, Vuk Cosic und Alexej Shulgin in Gips abbildeten, ordneten die Netzkunst/NetzkünstlerIn in eine kunsthistorische
Tradition ein. Gleichzeitig hinterfragte die Ausstellung – oft
ironisierend –, was netzbasierte Kunst und bildende Kunst,
wie im Fall der Skulpturen, gemeinsam haben.
Bei der Betrachtung der vorangestellten, exemplarischen
Ausstellungen lassen sich gegenwärtig zwei Tendenzen beim
Ausstellen von Netzkunst feststellen: Einmal die chronologisch-bilanzierende Ausstellung, welche retrospektiv versucht, die Entwicklung von Netzkunst nachzuzeichnen. Im
Mittelpunkt stehen meist Rechner mit Netzkunstarbeiten,
allerdings gibt es oft ein übergeordnetes Thema, unter dem
die Kunstwerke betrachtet werden (sollen). Bei der zweiten
Art von Netzkunstausstellungen wird der User oder auch der
Netzkünstler mit seinen Beziehungen und Handlungsmustern
in den Mittelpunkt gestellt. Hier ist die Intention, Arbeitsprozesse transparent zu machen. Des Weiteren wird versucht,
den derzeitigen Stand der Netzkunst darzustellen und zusätzlich die sozialen, kulturellen und technischen Bedingungen
des Internets und der Kunst des Netzes zu thematisieren.
72
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Exhibiting the Dot
Da Netzkunst letztlich weniger Objekt (Objekt ist hier die
Hardware und evtl. noch die ästhetische Umgebung) als
Prozess und deshalb schwerer ausstell- und sammelbar ist,
gestaltet es sich nach der traditionellen Logik von Museen
schwierig, Netzkunstwerke im Ausstellungsraum zu präsentieren, zu bewahren und zu sammeln. Idealerweise besteht
mit diesen Ausstellungen aber auch die Möglichkeit, die
räumlichen Grenzen und somit die Grenzen des White Cubes
per Netzverbindung zu überwinden. Somit kann auch das
bisherige Raum-Zeit-Modell der Ausstellungsräume neu
gedacht werden: Durch Netzkunst/das Internet wird ein weiterer (Ausstellungs-) „Raum“ und somit auch eine Ortspluralität bei gleicher Zeitdimension eröffnet.
Ausblick I: Wirklichkeitserfahrung
Wie nun aber umgehen mit der Netzkunst? Die Bestrebungen, Museen direkt und auch nur im Netz zu errichten, scheinen keine Alternative zu sein, handelt es sich doch in den
meisten Fällen um bloße Linksammlungen mit dokumentarischem Charakter. In diesem Sinne kann nicht von einer
Konkurrenz zum klassischen Museum die Rede sein.
Ein bislang unschlagbarer Vorteil des Museums ist die
Multisensorik, die es den Besuchern je nach Ausstellungsdesign bieten kann. Diesen Vorteil werden die Museen so
lange nutzen können, bis der technologische Fortschritt ein
nicht nur audiovisuelles, sondern auch haptisches Internet
erschaffen hat. Das derzeitige Bestreben, museale
Erfahrungsräume zu kreieren, setzt der Internetnutzung/
Netzkunstrezeption im privaten Raum eine Möglichkeit der
multisensorischen Wirklichkeitserfahrung entgegen. Auch
Hans Peter Schwarz meinte schon 1995, einen Trend in diese
Richtung feststellen zu können: „Ein Museum wird immer
jener einprägsame Ort bleiben müssen, an dem man sich seiner eigenen Wirklichkeit und der materiellen Wirklichkeit der
historischen und künstlerischen Zeugen der Geschichte vergewissern kann. Vielleicht ist es gerade im Zeitalter der totalen Simulationen, die uns in unseren Wirklichkeitserfahrungen
immer unsicherer zurücklassen, das Museum, das eines der
letzten Refugien für die sinnliche Überprüfbarkeit der Realität
bereitstellen könnte.“7
In diesem Fall wäre das Museum jedoch ein Gegenentwurf zu
der als flüchtig und immateriell beschriebenen Netzkunst und
einem medial bestimmten Alltag. Verfolgt man diese These
weiter, könnte den Museen am Ende die Stärke des Internets
sogar nutzen. Dazu jedoch mehr im zweiten Ausblick.
Wie soll oder wird sich die hier beschriebene Verbindung von
Netzkunst und Ausstellungsraum nun in Zukunft entwickeln?
Wo liegen Chancen und Potentiale? Sicherlich wird ein
wesentlicher Punkt für die Museen das Schaffen von
Kommunikations-, Begegnungs- und Erfahrungsräumen sein,
um dem „Virtuellen“ bzw. dem Diskurs des Virtuellen ein
Kontrastprogramm zu bieten. Weiterhin sollten Museen noch
stärker als bisher die Möglichkeit nutzen, über das Internet
zusätzlich zum Beispiel über den Entstehungsprozess eines
Werkes zu informieren.6
Die Verlegung der privaten Internetnutzung und Netzkunstrezeption in den öffentlichen Raum und die daraus entstehende mögliche Verwirrung ist dementsprechend als Chance für
die Museen und die Produzenten zu sehen. Hier ist bei der
Präsentation von Netzkunst zum Beispiel auch an die Form
des Workshops zu denken. Weitere Ideen folgen nun in zwei
fragmentarisch gestalteten Ausblicken:
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Exhibiting the Dot
Mit der Beschreibung des Museums als Erlebnisraum
bekommt die hier ausgestellte Netzkunst im Zusammenwirken mit dem Besucher einen Happening -Charakter und ist
maßgeblich auf die Interaktion außerhalb des Netzes im so
genannten realen Raum angewiesen. Dieses trifft mit dem
Boom der Science-Center oder ähnlichen Einrichtungen und
Ausstellungen zusammen, in denen die Besucher vom reinen
Betrachten hin zum interaktiven Erfahren, Erleben und Lernen
geführt werden. Sicherlich stellt sich die Frage, ob sich diese
Zielgruppe mit denen der Kunstmuseen deckt, jedoch ist
dann an dieser Stelle zu überlegen, ob die Gruppe der Netzkunstinteressierten sich nicht ohnehin von derjenigen der traditionellen Kunstrezipienten unterscheidet.
ersten Blick schwer fällt, Netzkunst als Kunst zu erkennen
bzw. zu begreifen.
Peter Weibel, Kurator der Ausstellung ‚You_ser: Das Jahrhundert des Konsumenten‘ im ZKM in Karlsruhe weist dem
Museum in diesem Prozess die Rolle einer Raum gebenden
Institution zu, welchen letztlich der Besucher mit Inhalten
füllt: „Die Nutzer-Kunst übernimmt diese Strategie für das
Kunstsystem. Die Besucher als Nutzer erzeugen die Inhalte
und Angebote im Museum selbst, sie tauschen sie untereinander aus und verteilen sie frei im Netz oder im Museum. Das
Museum und die klassischen Künstler sind gewissermaßen
die Provider, sie stellen die Infrastruktur zur Verfügung. Die
Nutzer, die emanzipierten Konsumenten, liefern den Inhalt
oder sind selbst der Inhalt. Die Nutzer sind die ,prosumer‘
(pro/ducer und con/sumer).“8
Folgt man der These, dass durch die übergreifende Relevanz
und Nutzung des Internets eine stärkere Verquickung von
Kunst und Alltag stattfindet, spräche einiges dafür, das
Museum eben doch als einen Raum der Konservierung und
als Gegenentwurf des Alltäglichen anzusehen. Dieses würde
dann für die Netzkunst bedeuten, dass sie sich an anderer
Stelle einen Weg zum Rezipienten bahnen müsste. Dieses
könnte stärker auf persönlichen Kontakt angelegte Veranstaltungen wie eben Festivals und Kongresse sein, in denen
neben der Präsentation der Netzkunst die Auseinandersetzung über (gesellschaftliche) Bedingungen für die Produktion
von Netzkunst im Mittelpunkt stünden. Sieht man Netzkunst
in diesem starken Alltagsbezug, böten sich eher Ausstellungen an, die vor allem die Umstände und Umgebungen der
Netzkunstrezeption, also den Rezipienten in den Mittelpunkt
stellen würden.
Ausblick II: Internet – Kunst – Alltag
Durch die künstlerische Nutzung des Mediums Internet findet
eine Verquickung oder auch Zusammenführung von Alltäglichem einerseits und der Kunstproduktion wie auch der
Kunstrezeption andererseits statt. NetzkünstlerInnen arbeiten
in und mit einem Medium, das nicht per se ein künstlerisches
ist, sondern aktuell größtenteils für die Beschaffung und
Verbreitung jeglicher Art von Informationen genutzt wird. In
der Folge verschwimmen die Grenzen zwischen dem so
genannten virtuellen und dem realen Raum. Auch die
Rezeption von jeglichen Webseiten ist zunächst einmal ein
alltäglicher Handlungsakt und in diesem Fall unterscheidet
sich der Prozess der Kunstrezeption im Netz nicht vom
browsen zum Beispiel auf einer Nachrichtenseite. Deshalb
gehe ich davon aus, dass auch der Kunstkonsum mit der
Netzkunst alltäglicher geworden ist. Dieses ist sicherlich auch
einer der Aspekte, warum es vielen Rezipienten auf den
76
77
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
1
Ascott, Roy. 1995. S. 77
2
http://art.teleportacia.org
Exhibiting the Dot
Shaw, Jeffrey / Schwarz, Hans Peter. Perspektiven der
Medienkunst. In: Schwarz, Hans Peter. Perspektiven der
Medienkunst, Museumspraxis und Kunstwissenschaft antworten auf die digitale Herausforderung. Karlsruhe 1995.
S. 8f
Schwarz, Hans Peter. Das digitale Museum – Multimedialer
Bilderterror oder Chance zur Neubestimmung der Museen?
In: Schwarz, Hans Peter. Perspektiven der Medienkunst,
Museumspraxis und Kunstwissenschaft antworten auf die
digitale Herausforderung. Karlsruhe 1995. S.67-116
Weibel, Peter. User Art _ Nutzerkunst. 2007
http://www02.zkm.de/youser/index.php?option=com_content
&task=view&id=16&Itemid=24
3
Lialina, Olia. Ein Link wäre schon genug. 2000.
http://art.teleportacia.org/observation/du.html
4
Ebd.
5
In diesem Zusammenhang hat Tilman Baumgärtel 1999 in der Diskussion
um die Ausstellung ‚net_condition‘ im ZKM den Begriff der „Duchampschen
Operation“ eingebracht: Es gehe bei der Ausstellung darum, „Arbeiten oder,
technisch genauer gesagt: Dateien, die bisher ohne die Legitimierung als
Kunst im Internet zu sehen waren, ins Museum zu transferieren und ihnen so
die noch fehlende Legitimierung durch diese Institution zu verleihen. In der
Diskussion über Netzkunst war es von Anfang an ein wichtiger Topos, dass
Netzkunst dadurch, dass sie im Internet existiert, keine unmittelbare
Markierung als Kunst hat.“ Telepolis 20.10.1999
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3444/1.html
6
Das Fernsehen oder auch das Radio nutzt diese Möglichkeit bereits stärker,
indem zum Beispiel Sendungen im Internet angesehen werden können oder
auf zusätzlich bereitgestellte Informationen im Netz – ähnlich einer Fußnote –
verwiesen wird. Siehe hierzu die ZDF-Mediathek.
http://www.zdf.de/ZDFmediathek/content/9602?inPopup=true
7
Schwarz, Hans Peter. 1995. S. 71
8
Weibel, Peter. 2007
Weiterführende Texte und Links zum Thema
Ascott, Roy. Das digitale Museum. In: Schwarz, Hans Peter.
Perspektiven der Medienkunst, Museumspraxis und
Kunstwissenschaft antworten auf die digitale Herausforderung. Karlsruhe 1995. S.76-83
Baumgärtel, Tilman. Jetzt wird aufgetischt: Netzkunst am
Fließband. Telepolis 20.10.1999.
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/3/3444/1.html
Lialina, Olia. Ein Link wäre schon genug. 2000.
http://art.teleportacia.org/du.html
78
79
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics
weder explizit auf kunsthistorische Vorbilder referieren oder
etablierte Mechanismen des Betriebssystems Kunst angreifen
und hinterfragen und dazu Strategien wie Aneignung, Fakes
und Hacks verwenden. Diesen Punkt möchte ich am Beispiel
des slowenischen Net.art Künstlers Vuk Cosic genauer
beschreiben und untersuchen, wie er mit seinen Arbeiten
‚classics of net.art‘ und dem „Diebstahl“ der documenta XWebseite in das System der Kunst eingreift.
Ein großer Teil der bekannten Arbeiten Vuk Cosics ist auf
dem von ihm mitbegründeten Internet-Medienportal ljudmila.org archiviert und noch immer zugänglich. Auf der Startseite des Portals wird man über die Zusammensetzung des
Namens (ljubljana digitial media lab) informiert und findet
rasterförmig unter thematischen Rubriken mit englisch-sprachigen Überschriften wie Festivals, Musik, Bücher etc. alphabetisch geordnete Links. Unter der Rubrik ‚Künstler und
Gruppen‘ findet sich unter seinem Vornamen Vuk der Link zu
Cosics aktueller Webseite4. Diese Eingangsseite ist ebenfalls
als Link-Katalog angelegt und zeigt nebeneinander drei
hochrechteckige Felder, die drei verschiedene Rubriken – mit
den Titeln Vuk Cosic, contemporary ascii und net.art –
begrenzen und die sich in den Farben Weiß, Schwarz und
Hellgrau von dem mittelgrauen, monochromen Hintergrund
abheben. Unter der erstgenannten Rubrik findet man Cosics
E-Mail-Adresse, eine piktogrammartige Figur, Links zu anderen Net.art-Künstlern und zu einer alten Version seiner Seite.
Die beiden anderen Rubriken bezeichnen zwei Werkgruppen
und führen mit Links zu den einzelnen Arbeiten. Trotz dieser
schlichten Struktur und Optik lassen sich bereits hier
Hinweise zum Selbstverständnis des Urhebers ausmachen.
So kategorisiert er sich durch den Slogan „No Land’s Man“
als Weltbürger, als jemand, der überall und nirgends oder
Interventionen in das Betriebssystem Kunst
am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics
Seitdem sich das Internet Anfang bis Mitte der 1990er Jahre
durch technische Neuerungen wie die Erfindung von
Browsern weltweit zu einem für eine größere Anzahl von
Usern verfügbaren Medium entwickelte, wurde es ab etwa
1994 auch Teil künstlerischer Interventionen und Betätigungen, die über die bisherige Computerkunst hinausgingen. Der
Computer in Verbindung mit dem World Wide Web bot neuartige Kreations- und vor allem auch Präsentations- und Interaktionsmöglichkeiten. Steve Dietz1 sowie Lev Manovich2 entwickelten Kriterienkataloge für die Definition von Net.art in
Abgrenzung zu Kunst im Netz. Wie wir im Laufe des Seminars feststellen konnten, lassen sich vielfältige Kategorien
von Net.art ausmachen. So etwa eine umfangreiche Anzahl
stark selbstreferenziell geprägter Arbeiten, die sich mit den
spezifischen Bedingungen des Computers und des Netzes,
sprich mit Oberflächen, Codes, Frames, Programmiersprachen3 etc. auseinandersetzen und dabei kulturelle, ästhetische sowie politische Aspekte des Internet thematisieren.
Inhaltlich fällt auf, dass eine Reihe von Net.art-Künstlern ent-
Simone Thürnau
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81
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics
eben im World Wide Web seine Heimat gefunden hat. Das
darunter stehende Piktogramm kann als Selbstporträt Cosics
verstanden werden. Es zeigt eine männliche PiktogrammFigur, deren Kopf durch das Auflegen eins Lupenglases stark
vergrößert erscheint. Im Fokus liegt demnach nicht etwa (im
übertragendem Sinn) die Hand des Künstlers, also handwerkliches Geschick oder kunstfertige Programmierungen, sondern der Kopf, also das Denken, die Ideen.
Zwei von Cosic vormalig verwendete Domains, vuk.org und
vukcosic.org, wurden offensichtlich aufgegeben und werden
mittlerweile von zwei unterschiedlichen, kommerziellen, USamerikanischen Betreibern verwendet5. Ein erstaunlicher
Vorgang, bedenkt man den ideellen und teils auch materiellen
Wert von Domainnamen, die exakt auf Firmen- oder Eigennamen lauten. Eine gewollte Irritation oder eine bewusste
Entscheidung, nicht mehr als Einzelperson, sondern im
Kontext des ljudmila.org-Netzwerks präsent zu sein? Blickt
man auf den heutigen Inhalt der Seiten, eine Pornoseite und
ein Werbeportal, und dann auf Punkt 5.C.1. der ‚Introduction
to net.art‘ von Bookchin und Shulgin (1999)6, könnte man
meinen, dass Cosic die heutigen Betreiber gezielt ausgewählt
hätte, denn dort heißt es, das Internet sei nach Net.art eine
Mall, ein Pornoshop und ein Museum.
zunächst vergeblich. Die documenta X im Jahr 1997 integrierte erstmalig das Internet und die Netzkunst in die 100-tägige
Kunstpräsentation in Kassel und machte sie damit erstmalig
einem breiterem Publikum zugänglich. Die künstlerische
Leiterin Catherine David verpflichte mit Simon Lamunière
zudem einen Kurator, der für den umfangreichen, mit zahlreichen Links auf externe Seiten versehenen Internetauftritt und
die Auswahl der Netzkünstler verantwortlich war. Besucher
der documenta X konnten in einem Computerraum für
Internet-Surfer ausgewählte Webseiten von Künstlern wie
Heath Bunting, Holger Friese und dem Künstlerduo JODI7 –
darunter auch einige im Auftrag der documenta erstellte
Arbeiten – auf Monitoren sowie über einen Beamer aufrufen
und zusätzlich einen so genannten Hybrid WorkSpace in der
Orangerie, an dem etwa Geert Lovink und Pit Schulz mitwirkten, Einblicke in Arbeitsprozesse nehmen8. Analog zum Ende
der Ausstellung9 ging die offizielle Webseite der documenta
wie angekündigt offline. Vuk Cosic kopierte zuvor mit einem
einfachen und legal verfügbaren Programm den gesamten
Inhalt der Seite auf seinen Server und stellt diese kopierte
Version am selben Tag, dem 28.9.1997, erneut online10. Er
selbst ist es auch, der mit im Internet gestreuten
„Meldungen“ auf die Kopie der Seite aufmerksam macht, sich
als Autor der Kopie benennt und gleich dazu das Aufmerksamkeit sichernde Vokabular für Pressemeldungen mitliefert,
welches seitdem als Vokabular mit dieser Aktion untrennbar
verknüpft ist:
„Eastern European Hacker Steals Documenta X Web Site. A
Slovenian hacker Vuk Cosic, who calls himself a ‚net.artist‘, is
identified as the person behind the major international art
theft that is creating waves of shock among surfers on the
net, as well as in the art circles. ...His gesture, announced
Folgt man auf Vuk Cosics Webseite dem Link mit dem Titel
‚Documenta.Done‘, dem einzigen in einer größeren Schrift,
der zusätzlich mit einer Art Schatten hinterlegt ist, die an eine
Taste denken lässt, gelangt man auf eine Startseite mit dem
dx-Logo der documenta X. Von dort aus kann man sich weiterklicken und es wird schnell deutlich, dass man sich auf
einer „alten“ offiziellen Internetseite bewegt, einen Hinweis
auf Cosic und einen Grund für diesen Link sucht man jedoch
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics
only hours before the closing of the official web site of
Documenta X, has by now not been denounced officialy as
an infringement of material copyright, but it is surely suspicious when the ‚author‘ speaks of ‚net critique through positive
engagement‘...“11
Die Geste bleibt vom Wesen her gleich. Der Unterschied
besteht darin, dass der Kontext – in diesem Fall das Internet
bzw. der Computermonitor – in welchem der User die Seite
betrachtet, identisch bleibt, wie auch die Kopie der Seite
keine technischen Merkmale einer Kopie ausweist, sondern
identisch ist. Der Transfer in einen anderen Kontext, sei es ein
Produkt aus der Warenwelt (Duchamp), ein Werbebild (Prince)
oder ein anderes Kunstwerk (Levine) in einen Galerie- oder
Museumsraum, wo die Kunst als solche erkannt, benannt
und mit (eventuell neuer) Autorenschaft versehen wird, ist bei
Cosics Arbeit nicht sichtbar vorhanden. Laut Cosics sei ja
bereits das normale Aufrufen einer beliebigen Internetseite
genau genommen bereits das Erstellen einer Kopie und dass
er beabsichtige, „Hacken und Diebstahl zum Teil der Kunstgeschichte zu machen“. Andererseits ist dieser Vorgang für
ihn kein explizit künstlerischer, da sein Anliegen sei, die
Grenzen zwischen Leben und Kunst zu verwischen14. Der entscheidende Unterschied besteht also darin, dass die Arbeit
Vuk Cosics nicht als Werk im Kunstkontext auftritt, sondern
als eine Aktion. Meiner Meinung nach bietet es sich an, bei
dieser Arbeit den Begriff des Fake15 zu verwenden und sie als
Kommentar zum Themenkomplex Sammeln und Archivieren
von Kunst und Netzkunst, der Frage nach der Macht und
Autorität von (Kunst-) Institutionen sowie der Glaubwürdigkeit
von Informationen im Netz zu verstehen. Betrachtet man die
im Internet lancierten Informationen als Teil des Werkes, so
müsste man wie Hunger richtig bemerkt, sogar von einem
doppelten Fake sprechen.
Eine mögliche Motivation für den „Diebstahl“ der Seite wäre,
dass Cosic diesen „Ritterschlag“ für die Net.art weiterhin
dokumentiert sehen und ein Veto gegen die in seinen Augen
unnötige Abschaltung der Seite einlegen wollte. Mittlerweile
ist auf der documenta-Webseite ein Archiv mit der gesamten
ursprünglichen Seite zugänglich.12 Die Intervention gegen ein
Verschwinden von Spuren im Netz war demnach erfolgreich.
Doch dies allein beschreibt den Hintergrund von Cosics
Aktion nur unzureichend, geht es doch auch um eine vom
Inhalt unabhängige Geste gegenüber der Kunstwelt im allgemeinen, wie Cosic in einem Interview erläutert: „...my basic
intention with the dX gesture, was to experiment in detourning (from détournement) the ready-made strategy, of course not in order to comment on ready made but to make a
comment about the art system.“13
Aber worin besteht der Unterschied – wenn es denn einen
gibt – etwa zum Ready-made eines Marcel Duchamp, auf
den sich Vuk Cosic explizit bezieht, oder zur Appropriation
Art von Richard Prince oder Sherrie Levine? Vorhandene
Bilder oder Informationen, im großzügigen Sinn „Objekte“,
werden aus ihrem ursprünglichen Kontext herausgelöst,
kopiert, umbenannt und nachproduziert. Als genuin schöpferischer Akt des Künstlers verbleibt die Geste der Anneignung
und des Transfers. Auch Vuk Cosic kopiert eine Internetseite,
benennt sie um bzw. läd sie neu unter einer anderen Adresse.
Auf seiner Internetseite bietet Vuk Cosic eine Buchreihe mit
dem Titel ‚classics of net.art‘ zum Kauf an16. Wählt man den
entsprechenden Link auf seiner Webseite, erscheint in der
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics
Mitte der Seite der affirmative Text „READ BOOKS“ und links
ein rot hinterlegtes Navigationsmenü als schmaler Streifen.
‚The Official History of Net.art volume II‘ wird dort angekündigt, ‚classics of net art‘ inklusive der drei Links ‚welcome‘,
‚catalogue‘ und ‚order‘. Unter dem ersten Link stellt ein
Herausgeber mit Namen Keiko Suzuki die Buchreihe vor.
Schaut man in den Katalog, sieht man vier individuell mit
Werken der Künstler gestaltete Buchcover flankiert von
äußerst euphorischen Begleittexten zum jeweiligen Künstler.
Die Bücher sind Monographien über die – so wird durch den
Titel der Serie suggeriert – vier wichtigsten Netzkünstler: Jodi,
Heath Bunting, Alexej Shulgin und Vuk Cosic. Schon allein
deshalb wird der Betrachter sich über diesen Shop auf einer
Künstlerseite kaum wundern, liegt es doch nahe, Publikationen über Netzkunst im Netz zu vertreiben. Aber auch dieser
kleine Shop und ebenso die Bücher sind ein Fake, der Autor
Keiko Suzuki frei erfunden bzw. ein Pseudonym Vuk Cosics.
Die Verwendung der für Bestellungen und Fragen angegebenen Adresse ([email protected]) führte direkt zu einem
Account der Mailingliste 7-11, der für alle User dieser
Community offen lesbar war. Cosic und sein Netzwerk konnten also alle Anfragen, Bestellungen und Bitten um kostenlose Rezensionsexemplare online mitverfolgen, damit einen
heimlichen Blick auf die „andere Seite“ werfen und sehen,
welche Kritiker, Kuratoren und Museen sich für sie interessieren17. Mit ‚classics of net.art‘ hat Cosic Geschichtsschreibung
in eigener Sache betrieben, denn tatsächlich werden auffallend häufig genau die vier Künstler dieser Serie genannt,
wenn von den wichtigsten Protagonisten der Net.art die Rede
ist. Ähnlich wie die dx-Kopie allein mit nicht über die Seite
selbst zu erschliessenden Informationen als Arbeit wahrzunehmen und zu verstehen ist, verhält es sich auch mit den
falschen Büchern. Der Diskurs, die Irritation ist demnach
auch das eigentlich Wichtige für Vuk Cosic, „the html files...
were just used the stimulate or illustrate the dialogue“18.
Thomas Wulffen prägte 1994 mit seinen Beiträgen in Kunstforum International den Begriff „Betriebssystem Kunst“19 in
Anlehnung an den Luhmannschen Begriff des Kunstsystems,
beschrieb den Kunstbetrieb als ein Netzwerk, benannte die
Teilnehmer und analysierte die Mechanismen.
Interessanterweise entlehnte er den Begriff Betriebssystem
aus der Computerwelt20. Dem folgenden Versuch einer Einordnung Vuk Cosics in dieses Schema liegt das Diagramm
aus der erwähnten Publikation zugrunde (Abb.). Daraus ist zu
entnehmen, dass zu diesem System nicht nur der Künstler
und sein Werk, sondern ebenso Presse, Publikum, Publikationen und Dokumentationen zählt sowie der Bereich, der von
Wulffen als „Projektion“ bezeichnet wird. Darunter fallen etwa
neben Museen, Galerien und Auktionshäusern auch das
jeweils zugehörige Personal. Versucht man Vuk Cosics
Standpunkt in diesem System zu lokalisieren, ist klar ersichtlich, dass eine eindeutige Positionsbestimmung nicht vorgenommen werden kann, da der Künstler – wie anhand der vorgestellten Beispiele erläutert – sowohl als Künstler, Galerist,
„PR-Beauftragter“, Produzent des eigenen Werkzeugs21,
Ausstellungskurator22 und Sammler23 wie – wenn auch fiktiv –
als Autor seiner eigenen Monographie aktiv ist. Doch mit den
spezifischen Konditionen der Net.art ändert sich nicht nur die
Position des Künstlers. Denn, alsbald die Net.art in ihrer
Medialität den klassischen White Cube verlassen hat und der
Betrachter von Net.art zum User und Partizipienten wird, dem
das Werk von jedem beliebigen Computer mit Internetzugang
weltweit, ohne räumliche und zeitliche Einschränkungen und
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics
Schema Betriebssystem Kunst
aus:
Thomas Wulffen: Konzept für eine internationale
Kunstausstellung. In: Kunstforum International,
Bd. 125, 1994, S. 214-215
ohne zusätzliche Kosten zugänglich ist, ist auch ein eigenständiges Netzwerk ausserhalb des Betriebssystems denkbar. Was resultiert aus dieser multifunktionalen Position im
Betriebssystem Kunst? Ist das Anliegen die schon erwähnte
Absicht, Kunst und Leben zusammenzuführen, die Grenzen
aufzuheben? Ist es eine bewusst gewählte Strategie, das
System zu überlisten, Mechanismen wie etwa die des
Marktes zu umgehen? Cosic äußert sich hierzu in einem
Vortrag: „We did not want to be incorporated by the art world
– or at least to our rules.“24
Die Frage, ob Net.art eine noch aktuelle oder schon historische Avantgardebewegung ist, lässt sich meiner Ansicht
nach wenig eindeutig beantworten. So wurde bereits um die
Jahrtausendwende vielfach das Ende der Net.art proklamiert;
Heath Bunting bezeichnete sich schon 1999 als Net.artist im
Ruhestand25, auch Vuk Cosic wandte sich einem anderen
Thema, der ASCII-Art, zu. Nimmt man die documenta als
Indikator für wichtige Tendenzen in der zeitgenössischen
Kunst und vergleicht die Präsenz der Netzkunst auf den letz-
ten drei documenta-Schauen, kommt man zu der Erkenntnis,
dass die gezeigte Netzkunst von 1997 zu 2002 abnahm und
in diesem Jahr überhaupt nicht mehr präsent war. Laut Kuni
ist Netzkunst „aus dem Radius der Institutionen des Betriebssystems ebenso schnell wieder verschwunden..., wie sie in
der zweiten Hälfte der 1990er Jahre dort – das heißt in einigen wenigen Museen und Ausstellungshäusern, die damals
mit eigenen Webseiten ans Netz gingen – aufgetaucht war“.26
Sieht man von den technischen Schwierigkeiten einmal ab,
etwa Netzkunst aus der zweiten Hälfte der 90er Jahre
adäquat zu präsentieren, so verwundere dies, laut Kuni,
umso mehr, als die documenta 12 ansonsten Kunst aller
Gattungen (Malerei, Skulptur, Video, Fotografie, Performance
etc.) zeigte. Betrachtet man den Künstler Banksy, der in kurzer Zeit mit subversiven Arbeiten im Mainstream des Kunstmarktes angekommen zu sein scheint, stellt sich die Frage,
ob die Net.art aufgrund ihrer Immaterialität, der Präsentationssituation und der Unvereinbarkeit mit merkantilen Mechanismen zum heutigen Stand zwar keine neuartige Avantgarde
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Interventionen in das Betriebssystem Kunst am Beispiel von Arbeiten Vuk Cosics
26
mehr darstellt, aber trotzdem in einem diskursiven Randbereich des Betriebssystem Kunst fortbesteht. Um es mit
Cosics Worten zu sagen: „The reality is that we are irelevant
mainstream artists.“27
Vgl.: Verena Kuni, Auslegungssache. Die Netze der documenta 12, 2007
27
Vuk Cosic, 2006 im Interview mit we make money not art.com,
http://www.we-make-money-not-art.com/archives/008056.php
Literaturverzeichnis
Letztmaliger Aufruf aller Internet-Quellen am 14.10.2007.
1
Interactivity, Connectivity, Computability; Dietz, 2000.
http://www.walkerart.org/archive/5/B473851A45B7748A6161.htm
Inke Ans: Unformatierter ASCII-Text sieht ziemlich gut aus –
Die Geburt der Netzkunst aus dem Geiste des Unfalls. 2001.
http://www.projects.v2.nl/~arns/Texts/Media/netzkunst2.html
Tilman Baumgärtel: Kunst war nur ein Ersatz für das
Internet. Interview mit Vuk Cosic. 26.06.1997.
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/6/6157/1.html
Tilman Baumgärtel: net.art. Materialien zur Netzkunst.
Nürnberg 1999
Tilman Baumgärtel: net.art 2.0. Neue Materialien zur
Netzkunst. Nürnberg 2001
Thomas Dreher, NetArt Einführung.
http://iasl.uni-muenchen.de/links/NAEinf.html#top31
Vuk Cosic im Interview mit we make money not art,
17.2.2006. http://www.we-make-money-not-art.com/archives/008056.php
Guido Hirschsteiner: Netzkunst als Avantgarde.
Magisterarbeit. München 2000.
http://www.hirschsteiner.de/netzkunst_als_avantgarde.pdf
Hans Dieter Huber: Über das Schreiben, Interpretieren und
Verstehen von internetbasierten Werken, 2004.
http://www.xcult.org/texte/hdhuber/huber.html
Francis Hunger: Copyleft in der Kunst und Copyright in der
Popkultur – Vom stillen Ignorieren und bewußten Verletzen.
Leipzig 2001. http://www.hgb-leipzig.de/~francis/irmielin/
writings/copyright_and_copyleft_2001.pdf
2
Database, Interface, Spatalisation, Navigation; Manovich, 1998.
http://jupiter.ucsd.edu/~culture/symposium.html
3
etwa die Künstler Jodi und 01.org.
4
http://www.ljudmila.org/~vuk
5
laut den Angaben unter http://www.check-domain.net
6
http://subsol.c3.hu/subsol_2/contributors/bookchintext.html
7
eine Liste dieser Arbeiten unter:
http://www.documenta12.de/archiv/dx/deutsch/frm_news.htm
8
Vgl.: KUNSTFORUM International, Bd. 133, 1997, Die documenta X, S. 240ff
9
Ausstellungszeitraum der documenta X: 21.6.-28.9.1997
10
http://www.ljudmila.org/~vuk/dx
11
zitiert nach Francis Hunger, 2001:
http://www.hgbleipzig.de/~francis/irmielin/writings/copyright_and_copyleft_2001.pdf
12
http://www.documenta12.de/archiv/dx
13
zitiert nach Fancis Hunger, 2001, a.a.O
14
Vgl.: Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3 und Bookchin/Shulgin, 1999
15
Vgl.: Stefan Roemer: Der Begriff des Fake, Diss., Berlin, 1998
16
http://www.ljudmila.org/~vuk/books
17
Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3
18
Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3
19
Thomas Wulffen, Kunstforum International 125, 1994
20
Vgl.: Wulffen, 1994, S. 51
21
Interactivity, Connectivity, Computability; Dietz, 2000
22
Interactivity, Connectivity, Computability; Dietz, 2000
23
so etwa die Linksammlung auf dem Rechner oder der Webseite
24
Vuk Cosic, Oslo, 2003, Audio MP3
25
Baumgärtel, 1999
90
91
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Gottfried Kerscher: Der ducumenta x-cite und die
Abstraktion von Wirklichkeit. 1997. http://user.unifrankfurt.de/~kerscher/dx.html
Verena Kuni: Auslegungssache. Die Netze der documenta
12. 2007. http://www.thing-hamburg.de/index.php?id=690
Thomas Wulffen: Betriebssystem Kunst – Eine
Retrospektive. In: Kunstforum International, Bd. 125, 1994,
S.50-58
Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst
„The final abstract expression of every art is a number.“1
Audioquelle
Vuk Cosic, 25.05.2003. Vortrag anlässlich der Fissage der
Ausstellung ‚Written in stone. A net.art archaeology‘ im
National Museum of Contemporary Art, Oslo.
http://www.notam02.no/motherboard/Vuk_finissage.mp3
Ulrike Kuhn
Wie bei Wölfflin in seinen kunstgeschichtlichen Grundbegriffen so wird auch in der Aussage Wassily Kandinskys deutlich,
dass es nicht um die Inhalte der Bilder handelt, sondern um
ihre kompositorischen Regeln.
In seinem grundlegenden Werk ‚Kunstgeschichtliche
Grundbegriffe‘2 formuliert Wölfflin aufgrund von Werkanalysen
formale Dichotomien, die die jeweiligen Werke aus der
Renaissance und dem Barock charakterisieren. Die Inhalte
und das Genre – Architektur oder Gemälde – sind dabei
zweitrangig. Er geht vielmehr der Frage nach, welche Sichtweise einem Werk zugrunde liegt und welche Regeln sich aus
seiner Komposition ableiten lassen.3 Durch seine Vortragsweise der Doppelprojektion von Dias konnte Wölfflin Verwandtschaften oder Differenzen der Werke verdeutlichen und
die Form der binären Dichotomie abbilden. Darin wird
Wölfflins Wunsch nach Exaktheit deutlich, bestimmte Gesetzmäßigkeiten in der Kunst der jeweiligen Epochen nachzuweisen. Dieses Anliegen ist gerade in der 2. Hälfte des 19.
92
93
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst
Abb. 1-3:
Links: Albrecht Dürer, Eva, sign. «1512 AD», Federzeichnung, 28 x 17,1
cm, London.
Rechts: Rembrandt, Weiblicher Akt, schwarze Kreidezeichnung, 26 x16
cm, Budapest.
nach: Heinrich Wölfflin, Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, Basel 2004.
In: Stefan Heidenreich, Form und Filter – Algorithmen der
Bildverarbeitung und Stilanalyse, in: Zeitenblicke 2 (2003), Nr. 1
[08.2003],
http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/heidenreich/index/html
Jahrhunderts nachzuvollziehen, welches von einem Stilpluralismus gekennzeichnet ist, der sich in Ismen ausdrückt wie
Realismus, Symbolismus, Impressionismus, Pointillismus.
Das neue Medium, die Diaprojektion, wird in eine neue
Methode überführt. Und so (erfindet) Wölfflin seine Begriffe,
„um den Bildern eine kunsthistorische Ordnung anzusehen“.4
Der Speicher, in dem die Differenzen wissenschaftlicher
Bildanalyse stattfinden, ist nicht nur für Wölfflins analysierte
Epochen Renaissance und Barock entscheidend. Denn mit
seinen Dichotomien sind wir bei der Möglichkeit eines binären Codes angelangt, der Grundlage der Computersprache
ist. Und so führen uns Wölfflins ‚Kunstgeschichtliche
Grundbegriffe‘ zu den Kunstwerken im Netz als auch zu den
durch das Netz generierten Kunstwerken als Ergebnis von
Algorithmen. Hier haben wir wieder ein neues Medium, welches in eine neue Methode überführt wird. Sowohl eine bildverarbeitende als auch eine bildproduzierende Maschine
basiert auf einzuspeichernde Anzahlen, die zu einem künstlerischen Ergebnis – durchaus auch mit inhaltlicher Aussage –
führen.5 Für diese beiden Bereiche digitaler Bildarchivierung –
Kunst im Netz – und durch das Netz generierte Kunst –
Netzkunst – könnte Wölfflins Ansatz der Dichotomien als
Ausgangspunkt für die Analyse und Einordnung von Kunstwerken durchaus in Anspruch genommen werden.
Die im Anhang aufgeführten Bildbeispiele von Stefan
Heidenreich (Abb.1-3)6 verdeutlichen die Folge von Filterbzw. algorithmischen Bildoperationen. Die durch das Weichzeichnen verschliffenen Kanten weisen gerade auf ihre
Bedeutung im Bild hin. Sie sind wichtig, da sie eine Differenz
ins Bild tragen. Diese wird gebraucht, um Bereiche zu segmentieren, diese dann als Objekte zu isolieren. Die Kante ist
also der wichtigste Weg, um die in Bildern gezeigten Dingen
– den Inhalt – aus ihnen heraus zu lösen und sie in die Welt
des Symbolischen zu überführen. Der Weg lässt sich auch
umkehren: von dem weich gezeichneten Bild in eine Hard
Edge Version. Wenn man daher die unscharfe von der scharfen Variante Pixel für Pixel abzieht, bleiben die Kanten übrig.
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst
Subtrahiert man die verschwommene Version Pixel für Pixel –
Nummer für Nummer – von dem Original, markiert PixelGleichheit – gleiche Nummer – als hell und Unterschiede –
unterschiedliche Nummern – als dunkel, erhält man als
Ergebnis die Abweichung des unscharfen vom scharfen Bild
und damit die ursprünglich vom Filter geglätteten Kanten.
Die Parallele zwischen Wölfflinscher kunsthistorischer und
algorithmischer Betrachtung wird deutlich: linear und malerisch – ein Gegensatzpaar, das durch die Bildverarbeitung
bestätigt wird: Dürer konturiert durch Kanten, bei Rembrandt
stimmen Umrissformen und Kanten selten überein. Das gilt
sicher auch für die anderen Gegensatzpaare, ganz offensichtlich hier für die Gegensatzpaare Klarheit – Unklarheit, Einheit
– Vielheit.
Abb. 4:
Claude Monet, Am See
von Grenouièllere, 1869,
Öl auf Leinwand, 75 x 100
cm, Metropolitan Museum
of Art, New York. Quelle:
Wikipedia
wohlgemerkt nicht über den Inhalt, sondern über die Darstellungsfrequenzen – eindeutig einer Epoche oder/und einem
Maler zuordnen. Ein noch eindeutigeres Beispiel scheint mir
‚La Grande Jatte‘ von Seurat zu sein (Abb. 7). Die extrem
hochfrequente Darstellungsweise weisen hier Seurats Stil aus
und lassen doch zugleich eindeutig Inhalte und Formen erkennen. „Am Ende des Prozesses bleiben schlicht und einfach nur
noch Muster übrig, die über einen Stil und einen Namen eindeutig zugeordnet werden können, solange Museen und
Kunstgeschichte die Zuordnung erinnern. Maler wie Jackson
Pollock oder Ad Reinhardt repräsentieren zwei möglich Enden
der Frequenzcodierung, der eine im höherfrequenten, der
andere im niedrigfrequenten Bereich.“10 (Abb.5 und 6)
Die Codierung von Frequenzbereichen ist eine erfolgreiche
Strategie der modernen Malerei, so z.B. im Kubismus,
Pointillismus oder in der Hard Edge Malerei.7 Sie erscheint
wie eine konsequente Weiterführung der aufgrund der
Technik – Diaprojektion – entwickelten Methode Wölfflinscher
Bildanalyse. Zur Stilentwicklung der Moderne8 formuliert
Heidenreich folgende These: „Die malerische Avantgarde in
dieser Zeit filterte Frequenzbereiche der Bilder heraus, um sie
dem Aspekt der Abbildung zu entziehen und für stilistische
Distinktionen auszubeuten.“9 Als Beispiel führt er das Werk
‚Am See von Grenouillière‘ (Abb. 4) an, das sowohl Monet als
auch Renoir gleichzeitig vor dem See sitzend gemalt haben.
Der Inhalt wird ungenau, der Stil genauer, anders gesagt:
Inhaltliche Bildanteile sind einer niedrigfrequenten Darstellung, stilistische Distinktionen einer hochfrequenten
Darstellung vorbehalten. Somit können wir dieses Werk –
Der Satz „The Medium is the Message“ von Marshall
McLuhan11 wird durch das oben Beschriebe „verbildlicht“. Er
ist nicht nur für die Netzkunst bedeutend, sondern auch schon
für Wölfflins Dichotomien anwendbar und findet in der Netzkunst seinen vorläufigen Höhepunkt. Die Analyse von Werken
96
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst
Abb. 6:
Ad Reinhardt, Abstract Painting No. 5,
1962, Öl auf Leinwand, 152,4 x 152,4
cm, Tate Collection.
Quelle: http://www.tate.org.uk
Abb. 7:
Georges Seurat, Ein Sonntagnachmittag
auf der Insel Grande Jatte, 1884/86, Öl
auf Leinwand, 207,6 x308 cm, Art
Institute of Chicago. Quelle: Wikipedia
durch das Medium der Diaprojektion führen zum Vergleich
der Formelemente statt der Inhalte. Das Ergebnis verweist bei
Wölfflin auf die unterschiedliche Seh- und Wahrnehmungsweise in den verschiedenen Epochen (vgl. Abb. 1 und 2).12
Die Netzkunst bedient sich der Möglichkeit des Computers,
aufgrund bestimmter Algorithmen Kunst zu erzeugen – eine
Kunst als Ergebnis von „numbers“ (Kandinsky). Die Netzkunst
arbeitet also mit dem, was Helmholtz in seinen Untersuchungen zur Art der Betrachtung eines Bildes feststellte: Bilder
sind Punktmengen (vgl. Anm. 3). Dies kann man sowohl auf
die Wahrnehmung als auch auf das Ergebnis der Wahrnehmung beziehen. Ich verweise hier noch einmal auf das Werk
von Seurat ‚La Grande Jatte‘, auf dem Punktmengen sozusagen Programm werden (Abb. 7). Und in der Netzkunst?
„Hugh Pryor und Jeremy Wood markieren unsichtbare Punkte
auf dem Globus, die mit entsprechenden Geräten sichtbar
gemacht werden. Als technisch gerüsteter Teilnehmer erkennt
man diese ‚Zeichnungen‘, kann selber mitmachen.“13
Künstler und Betrachter können auf Wahrgenommenes dar-
Abb. 5:
Jackson Pollock, Blue Poles: Number
11, 1952, 1952, Emaille und
Aluminiumfarbe gemalt mit Glas auf
Leinwand, 488,9 x 212,9 cm, National
Gallery of Australia, Canberra, Detail.
Quelle:
http://www.ngv.vic.gov.au/pollock
98
99
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Von Wölfflins Stilanalyse zur Netzkunst
die Regeln der Geometrie und dem Ideal der Proportionen.
stellend verändernd einwirken. Diese Intervention zwingt sie
zur Verantwortung ihres Eingriffs. Die hier auftauchende
Verbindung von Form und Inhalt ist in der Kunstgeschichte
nichts Neues. Sicher war auch der Maler in der Renaissance
für sein Werk verantwortlich. Doch die technischen
Möglichkeiten des Mediums Computer – durch Algorithmen
weltweit und in Sekundenschnelle Welten verändern und
Neues entstehen lassen zu können – haben
Produktionsmöglichkeiten und Verantwortlichkeit in eine
andere Dimension gerückt. „Das Medium ist schließlich so
hybrid wie seine Inhalte, ein Spiegel unserer Welt in Bits“, die
„unser Verhältnis zur Kulturproduktion [...] entscheidend verändert. [...] Die beste Netzkunst ist deshalb politisch motiviert, bedient sich der Strategien von Konzeptkunst und
Aktivismus [...]. Repräsentation allein wird weder dem
Internet noch der Kunst mit ihm gerecht.“14
6
Stefan Heidenreich (wie Anm. 4), Abb. 1-3
7
Die Handschrift des Künstlers zeigte sich durch den Pinselduktus und den
Farbauftrag. Dadurch wurde eine bestimmte Oberflächenstruktur geschaffen.
Man sagt, der Impressionismus habe die Strategie stilistischer Unterscheidungen begründet, die in der Moderne fortgesetzt wurde.
8
Die malerische Avantgarde zwischen ca. 1870 und 1960: Monet und Renoir
malen gemeinsam am See von Grenouillière; hier Monets Werk, Abb. 4;
Heidenreich (wie Anm. 4)
9
Heidenreich (wie Anm. 4)
10
Heidenreich (wie Anm. 4)
11
Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media,
Düsseldorf, 1968.
12
In seinem Buch ‚Aufmerksamkeit, Wahrnehmung und moderne Kultur‘
(Frankfurt am Main, 2002) führt Jonathan Crary u.a. die Ergebnisse der
modernen Kunst auf die Art der Wahrnehmung im ausgehenden 19. und zu
Beginn des 20. Jahrhunderts zurück, unter Einbeziehung der technischen
Entwicklungen (Foto, Video, Film etc.) und der experimentellen Untersuchungsergebnissen aus der Ophthalmologie von Hermann von Helmholtz
(vgl. Anm. 3).
13
Matthias Weiß über die junge Geschichte der Netzkunst, Spiegle unserer
Welt in Bits, in: KUNSTZEITUNG 1/2008, S. 20
1
Zit. nach Raymond Guido Lauzzana/Lynn Pocock-Williams, A Rule System
for Analysis in the Visual Arts, in: Leonardo 21, No. 4 (1988), 445-452 (445)
in: Wolfgang Ernst/Stefan Heidenreich,
http://www.hyperdis.de/txt/alte/cd_docu/ZITAT183.htm
14
2
Die kunstgeschichtlichen Grundbegriffe sind folgende: Linear – Malerisch;
Fläche – Tiefe; Geschlossen – Offen; Einheit – Vielheit; Klarheit – Unklarheit.
Erstmals 1915
3
Diese Art der Betrachtung des Bildes als Endzustand eines Abtastprozesses geht einher mit den Ergebnissen der Experimente in der Ophthalmologie
von Hermann von Helmholtz: Bilder sind als Punktmengen zu sehen. H. von
Helmholtz, Das Sehen des Menschen, in: Die Neueren Fortschritte in der
Theorie des Sehens, Vorlesungen aus Frankfurt am Main und Heidelberg,
Preuss, Jahrbücher 1868.
4
Stefan Heidenreich, Form und Filter – Algorithmen der Bildverarbeitung und
Stilanalyse, in: Zeitenblicke 2 (2003), Nr. 1 [08.2003],
http://www.zeitenblicke.historicum.net/2003/01/heidenreich/index/html
5
Künstlerische Produktionen nach ihren kompositorischen Regeln zu definieren, ist nicht neu: so in der Antike der „goldene Schnitt“, in der Renaissance
100
101
Weiß (wie Anm. 13), S. 20
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Error 404. [Net.]Art not found.
Malerei zu subsumieren ist. Erst mit einem 1999 gehaltenen
Amsterdamer Symposium5 kamen Mixed-Media-Arbeiten als
relevante Untersuchungsgegenstände hinzu – der Bereich
Netzkunst wurde hier allerdings noch ausgespart.
Was passiert, wenn der Kunstgegenstand ungegenständlich,
das Objekt ereignishaft und das Dauerhafte prozessual wird?
Mit diesen Fragen beschäftigt sich unter anderem das 2001
gegründete Variable Media Network (VMN)6, dessen Mitglieder unterschiedlichster Fachdisziplinen transmediale
Methoden zur Bewältigung von Alterungsprozessen künstlerischer Arbeiten entwickeln. So soll mittels eines vom
Guggenheim-Kuratoren John Ippolito entwickelten Fragebogens7 gemeinsam mit einem begleitenden Interview jedes
einzelne Kunstwerk systematisch erfasst und in einer institutionsübergreifenden Datenbank zugänglich gemacht werden.
Die Kategorisierung ist gewissermaßen die Basis; hieraus lassen sich geeignete Maßnahmen zur Erhaltung oder aber zur
Wiederherstellung jeder einzelnen künstlerischen Arbeiten
ableiten – wobei nicht pauschal, sondern ‚von Fall zu Fall‘
vorgegangen werden soll.8
Die vom VMN zum Teil generierten und favorisierten vier
Strategien im Umgang mit Unvorhersagbarem sind:
Dokumentation/Speicherung, Migration, Emulation und ReInterpretation. Die erstgenannte Strategie, Kunst mittels Textund Bildmaterial zu dokumentieren und somit für die Zukunft
zu speichern, ist bei Netzkunst nicht nur eine Begleitung des
restauratorischen Eingriffs, sondern kann zur eigentlichen
Methode avancieren bzw. sogar Teil des künstlerischen
Prozesses werden; was eine Auswahl der durch Cornelia
Sollfranks ‚net.art generator‘ _S. 52 (Artschwager) generierten Bilder9 verdeutlicht, die 2004 als Buchpublikation unter
dem Titel ‚Net.Art Generator – programmierte Verführung‘
Error 404. [Net.]Art not found.1
Im letzten Jahrhundert gab es viel Bewegung auf dem Gebiet
Sarah Niesel
der Restaurierungswissenschaft, dennoch wird bei dem
Wechsel in die zeitgenössische Kunst Eines deutlich: Methoden,
praktische Maßnahmen, ethische Prinzipien, selbst die Begriffe
Konservierung und Restaurierung basieren auf einem gegenständlich orientierten Kunst-Begriff. Die 1964 entstandene
Charta von Venedig2, die noch heute die Konservierungs- und
Restaurierungsethik und -praxis maßgeblich bestimmt, fordert,
die Restaurierung lediglich als Ausnahme-Methode zur
Wiederherstellung der Original-Substanz anzusehen und
zunächst die konservatorischen, d.h. der Erhaltung dienenden
Maßnahmen auszuschöpfen. Die uneingeschränkte Achtung vor
dem Original, Authentizität, Reversibilität und Unterscheidbarkeit jeden Eingriffs, die interdisziplinäre Untersuchung und eine
ausführliche Dokumentation sind in der Charta, in den Berufsrichtlinien für Restauratoren3 1993 sowie im ICOM4 1986 manifestiert. Dennoch hat sich die Restaurierungswissenschaft bis vor
wenigen Jahren einzig mit derjenigen Kunst beschäftigt, die
unter die klassische Gattungstrias Gemälde/Plastik(Skulptur)/
102
103
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Error 404. [Net.]Art not found.
herausgegeben und damit vom prozessualen Medium Netz in
das dauerhafte Medium Buch überführt wurden.10 In Analogie
zur Netzstruktur und insbesondere aufgrund der
Störanfälligkeit von Hardware plädieren VMN für eine
Datenspeicherung mittels Software. Eine gelungene
Umsetzung der digitalen Speicherung ist mit etoys ‚Mission
Eternity‘, dem Totenkult für das Informationszeitalter, belegt
_S. 42 (Becker). Das Künstlerkollektiv erfasst ausgewählte
Personen digital und erstellt aus Text-, Bild- und
Audiodateien ein je individuelles Porträt, das als digitales
Vermächtnis nach dem Tod per Server und Handy abrufbar
ist. Das sog. File-Sharing (einem gemeinsamen Datenzugriff)
erweist sich im Rahmen dieser ‚netzwerk-kunst‘ nicht nur
programmatisch als eine ‚netz- bzw. netzwerk-gerechte‘
Methode: Die in den ‚Capsules‘ gespeicherten Daten der
Verstorbenen „veralten“ nicht und gehen im Falle einer großen Userschaft nicht verloren, so dass der Traum für ein
Leben nach dem Tod zumindest symbolisch erfüllt werden
könnte. Obwohl ‚Mission Eternity‘ keine explizit wissenschaftliche Methode ist, verdeutlicht dieses Beispiel, wie Migration
mittels File-Sharings prinzipiell funktionieren könnte:
Migration bezeichnet das VMN als eine Maßnahme, die für
ein stetiges Update bei dem gleichen Medientyp sorgt,
sodass eine zukünftige Lesbarkeit gewährleistet wird. Hierbei
handelt es sich um Anpassungsmaßnahmen an die medialen
Neuerungen sowohl auf Hardware- als auch auf SoftwareEbene, wobei das VMN fordert, sowohl Klon11 als auch
Original zu erhalten. Um das möglicherweise veraltete
Original wieder abrufen zu können, ist eine Art Übersetzer
erforderlich, der sowohl auf Software- als auch auf HardwareBasis agieren kann, so dass es laut VMN bei der Emulation
zu vier verschiedenen Möglichkeiten der Erhaltung von Kunst
Cory Arcangel, I Shot Andy Warhol, 2002. Installation,
American Museum of the Moving Image, New York, 2002.
Quelle: http://variablemedia.net/e/seeingdouble
kommen kann: Hardware kann durch Hardware oder
Software emuliert werden und umgekehrt, wobei lediglich der
situative Rezeptionskontext an die dynamischen Strukturen
des Netzes angepasst wird. Bei der vierten Methode, der ReInterpretation, hingegen wird in die originale Substanz des
Werkes eingegriffen und somit – nach Absprache und in
Zusammenarbeit mit Künstlern und Experten – letztendlich
Inhalt wie Kontext verändert und eine Neuauflage kreiert. Auf
der Ausstellung ‚Seeing Double – Emulation in Theory and
Practice‘12 2004 im Guggenheim Museum wurde diese
Methode auch direkt angewendet und das Original dem
migrierten oder emulierten Klon gegenübergestellt13 – dieses
kann aber auch bedeuten, das Original unangetastet zu lassen, wie das folgende Beispiel belegt: Bei Cory Arcangels
Arbeit ‚I shot Andy Warhol‘ (siehe Abb.) nimmt der Rezipient
die Rolle Valerie Solanis‘ ein, die 1968 versuchte, Warhol zu
ermorden. Bewaffnet mit einer Lightgun soll der digitale Andy
Warhol erschossen werden. Das gehackte Spiel wurde in
seiner Spiellogik nicht verändert, nur die graphische und
104
105
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Error 404. [Net.]Art not found.
Figuren betreffende Ebene wurden modifiziert. Bereits 2002
wurde die Arbeit auf einer New Yorker Ausstellung als
Installation präsentiert, das originalgetreue Duplikat wurde in
eben diesem Zustand – auf einem 1990er Sony Triniton
Fernseher mit einer veralteten Nintendo Console sowie
Lightgun (Zapper) – zwei Jahre später auf der ‚Seeing
Double‘ zusammen mit dem Original ausgestellt. Diese Art
der Re-Creation ist ein mögliches Konzept zur Konservierung
von Netzkunst und wurde zusammen mit dem Künstler erarbeitet. Dieser sprach sich in dem erwähnten Interview gegen
eine Migration oder auch Emulation aus, um den RetroCharakter zu bewahren; eine Re-Interpretation durch
Migration mittels eines Flachbildschirms anstelle des veralteten Fernsehers wäre aus Arcangels Sicht dem Werk nicht
angemessen gewesen.14
Obwohl das VMN interessante Methoden zur Erhaltung von
Netzkunst vorgestellt hat, so sollte man deren Ergebnisse
eher als eine Heuristik werten, die mindestens zwei große
Fragen aufwirft: 1) Was bleibt von Net.Art übrig? 2) Ist Net.Art
bereits so kanonisiert, dass sie auf die traditionellen
Techniken und ethischen Richtlinien der Restaurierung und
Konservierung zurückgreifen kann bzw. muss, sollte sie überhaupt erhalten werden? An dieser Stelle lässt sich der von
Kemp 1991 diagnostizierte „Geburtsfehler“15 der Kunstgeschichte, nämlich das einsame, isolierte und segmentierte
Einzelwerk als Orientierungsgröße kunstgeschichtlicher
Betrachtungen zu vereinbaren, auf den Gegenstand der
Erhaltung von Netzkunst übertragen: Wenn Netzkunst erhalten werden soll, können offenbar lediglich Fragmente entkontextualisiert, d.h. ‚entnetzt‘ bewahrt werden. Net.Art steht
Social Art, Happening oder Fluxus strukturell weitaus näher
als anderen traditionellen Kunstformen, so dass die Netz-
künstler und -theoretiker Blank und Jeron 2001 behaupteten,
dass konservierte Netzkunst weniger Netzkunst sei als konservierte Malerei noch Malerei.16 Wie also Net.Art erhalten?
Aus derzeitiger Perspektive gibt es nur wenige Lösungsangebote: Die Migration passt die originale Substanz an den
sich ständig verändernden Kontext an, beeinträchtigt aber
letztlich die Authentizität. Auch die Emulation, die zwar den
Inhalt meint unangetastet zu lassen, beeinflusst die Rezeptionssituation.17 Die Re-Interpretation ist zwar eine durchaus
akzeptable Strategie, doch erhält man hier nicht das Original,
sondern erstellt ein Duplikat und schafft somit ein neues
Kunstwerk, wie die traditionelle Restaurierungsethik argumentieren könnte. Sollte sich demnach keine Regel von über
einhundert Jahren Restaurierungswissenschaft auf die Net.Art
anwenden lassen? Für mich steht fest, dass die Begriffe
Original, Authentizität oder auch die moralische Trennung in
Konservierung und Restaurierung zwar für den Netzkunstbereich unbedingt mit anderen Inhalten gefüllt werden müssen, jedoch als abstraktes Prinzip Gültigkeit bewahren.
Zweitens ist Netzkunst m.E. eine erhaltenswerte Kunstform,
selbst wenn zum Teil bereits jetzt nur noch „Spurensuche“18
betrieben werden kann. Netzkunst nicht zu konservieren,
hieße, einen sozio-kulturellen Verlust zu forcieren, so dass es
bald heißen könnte: Error 404. [Net.]Art not found.
1
Ich spiele hier zugleich auf Projekte an, die der Erhaltung von Netzkunst dienen, vgl. u.a. http://404project.hmkv.de/hintergruende/das_projekt/index.html,
sowie auf die tägliche Erfahrung, dass Websites nicht mehr abrufbar sind.
2
http://www.restauratoren.de/fileadmin/red/pdf/charta_venedig.pdf
3
Vgl. http://www.ig-restauratorinnen.at/ecco_beruf_restaurator.htm
4
International Council of Museum,
vgl. http://www.icom-deutschland.de/client/media/6/dicom.pdf
5
106
107
Ijsbrand Hummelen u. Dionne Sillé (Hg.): Modern Art: Who cares? An interdis-
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Error 404. [Net.]Art not found.
ciplinary research project and an international symposium on the conservation of modern and contemporary art, Foundation for the Conservation of
Modern Art and the Netherland Institute for Cultural Heritage, Amsterdam
1999
14
Da sich ‚I shot Andy Warhol‘ in dem privaten Besitz des Künslers befand,
genoss Arcangel eventuell den Vorteil, dass er die letztendliche
Entscheidungsfreiheit besaß.
15
Wolfgang Kemp: Kontexte. Für eine Kunstgeschichte der Komplexität. In:
Texte zur Kunst, 2/1991, S. 89-101
6
http://variablemedia.net. Hierbei handelt es sich um eine Initiative des
Guggenheim Museum New York und der Daniel Langlois Foundation for Art,
Science, and Technology in Kooperation mit weiteren Instituten wie dem
Walker Art Center Mineapolis und der Netzplattform rhizome.org.
7
16
Vgl. http://joachimblank.com/texte/conserve_netart.pdf
17
Bei Flanagan etwa funktioniert [phade] trotz Emulator schneller als bei
einem PC, auch die Betriebssysteme 98 und XP sind aus rezeptionsästhetischer Sicht unterschiedlich, obwohl es sich um den gleichen Medientyp handelt.
http://variablemedia.net/pdf/Ippolito.pdf
8
Vgl. auch das von Richard Rinehart entwickelte Media Art Notation System
(M.A.N.S.), http://www.coyoteyip.com/rinehart_leonardo.pdf
18
9
Bei den Bildern handelt es sich um zufällige Kombinationen von Bild- und
Textmaterial aus dem Netz, demnach sekundäre Produkte der eigentlichen
künstlerischen Arbeit.
10
Annette Schindler, Ute Vorkoeper, Cornelia Sollfrank, Florian Cramer, Sarah
Cook, Verena Kuni, Institut für moderne Kunst e.V. (Jg.): Cornelia Sollfrank,
net.art generator: Programmierte Verführung, 2004. Das von Sollfrank festgelegte Motto des Netzkunstgenerators „A smart artist makes the machine do
the work“, das bereits von Ute Vorkoeper erweitert wurde zu „A smart artist
orders programs which make the user do the work“ kann ein weiteres Mal
umgeschrieben werden: „A smart artist orders programs which make the
user do the work but gets the honour“.
11
Das VMN spricht hier von „clone“ – oder auch Duplikat – in Abgrenzung
zum Original. Vgl. das Glossar zu der Publikation ‚Permanence Through
Change: The Variable Media Approach‘,
http://variablemedia.net/pdf/Glossary_ENG.pdf
12
Mit der Ausstellung ‚Seeing Double: Emulation in Theory and Practice‘ präsentierte das Solomon R. Guggenheim New York vom 19.03. bis 16.05.2004
eine Auswahl originaler Kunstproduktionen gepaart mit ihren Nachbildungen:
http://variablemedia.net/e/seeingdouble
13
Die Netzkünstlerin Mary Flanagan entschied sich bei ihrer Arbeit [phade]
sogar für zwei Strategien, Emulation und Migration. Das 1998 entstandene
Original war eine Art Bildschirmschoner, der von Flanagan entworfen und
zum Download von ihrer persönlichen Hardware angeboten wurde; die ausgestellte, originale Version ist von deren persönlicher Hardware heruntergeladen worden und lief auf einem PC mit Windows 98. Bei der ‚Seeing Double‘
migrierte die Künstlerin [phade], indem sie mit Windows XP arbeitete und
emulierte, sodass mittels eines Hardware-Emulators auch die zahlreichen
Mac-User bedient wurden.
108
109
Vgl. http://joachimblank.com/texte/conserve_netart.pdf
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Das russische Internet
also muss man regelrecht von einem neuen Territorium ausgehen, ohne die alten, aber mit neuen Grenzen.“ (Olja Lialina
2000, http://www.heise.de/tp/r4/artikel/5/5818/1.html)
Nicht unwichtig ist die Tatsache, dass das frühe russische Web
überwiegend von Emigranten gestaltet wurde, von Russen, die
einerseits den Zugang zu dem neuen und angesehenen westlichen Kommunikationsmedium Internet hatten und andererseits
„der alltäglichen Kommunikation in ihrer Muttersprache entbehrten. In ihrer Selbstidentifikation waren sie schon immer in
besonderem Maße auf das Feld von Sprache und literarischer
Kultur ausgerichtet. Das russische Web war Ersatz für Küchengespräche, Radio und Fernsehen, Treffen auf der Straße oder
auf Parties und wurde für sie hiermit ein Ort, an dem sie lauter
‚kleine Russlands‘ errichten konnten.“ (Roman Leibov 2000,
http://www.heise.de/tp/r4/artikel/5/5818/1.html)
In Russland fiel die Entwicklung des Internets als eines eigenständigen Massenmediums mit den politischen Ereignissen der
90er Jahre und dem darauffolgenden medialen Wandel zusammen. 1991 zerfiel die Sowjetunion, gleichbedeutend mit dem
Ende einer fast 70-jährigen Isolation. Die russische Kultur war
nicht mehr zweigeteilt in die landesinterne und die von russischen Emigranten erschaffene. Millionen von ihnen erhielten
auf einmal die Möglichkeit zur Rückkehr zu ihren historischen
Wurzeln. Nicht viele sind zurückgekommen, um wieder in
Russland zu leben, vielmehr entstand eine kontinuierliche Bewegung hin und her zwischen dem Osten und Westen, und
das Internet wurde zu dem Medium der Kommunikation und
der Erschaffung unterschiedlichster Communities.
Kurze Chronologie: In den Jahren 1991-1992 wurde Windows1251 programmiert, eine Kodierung für russische Varianten
von Microsoft. Es folgten KOI-8 für Kodierung kyrillischer
Buchstaben (Juli 1993) und UTF-8 (Unicode = Standardkodie-
Das russische Internet
„Es heißt zwar, das Internet hätte keine Grenzen, aber eine Grenze
zumindest ist offensichtlich: die sprachliche Grenze. Sprachen ziehen
neue Grenzen durch das Internet.“ (Olia Lialina, 2000)
Svetlana Auer
Die Bezeichnung RUNET setzt sich zusammen aus dem
Domain-Namen ‚.ru‘ (für Russisch) und dem Postfix ‚net‘
(Netz), sie entstand in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre,
wobei der genaue Ursprung unbekannt ist.
Was bedeutet RUNET? So nennen liebevoll die Russen das
russischsprachige Segment des Internets. Wohlgemerkt das
russischsprachige und nicht das russische – eines der beliebtesten Missverständnisse im westlichen Raum. „Das russische Netz besteht ja nicht nur aus Servern, Providern,
Autoren und Künstlern, die in Russland angesiedelt sind. Es
handelt sich vielmehr um eine Community von Menschen, die
russisch sprechen, schreiben und denken. Diese Menschen
leben in Amerika, Israel, Deutschland, Russland, Australien,
ehemaligen Sowjetrepubliken und so weiter. In diesem Fall
110
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Das russische Internet
Screenshot der Seite ‚Glasnet‘
(=Glasnost + Network) aus dem Jahr
1991. Bildquelle: http://www.nethistory.
ru/chronology/1043433075.html
GlasNet war der erste Internet-Provider
in der Sowjetunion (seit 1989). Er
wurde gefördert von der amerikanischen ‚Association for Progressive
Communications‘ (APC).
GlasNet war ursprünglich ein nichtkommerzielles Netz (gemeinnützige
Organisation), 1993 wurde es kommerzialisiert.
Bildquelle: http://www.mult.ru
rung, die Zeichen nahezu aller Sprachen darstellen kann).
Das Windows ’95 wies eine allgemein zugängliche Standardkodierung für das Kyrillische – dies ermöglichte das Erschaffen von russischsprachigen Webseiten ohne Ausweichen auf
Translit1 wie bisher. Somit stieg die Nachfrage nach dem
Internet enorm und rasend schnell. RUNET hörte auf, eine
amerikanisierte Technologie zu sein, und begann, eine eigene
Spezifik zu entwickeln. Auch von den Usern wurde das
RUNET nach und nach nicht mehr als Importprodukt gesehen, sondern als etwas ursprünglich und wahrlich
Russisches.
Highlight 1: Masjanja als russische Antwort auf Beavis und
Butthead?
Masjanja (die „niedliche Kleine“) ist die Cyberheldin eines
Flash-Zeichentrickfilms, die mittlerweile einen Kultstatus
genießt. Es gibt kaum einen RUNET-User, der sie nicht kennt.
Zuerst erschien sie auf der Webseite von Oleg Kuvaev im
Oktober 2001 und bereits im April 2002 war diese Seite die
meist besuchte im Netz mit ca. 30.000 Besuchen pro Tag.
Masjanja verführte die User jede Woche zu einem Trip durch
den St. Petersburger Alltag. Sie verband Satire mit Melancholie, Poesie und derbem Slang.
Aus der Masjanja Komödie wurde allerdings eine Tragödie.
Jeden Montag brachte die beliebte Serie die Server zum
Zusammenbrechen. Streitigkeiten über die Autorenrechte
beendeten die Erfolgsgeschichte im Jahre 2005 (es bestehen
jedoch mehrere virtuelle Archive mit allen Serien). Masjanja
bewies, dass Kommerz und Urheberrecht nur schwer mit russischer Ethik, Kultur und Kollektivität vereinbar sind.
Da der Rahmen meines Beitrags begrenzt ist, werde ich mich
auf drei Highlights des RUNET konzentrieren, die exemplarisch die Spannbreite der über zehnjährigen Netzkultur des
RUNET skizzieren sollen und die auch dem westlichen User
die Mentalität der russischsprachigen User etwas näher bringen können. Mehr Informationen können Sie meiner weiterführenden Linkliste entnehmen.2
112
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Das russische Internet
Wie ist Masjanja? Sie ist humorvoll und schlagfertig, trägt
einen Top und einen Minirock sogar bei Minusgraden und
bevorzugt einen „ungesunden“ Lebensstil: Sie trinkt Bier, besucht Nightclubs, raucht, mitunter auch Cannabis, sitzt tageund nächtelang vor dem Bildschirm ihres PCs und surft (und
das sehr gekonnt!). Politik interessiert sie nicht. Geld verdient
sie mit folgenden, ständig wechselnden Jobs: Zeitungen verkaufen, mit ihrer Rock-Band in Kneipen auftreten, in der SBahn Gitarre spielen, (kostümiert als ein Riesenkaninchen) für
Pillen werben, im Radio und Fernsehen auftreten und sogar
Passanten nach Geld für ein Eis fragen.
Moschkow in Copyright-Auseinandersetzungen:
„Unterstützt Lib.ru – Bradbury klagt nicht gegen Moschkow.“
„Gogol klagt nicht gegen Moschkow.“
„Ich klage nicht gegen Moschkow.“
Bildquelle: http://inogda.net/nale/zalibru.html
Zitate (eigene Übersetzung):
„Oh man, alles ist schlecht: Überall herrscht Krieg, Tod,
Dummheit... und wir sitzen hier und trinken...“
“So sitze ich hier allein, traurig und nichts interessiert mich...
Nicht mal Cognac... Oder Wurst... Obwohl... Wenn ich es mir
genau überlege... Möchte ich sowohl Cognac als auch Wurst,
gebt mir die mal beide her…!“
E-Books bietet sie auch diverse „Selbst-schreibe-Portale“ und
stellt seit Jahren einen literarischen Lebensquell für
Landesregionen und im Ausland ansässige Diaspora.
Der Kläger in diesem Prozess, die kostenpflichtige Web Bibliothek lib.km.ru, klagte im Namen populärer AutorInnen (u.a.
der bekannten Detektivautorin Alexandra Marinina) gegen
kostenfreie Web-Bibliotheken wegen Verletzung der
Autorenrechte. Der Klagewert wegen „moralischer Kränkung“
belief sich auf 500.000 Dollar. Juristisch gesehen war der Kläger
selbst unvertretbar, denn die lib.km.ru stellt auf ihrer Plattform
MP3-Files und Bücher zur Verfügung, die sie im Internet illegal
kopiert.
Es war der bisher hitzigste Prozess zum Thema RUNET. Im
Leseland Russland ist man stolz auf die Größe der russischen
Online-Bibliotheken und auf ihre kollektive Nutzung. Eine Unterstützerkampagne im Internet verbreitete sich wie ein Lauffeuer,
inklusive Boykott-Aufruf der besagten Seite und eines offenen
Briefes an viele AutorInnen.
Highlight 2: Der Fall Moschkow – Copyright vs. Kollektiveigentum
Im April 2004 lief der Prozess gegen einige kostenfrei zugängliche und gemeinschaftlich organisierte Web-Bibliotheken an.
Sie sollen das Copyright missachtet haben. Darunter befand
sich auch die des berühmten Maksim Moschkow, der als Vater
der russischen Online Bibliotheken gilt. Seine lib.ru ist die
größte russische Literaturbibliothek mit einem kostenlosen
Angebot sowohl an Klassikern als auch an zeitgenössischen
AutorInnen. Sie ist das Pionierprojekt des RUNET und wird als
„Flagschiff“ der russischen Netzkultur angesehen. Außer
114
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Das russische Internet
Das Zentrum des internationalen RUNET-Widerstandes gegen
die Kommerzialisierung der Literatur bildete die Live-JournalCommunity. Obwohl nach und nach fast alle Autoren nicht
zuletzt wegen des heftigen Web-Widerstandes für eine freie
Verbreitung ihrer Bücher im Netz eintraten, waren der Ausgang und die Folgen dieses Prozesses für die digitale „Erfindung Russlands“ (Boris Groys) lange ungewiss. Am 30. März
2005 entschied das Gericht, dass Moschkow eine Summe
von 3.000 Rubel an den Autor Gevorkjan (der als einziger
unter der Gruppe der Autoren einen Anspruch hatte) zu zahlen hat, wegen „moralischer Kränkung“. Die Klage wegen
Verletzung der Autorenrechte wurde abgelehnt. Praktisch zur
gleichen Zeit erhielt lib.ru eine Summe von 1.000.000 Rubel,
die RosPechat (die staatliche Druckerei) für die Entwicklung
der Bibliothek gespendet hatte.
Hier ist ein Auszug (eigene Übersetzung):
„Wählt Aljona! Lasst uns NEIN sagen zu der
Politik des Mainstreams! Verschickt dieses
Foto überall hin, soviel ihr könnt! Wir werden
siegen! Wir haben das Recht zu entscheiden!!!“ Von den Lesern des Live.Journal wurde
angeblich auch Aljonas Support-Webpage
http://stopbarbie.org.ru in nur wenigen
Stunden erstellt.
Bildquelle:
http://www.netlore.ru/alena-pisklova
letzter Zugriff: 19.12.2007
ihre Anhänger auf einer eilig erstellten Webseite, sei ein flammender Protest gegen die „Barbifizierung“ der Gesellschaft,
gegen falsche Gefühle, Lächeln auf Fotos, Schönheitswahn
und falsche Pop-Musik, gegen nikotinfreie Zigaretten und
koffeinfreien Kaffee, kurz, Aljona stehe für Natürlichkeit und
Authentizität, das wahre Leben eben. Die Begeisterung hielt
selbst dann noch an, als das Votum für Aljona via SMS
kostenpflichtig wurde.
Highlight 3: Alena Pisklowa alias Anti-Barbie – vom Werdegang
einer Ikone des Individuellen
Nach einem kometenhaften Aufstieg hat es Aljona Pisklowa
zur Galionsfigur einer russischen Anti-Barbie-Bewegung
geschafft. Aljona wäre sogar um ein Haar im Juni 2004 als
russische Kandidatin für die Wahl zur Miss Universe nach
Quito, Ecuador gefahren und das mit 164 Zentimetern
Körpergröße und eher unbarbiehaften Proportionen (90-75100). Aber gerade in dieser Durchschnittlichkeit liegt für ihre
Anhänger das Besondere. Bei den Vorausscheidungen für
den Cat Walk in Quito, die erstmals in Russland via InternetVotum auf der Seite http://www.miss.rambler.ru abgegeben
wurden, erhielt Aljona in wenigen Tagen 10.000 Hits, so der
Veranstalter Rambler. Für Aljona zu stimmen, so erläuterten
Der Veranstalter löste die Situation so, dass Aljona wegen
ihres Alters (mit 15 Jahren 3 Jahre zu jung für die MissWahlen) nicht weiter als in das Halbfinale kam. Sie erhielt den
Preis der Zuschauer-Sympathien. Im RUNET ist nachzulesen,
dass ein Beitrag auf LiveJournal.com (einem Blog-Server, der
aktuell knapp über eine Million russisch-sprachige User listet)
für dieses Massenphänomen und den Riesenskandal im
RUNET gesorgt hat.
116
117
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Das russische Internet
„Das russische Internet hat sich zu seinem 10. Geburtstag
gleich mit zwei großen Skandalen (Moschkows OnlineBibliothek-Prozess und Pisklowas Kandidatur und SupportKampagne bei den Misswahlen) selbst beschert, die seine
Lebendigkeit unter Beweis und auf die Probe stellen. Nach
gut einem Jahrzehnt der Formierung ist das Runet in der
weltweiten Realität des Copyrights und des Kommerzes endgültig angekommen. Auf der einen Seite stehen die Attacken
der kommerziellen Literatur- und Kulturanbieter, die versuchen, private Initiativen aus dem Netz zu verdrängen oder
durch Werbestrategien zu marginalisieren. Auf der anderen
Seite formiert sich der Widerstand gegen die wachsenden
Kommerzialisierungstendenzen. […] Angesichts seines
Schattendaseins bis Ende der 90er Jahre ist das Widerstandspotential gerade des russischen Internet noch lange
nicht erschöpft. Im Gegenteil: Mit der wachsenden Anzahl
von Usern und der steigenden Popularität vergrößern sich
sowohl die Möglichkeiten als auch die Notwendigkeiten der
Schaffung von Gegenöffentlichkeiten, siehe dazu insbesondere die Arbeiten des russischen Internet-Forschers Jewgeni
Gorny, die zum Teil auch in englischer Sprache
(http://www.zhurnal.ru/staff/gorny/english) vorliegen. Ob
diese in Zukunft auch stärker an gesellschaftspolitische Zielsetzungen geknüpft sein werden, bleibt abzuwarten. Die zur
Zeit laufenden Diskussionen zum Thema Copyright könnten
durchaus richtungsweisend sein.“ (Henrike Schmidt/Katy
Teubener, 2004. Schmidt/Teubener leiten ein von der Volkswagen-Stiftung gefördertes Forschungsvorhaben zum Thema
der kulturellen Identitätsbildung im russischen Internet, zu finden unter http://www.Russian-Cyberspace.com)
Bildquelle:
http://stopbarbie.org.ru
letzter Zugriff: 19.12.2007
Wie man sieht, lassen sich die russischen User für eine breite
Palette an Thematiken begeistern, insbesondere, wenn diese
einen Protest gegen feste Normen, das Establishment, die
westliche Kommerzialisierung oder den Mainstream bedeuten, kurzum, einen wie auch immer gearteten revolutionären
Inhalt haben.
Erfahrungsgemäß sind Russen mit einem Internet-Zugang
sozial äußerst aktiv. Die Geschichte des Landes, aber auch
persönliche Erfahrungen lassen viele Russen das Internet als
wichtiges Instrument der demokratischen Entwicklung wahrnehmen. Der Computerbildschirm wird für sie ein Fenster zur
Welt. Die Menschen begreifen: Im Gegensatz zu den traditionellen Medien ist es sehr schwierig, dem Internet einen fremden Willen aufzuzwingen oder „es an die Kette zu legen“.
Und ihrerseits suchen die im Ausland lebenden ehemaligen
Sowjets die Kommunikation mit ihresgleichen, sowohl in der
neuen als auch in der alten Heimat.
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Russion-Cyberspace.com versucht, den Schleier um das
RUNET mit einer wissenschaftlichen Präzision und Neutralität
zu lüften. Für mich persönlich auch in Bezug auf die technische Ausführung ein eindeutiger (und so viel ich weiß, einziger) Vorreiter, da diese Seite trilingual aufgezogen ist – d.h.,
alle Texte sind alternativ Russisch, Englisch und Deutsch
auswählbar. In Bezug auf unser Thema bietet das auch einem
deutschsprachigen User eine einzigartige Möglichkeit, sich
über das RUNET zu informieren. Darin sehe ich einen
zukunftsweisenden Trend, später durchaus auch für das
gesamte RUNET und andere sprachliche Exoten, die zur
„Netz-Völkerverständigung“ führen könnten.
Tactical Media
Daniel Hirsch
Kulturgeschichtlich kann man die Entwicklung von RUNET
zum Teil von der des westlichen World Wide Web ableiten.
Jedoch werden auf uns alle immer wieder neue Überraschungen warten, denn die russische Mentalität wird immer die
Flammen um die sagenumwobenen Differenzen zwischen Ost
und West schüren.
1
Translit ist eine Methode, um kyrillische Schrift mit lateinischen Buchstaben darzustellen. Da die meiste Computerhardware und -software an der englischen Sprache orientiert war und die Zeichenkodierung oft sogar inkompatibel zur kyrillischen Sprache, war
Translit die einzige Möglichkeit, um in der kyrillischen Muttersprache (z.B. Russisch,
Ukrainisch, Weißrussisch, Bulgarisch) zu kommunizieren. Weiterführender Link:
http://de.wikipedia.org/wiki/Translit
2
Weiterführende Weblinks:
http://en.wikipedia.org/wiki/Runet – Runet und seine Chronologie
http://www.mult.ru – Zeichentrickfilm-Site mit allen Masjanja-Serien
http://www.livejournal.com/community/za_lib_ru/35779.html#cutid1 – Banner ‚Für
Lib.ru‘
http://www.sueddeutsche.de/kultur/artikel/145/30115/ – Über Aljona Pisklowa (auch
http://www.google.de)
http://www.russian-cyberspace.org – Forschungsprojekt Russisches Internet
Unter dem Begriff Tactical Media hat sich innerhalb der letzten Jahre ein Kanon aus Praktiken entwickelt, der entlang
den Schnittstellen von Politik, Kunst, Theorie und Aktivismus, Medien und Gesellschaft kritisch hinterfragt. Insbesondere durch die rasante Weiterentwicklung und die massenhafte Verbreitung von Medientechnik und Internet haben
medienkritische Kunstaktionen einen entscheidenden Auftrieb
erhalten.
Der australische Medienwissenschaftler Graham Meikle hat
das Thema Tactical Media mit einem Politikmodell von
Michael Margolis und David Resnick in Zusammenhang
gebracht, das die politischen Phänomene des Internets beschreibt. Dabei unterscheiden Resnick/Margolis zwischen
„Intra-Net Politics“, also denjenigen Regeln, die das Verhalten
und Auftreten im Internet regeln und bestimmen, „Politics
that Affects the Net“, solchen Politiken, die zwar in der realen
Welt stattfinden, aber durch ihre Existenz das Internet in seiner Form als solches nachhaltig beeinflussen und „Political
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Tactical Media
Use of the Net“. Margolis/Resnick verstehen unter dieser
Kategorie jeden Versuch, mit vernetzten Computern sozialen
oder kulturellen Wandel in der Offline-Welt zu bewirken. Es
handelt sich dabei also um eine Politik, die von innen nach
außen heraus zu wirken sucht. Neben politischen Parteien,
NGOs und sozialen Bewegungen, die das Netz nutzen, um
ihre Anliegen voranzutreiben, ist diese Form der Internetnutzung auch Ansatz der Tactical Media.
Per Selbstdefinition versteht sich Tactical Media als „critical
usage and theorization of media practices that draw on all
forms of old and new, both lucid and sophisticated media for
achieving a variety of non-commercial goals and pushing all
kinds of potentially subversive political issues.“1 Tactical
Media verfolgt also grundsätzlich immer nichtkommerzielle
und politische Ziele, wie dies u.a. auch soziale Bewegungen
tun. Die Medientheoretiker Geert Lovink und David Garcia
beschreiben Tactical Media als Ausdrucksform von Gruppen
oder Individuen, die sich von der „wider culture“ ausgeschlossen oder gekränkt fühlen. Doch im Gegensatz beispielsweise zur Bürgerrechtsbewegung in den USA der
1960er Jahre ist Tactical Media nicht Ausdrucksform einer
Bewegung in einer institutionalisierten Organisationsform,
sondern vielmehr das Ergebnis von kleinen temporären
Koalitionen, die sich finden, um gegen bestimmte Themen
gezielt vorzugehen und Kampagnen ins Leben zu rufen.
Dabei spielt auch die Verschiedenartigkeit der Tactical Media
Praktizierenden eine große Rolle. Tactical Media-Koalitionen
können sich beispielsweise aus Künstlern, Wissenschaftlern,
Technikern, Aktivisten usw. zusammensetzen und bekommen
dadurch einen hybriden Charakter. In diesem Licht können
auch politische Netzkunstarbeiten wie Female Extension
(1997) der Künstlerin Cornelia Sollfrank _S. 52 (Artschwager)
gesehen werden, mit der die Geschlechterdiskrimminierung
im Kunstbetrieb thematisiert wurde. Bei der Programmierung
von Sollfranks Netzkunstgenerators, mit dem sie massenhaft
Netzkunst anfertigte, um sie unter den fiktiven Identitäten
mehrerer Dutzend Frauen bei einem Wettbewerb einzureichen, arbeitete sie mit einem Programmierer zusammen. Ein
wichtiger Unterschied zu sozialen Bewegungen besteht auch
darin, dass sich die Veranstalter von Tactical Media nicht
zwangsläufig als Sprachrohr der Benachteiligten sehen oder
selbst von einem Missstand betroffen sein müssen, sondern
lediglich Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken wollen.
Bedingt durch ihren temporären Charakter ist Tactical Media
außerdem nicht das, was man landläufig unter ‚Alternative
Media‘ oder ‚Indymedia‘ versteht. Alternative Medien sind in
der Regel mittel- bis langfristig angelegte Medienprojekte, die
durch die Schaffung einer Alternativöffentlichkeit versuchen,
auf bestimmte Missstände aufmerksam zu machen. Neben
dem Aspekt der Langfristigkeit unterscheidet sich Tactical
Media ganz grundlegend zur Alternative Media in der Akzeptanz der Massenmedien als Kommunikationskanal. Es geht
vielmehr darum, mit oder durch die selbst veranstalteten
Aktionen in den Massenmedien aufzutauchen, um auf Probleme aufmerksam zu machen, statt eigene Medien zu schaffen, die kein Gehör finden.
Besonders deutlich wird dieser Punkt in den Praktiken des
Culture Jammings, einer Seitenrichtung der Tactical Media,
die als selbstreferentiell bezeichnet werden kann, da sie ausschließlich Massenmedien und das von ihnen transportierte
Bild der Welt kritisch thematisiert. Trotz dieser formalen
Unterschiede komplementieren sich die Methoden von
Culture Jamming, Alternative Media, Tactical Media und
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Tactical Media
Aktionen, wie wir sie von sozialen Bewegungen kennen, häufig in konkreten Kampagnen.
Im speziellen bei medienkritischen Projekten ist es für Tactical
Media Praktizierende nicht immer einfach, Eingang in die
Massenmedien zu finden. Daher müssen Möglichkeiten
schnell erkannt werden, um die klassische Berichterstattung
zu unterminieren. Die Natur der Tactical Media ist daher eine
flexible und mobile, die schnell handeln muss. Man spricht in
diesem Zusammenhang auch von Kommunikationsguerilla.
Der Begriff der Kommunikationsguerilla steht für ein Handeln, das dadurch bestimmt ist, dass es nur kurzzeitig als
solches sichtbar ist und ebenso schnell verschwindet, wie es
aufgetaucht ist. Darin liegen auch die ephemere Natur und
der performative Charakter der Tactical Media begründet, die
nach dem Ende einer Aktion meist nur in der Erinnerung der
Beteiligten weiterlebt.
das Internet haben ein Instrumentarium geschaffen, das die
Möglichkeiten für Tactical Media exorbitant vergrößert hat.
Gerade das Internet erlaubt es, ohne hohen finanziellen
Aufwand, effizient auf der ganzen Welt durch die Nutzung
neuer „Möglichkeitsräume“3 Informationen im Sinne einer
Kampagne der Tactical Media zu verbreiten.
So wurde beispielsweise die Gruppe The Yes Men mit einer
Kopie der Homepage der WTO (World Trade Organization)
bekannt, die sie mit abgeändertem und vollkommen überzogenem Inhalt auf der von ihnen registrierten Domain gatt.org
(nach dem General Agreement of Tariffs and Trade) veröffentlichten. Trotz des absurden Inhalts wurden sie wiederholt und
über Jahre hinweg zu Interviews und als scheinbare Redner
der WTO auf Konferenzen eingeladen. The Yes Men greifen in
dieser Aktion – dem Kopieren der Homepage und dem Auftreten als WTO-Redner – die Elemente der Récupération,
auch Camouflage genannt4, sowie des Détournement aus
der Philosophie der Situationisten auf. Als Détournement
wird eine Nutzung bereits existierender ästhetischer Elemente
in einem neuen Kontext bezeichnet, in dem diese meist satirisch-parodistische Züge bekommen. Dies war beispielsweise
beim Kopieren der WTO-Homepage der Fall. Das NichtErkennen der Homepage als Fake und die daraus resultierenden Einladungen ermöglichten in diesem Fall den Einsatz der
Recuperation, die als Gegenteil des Détournement verstanden werden kann. Der Gedanke hier ist, sich auf bestehende
Systeme einzulassen, um ohne Bedrohung durch das System
zu Stärke kommen zu können und von innen heraus zurück
zu schlagen. So taten es auch die Yes Men, indem sie als
Vertreter der WTO anreisten und sich erst während ihrer Rede
auf den Konferenzen als Aktivisten zu erkennen gaben.
Übervater des Gedankens eines taktischen Handelns ist der
französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de
Certeau. Der Begriff der Taktik, wie er als integraler Bestandteil des selbst gegebenen Namen Tactical Media Einzug findet, wird direkt von ihm übernommen. Im Gegenzug zur
Strategie definiert er die Taktik als ein berechnendes
Handeln, dass durch das Fehlen eines eigenen Ortes charakterisiert ist. Deshalb muss durch temporäre Lücken im System des Gegners, beispielsweise dem System Medien, dessen Terrain unterminiert werden, um von dort aus zu agieren2.
Mit dem Fortschritt der Technik ist es für Tactical Media
Praktizierende in den letzten Jahrzehnten immer einfacher
geworden, alternative Propaganda durch diese Lücken, wie
de Certeau sie beschreibt, zu verbreiten. Kopierer,
Camcorder, Bildbearbeitungsprogramme und nicht zuletzt
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Tactical Media
Die Nutzung von Détournement und Récupération wenden
sich gegen das Spektakel, eine der zentralen Vorstellungen
der Situationisten. Guy Debord, einem Gründungsmitglied der
Situationistischen Internationalen zufolge ist das Spektakel
„die ununterbrochene Rede, die die gegenwärtige Ordnung
über sich selbst hält, ihr lobpreisender Monolog“5. Eine
Scheinwelt aus Werbung, Klischees und Propaganda, die reales Erleben durch repräsentierende Zeichen ersetzt, die dem
Grunde nach inhaltslos sind. Auch die Medien folgen mit
ihrem Programm diesem Prinzip, der Repräsentation des
Spektakels, nach dem Motto: „Was erscheint, ist gut, was gut
ist, erscheint.“6 Dadurch ist aber ein gesellschaftlicher Fortschritt ausgeschlossen. Wenn Nachrichten nur dem Kanon
der Simulation des Spektakels entspringen, sind Geschichte
und Zeit wie gelähmt7. Das mächtige Subjekt, wie De Certeau
es beschrieben hat, kann im Fall der Tactical Media mit dem
Spektakel gleichgesetzt werden. Die Aufgabe der Tactical
Media kann also als die Schaffung einer Art von AntiSpektakel verstanden werden, um Geschichte und Zeit wieder in Gang zu bringen, oder wie Lassn es beschreibt, wenigstens „den Strom des Spektakels so lange anzuhalten, bis
man sein System neu eingestellt hat“8. In diesem Kontext verwundert es kaum, dass häufig eine Kriminalisierung von
Tactical Media stattfindet. Inwiefern die von Tactical MediaPraktizierenden selbst genutzte Kriegsrhetorik, beispielsweise
im Zusammenhang mit Aktionen wie dem ‚toywar‘ der
Künstlergruppe etoy _S. 42 (Becker), mit-/verantwortlich ist,
sei dahingestellt.
sifizieren. Diese sind in erster Linie Aneignung, Desinformation, Collage und ironische Inversion. Die beiden erstgenannten bilden die Kategorie der Camouflage. Sie funktionieren
nur, wenn sie nicht sofort als Subversion durch das Spektakel
verstanden werden. Die Taktik der Aneignung gibt sich dabei
solange als Teil des Spektakels aus, bis sie sich in diesem
etabliert hat, um anschließend das System mit der ihr durch
das System selbst verliehenen Macht zurück zu schlagen.
Die Taktik der Desinformation setzt eher darauf, das System
außer Gefecht zu setzen, indem es dieses mit falschen
Informationen versorgt oder mit Informationen, welche für die
Ordnung des Systems eine Gefährdung darstellen. Durch die
verursachte Ablenkung des Spektakels können dann die
eigenen Ziele vorangetrieben werden. Die Taktiken des
Détournement können im Gegensatz dazu von Anfang an als
Subversion auftreten. Die Taktik der Collage stellt dabei die
Nebeneinanderstellung von Symbolen des Spektakels mit
dem Inhalt der Tactical Media dar. Die ironische Inversion und
die Übertreibung karikieren die Symbole des Spektakels und
versuchen diese unglaubwürdig erscheinen zu lassen.
Etwas nüchterner als vom „Kampf gegen das Spektakel“
spricht Arns, wenn sie beschreibt, dass es darum ginge,
bestimmte versteckte Strukturen wieder sichtbar zu machen
oder etwas „rückzuführen“. Im Prinzip meint Arns genau dasselbe wie ein Culture Jammer, wenn er davon spricht, ein
durch das Spektakel belegtes Zeichen zurück erobern zu
wollen: „Netzkulturelle Projekte, die sich mit den politischen
und ökonomischen Strukturen des Internets auseinandersetzen und diese hinterfragen, lassen die Transparenz informationstechischer Strukturen opak werden. Das Sichtbarmachen
eigentlich unsichtbarer, postoptischer Strukturen bedeutet
lediglich die Rückführung des informatisch definierten
Die dichotomische Unterscheidung zwischen Recuperation
und Détournement eignet sich weiter hervorragend dazu, die
wesentlichen Wirkungsstrategien der Tactical Media zu klas-
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Tactical Media
Begriffs der Transparenz (= Durchsichtigkeit des Interface,
Information Hiding) in seine ursprüngliche Bedeutung von
Übersichtlichkeit, Klarheit und Kontrollierbarkeit durch Einsehbarkeit.“9 Generell lässt sich sagen: Wenn es um die
Transparentmachung von Transparenz geht, hat Tactical
Media, die über das Internet zu wirken sucht, den entscheidenden Vorteil, mit diesem über einen Kommunikationskanal
zu verfügen, der gewissermaßen als Erfüllung der Brechtschen Vision eines Kommunikationsapparates die Massenkommunikation auch tatsächlich umkehren kann.
Die neuen Formen der Tactical Media, die das Internet
ermöglicht, werden meist unter den Begriff Hacktivismus
untergeordnet – oft ungeachtet der Tatsache, ob es sich
dabei um Beispiele der Tactical Media oder eines normalen
Hacks handelt. Inke Arns weist hier auf das Phänomen der
Netzkulturen hin, die ganz unterschiedliche Interessengruppen sind und alle gemäß ihrer Gruppenethik das Netz „nichtmajoritär“ nutzen.10 Vermutlich ist diese nicht-majoritäre
Nutzung als Gemeinsamkeit der an sich autonomen Netzkulturen – im Gegensatz zu einer majoritären Nutzung, wie beispielsweise dem E-Commerce – der Grund, den Begriff
Hacktivismus grob und undifferenziert zu betrachten. Dass
Hack nicht zwangsläufig ein negativ belegtes Wort sein muss,
wurde bereits in verschiedenen Zusammenhängen erörtert.
Der Cultural Studies-Professor McKenzie Wark beschreibt
den Hack in seinem ‚Hacker Manifest‘ gar als gesellschaftlichen Innovationsmotor. Im Zusammenhang mit Tactical
Media beschreibt der Begriff Hacktivismus eine Reihe von
neuartigen Vorgehensweisen, die durch Hacks möglich werden und der Verbreitung und Durchführung politischen
Aktivismus dienen, etwa durch die Nutzung der graphischen
und multimedialen Möglichkeiten sowie textbasierten An-
wendungen des Netzes. Mögliche Vorgehensweisen des
Hacktivismus können so verschiedene Praktiken umfassen,
die von einfachen Shut-Downs bestimmter Seiten bis zu
Graffiti-Hacks, also Eingriffen in die Oberfläche fremder
Homepages reichen. Viele dieser Methoden genießen jedoch
auch in der Tactical Media-Szene einen zweifelhaften Ruf, da
es sich hierbei eher um Cracks als um Hacks handelt; also
um solche Hacks, die das System des Gegners nachhaltig
beschädigen können. Arns trifft im Zusammenhang von
Tactical Media und Hacktivismus die hilfreiche Unterscheidung zwischen einem so genannten „ermöglichenden
Gebrauch“ und einem „blockierenden Gebrauch“.11 Während
es um den ermöglichenden Gebrauch, also die zur Kommunikation vernetzenden Möglichkeiten des Internets und
deren Nutzung, innerhalb der Tactical Media-Szene kaum
Streitigkeiten gibt, steht man den Praktiken des blockierenden Gebrauchs oft eher kritisch gegenüber. So schlägt Lassn
lediglich den virtuellen Sit-in als einzige blockierende
Maßnahme im Zusammenhang mit dem Internet vor.12
Der virtuelle Sit-in wurde Anfang der 1990er Jahre vom
Critical Art Ensemble unter dem Titel Electronic Civil
Disobedience (also elektronischer bürgerlicher Ungehorsam)
als neue Aktivismusform erdacht, aber erst gegen Ende des
Jahrzehnts erstmals umgesetzt. Wie der reale Sit-in durch
das Blockieren öffentlicher Gebäude durch Aktivisten den
Zugang erschwert, verursacht der virtuelle Sit-in Zugriffsschwierigkeiten auf eine bestimmte Homepage, die Ziel der
Attacke ist. Durch eine Überforderung des Servers, beispielsweise durch das automatisierte und wiederholte Anwählen
nicht vorhandener URLs auf einer Homepage, oder das massenhafte Versenden von Emails ist ein Zugang zur angegriffe-
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Tactical Media
nen Homepage nur mit sehr langen Wartezeiten oder auch
gar nicht möglich. Der Vorteil eines virtuellen Sit-ins besteht
seinem realen Vorgänger gegenüber darin, dass er keine physische Präsenz der Teilnehmer erfordert und so grundsätzlich
jeder Mensch auf der Welt, der mit einem Internetzugang
ausgestattet ist, teilnehmen kann. Gleichwohl finden
Probleme, die bei einem Sit-in in der realen Welt auftreten
können, ihre virtuelle Entsprechung: So kann die Bandbreite
für alle User unter dem Sit-in leiden und zu längeren Wartezeiten für viele User führen, wie in der realen Welt beispielsweise Staus verursacht werden können. Und genauso wie
man in der realen Welt von der Polizei registriert werden
könnte, kann es passieren, dass die IP-Adressen der
Rechner durch staatliche Organisationen registriert werden.13
1
Definition aus CAE 2001, S. 5.
2
deCerteau 1988, S. 89.
3
Arns 2002, S. 43.
4
Autonome A.F.R.I.K.A. Gruppe 2003, S. 98.
5
Debord 1996, S. 21f.
6
Wie Anm. 5, S. 17.
7
Wie Anm. 5, S. 139.
8
Lassn 2005, S. 115.
9
Arns 2005, S. 442. Hervorhebung im Original.
10
Arns 2002, S. 42ff.
11
Wie Anm. 10, S. 44.
12
Lassn 2005, S. 134.
13
Meikle 2002, S. 143f.
Literaturverzeichnis:
Arns, Inke (2002): This is not a toy war. Politischer
Aktivismus in Zeiten des Internet, in Münker, Stefan/Roesler,
Alexander (Hrsg.): Praxis Internet. Kulturtechniken der vernetzten Welt, Frankfurt am Main: Suhrkamp
Arns, Inke (2005): Netzkulturen im postoptischen Zeitalter, in:
Schade, Siegrid/Sieber, Thomas/Tholen, Georg Christoph
(Hrsg.): SchnittStellen. Basler Beiträge zur
Medienwissenschaft, Basel: Schwabe, S. 429-444
Critical Art Ensemble (2001): Digital Resistance.
Explorations in Tactical Media, New York: Autonomedia
Debord, Guy (1996): Die Gesellschaft des Spektakels, Berlin:
Edition Tiamat
DeCerteau, Michel (1988): Die Kunst des Handelns, Berlin:
Merve
Lassn, Kalle (2005): Culture Jamming. Die Rückeroberung
der Zeichen, Freiburg: Orange Press
Margolis, Michael/Resnick, David (2000): Politics as usual.
The cyberspace „revolution“, Thousand Oaks: Sage
Publications
Meikle, Graham (2002): Future Active. Media Activism and
the Internet, New York: Routledge
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Glossar
Appropriation Art Appropriation Art [...] ist eine Ausdrucksform des zeitgenössischen künstlerischen
Schaffens. Sie wird meist der Konzeptkunst zugeordnet, weil das Verständnis der
zugrunde liegenden Überlegungen und
Theoreme wichtig für ihr Verständnis ist.
Im engeren Sinn spricht man von Appropriation Art, wenn Künstler bewusst und mit
strategischer Überlegung die Werke anderer
Künstler kopieren, wobei der Akt des Kopierens und das Resultat selbst als Kunst
verstanden werden sollen (andernfalls
spricht man von Plagiat oder Fälschung).
Glossar
Dieses Glossar basiert, soweit nicht anders angemerkt, auf
den „Freien Inhalten“ GNU in der deutschen und englischen
Version der Online-Enzyklopädie Wikipedia
(http://de.wikipedia.org/wiki/Hauptseite,
http://en.wikipedia.org/wiki/Main_Page;
11.04.2008, 18:00 UTC).
Es sind Zitate der einzelnen Artikel-Expositionen und dienen
einer anfänglichen Verständlichkeit vor allem bei einer OfflineNutzung des Shortguides.
Ars Electronica Die Ars Electronica wurde am 18.
September 1979 im Rahmen des internationalen Brucknerfestes als verbindendes
Festival von Technologie, Kunst und
Gesellschaft gemeinsam mit der ersten
Linzer Klangwolke und der Musik von
Bruckners achter Symphonie eröffnet.
Aktivist, Als Aktivist [...] wird eine Person bezeichAktivismus net, die ohne finanziellen Anreiz, also aus
innerer Überzeugung oder aus persönlichen Motiven, in besonders intensiver
Weise, mit Aktivismus, für die Durchsetzung bestimmter Ziele eintritt.
Algorithmus Unter einem Algorithmus versteht man allgemein eine genau definierte Handlungsvorschrift zur Lösung eines Problems oder
einer bestimmten Art von Problemen in
endlich vielen Schritten. [...] Algorithmen
sind eines der zentralen Themen der
Informatik und Mathematik. In Form von
Computerprogrammen und elektronischen
Schaltkreisen steuern sie Computer und
anderen Maschinen.
ASCII American Standard Code for Information
Interchange [...] ist eine 7-Bit-Zeichenkodierung und bildet die US-Variante von ISO
646 sowie die Grundlage für spätere mehrbittige Zeichensätze und -kodierungen.
Avatar Ein Avatar ist eine künstliche Person oder
ein grafischer Stellvertreter einer echten
Person in der virtuellen Welt, beispielsweise
in einem Computerspiel.
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Glossar
Browser, Webbrowser [...] ([dt.:] „Durchstöberer“,
browsen „Blätterer“) sind spezielle Computerprogramme zum Betrachten von Webseiten im
World Wide Web. Das Durchstöbern des
WWWs respektive das aufeinanderfolgende
Abrufen beliebiger Hyperlinks als Verbindung
zwischen Web-seiten mit Hilfe solch eines
Programms wird auch als Internetsurfen
bezeichnet.
sches Buch) versucht im weitesten Sinne,
das Medium Buch mit seinen medientypischen Eigenarten in digitaler Form verfügbar zu machen.
Flash- Adobe Flash [...] (kurz Flash, ehemals
Animationen, Macromedia Flash [...]) ist eine proprietäre
Adobe Flash integrierte Entwicklungsumgebung zur
Erstellung multimedialer Inhalte, so
genannter „Flash-Filme“.
Camouflage Camouflage, also known as cryptic coloration or concealing coloration, allows an otherwise visible organism or object to remain
indiscernible from the surrounding environment.
Frame Ein Frame ist ein verschiebbarer Teilbereich einer HTML-Seite, in dem eine
andere HTML-Seite dargestellt werden
kann. Das einzelne Segment wird dabei
als Frame ([dt.:] Rahmen) bezeichnet, die
Definition aller Frames als Frameset.
Culture Jamming Culture jamming is a resistance movement to
cultural hegemony and the homogenous
nature of popular culture, executed by
means of guerrilla communication. The
movement is a form of public activism which
is generally in opposition to commercialism,
and the vectors of corporate image.
GNU-Lizenz für Die GNU-Lizenz für freie Dokumentation
freie [...] ist eine der gebräuchlichsten Lizenzen
Dokumentation für so genannte Freie Inhalte. [...] Wenn
ein Urheber bzw. Copyrightinhaber
(Lizenzgeber) ein Werk unter diese Lizenz
stellt, bietet er damit jedermann weitgehende Nutzungsrechte an diesem Werk
an: Die Lizenz gestattet die Vervielfältigung, Verbreitung und Veränderung des
Werkes, auch zu kommerziellen Zwecken.
Im Gegenzug verpflichtet sich der Lizenznehmer zur Einhaltung der Lizenzbedingungen. Diese sehen unter anderem die
Pflicht zur Nennung des Autors bzw. der
Détournement In détournement, an artist reuses elements
of well-known media to create a new work
with a different message, often one opposed
to the original.
E-Books Ein E-Book (auch "eBook" oder "ebook",
von engl. electronic book), selten eingedeutscht E-Buch oder eBuch (von elektroni-
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Glossar
Autoren vor und verpflichten den
Lizenznehmer dazu, abgeleitete Werke
unter dieselbe Lizenz zu stellen (CopyleftPrinzip).
Hard Edge Hard Edge [...] ist eine Form und Stilrichtung der Malerei in der Bildenden Kunst, die
ab 1958 durch den US-amerikanischen
Kunstkritiker Jules Langsner ihren Namen
bekam. Langsner hat den Begriff im Zusammenhang mit einer von ihm im Sommer
1959 organisierten Ausstellung im Los
Angeles im County Museum verwendet, um
damit die besondere nichtfigürliche (abstrakte) Darstellung zu kennzeichnen.
Hacker, Hacker hat [...] mehrere Bedeutungen. Das
Hacktivismus Wort wird alltagssprachlich gebraucht, um
jemand zu bezeichnen, der über ein
Netzwerk unerlaubt in fremde Computersysteme eindringt und zugleich Teil einer
entsprechenden Subkultur ist. In engerem
Sinne gebrauchen seit den 1950er Jahren
weitere Subkulturen den Ausdruck zur
Selbstbezeichnung. Gemeinsames
Merkmal ist dabei, dass ein Hacker ein
Technikenthusiast ist, der umfangreiche
technische, vor allem computertechnische
Grundlagenkenntnisse besitzt. In einem
übergreifenden Sinn umfasst Hacker
Personen, die mit ihren Fachkenntnissen
eine Technologie beliebiger Art außerhalb
ihrer normalen Zweckbestimmung oder
ihres gewöhnlichen Gebrauchs benutzen.
Host Als Host [...] wird in der Informationstechnik
ein Computer in einem Netzwerk bezeichnet, auf dem ein oder mehrere Server betrieben werden. Aus diesem Zusammenhang
heraus werden Hosts umgangssprachlich
häufig auch als Server bezeichnet.
HTML, Die Hypertext Markup Language (HTML
Hypertext [...]), oft auch kurz als Hypertext bezeichnet,
ist eine textbasierte Auszeichnungssprache
zur Strukturierung von Inhalten wie Texten,
Bildern und Hyperlinks in Dokumenten.
Happening Das Happening ist neben Fluxus eine der
wichtigsten Formen der Aktionskunst der
1960er Jahre. Kurz gesagt ist Happening
eine Art von Improvisation direkt vor dem
Publikum, bei dem unterschiedlich auf das
Publikum reagiert und eingegangen wird.
Hyperlinks Als Hyperlink [...], auch kurz Link (engl. für
Verknüpfung, Verbindung, Verweis), bezeichnet man einen Verweis auf ein anderes Dokument innerhalb eines Hypertextes, der
automatisch durch das „Hypertextsystem“
verfolgt werden kann.
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Glossar
Interface Die Schnittstelle oder das Interface ([...]
englisch „Grenzfläche“) ist der Teil eines
Systems, der der Kommunikation dient.
Der Begriff stammt ursprünglich aus der
Naturwissenschaft und bezeichnet die
physikalische Phasengrenze zweier
Zustände eines Mediums. Er beschreibt
bildhaft die Eigenschaft eines Systems als
Black Box, von der nur die „Oberfläche“
sichtbar ist, und daher auch nur darüber
eine Kommunikation möglich ist. Zwei
benachbarte black Boxes können nur miteinander kommunizieren, wenn ihre
Oberflächen „zusammenpassen“.
punktuelle Operationen bemüht, auf den
Bereich von Information und Kommunikation übertragen.
Lemniskate Eine Lemniskate ist die Figur einer liegenden 8 (∞). Diese Figur ist als Symbol für
Unendlichkeit und Unbegrenztheit
bekannt.
Lightgun Eine Lightgun ist ein Eingabegerät für
Videospiele. [...] [Sie] sind ballistischen
Waffen nachempfunden (meist Pistolen
oder Bazookas) und dienen dem Zweck,
Objekte auf einem Bildschirm ins Visier zu
nehmen. [...]
Die bekannteste Lightgun ist Nintendos
Zapper Gun für das Nintendo Entertainment System, jedoch erschienen auch
Geräte für Sony PlayStation, Sega Master
System, Sega Saturn, Sega Dreamcast,
Magnavox Odyssey, XBox und viele andere Plattformen.
IP-Adresse Eine IP-Adresse (Internet-ProtocolAdresse) dient zur eindeutigen
Adressierung von Rechnern und anderen
Geräten in einem IP-Netzwerk. [...] Allen
am Internet teilnehmenden Rechnern wird
eine IP-Adresse zugeteilt. Die IP-Adresse
entspricht funktional der Telefonnummer in
einem Telefonnetz.
Link Als Hyperlink, auch kurz Link (engl. für
Verknüpfung, Verbindung, Verweis),
bezeichnet man einen Verweis auf ein
anderes Dokument innerhalb eines
Hypertextes, der automatisch durch das
„Hypertextsystem“ verfolgt werden kann.
Kommunika- Kommunikationsguerilla (auch Informatitionsguerilla onsguerilla, Medienguerilla) ist eine Form
des Aktivismus (bzw. eine Gruppe oder
Bewegung, die sich dieser Form bedient),
bei der gezielt Information bzw. Desinformation eingesetzt wird, um Ziele zu erreichen. Dabei wird die klassische GuerillaTaktik, die sich um möglichst effektive
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Glossar
Meta-Tags Meta-Tags sind (versteckte) HTML-Elemente auf einer Webseite, die Metadaten
über das betreffende Dokument enthalten.
Performance Performance [...] ist eine Form der
Aktionskunst seit etwa 1960. [A]ls künstlerisches Medum überwindet [sie] Auffassungen, nach denen nur dauerhafte, werthaltigen, beliebig verschiebbare und verkäufliche Objekt relevante Kunst seien.
Performance ist situationsbezogen, handlungsbetont und vergänglich.
net.art [a.] net.art is a group of artists who worked in internet art from 1994. The members are usually referenced as Vuk Cosic,
Jodi.org, Alexei Shulgin, Olia Lialina, Heath
Bunting. This group was united as a parody of avantgarde movements by writers
such as Tilman Baumgärtel, Josephine
Bosma, Hand Dieter Huber and Pit Schultz
but their individual works have little in
common.
[b.] net.art is also used as a synonym for
net art or internet art and covers a much
wider range of artistic practices. In this
wider definition, net.art means art that
uses the internet as its medium and that
cannot be experienced in any other way.
Often net.art has the internet as (part of)
its subject matter but this is certainly not
required.
Provider Internetdienstanbieter oder auch Internetdiensteanbieter (engl.: Internet Service
Provider, abgekürzt ISP), im deutschsprachigen Raum auch oft nur Provider, weniger häufig auch nur Internetanbieter genannt, sind Anbieter von Diensten, Inhalten oder technischen Leistungen, die für
die Nutzung oder den Betrieb von Inhalten
und Diensten im Internet erforderlich sind.
Rekuperation [Unterkategorie Kultur] In der Politik
Recuperation bezeichnet Rekuperation die Reintegration
eines einstmals revolutionären Ansatzes in
den Mainstream, in welchem er als affirmierendes Moment weiterexistiert. In diesem Zusammenhang wurde der Begriff
von der Künstlergruppe Situationistische
Internationale S.I. definiert als „Vereinnahmung rebellischer Tendenzen durch
das, gegen das eigentlich rebelliert wird“.
NGO Eine Nichtregierungsorganisation (NRO),
d.h. eine nichtstaatliche Organisation,
(engl. non-governmental organization,
abgekürzt NGO) ist eine nicht auf Gewinn
gerichtete, von staatlichen Stellen weder
organisierte noch abhängige Organisation.
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Glossar
Rhizom Rhizom [...] ist der Bezeichnung für Wurzelgeflechte (Rhizome) von Pflanzen abgeleitet. Bei Deleuze und Guattari dient er als
Metapher für ein postmodernes beziehungsweise poststrukturalistisches Modell
der Wissensorganisation und Weltbeschreibung, das ältere, durch eine BaumMetapher dargestellte, hierarchische
Strukturen ersetzt.
Kontaktaufnahme eines ClientProgrammes wartet und nach
Kontaktaufnahme mit diesem Nachrichten
austauscht. Die Kommunikation erfolgt
dabei nach dem sogenannten ClientServer-Modell. Die Regeln, die das Format
sowie die Bedeutung der zwischen Server
und Client ausgetauschten Nachrichten
bestimmen, nennt man Protokoll. Host
Science Center Ein Science Center (auch Hands-onMuseum) ist die Umsetzung eines Ausstellungskonzeptes, in dem versucht wird,
den Besuchern mittels „Learning by
doing“, das heißt durch eigenständiges,
spielerisches Experimentieren in „Mitmachausstellungen“ technische und naturwissenschaftliche Zusammenhänge und Phänomene nahe zu bringen.
Situationisten, Die Situationistische Internationale (S.I.)
Situationistische war eine 1957 gegründete, linksradikal oriInternationale entierte Gruppe europäischer Künstler und
Intellektueller (darunter politische Theoretiker, Architekten, freischaffende Künstler
u.a.), die vor allem in den 1960er Jahren
aktiv war. Die Situationisten übten dabei
sowohl Einfluss auf die politische Linke
aus vor allem im Umfeld des Pariser Mai
’68 sowie in der Entwicklung der Methoden der Kommunikationsguerilla wie
auch auf die internationale Kunstszene
sowie insbesondere auf die Popkultur.
Screenshot Unter einem Screenshot [...] oder
Bildschirmfoto, früher auch Hardcopy, versteht man in der EDV das Abspeichern
oder die Ausgabe des aktuellen graphischen Bildschirminhalts als Rastergrafik.
Social Social Engineering [...] (engl. eigentlich
Engineering „angewandte Sozialwissenschaft“, auch
„soziale Manipulation“) nennt man zwischenmenschliche Beeinflussungen mit
dem Ziel, unberechtigt an Daten oder
Dinge zu gelangen. Social Engineers spionieren das persönliche Umfeld ihres
Opfers aus, täuschen falsche Identitäten
Scrollen Als [Scrollen oder] Bildlauf wird das
Verschieben von Bildschirminhalten
(sowohl Text als auch Grafik) bezeichnet.
Server Ein Server [(dt.: bedienen)] ist ein
Programm, welches auf die
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Glossar
vor oder nutzen Verhaltensweisen wie
Autoritätshörigkeit aus, um Dinge wie
geheime Informationen oder unbezahlte
Dienstleistungen zu erlangen. Meist dient
Social Engineering dem Eindringen in ein
fremdes Computersystem, um vertrauliche
Daten einzusehen; man spricht dann auch
von Social Hacking [...].
TTL Time-to-live oder TTL ist der Name eines
Header-Felds des Internetprotokolls, das
verhindert, dass unzustellbare Pakete
unendlich lange weitergeroutet werden.
URL Als Uniform Resource Locator [...]
bezeichnet man eine Unterart von Uniform
Resource Identifiern (URIs). URLs identifizieren eine Ressource über das verwendete Netzwerkprotokoll (beispielsweise http
oder ftp) und den Ort [...] der Ressource in
Computernetzwerken.
Software Software [...] bezeichnet alle nichtphysischen Funktionsbestandteile eines
Computers bzw. eines jeden technischen
Gegenstandes, der mindestens einen
Mikroprozessor enthält. Dies umfasst vor
allem Computerprogramme sowie die zur
Verwendung mit Computerprogrammen
bestimmten Daten.
User Der englische Begriff User (Anwender,
Verwender, Benutzer) ist in der elektronischen Datenverarbeitung gebräuchlich für
den Benutzer eines Computers, also eine
reale Person, einen Internetnutzer –
Netcitizen, einen Kunden in der IT-Branche
(egal, ob Hardware oder Software), ein
Benutzerkonto, das mit bestimmten
Rechten zum Zugriff auf den Computer
ausgestattet ist.
Im Kontext der net.art bezeichnet User
eine Erweiterung des Rezipienten, indem
dieser nicht mehr nur als Empfänger, sondern als Nutzer aufgefasst wird, der z.B.
durch das Scrollen oder das Wählen von
Links aktiv an der Konstruktion des
Kunstwerks beteiligt ist [Anm. d. Autors].
Telematik Telematik (zusammengesetzt aus Telekommunikation und Informatik) ist eine
Technologie, welche die Technologiebereiche Telekommunikation und die
Informatik verknüpft. Telematik ist also das
Mittel der Informationsverknüpfung von
mindestens zwei EDV-Systemen mit Hilfe
eines Telekommunikationssystems, sowie
einer speziellen Datenverarbeitung. Der
Begriff wurde von Nora und Minc (1978)
geprägt.
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145
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Glossar
Web 2.0 [Unterkategorie] Der Begriff Web 2.0 bezieht sich weniger auf spezifische Technologien oder Innovationen, sondern primär auf eine veränderte Nutzung und
Wahrnehmung des Internet und wird seit
etwa 2005 zunehmend genutzt. Hauptaspekt: Benutzer erstellen und bearbeiten
Inhalte in quantitativ und qualitativ entscheidendem Maße selbst. Maßgebliche
Inhalte werden nicht mehr nur zentralisiert
von großen Medienunternehmen erstellt
und über das Internet verbreitet, sondern
auch von einer Vielzahl von Individuen, die
sich mit Hilfe sozialer Software zusätzlich
untereinander vernetzen. Typische Beispiele hierfür sind Wikis, Blogs, Foto- und
Videoportale (z.B. Flickr und YouTube),
soziale Online-Netzwerke wie MySpace,
Social-Bookmarking-Portale wie
del.icio.us, aber auch die schon länger
bekannten Tauschbörsen.
insbesondere zeitgenössische Kunst, in
farbneutralem Weiß zu zeigen, um die
Ausstellungsarchitektur deutlich hinter das
Kunstwerk zu stellen und eine Interaktion
zwischen Architektur und Kunstwerk zu
vermeiden.
Wikipedia Wikipedia [...] ist ein Projekt zur Erstellung
einer Online-Enzyklopädie in mehreren
Sprachversionen. Der Begriff Wikipedia –
ein Kofferwort – setzt sich aus „Wiki“
(Hawaiisch für „schnell“) und „Encyclopedia“ (Englisch für Enzyklopädie) zusammen. Das Hauptmerkmal: jedermann kann
unmittelbar Artikel einstellen oder verändern. Bestand hat, was von der Gemeinschaft akzeptiert wird. Bisher haben international etwa 285.000 angemeldete und
eine unbekannte Anzahl von nicht angemeldeten Benutzern Artikel zum interaktiven Projekt beigetragen. Mehr als 7.000
Autoren arbeiten regelmäßig an der
deutschsprachigen Ausgabe mit.
Das im Januar 2001 gegründete Projekt
bezeichnet sich als „freie Enzyklopädie“,
weil alle Inhalte unter freien Lizenzen stehen [...]. GNU
Weichzeichnen Weichzeichnen [...] ist der Oberbegriff für
Bildveränderungen, welche die Bildschärfe
herabsetzen. Viele digitale Bildoperationen
haben Entsprechungen in der AnalogFotografie.
White Cube Unter White Cube [...] versteht man das
Ausstellungskonzept, Kunst in weißen
Räumen zu präsentieren. Seit den 20er
Jahren des 19. Jahrhunderts ist es üblich,
ZKM Das Zentrum für Kunst und Medientechnologie (ZKM) in Karlsruhe gilt als größte
Einrichtung für Medienkunst weltweit. Es
wurde 1997 in einem großen ehemaligen
Fabrikgebäude eröffnet.
146
147
Anhang
(1)
Analysewerkzeuge für Netzkunst. Work-in-progress v03.08
http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008Shortguide
Netart-AnalyseNetartv0308.pdf
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INTRODUCTION TO NET.ART (1994-1999)
Natalie Bookchin & Alexei Shulgin
B. Specific Features of net.art
1. Formation of communities of artists across nations and
disciplines
2. Investment without material interest
3. Collaboration without consideration of appropriation of
ideas
4. Privileging communication over representation
5. Immediacy
6. Immateriality
7. Temporality
8. Process based action
9. Play and performance without concern or fear of historical
consequences
10. Parasitism as Strategy
a. Movement from initial feeding ground of the net
b. Expansion into real life networked infrastructures
11. Vanishing boundaries between private and public
12. All in One:
a. Internet as a medium for production, publication, distribution, promotion, dialogue, consumption and critique
b. Disintegration and mutation of artist, curator, pen-pal, audience, gallery, theorist, art collector, and museum
1. net.art at a Glance
A. The Ultimate Modernism
1. Definition
a. net.art is a self-defining term created by a malfunctioning
piece of software, originally used to describe an art and
communications activity on the internet.
b. net.artists sought to break down autonomous disciplines
and outmoded classifications imposed upon various activists practices.
2. 0% Compromise
a. By maintaining independence from institutional bureaucracies
b. By working without marginalization and achieving substantial audience, communication, dialogue and fun
c. By realizing ways out of entrenched values arising from
structured system of theories and ideologies
d. T.A.Z. (temporary autonomous zone) of the late 90s:
Anarchy and spontaneity
3. Realization over Theorization
a. The utopian aim of closing the ever widening gap between
art and everyday life, perhaps, for the first time, was
achieved and became a real, everyday and even routine
practice.
b. Beyond institutional critique: whereby an artist/individual
could be equal to and on the same level as any institiution
or corporation.
c. The practical death of the author
2. Short Guide to DIY net.art
A. Preparing Your Environment
1. Obtain access to a computer with the following configuration:
a. Macintosh with 68040 processor or higher (or PC with 486
processor or higher)
150
151
14. Form Art
15. Multi-User Interactive Environments
16. CUSeeMe, IRC, Email , ICQ, Mailing List Art
b.
c.
2.
a.
b.
c.
At least 8 MB RAM
Modem or other internet connection
Software Requirements
Text Editor
Image processor
At least one of the following internet clients: Netscape,
Eudora, Fetch, etc.
d. Sound and video editor (optional)
D. Production
3. What You Should Know
A. Current Status
B. Chose Mode
1.
2.
3.
4.
5.
1. net.art is undertaking major transformations as a result of
its newfound status and institutional recognition.
2. Thus net.art is metamorphisizing into an autonomous discipline with all its accouterments: theorists, curators,
museum departments, specialists, and boards of directors.
Content based
Formal
Ironic
Poetic
Activist
B. Materialization and Demise
C. Chose Genre
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
1. Movement from impermanence, immateriality and immediacy to materialization
a. The production of objects, display in a gallery
b. Archiving and preservation
2. Interface with Institutions: The Cultural Loop
a. Work outside the institution
b. Claim that the institution is evil
c. Challenge the institution
d. Subvert the institution
e. Make yourself into an institution
f. Attract the attention of the institution
g. Rethink the institution
h. Work inside the institution
3. Interface with Corporations: Upgrade
Subversion
Net as Object
Interaction
Streaming
Travel Log
Telepresent Collaboration
Search Engine
Sex
Storytelling
Pranks and Fake Identity Construction
Interface Production and/or Deconstruction
ASCII Art
Browser Art, On-line Software Art
152
153
a. The demand to follow in the trail of corporate production
in order to remain up-to-date and visible
b. The utilization of radical artistic strategies for product promotion
6.
7.
8.
9.
Invitations
E-mail
Airplane tickets
Money
4. Critical Tips and Tricks for the Successful Modern net.artist
5. Utopian Appendix (After net.art)
A. Promotional Techniques
A. Whereby individual creative activities, rather than affiliation to
any hyped art movement becomes most valued.
1. Attend and participate in major media art festivals, conferences and exhibitions.
a. Physical
b. Virtual
2. Do not under any circumstances admit to paying entry
fees, travel expenses or hotel accommodations.
3. Avoid traditional forms of publicity. e.g. business cards.
4. Do not readily admit to any institutional affiliation.
5. Create and control your own mythology.
6. Contradict yourself periodically in email, articles, interviews and in informal off-the-record conversation.
7. Be sincere.
8. Shock.
9. Subvert (self and others).
10. Maintain consistency in image and work.
1. Largely resulting from the horizontal rather than vertical distribution of information on the internet.
2. Thus disallowing one dominant voice to rise above multiple,
simultaneous and diverse expressions.
B. The Rise of an Artisan
1. The formation of organizations avoiding the promotion of
proper names
2. The bypassing of art institutions and the direct targeting of
corporate products, mainstream media, creative sensibilities
and hegemonic ideologies
a. Unannounced
b. Uninvited
c. Unexpected
3. No longer needing the terms "art" or "politics" to legitimize,
justify or excuse one's activities
B. Success Indicators: Upgrade 2
1.
2.
3.
4.
5.
Bandwidth
Girl or boy friends
Hits on search engines
Hits on your sites
Links to your site
C. The Internet after net.art
1. A mall, a porn shop and a museum
2. A useful resource, tool, site and gathering point for an artisan
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a. Who mutates and transforms as quickly and cleverly as that
which seeks to consume her
b. Who does not fear or accept labeling or unlabeling
c. Who works freely in completely new forms together with
older more traditional forms
d. Who understands the continued urgency of free two-way and
many-to-many communication over representation
US/Russia, 1999
(2)
Natalie Bookchin & Alexei Shulgin, Introduction to Net.art
(1994-1999), 1999. Quelle: http://subsol.c3.hu/subsol_2/
contributors/bookchintext.html
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Dieser Vertrag wurde am 23.11.1998 zwischen Holger Friese und
Max Kossatz (nachstehend Künstler genannt), wohnhaft in
Berlin und Wien, und Hans Dieter Huber (nachstehend Sammler
genannt), wohnhaft in Mannheim, geschlossen.
Präambel
Der Künstler hat ein bestimmtes Kunstwerk geschaffen
(nachstehend Werk genannt) bestehend aus:
1. Dem Domainnamen: antworten.de
2. Alle Scripte, Grafiken und html-Seiten, die zur Darstellung
des Werks nötig sind.
3. Einer Backup Festplatte
In keinem Fall sind die elektronisch erzeugten und elektronisch dokumentieren Zugriffe der Benutzer von
http://www.antworten.de/ Teil des Werkes.
(3)
Artist's Reserved Rights Transfer and Sale Agreement, Seth
Siegelaub, 24.02.1971. Quelle: http://www.fuenfnullzwei.de/
pieces/antworten/siegelaub.html
161
(a) Er muss einen Vertrag nach Inhalt und Form gemäß dem
unten wiedergegebenen, einen wesentlichen Bestandteil des
Vertrages bildenden Muster ausfüllen, datieren, selbst unterzeichnen und vom Erwerber des Werkes unterzeichnen lassen und den Vertrag innerhalb 30 Tagen nach erfolgter
Veräußerung, Übertragung oder Auszahlung der Versicherungssumme dem Künstler an dessen eingangs bezeichneter
Anschrift übergeben.
(b) Er muß innerhalb von 30 Tagen nach erfolgter Veräußerung 15% des erzielten eventuellen Mehrwerts (gemäß der
nachstehenden Definition) dem Künstler an dessen eingangs
bezeichneter Anschrift zahlen.
Der Künstler und der Sammler sind bereit, das Werk zu den
nachstehenden wechselseitigen Rechten, Pflichten und
Bedingungen zu verkaufen beziehungsweise zu kaufen. Sammler
und Künstler sind sich bewußt, daß der Wert des Werkes, anders
als bei einer gewöhnlichen beweglichen Sache, von anderen
Arbeiten des Künstlers beeinflußt wird, die dieser bereits
geschaffen hat oder noch schaffen wird. Auch wird der Wert des
Werkes durch den Sammler und den Ankauf beeinflußt.
Sammler und Künstler anerkennen, daß es richtig und angemessen ist, beide Parteien an einer auf diese Weise zustande kommenden Wertsteigerung seines Werkes teilhaben zu lassen. Die
Parteien wünschen, daß die im Werk zum Ausdruck gebrachten
Ideen und Aussagen des Künstlers erhalten bleiben und daß der
Künstler darauf durch seinen Rat Einfluß nehmen kann.
Auf Grund dieser Voraussetzungen und der nachstehenden
wechselseitigen Verpflichtungen schließen die Parteien diesen
Vertrag mit folgendem Vertragsinhalt:
Artikel 3 Preis/Wert
Der in den Vertrag einzusetzende Preis oder Wert ist
(a) der tatsächliche Verkaufspreis, wenn das Werk für Geld
verkauft wird, oder
(b) der Geldwert, wenn das Werk für eine geldwerte Gegenleistung getauscht wird, oder
(c) der gemeine Wert, wenn das Werk in anderer Weise veräußert wird.
Artikel 1 Kauf
Hiermit verkauft der Künstler und kauft der Sammler das Werk
zu den vertraglichen Bedingungen zum Preis von xxxxxxDM.
Artikel 4 Mehrwert
Artikel 2 Spätere Veräußerung
Der Mehrwert des Werkes im Sinne des Vertrages ist die
Differenz zwischen dem in einem ordnungsgemäß ausgestellten und übergebenen Vertrag angegebenen Preis oder Wert
und dem vorangegangenen ordnungsgemäß ausgestellten
und übergebenen Vertrag oder - wenn kein noch kein solcher
Für den Fall, daß der Sammler später das Werk verkauft, verschenkt, hergibt, tauscht, abtritt, überträgt oder in anderer Weise
veräußert, verpflichtet sich der Sammler oder sein persönlicher
Beauftragter zu folgendem:
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Vertrag vorhanden ist - dem in Artikel 1 dieses Vertrages angegebenen Preis oder Wert. Falls ein ordnungsgemäß ausgestellter Vertrag nicht fristgerecht gemäß Artikel 2 übergeben
wird, kommt der Mehrwert genauso zum Ansatz als wenn der
Vertrag ordnungsgemäß ausgestellt und übergeben worden
wäre, und zwar zu jenem Preis oder Wert, der dem gemeinen
Wert im Zeitpunkt der erfolgten Übertragung oder Ihrer Entdeckung entspricht.
Geschichte und das rechtmäßige Eigentum des Sammlers
und seiner Nachfolger am Werk schriftlich bestätigt und auf
billiges Verlangen des Sammlers eine solche Bestätigung
auch an Kritiker und Privatgelehrte ausstellt. Die genannten
Verzeichnisse sind und bleiben ausschließlich Eigentum des
Künstlers.
Artikel 7 Ausstellungen
Artikel 5 Eintritt der Erwerber in den Vertrag
Künstler und Sammler vereinbaren folgendes:
Der Sammler verpflichtet sich, das Werk nur dann zu verkaufen, verschenken, tauschen, übertragen oder in anderer
Weise zu veräußern, wenn der Erwerber alle Bedingungen
dieses Vertrages vorher anerkennt und bestätigt, sich als an
den Vertrag gebunden erklärt und sich durch die Unterzeichnung eines ordnungsgemäß ausgestellten und übergebenen
Vertrages verpflichtet, die hierin genannten Verpflichtungen
des Sammlers zu übernehmen und zu erfüllen.
Als Ausstellung ist definiert
(a) im realen Raum: Die Ausstellung der Back-Up-Festplatte
sowie die Verfügbarmachung des elektronischen Teils des
Werks mittels Computern oder jeder anderen Form der
Präsentation.
(b) im virtuellen Raum: Die Einbindung des Werkes in eine
andere Oberfläche.
Artikel 6 Herkunft
Als Ausstellung gelten nicht: Die bloße Erreichbarkeit des
Werkes über elektronische Netze sowie ein reiner Verweis auf
das Werk (Hyperlink).
Der Künstler verpflichtet sich, daß er selbst ein Verzeichnis
aller Übertragungen des Werkes führt, für die ein Vertrag
gemäß Artikel 2 ausgestellt wird, und auf Verlangen des
Sammlers oder dessen nachweislichen Nacheigentümern
diesen schriftliche Angaben über Geschichte, Herkunft und
Weg unter Heranziehung des genannten Verzeichnisses und
der von den Sammlern gemachten Mitteilungen über vorgesehene öffentliche Ausstellungen gibt, ferner die Herkunft, die
Künstler und Sammler vereinbaren folgendes: Der Sammler
muß den Künstler schriftlich davon unterrichten, wenn er das
Werk ausstellen oder ausstellen lassen will, und muß dem
Künstler alle Einzelheiten über eine solche vorgesehene
Ausstellung mitteilen, soweit sie der Aussteller dem Sammler
bekanntgegeben hat. Diese Unterrichtung des Künstlers
muss erfolgen, bevor dem Aussteller zugesagt oder der
Offentlichkeit bekanntgegeben wird, daß der Sammler das
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Werk öffentlich ausstellt oder ausstellen läßt. Der Künstler
teilt sodann innerhalb von zwei Wochen dem Sammler und
den Aussteller alle Anweisungen und Wünsche mit, welche
die vorgesehene Ausstellung des Werkes betreffen. Der
Sammler darf das Werk nur dann öffentlich ausstellen oder
ausstellen lassen, wenn die Bedingungen diese Artikels erfüllt
sind.
Artikel 9 Keine Änderungen
Der Sammler verpflichtet sich, jegliche vorsätzliche
Zerstörung, Beschädigung oder Veränderung des Werkes zu
unterlassen. Hiermit ist insbesondere die Verpflichtung zur
rechtzeitigen und vollständigen Begleichung der Ansprüche
des Providers oder den Verwaltern des Domainnamens (hier
De-Nic, oder dessen Rechtsnachfolger) in Bezug auf den
Erhalt des Domainnamens festgeschrieben. Der Sammler hat
das Recht, die Arbeit jederzeit vom Netz zu nehmen sowie
den Domainnamen zu kündigen. Bei Absicht der Kündigung
des Domainnamens durch den Sammler ist der Künstler im
Voraus rechtzeitig zu benachrichtigen. Er hat dann das Recht,
den Domainnamen wieder zu übernehmen. Ab dem Zeitpunkt
der Übernahme des Domainnamens durch den Künstler ist
der Künstler für die Begleichung der anfallenden Kosten verantwortlich.
Unterbleibt eine fristgerechte Äußerung des Künstlers auf
eine fristgerechte Mitteilung des Sammlers, so gilt dies als
Verzicht des Künstlers auf seine ihm aus diesem Artikel
zustehenden Rechte hinsichtlich der fraglichen Ausstellung,
so daß die Zustimmung des Künstlers zu der Ausstellung und
zu allen Einzelheiten, von denen der Künstler rechtzeitig
unterrichtet wurde, als gegeben zu erachten ist.
Artikel 8 Verfügungsanspruch des Künstlers
Künstler und Sammler vereinbaren, daß der Künstler das
Recht hat, nach einer dem Sammler spätestens 120 Tage vor
dem vorgesehenen Versandtage zugegangenen schriftlichen
Mitteilung höchstens 60 Tage über das Werk zu dem alleinigen Zweck zu verfügen, durch oder über eine öffentliche oder
gemeinnützige Institution ohne jegliche Kosten für den
Sammler öffentlich auszustellen. Der Sammler kann den
Nachweis verlangen, daß ein ausreichender
Versicherungsschutz besteht, daß die Transportkosten im
Voraus bezahlt sind und daß alle sonstigen finanziellen
Voraussetzungen erfüllt sind. Der Verfügungsanspruch des
Künstlers an dem Werk beschränkt sich auf den Zeitraum von
höchstens 60 Tagen alle fünf Jahre.
Artikel 10 Reparaturen
Der Sammler verpflichtet sich, im Falle einer Beschädigung
des Werkes den Künstler vor Inangriffnahme der Reparaturoder Restaurierungsarbeiten zu konsultieren und ihm soweit
möglich die Gelegenheit zu geben, die erforderliche
Reparatur oder Restauration selbst vorzunehmen.
Artikel 11 Mieten
Erlangt der Sammler einen Geldanspruch als Miete oder sonstiges Entgelt für die Verwendung seines Werkes auf einer
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öffentlichen Ausstellung, so muß der Sammler von dem eingenommenen Geld (abzüglich der Kosten für Provider und
Domainnamenverwaltung für diesen Zeitraum) innerhalb von
30 Tagen, nachdem es an den Sammler zahlbar geworden
ist, die Hälfte an den Künstler zahlen. Gleiches gilt umgekehrt
auch für den Fall, daß der Künstler eine Mieteinnahme oder
ein sonstiges Entgelt durch die Ausstellung des besagten
Werkes erzielt. Auch hier ist innerhalb von 30 Tagen nach der
Zahlung an den Künstler die Hälfte an den Sammler zu zahlen.
Artikel 13 Hinweis
Künstler und Sammler vereinbaren, daß am Werk ein Hinweis
über das Vorhandensein diese Vertrages dauerhaft anzubringen ist. Dieser Hinweis muß die Form des nachstehenden,
einen wesentlichen Bestandteil des Vertrages bildenden
Musters haben und darauf hinweisen, daß Eigentum, Übertragung, Ausstellung und Reproduktion des Werkes den Bestimmungen dieses Vertrages unterliegen. Da das Werk derart
beschaffen ist, daß der Auszug aus der Datenbank des
Domainnamen- Verwalters (De-Nic) als integraler und unveräußerlicher Bestandteil des Werkes erachtet wird, genügt es,
wenn der Hinweis dauerhaft mit diesem Auszug verbunden
wird.
Artikel 12 Reproduktion
Alle Rechte an einer Kopierung oder Reproduktion des
Werkes gehen auf den Sammler über. Der Sammler darf seine
Zustimmung zu einer Reproduktion des Werkes in Katalogen
oder für ähnliche, mit einer öffentlichen Ausstellung des
Werkes zusammenhängende Zwecke ohne wichtigen Grund
nicht versagen. Der Künstler verpflichtet sich, keine weiteren
Kopien der Arbeit (außer einer privaten Sicherungskopie)
anzufertigen, aufzubewahren, öffentlich auszustellen, zu veräußern oder sonstwie zu verbreiten. Die persönliche
Sicherungskopie darf weder vervielfältigt, noch ausgestellt,
noch veräußert noch sonstwie in der Öffentlichkeit präsentiert
werden. Sie ist nach dem Tode des Künstlers zu vernichten.
Das einzige Original der Arbeit ist somit der im Besitze des
Sammlers befindliche Domainname plus der signierten und
datierten Back-Up-Festplatte, auf der alle Scripte, Grafiken
und html-Seiten zur Darstellung des Werks gespeichert sind.
Artikel 14 Dauer
Die Pflichten des Sammlers haften am Werk und gelten bis
21 Jahre nach dem Tode des Künstlers beziehungsweise,
jedoch mit der Ausnahme, daß die Verpflichtungen gemäß
Artikel 7 nur während der Lebenszeit des Künstlers bestehen.
Artikel 15 Keine Berufung auf Verzichte
Verzichtet eine Partei auf ein ihr zustehendes vertragliches
Recht, so gilt dies nicht als eine andauernder Verzicht, der
eine spätere Geltendmachung eines solchen Rechtes ausschließt. Unterläßt es eine Partei, auf der strikten Erfüllung
durch die andere Partei zu bestehen, so darf sich die andere
Partei nicht darauf berufen, daß dadurch auch auf die spätere
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Erfüllung dieser oder einer anderen Verpflichtung verzichtet
werde; vielmehr bleiben alle vertraglichen Verpflichtungen voll
in Kraft.
(5)
Artikel 16 Vertragsänderungen
Jede Beendigung oder Änderung dieses Vertrages muß
schriftlich erfolgen und von beiden Parteien unterzeichnet
werden.
Zur Bestätigung des Vorstehenden haben die
Vertragsparteien diesen Vertrag am eingangs bezeichneten
Tage unterschrieben.
Holger Friese und Max Kossatz Schönfließer Straße 1 10439
Berlin
Hans Dieter Huber Grillparzerstr. 5 68167 Mannheim
(4)
Vertrag antworten.de, 23.11.1998
Quelle: http://www.inmeinernaehe.de/502/vertrag.html
170
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Internet arbeitet, beziehen wir uns auf zwei Texte des Kataloges. Vor allem angeregt hat uns vermöge seiner international recherchierten Offenheit und Kompetenz die
Untersuchung von Margit Rosen «Die Maschinen sind angekommen». Peter Weibel stellt mit einem, über dem Kriterium
der Programmiertheit formulierten, Modell «K hoch 8» die
ganz neue Ausgangslage her.
Von den frühen Computerzeichnungen zu
Bilderchat und anderen Netzkunstaffairen
Nachfolgend unsere Skizze in drei Schritten.
Schritt 1.
Wir sprechen, zusätzlich zur Werke schaffenden Kunst, vom
Begehren des Künstlers nach Botschaft, von Kunst als
Austausch - das ist Kunst ohne Publikum und ohne
Werkproduktion.
Künstlerische ‚Visuelle Forschung‘ war nicht nur ein erfolgreiches Label einer in den 60er Jahren im blockfreien Zagreb
gewachsenen zwölfjährigen Ausstellungs-Plattform von acht
internationalen Kunstbewegungen ‚Nove tendencije‘, zugleich
war es Kennzeichen einer künstlerischen Epoche, zeitgleich
mit der Wissenschaftsgesellschaft.
Nach 7 Jahren Aktivitäten von sieben künstlerischen Richtungen luden die Zagreber Kuratoren 1968 als achte
Bewegung die neuen Computerkünstler und ihre Informationsästhetik ein, „kompjuteri i vizuelna istrazivanja“. Faktisch
boten diese in der Mehrzahl aber nur Erfüllung der schon vorhandenen künstlersischen Ideen, statt eines gewünschten
Aufbruchs. Von heute aus gesehen war das internationale
Zusammentreffen jedoch der konstituierende Schritt für die
erfolgreiche Verbindung von Kunst und Computer.
Zu neuen Ufern, denen der Interaktivität, brachen Kunst und
Computer anderenorts auf. Gleichwohl war zur Zagreber
Plattform, neben dem proklamierten Projekt ‘visueller
Forschung‘ (Künstler als Forscher) Interaktivität als ‚Parti-
Kurd Alsleben,
Antje Eske
Von der alten Kunstgeschichte bis zur autonomen Kunst fehlt
es nicht an Referenzen für Künste des Austauschens, der
Sozialität. Gerade jetzt bietet eine Ausstellung des ZKM
Karlsruhe, «bit international. [Nove] tendencije - Computer
und visuelle Forschung. Zagreb 1961-1973», davor in Graz,
die Möglichkeit, solche Kunst ohne Publikum auch im Rahmen der Gegenwartskunst abzuleiten, in drei Schritten:
(1.) Kunst nimmt den Computer an,
(2.) der Computer entfaltet Interaktivität in der Medienkunst,
(3.) mit dem Netz entwickelt sich eine Kunst als Austausch.
Neben den Exponaten der Grazer Ausstellung, die Darko Fritz
kuratierte, der ebenso wie Margit Rosen sagt, Kurd Alsleben
sei der einzige der 1960er Tendencije-Künstler, der heute im
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
zipationskunst‘ von Karl Gerstner schon entwickelt und
‚Austausch‘ von Kurd Alsleben / Cord Passow prospektiv
bereits erfahren. Beides fand sich im vierstufigen Modell der
Kybernetik 1964 von Helmar Frank theoretisch erklärt. Helmar
Frank ist einer der drei Begründer der Informationsästhetik,
der diese mathematisch entwickelte.
Schritt 2.
Interaktivität zwischen Mensch und Maschine breitete sich
als Idee und Praxis von den USA ausgehend (J.C.R. Licklider)
ab 1960 paradigmatisch aus. Also wurde der Unterschied zu
zwischenmenschlicher Interaktion schliesslich mental unwahrnehmbar. In der Medienkunst entwickelte sich mit dieser
Idee die Interaktive Kunst vom ‚Partizipant‘ zum ‚Interaktor‘.
Im zagreber Verständnis des Künstlers als Forscher wurde ab
1992, Science-fiktion fortschreibend, ‚künstliches Leben‘ thematisiert und demonstriert.
Zur genannten Prospektierung von ‚Austausch‘ sei ausgeführt, dass um 1960 Digitalcomputer mit Dialogverarbeitung
begannen und Analogcomputer auf dem Markt überholten.
Kurd Alsleben erinnert sich, sein Freund Cord Passow arbeitete damals mit einem Analogcomputer, die per se interaktiv
sind. Wir wollten freie Zeichnungen mit ihm machen. Cord
machte per Potentiometer mathematische Eingaben. Kurd,
ich stand seitlich am Plottertisch und sah das Zeichnen. Für
mich Laien war der Computer keine Rechenmaschine, sondern gemäss damaligem Common sense eine Denkmaschine
mit hoher Komplexität, der ich Wahrnehmungen innerer
Befindlichkeit zutrauen konnte. Tatsächlich zeichnete das
Wesen auch, spontan nicht erklärbare, Unregelmässigkeiten.
Ich soll, nach Cords Erzählung, aufgeregt immer wieder neue
Eingaben von ihm verlangt haben. Das Erlebnis hatte für mich
zwei Folgen. Einmal die Idee, den Computer zur
Verbesserung des Austausches meine ästhetischen
Wahrnehmungsweisen als phänomanale Metriken zu lehren,
ein Projekt zu dem mir die Kompetenz fehlte. Die zweite wirkungsreiche Folge war, dass ich Künstlerautor mich in der
Kunst in einer dialogischen Situation als Botschaft
Begehrenden beobachtete. Die gültige Künstlerrolle stimmte
nicht mehr.
Ideen zu Hypertextnetwork und Hypertextmedia von Ted
Nelson, in dem manche den Cézanne unserer Tage erkennen,
mögen hier eine der Medienkunst zeitlich parallele andere
Richtung der Entwicklung kennzeichnen, in der Künstler sich
nicht als Erkenntnissuchende verstanden, sondern sich in
einem erweiterten Kunstbegriff (Beuys) mit dem Neuentwickeln von Kommunikation und deren umfassenden Auswirkungen beschäftigten.
In diese Richtung strebten wir in der Visuellen Kommunikation der Hamburger Hochschule für bildende Künste. Im
Kontext des emanizipatorischen Feldes der sozialen
Bewegungen gelang es Anfang der 70er Jahre, das über alle
ideologischen Fraktionen hinweg herrschende SenderEmpfänger-Modell ‚Kommunikationskette‘, mit ihrer Analogie
zum gültigen Modell Künstler-Werk-Publikum, in Frage zu
stellen und zu überwinden, denn Kommunikation wurde so
von uns nicht erfahren. Uns gelang ein Verknüpfen zwischen
den sozialen Bewegungen und (anthropologisch ansetzender)
Kybernetik.
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http://www.uni-hamburg.de/Kunstgeschichte/2008ShortguideNetart.html
Antje Eske erinnert sich: bei meinem Versuch, den einseitig ausgerichteten Formen der Vermittlung von Lehrer --> Schüler, die
in den 60ern an Werkkunstschulen praktiziert wurden, zu entwachsen, landete ich 1966 an der HbK in Hamburg und kam
mitten hinein in eine Umbruchphase, die gradewegs auf die
Studentenrevolte zusteuerte. Begeistert ließ ich mich auf die
Auseinandersetzungen in Gruppen und die Gruppenarbeit ein,
die neue Vermittlungsformen und Neubegründung von Autorität
zur Folge hatten. Von 1969 bis 71 war ich allein in 17
Arbeitsgruppen engagiert. Ich lebte in Wohngemeinschaften,
initiierte Haus- und Arbeitsgemeinschaften, wobei wir alle
Aspekte dieses neuen Miteinanderumgehens zu vereinen suchten, sowohl den themenbezogenen, den sozialen, den psychologischen als auch den politischen. Der ganzheitliche Traum der
daraus erwuchs, hieß: „Zusammen leben und zusammen arbeiten“. Mit Kurd verwirkliche ich ihn seit nunmehr 30 Jahren.
Sieben Jahre arbeiteten wir an Handlungsmedien, die über
Austausch mediens Verzettelungen, verzweigenden Lehr/
Lernmaschinen, Randlochkarten, Sammlungen in Umordnern zu
Handlung führen sollten, wir richteten eine Sofortmedienwerkstatt ein und schnitten den Büchern den Rücken ab. Aus den
Erfahrungen entstanden die Parolen „Ich weiss allein nicht weiter. Wie wäre es denn schön?“, „Alles ist zu sehen“, „Wir suchen
nach Wegen“, „Den Betroffenen die Medien in die Hand geben!"
und „Kunst als Verkehr“ sowie die Begriffe „Anderweite“ und
„Antwortnot“.
Eine Computerei mit LAN und der Software HyperCard in der
Kunsthochschule einzurichten, gelang in den 1980er Jahren. Als
Akteure der Hamburger Datenkunstbewegung waren wir an der
damaligen Pro-und-Contra-Debatte ‚Computer als Werkzeug\
Computer als Medium‘ beteiligt. (Die heftigen öffentlichen
Debatten entpuppte sich später als Marketing-Kampagne)
Die Rolle des Künstlers im Austauschen ruft Fragen nach seinem Expertsein herauf, die wir mit einer Laikologie ansatzweise beantworten können. Kunstaffairen laufen nicht speziell
unter Künstlern, Beteiligte sollen ja Angehörige eines jeden
Berufes sein (vgl. Eberhard Schnelle Im INTERFACE3-network 1995).
Schritt 3.
Austausch. In der Gegenwart reüssiert die Netzkunst.
Gegenüber Linearperspektive oder Pyramide ist Netz eine
Verknüpfungsräumlichkeit. Bedeutung der zeittypischen NetzSemantik ist, bezogen auf Menschen, Austausch. In der
Netzkunst sind mutuelle Formen gesamtsensorischen
Austauschens mehrerer Personen untereinander verwirklicht –
nicht privat, nicht öffentlich, sondern im offiziösen Raum. Der
Netzkünstler ist kein Produzent, auch kein Koproduzent und
auch kein Moderator. Er begehrt Botschaft. „Dies ist vielleicht
das, was der Kunst zugrunde liegt, kairós als Zeit der geteilten Bedeutung“ (Bernhard Taureck).
Die Ästhetik, als Lehre von den Künsten verstanden, wird
sich unter Umständen gegenwärtig mit neu konstituierten
Sinnesorganen beschäftigen: dem in der Mitte des vorigen
Jahrhunderts auftretenden Gedankensinn (vgl. den Künstler
Marcel Duchamp), als auch mit dem ästhetischen Sensus
communis, der der Netzkunst zu Grunde liegt. Wir begreifen
ihn als Sozialitätssinn. Bei allem selbstorganisierenden
Kultivieren (kulturelle Bewegungen) wird er mit ‚gesundem
Menschenverstand‘ und ‚Anerkennen‘ die Grundlage für den
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Austausch sein.
Wir stellen die Netzkunst hier so dar, als herrsche Konsens
darüber, den Austausch oder allgemeiner Kommunikation als
ihren basalen Sinn zu verstehen. Das ist unsere Auffassung,
doch gibt es ausser eigener Erfahrung dafür auch Stimmen
anderer (vgl. Baumgärtel 2006).
Im NetzkunstWörterBuch hat Heiko Idensen, der selbst mit
seinem frühen Pool-Processing eher Austausch als
Produktion betrieb, über das ‚Electronic Café‘ 1984 in San
Francisco geschrieben. Das früheste grafische Multi User
Dungeon ‚Habitat‘ von 1984 wird im selben Buch beschrieben. Zweifellos sind beides Austausche, ebenfalls Detlev
Fischers kollaborative Software ‚Schwamm‘ in 17 HyperCardStapeln von 1988/89ff. Insbesondere sind Stefan Becks
‚multi.trudi‘ seit den 1990er Jahren faktisch Austausche, auch
Parc Fiction in Hamburg kann so verstanden werden. Die
neuste Software von Steffi Beckhaus und ihrer Gruppe an der
Informatik der Universität Hamburg, erwirkt ebenso
Austauschaffairen. Das sind ein paar Fälle, um diesen 3. Teil
unserer Skizze zu beleuchten.
Auffällig an einer Affaire ist der Zeitsprung, also eine
Sequenz, in der im Kurzzeitgedächtnis ausschließlich
Informationen eines begrenzten Bedeutungsfeldes gehalten
werden. Der Spieler kennt es, der Forscher auch, die schöpferische Situation ist so. Kunstbezogen gibt es keine Rollen
im Sinne von Künstler und Publikum. Es geht auch nicht um
Erkenntnis, sondern um Sozialität. Jeder sinnt zwanglos dem
Anderen seine Lebensform an (Heidi Salaverría). Wohin eine
Affaire führt, weiß niemand von vornherein. Kunstaffairen werden nicht produziert - sie werden angebahnt, eingefädelt,
angesponnen oder man ergreift sie, kairós, beim Schopfe. Sie
sind zwanglos, interesselos und agieren im Feld ästhetischen
Sensus communis. Informationsärmer kennt man das von
smalltalk oder Geselligkeiten.
Antje Eske pflegt seit 2001 in der Social softwar Swiki regelmäßig Bilderchats, die auf ihre jahrzehntelangen Austausche
im Medienwechsel ab den 70ern bis 2007 zurückgehen.
Lange Jahre schon unter Anderen mit Georg Nees.
Unausweichlich wichtig war auch für uns, die Netzkunst mit
der Kunstgeschichte zu verbinden. 1999 bereiteten wir, unterstützt von Matthias Meyer und Angela Mrositzki, einen internationalen IRChat entlang der Sala delle Veglie in
Urbino/Italien. Dieser Chat am Ursprungsort der neuzeitlichen
Konversationskunst, zwischen 1503 und 1508, verkörpert uns
den historischen Zusammenhang. Während des vorbereitenden Besuches erlebten wir dort damals ein Erdbeben und
flüchteten nach Mailand – Antje: „Was auch immer kommt,
wir machen es auf alle Fälle“.
Affaire ist ein Wort, das sich inzwischen in der Kunst gut
bewährt hat. Es ist immer eine Affaire zwischen Menschen. In
der Regel sind es mehr als zwei Personen, denn solches
wäre eher eine Liebesaffaire. Der Raum für Kunstaffairen ist
weder privat noch öffentlich, sie werden im offiziösen Raum
angebahnt. Sind der Beteiligten zu viele, wird der Umgang
miteinander unpersönlich. Wir nennen solche offiziöse
Gruppe ein Consort in Anlehnung an eine Bezeichnung aus
barocker englischer Kammermusik; entsprechend sind die
Kunstbeteiligten die Consorten.
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In der Kulturgeschichte weist, an Urbino anknüpfend, eine
200 Jahre währende kulturelle Epoche die Suche nach neuen
Formen menschlicher Kommunikation und Nähe aus: die
französiche Salonkultur des 17./18. Jahrhunderts. In der
REGELmäßigkeit der Salons fand eine Erneuerung zwischenmenschlicher Verbindungen und Verbindlichkeiten menschlicher Kommunikation statt. Hier liegt wiederum unsere Anknüpfung einer veränderten Kunstauffassung über ‚autonome
Kunst‘ hinaus, die neben der Erschaffung von Werken für
Publikum das Kunstniveau vernetzter Konversationen erkennt
und will.
Damals überschnitten sich die Zirkel der einzelnen Salons
und zu den Habitués gehörten viele ausländische Besucherinnen und Besucher, so dass im Laufe von zwei Jahrhunderten europaweit ein internetähnliches, kulturelles Netz entstand.
Ausschnitt aus einem bisher unveröffentlichten Interview mit
Antje Eske und Kurd Alsleben,
geführt von Torsten Rackoll am 2.4.2008
[...]
Torsten: Das fand ich ganz schön: Ich weiß gar nicht mehr,
wo ich das aufgeschnappt habe. Von dir war, glaube ich,
dass „Hypertext Ausdruck ist“. Also in gewisser Weise, dass
Hypertext auch eine Form ist. Nicht eine technische Sache,
sondern eben ein künstlerischer Ausdruck.
Die Semantik Netz unserer Zeit ist vorwiegend technisch
begründet, die Bedeutung ist aber gleichermaßen sozial, so
dass wir unter Netzkunstaffairen sowohl Affairen mediens
Internet als auch visavis verstehen müssen. Dass die technischen Medien Computer und Netz, mit ihren Ubiquitäten,
Verlinkungen und hypermedialen Ausdrucksmöglichkeiten
entscheidende Impulse in den zwischenmenschlichen
Umgang gebracht haben und so rückwirkend Einfluss auf das
Soziale nehmen, ist offenbar. Dieser Austausch vermag sich
sowohl verstärkend als auch befreiend hinsichtlich fabrizierter
Common senses auswirken.
Kurd: Ja.
Antje: Stimmt. Also eine Ausdrucksform.
Kurd: In diesem Sinne könnte man auch sagen, dass der
Computer eine Sprache ist. ...das ist jetzt ein bisschen metaphorisch. Aber weil er eben Ausdrucksformen hat, die eigen
und besonders sind: den Link. So kann man das schon
sagen. Dass das so ein eigenes Zeichensystem enthält,
...multimedial, wie man sagt. Aber der Link ist eben eine eigene Ausdrucksmöglichkeit, ein eigenes Medienformat. ...das
ist banal, nicht? Der Link ist nicht dazu da, es komfortabler
(6)
Auszug aus Alsleben/Eske (Hg.): Siebenundzwanzig bremer
Netzkunstaffairen. Edition kuecocokue, erscheint im Juni
2008
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zu machen. Klick und dann kommt von hinten etwas heran,
wie es, sagen wir mal, das Internet eigentlich ursprünglich
gemacht hat und der Sinn des Internet wohl auch war: das
Komfortable. Du holst dir von fern her einen Text und hast ihn
dann da. ...das kann man jetzt nicht mehr sagen. Das ist ja
alles schon recht verwachsen. Wenn du jetzt klickst, wenn du
browserst, ist das ein ganz anderes Verhalten. ...auch nicht
mehr, dass du dir jetzt etwas von weit her holst. Das ist es ja
nicht mehr bloß. Aber ursprünglich war es schon so. Und wir
hatten ja mit dem Hypertext etwas anderes gemacht. Im
Sinne von ‚gemacht‘, ...eine Formulierungsweise. Dieser
Ansatz ist leider erst einmal verloren gegangen mit dem
Internet. ...im Internet waren die Intentionen andere. Eben
die, etwas ranzuholen und nicht, damit eine Formulierung zu
finden. Also, dass der Link, dass die Bedeutung des Links
wichtig ist. Nicht bloß seine technische Fähigkeit oder die
Komfortabilität, etwas heranzuziehen, sondern seine
Bedeutung. An der Stelle bedeutet es etwas. Du gehst der
Bedeutung nach oder nicht. Heute ist das ganz anders.
hast du ja sonst auch nicht. Wenn du ein Buch hast, dann
musst du jetzt noch eine CD dazutun. Aber du kriegst es nie
so direkt zusammen. Das ist noch eine andere Verständigungsoder Austauschmöglichkeit.
Kurd: Das hast du ja im Internet so auch nicht. ...da musst du
etwas programmieren. Sagen wir mal Swiki oder Wiki, ...da
kannst du jetzt etwas reinschreiben. Aber wenn du bloß
Typografisches verändern willst, ist das schon recht mühsam.
Du schreibst, dann mußt du etwas davor setzen und so weiter.
Dann mußt du erstmal eine Vorschau angucken und so weiter... Das war beim HyperCard – natürlich war das eine
Vorstufe – direkter. Da konntest du richtig anschaulich formulieren.
Antje: Was auch noch ganz interessant ist, ist die
Spamwelle....
Kurd: ...natürlich kannst du Bilder ins Netz stellen oder
Filmstückchen...
Antje: Ja, einmal das. Und: Wir hatten ja früher dieses
HyperCard. Das war unheimlich schön, mit diesen Links zu
arbeiten. Aber das ist dann irgendwann eingestellt worden.
Das gab es dann nicht mehr. Ich hatte dann mit Hyperstudio
weitergemacht. Aber...
Antje: ...du kannst auch Links machen, von irgendwo nach
irgendwo.
Kurd: Aber ... es lohnt sich nicht, das zu programmieren. Und
du selbst kannst nicht einfach HTML programmieren. Wer kann
denn das? ...wenn einer rankommt an irgendeine Stelle, dann
klingt eine Marginalie auf. Natürlich kann das ein professioneller Seitengestalter. Aber ich zum Beispiel nicht. Wer kann das
schon? Das heißt, du kannst also nicht das, was wir mit Volker
[Volker Lettkemann, Anm. des Verf.] gemacht haben. ... Wie
lang habt ihr das gemacht? Jahrelang bestimmt...
Kurd: ...im Netz gab es das überhaupt nicht: HyperCard. Das
ist eine Legende.
Antje: Was ja auch noch wieder anders ist, sowohl im Netz
als auch in HyperCard oder Hyperstudio, dass du eben multimedial arbeiten kannst, mit Tönen, Bildern und Texten. Das
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Antje: ...5 bis 10 Jahre.
Kurd: ...10 Jahre – ein Austausch...
Antje: Ewig lange. Dann mal eine Pause, dann wieder angefangen. ...mit HyperCard über das Komische, was ich vorhin
schon gesagt hab.
[...]
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