lebenswege von auswanderern

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lebenswege von auswanderern
04
Interdisziplinäres Studienprojekt
Migration
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Career Service und Historisches Seminar
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Seminar !"#$ %
Editorial
1
3
&'"!( &' Einleitung
5
)*+% Wir über uns
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Auswanderung in Richtung Osten im 18. und 19. Jahrhundert
Hintergrund
18
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Über Tiflis und Kasachstan zurück zu den Wurzeln der Vorfahren
Lebenswege
21
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Donauabwärts in Richtung Osten – unterwegs im 19. Jahrhundert
Zeitreise
24
! "., & %"#3 Auswandern nach Übersee im 19. Jahrhundert barg viele Gefahren in sich
Zeitreise
26
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Die Geschichte der Brüder Otto und Erwin Küenzlen aus Besigheim
Lebenswege
28
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Michael Lutz – ein Ofterdinger sucht sein Glück in Amerika
Spurensuche in Archiven
32
* **&53.
Kirchen- und Gemeindearchive bergen Schätze für die Personenrecherche
Spurensuche in Archiven
36
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Bremerhaven – Geschichte der Stadt ist eng mit der Auswanderung verbunden
Hintergrund
39
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
-1-
Seminar ) &6,&!
Edith Fuhrmann erzählt Auswanderergeschichten aus ihrer Familie
Lebenswege
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Susi und Peter Buschbacher aus Syracuse, USA
Lebenswege
1
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Susi and Peter Buschbacher , Syracuse, USA
Interview im englischen Original
43
45
47
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Deutsche Einwanderer in Brasilien im 19. und 20. Jahrhundert
Hintergrund
51
*3&* &"*
Ernesto Edele erzählt die Migrationsgeschichte seiner Mutter
Lebenswege
54
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Mirian Stoll: Brasilien ist ihre Heimat, Deutsch ihre Muttersprache
Lebenswege
58
1 )",!7.*%**)2
Svitlana Burmey: Die Ukrainerin arbeitet in Böblingen als Deutschlehrerin
Lebenswege
61
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Sultan Braun – ein Gespräch mit der Reutlinger Integrationsbeauftragten
Lebenswege
63
"!"*7,.. Tübinger Passanten sagen, was Migration und Integration für sie bedeuten
Umfrage
66
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Hintergrund
69
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73
74
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
-2-
Seminar Migration gestern und heute: Lebensgeschichten boten Halt im Datendschungel
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Das Seminar „Lebenswege von
Auswanderern“ war ein Pilotprojekt. Das
Ziel war, die historische Auswanderung aus
Deutschland mit dem gewaltigen
Themenfeld Migration weltweit zu
verknüpfen und dabei die Brücke zum
Thema Ein- und Auswanderung heute nicht
aus dem Blick zu verlieren. Würde die
Eingrenzung gelingen, der „rote Faden“
erkennbar bleiben?
Verbindung zwischen den ganz
persönlichen Lebensstationen
veranschaulichten auf Anhieb, das auch für
uns selbst galt, was Theresa Köckeritz und
Wolfgang Baum in ihrem Vorwort im
Anschluss an diesen Text formuliert haben:
„Migration ist ganz normal. Das war unser
Ausgangspunkt.“
Unsere Recherchereisen führten uns durch
Wissenswelten, Faktenfluten, durch das
Internet, verstaubte Kirchenregister und
durch unsere eigene Phantasie. Am
Wegesrand lag historisch Bedeutsames wie
Banales, Allgemeingültiges wie zutiefst
Persönliches. Auch ich bin beeindruckt,
was die Autorinnen und Autoren hier für
diese Seminarzeitung erarbeitet und in
Worte und Bilder gefasst haben. Fülle und
inhaltliche Vielfalt auf den folgenden Seiten
geben zumindest ein Stück weit die
Intensität wieder, die diesen Kurs geprägt
hat.
Vom Start weg hatten wir uns einen dicken
Packen Recherchearbeit vorgenommen.
Die Lebenswanderungen Einzelner standen
im Mittelpunkt und boten Halt im
Datendschungel: Für die Teilnehmerinnen
und Teilnehmer des interdisziplinären
Studienprojektes galt es, einzelnen
Lebenswegen nachspüren, innerhalb und
außerhalb unserer nur sechs Präsenztage
Interviews zu führen, historischen
Hintergrund zu erarbeiten und die
Ergebnisse am Ende in Texten und Bildern
in einer Seminarzeitung zu präsentieren.
Und so ganz „nebenher“ noch ganz normal
weiter zu studieren, Klausuren und
Hausarbeiten zu schreiben.
Mein Dank gilt daher zunächst vor allem
den Studierenden selbst. Das dicke
(Arbeits-) Ende dieses Seminars fiel
zusammen mit dem Ende des Semesters.
Zum Teil aufwändige Recherchen mussten
abgeschlossen und in Texte umgesetzt
werden, während gleichzeitig zwei oder gar
drei Klausuren pro Woche in den jeweiligen
Studienfächern Energie, Zeit und
Aufmerksamkeit forderten. Das
„Lebenswege“-Redaktionsteam hat sich
gegenseitig den Rücken gestärkt und tolle
Arbeit geleistet.
Einige wenige sprangen ab. Alle anderen
hielten bei der Stange - und gleich mehrere
stellten in der Seminarkritikrunde beim
letzten Treffen verblüfft fest: „Ich hätte am
Anfang nie gedacht, dass wir soviel
Material, so viele interessante Geschichten
zusammentragen werden!“ Das galt für die
Lebenswanderungen fremder, zum Teil
längst gestorbener Personen, aber auch
und gerade für die eigenen: Der Funke
sprang schon bei der Kennenlern-Runde
über: In wechselseitigen Interviews stellte
sich rasch heraus, was für ein buntes
Völkchen sich da in der ehrwürdigen
Bibliothek des Historischen Seminars
getroffen hatte. Eine Weltkarte, ein paar
Nadeln und bunte Wollfäden als
Herzlich danken möchte ich an dieser Stelle
allen Gästen, Interview- und
Gesprächspartnern unseres Seminars: Dr.
Ulrich Küenzlen und Hermann Griebel aus
Mössingen und Belsen, Mirian und Hans
Stoll sowie Dr. Gerhard Kittelberger aus
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Pilotprojekt gelingen. Wir, die Studierenden
und ich, finden, das ist der Fall.
Ofterdingen, Sultan Braun bei der Stadt
Reutlingen, Svitlana Burmey aus
Böblingen, Edith Fuhrmann in Düring in der
Nähe von Bremerhaven und Susi
Buschbacher in Syracuse, New York. Sie
alle und noch einige mehr, deren Namen
hier in dieser Zeitung zu finden sind, haben
uns zum Teil sehr persönliche Einblicke
erlaubt in ihre Lebenswanderungen und
Familiengeschichte(n). Nur mit dem Blick
auf individuelle Geschichten lässt sich
verstehen, dass Wanderungen zu uns
Menschen gehören.
Mit dieser Seminarzeitung wollen wir Sie
als interessierten Leser oder Leserin ein
Stück mitnehmen auf dem Weg, den wir
gemeinsam gegangen sind. Vielleicht
finden Sie in dem einen oder anderen
Lebensweg sich selbst, oder in den
Berichten zum historischen Hintergrund die
Erlebnisse eines Ihrer Vorfahren wieder.
Dann beginnen Sie mit der Spurensuche.
Am besten sofort. So lange es noch
Angehörige gibt, die sich an Einzelheiten
erinnern. Und vielleicht Kisten und Kästen
mit alten Fotos und Dokumenten auf dem
Dachboden. Es lohnt sich.
Auch ohne die Unterstützung und
Organisation der Verantwortlichen und
Mitarbeiter beim Career Service und beim
Historischen Seminar der Eberhard-KarlsUniversität Tübingen wäre dieses
Studienprojekt nicht möglich gewesen. Nur
mit der Offenheit und Bereitschaft aller an
diesem Seminar Beteiligter konnte dieses
Liane von Droste
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Migration ist ganz normal - das war unser Ausgangspunkt
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' Zentrales Thema unseres Seminars
„Lebenswege von Auswanderern“ im
Wintersemester 2008 / 2009 war es,
Migration in ihrem historischen Kontext zu
begreifen. Warum genau ist der historische
Ansatz für das Verständnis von Migration
spannend? Migration in ihrer geschichtlichen
Entwicklung zu sehen, hilft, sie heute besser
zu verstehen. Oft wird angenommen, es
handele sich dabei um eine neuartige
Erscheinung. In Wahrheit sind
Wanderungsbewegungen so alt wie die
Menschheit selbst. Schon immer sind
Menschen, Familien und ganze
Volksgruppen von einem Ort zum anderen,
von einem Land ins andere gezogen.
Auslöser dafür waren meist die Suche nach
einem besseren Leben, Hungersnöte,
Kriege, Vertreibung aber auch Abenteuerlust
und Neugier. Migration ist ganz normal. Das
war unser Ausgangspunkt.
Migration und ihr Verständnis. Die
aufkommende Nationalstaatenideologie
hatte zur Folge, dass ethnische
Zugehörigkeiten neu definiert wurden. Vor
der Entstehung von Nationalstaaten waren
hingegen der soziale Stand, sowie lokale
und regionale Zugehörigkeiten bei der
Auswanderung entscheidender als die
nationale Herkunft. Auch die Motive für die
Auswanderung änderten sich. Wo früher
Flucht vor religiöser Intoleranz eine wichtige
Rolle bei der Auswanderung gespielt hatte,
waren nach Entstehung der Nationalstaaten
politische Gründe von größerer Bedeutung.
Revolutionäre und Mitglieder der politischen
Opposition wurden ins Exil geschickt oder
flohen in andere Länder.
Nicht nur der Wandel politischer Systeme,
sondern auch gesellschaftliche
Veränderungen und technische
Innovationen hatten Einfluss auf die
Auswanderung im 19. Jahrhundert. Im
Rahmen der Industrialisierung kam es zur
Urbanisierung, das heißt viele Menschen
verließen die ländlichen Gebiete, um in
Städten nach Arbeit zu suchen. Seit 1830
verbesserte sich auch das Transportsystem,
was die Auswanderung vereinfachte. Den
stetigen technischen Neuerungen folgte eine
größere Nachfrage nach Arbeitskräften und
verstärkte innereuropäische und
transatlantische Migration. All diese hier nur
kurz umrissenen Änderungen brachten die
verschiedensten Motive zur Auswanderung
mit sich. Und sie sorgten dafür, dass in der
Zeit von 1820 bis 1930 rund 55 Millionen
Menschen Europa auf Dauer verließen.
Interessant bei der historischen Betrachtung
ist es zu erkennen, wie sich der Begriff und
das Verständnis davon, was Migration ist,
gewandelt haben. In den feudalen
Gesellschaftssystemen des deutschen
Mittelalters war es schwer auszuwandern,
da beispielsweise Leibeigene an ihre
Lehnsherren gebunden waren. Es gab zu
dieser Zeit aber auch Gesellschaften wie
etwa in Russland, wo Zarin Katharina die
Zweite europaweit dazu aufrief, die Gebiete
im Süden des Landes zu besiedeln.
Die Entstehung von Nationalstaaten in
Europa zu Beginn des 19. Jahrhunderts
hatte einen entscheidenden Einfluss auf
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar *&)" &$)*0%+
Bei unserer Recherchen standen die
Biographien im Mittelpunkt, also die
Lebensgeschichten einzelner Auswanderer.
Geschichtliche Darstellungen zeigen mit
Zahlen und Fakten oft nur das Gerüst, den
Hintergrund eines so einschneidenden
Erlebnisses wie Aus- und Einwanderung.
Migration aber ist neben historischen und
statistischen vor allem von individuellen
Faktoren geprägt: Den Lebenswegen und geschichten einzelner Männer, Frauen und
Kinder.
Fremdheit wird abhängig vom persönlichen
Hintergrund immer anders erfahren. Alle
Migranten sind jedoch davon betroffen, sich
in bestimmten Lebensbereichen von der
Gesellschaft in jeweiligen
Einwanderungsland zu unterscheiden, sei
es auch nur durch die Sprache. Die
Konfrontation mit dem Ungewohnten ist
sowohl für die Gesellschaft als auch für den
Einwanderer schwierig. Die
Mehrheitsgesellschaft fordert Integration,
dabei wird oft übersehen, dass keine
Gesellschaft einheitlich ist. Identität ist
persönlich und setzt sich aus zahlreichen
Faktoren zusammen. Die Zugehörigkeit zu
einem bestimmten Land ist nur einer davon.
Die Cousinen Berta (rechts) und Rosine
Preisendanz wanderten in den 1920er Jahren
von Mössingen nach New York aus.
Foto: privat
Diese Erfahrungen können bedrückend
oder bereichernd wirken, sind aber auf
jeden Fall eine Herausforderung. Nur mit
dem Blick auf die individuelle Geschichte
können die Auswirkungen in ihrer
Gesamtheit verstanden werden und nur
dann kann Verständnis an die Stelle von
Ausgrenzung treten.
Der Lebenslauf jedes Menschen enthält
Momente von Fremdheit, auch in der
Herkunftsgesellschaft. Jeder stellt sich zu
gewissen Zeiten im Leben die Frage nach
der eigenen Identität, zum Beispiel in der
Pubertät, beim Übergang von der Schule
zur Ausbildung, beim Berufseintritt oder
beim Umzug in eine andere Stadt.
Theresa Köckeritz und Wolfgang Baum
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
;
Lebenswanderungen gehören auch zu uns – wir sind...
)*+% Susan Azimi, 36 Jahre, studiert
schon immer davon, das Abitur
nachzuholen, um danach studieren zu
können. Diesen Traum setzte sie um und
begann 2005 ihr Magister-Studium in
Tübingen. Susan bezeichnet sich humorvoll
und selbstironisch als „iranische Preußin“.
Ihre Wurzeln seien von großer Bedeutung
für sie: „Mann muss wissen, woher man
kommt, um zu wissen, wohin man geht“.
Diese Erkenntnis versucht sie in ihr Leben
mit einzubeziehen – und das nicht nur bei
ihrer Vorliebe für die iranische Küche.
Geschichte, Politikwissenschaft und
Psychologie an der Universität Tübingen.
Sie ist
verheiratet
und hat einen
zehnjährigen
Sohn. Sie ist
in
Bremerhaven
geboren. Aus
persönlichen
Gründen zog
es sie nach
BadenWürttemberg.
Tugce Dizdar
Wolfgang Baum ist 24 Jahre alt und
studiert Neuere Geschichte und Islamkunde
im 7. Semester an der Universität
Tübingen. Er
stammt aus
Frickenhausen
bei Nürtingen
und ist für sein
Studium nach
Tübingen
gezogen. Sein
jüngerer
Bruder heißt
Manfred und
ist 20 Jahre alt.
Susans Wurzeln liegen nicht nur im Norden
Deutschlands, sondern auch im Iran, dem
Herkunftsland ihres Vaters. Er zog nach
Deutschland, um eine Praxis zu eröffnen
und als Arzt zu arbeiten. Hier lernte er
seine Frau und Susans Mutter kennen, die
Deutsche ist. Susan zog 1976 mit drei
Jahren gemeinsam mit ihren Eltern und
zwei weiteren Geschwistern in den Iran.
Der Vater hatte immer wieder mit dem
Gedanken gespielt, in sein Heimatland
zurückzukehren.
Wegen des iranisch-irakischen Krieges
entschied sich ihre Familie 1981, nach
einem Sommerurlaub in Deutschland, nicht
in den Iran zurück zu gehen. Susan ging in
Bremerhaven zur Schule und zog 1993
nach Süddeutschland, um eine
Modefachschule zu besuchen. Danach
arbeitete sie im künstlerischen Bereich und
in der Gastronomie. Trotz der vielfältigen
Berufe, die Susan ausübte, träumte sie
In seiner
Freizeit reist Wolfgang gerne, spielt
Volleyball, fotografiert und liest sehr viel.
Die Familie von Wolfgangs Mutter kommt
aus Altker, einem kleinen Ort in
Nordserbien, der auf serbisch Zmajevo
heißt. Ihre Vorfahren waren so genannte
Donauschwaben. Nach dem Zweiten
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
Weltkrieg wurde die Familie seiner Mutter
vertrieben und kehrte nach Deutschland
zurück. Weder seine Mutter, die in
Deutschland geboren wurde, noch
Wolfgang sprechen serbisch. Auf die Frage,
weshalb er an diesem Seminar teilnimmt
und ihn das Thema Migration so sehr
interessiere, antwortet Wolfgang:
„Migration ist vielleicht die größte Chance
der Menschheit, zusammen in Frieden zu
leben und mehr Verständnis füreinander
aufzubringen“.
Sich selber bezeichnet Wolfgang als
Kosmopoliten, als Weltbürger. Für ihn ist
„Zuhause“ da, wo seine Freunde sind. In
den letzten Jahren reiste er häufiger nach
Ägypten. Dort hat er unter anderem ein
Auslandssemester in Kairo absolviert.
Ägypten sei für ihn schon eine Art zweite
Heimat geworden: „ Ägypten spricht meine
chaotische Seite an und ist wesentlich
lebendiger als Deutschland. Das
Chaotische ist meistens cool, nervt aber
zwischendurch auch ganz schön. Ich mag
die Offenheit und den Humor der Ägypter“,
erzählt Wolfgang.
mütterlicherseits gehört einer
südkaukasischen Volksgruppe namens
„Las“ an. Die Vorfahren ihres Großvaters
stammen aus Abchasien, eine Region im
Kaukasus. Auch die Eltern ihrer Mutter, die
in der Türkei lebten, entschlossen sich nach
Deutschland auszuwandern.
Tugce ist geprägt
von
verschiedenen
Kulturen und
Traditionen und
versucht diese
auch so gut es ihr
möglich ist zu
pflegen. Auf die
Frage, was sie
mit anderen
Ländern
verbindet, antwortet Tugce, dass sie
„durchgehend Fernweh“ hat. Wenn sie mal
nicht reisen kann, gleicht sie ihr Fernweh
damit aus, sich über andere Länder und
deren Kulturen kundig zu machen. Es
komme auch schon mal vor, sagt sie, dass
sie Leute einfach anspreche, wenn diese
„nicht deutsch aussehen“. Dann erkundige
sie sich ohne Umschweife neugierig nach
dem Herkunftsland. Auf die Frage, wie sie
sich selbst kurz und knapp charakterisieren
würde, antwortet sie mit erfrischendem
Lächeln: „Direkt, selbstbewusst,
bedingungslos.“ „Herzlich“ hätte sie noch
hinzufügen können.
Tugce Dizdar
Tugce Dizdar ist 19 Jahre alt und
studiert Allgemeine Rhetorik und
Medienwissenschaft im ersten Semester.
Wegen ihres Studiums lebt sie in Tübingen,
stammt aber aus Tuttlingen, wo sie geboren
und aufgewachsen ist. Tugce ist die Mittlere
von drei Kindern. Mit ihren Eltern, die beide
in der Türkei geboren sind, reiht sie sich ein
in die vielfältigen „Migrationshintergründe“
der Teilnehmer unseres „Lebenswege“Seminars.
Nach der Herkunft ihrer Eltern befragt,
winkt sie lachend ab und sagt, dass sei viel
zu kompliziert. Tugces Vater hat Vorfahren,
die von Bosnien in die Türkei eingewandert
sind. Ihre Großeltern, die in der Türkei
lebten, entschlossen sich, nach
Deutschland auszuwandern, als ihr Vater
acht Jahre alt war. Ihre Großmutter
Sie legt großen Wert auf Sprache und
deren Eigenheiten, gleichgültig ob deutsch
oder türkisch. Sie möchte traditionelles und
modernes Denken miteinander verbinden.
Auch wenn sie sich sehr wohl in
Deutschland fühlt, möchte sie niemals die
Beziehung zu ihrem „Heimatland Türkei“
verlieren. Jeden Sommer zieht es sie für
mehrere Wochen in die Türkei zu ihren
Verwandten.
Susan Azimi
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Seminar ;
Bayern um. Ihr Vater hatte dort eine
Arbeitsstelle gefunden. Der nächste Umzug
der Familie ging nach Baden-Württemberg,
in die Nähe von Ostfildern.
Der Umzug nach Westdeutschland brachte
die Trennung von den Verwandten, aber
zugleich wuchs die kleine Familie enger
zusammen. Theresas
„Migrationshintergrund“ ist eng mit der
Geschichte Deutschlands und der DDR
verbunden. Wegzugehen aus der Heimat in
Sachsen-Anhalt war für ihre Familie ein
großer Schritt, denn nicht nur der
geschichtliche und politische Kontext in den
ehemals zwei deutschen Staaten, sondern
auch die jeweiligen Lebenssituationen
waren sehr verschieden.
Theresa Köckeritz ist 23 Jahre alt. Sie
hat einen 29-jährigen Bruder. Ihre Eltern
wohnen in Esslingen, sie selbst in
Tübingen. Sie studiert
Erziehungswissenschaften, Ethnologie und
öffentliches Recht auf Magister. In ihrer
Freizeit singt sie im Chor, treibt Sport, trifft
Freunde und reist gerne.
Oksana Nazarenus
2007 ging Theresa für ein Jahr nach
Kalifornien und studierte zwei Semester an
der California State University in San
Diego.. Das Alltagsleben, der Campus und
die Menschen in Kalifornien haben viele
Eindrücke bei ihr hinterlassen. Theresa hat
zahlreiche Freunde gefunden und viele
Unterschiede zwischen Deutschland und
Kalifornien festgestellt. Sie empfand die
Menschen dort als offen und freundlich und
ihr gefiel es sehr, dass viele Studenten der
Universität von überall aus der Welt kamen.
Bei ihrer Rückkehr nach Deutschland fand
sie es viel schwerer, sich in ihre alte
Umgebung wieder einzufinden, als es beim
Einleben in Kalifornien der Fall war. Dort
fühlte sie sich sofort wohl und integriert.
Theresa könnte es sich gut vorstellen, in
Kalifornien für eine längere Zeit zu leben,
so gut hat es ihr dort gefallen.
Andrea Rumpel ist 24 Jahre alt. Sie ist
in Sigmaringen geboren und dort bei ihrer
Mutter aufgewachsen, da ihre Eltern
getrennt leben. Sie hat drei Geschwister
und fünf Stiefgeschwister. Nach ihrem
Abitur hat sie zuerst in Konstanz ein
Semester lang Jura studiert, doch das
Auswendiglernen des Lernstoffes und die
Kommilitonen hätten ihr nicht zugesagt,
sagt sie. Sie brach ihr Studium deshalb ab
und machte einige Monate Pause, um sich
Auch in Theresas Familie gab es einige
Lebenswanderungen: Sie wurde in
Sachsen-Anhalt geboren, in der DDR. Nach
dem Mauerfall zog ihre Familie nach
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
neu zu orientieren. Dann ging sie nach
Tübingen und studiert dort heute
Erziehungswissenschaften,
Religionswissenschaften und Soziologie.
Stuttgarter zog es schon viele Male in sein
Vaterland, da der größte Teil seiner Familie
immer noch in Kroatien lebt; mit 21 Jahren
besuchte er eine Zeitlang die
Kunstakademie in Zagreb.
Andrea wohnt mit ihrem Freund zusammen
in Nürtingen. Sie liest gern, trifft sich mit
ihren Freunden, spielt Klavier und treibt
gerne Sport. Sie geht vor allem gerne
joggen, und sie ist sogar schon einen HalbMarathon gelaufen. Außerdem mag sie den
Kontakt zu anderen Menschen, reist
leidenschaftlich gern und hat großes
Interesse an fremden Kulturen. Sie hat mit
ihrem Vater die USA bereist und war mit
ihrem Onkel, der Pilot ist und jedem ihrer
Geschwister jeweils eine Reise geschenkt
hat, im afrikanischen Namibia.
Ihre Mutter kommt aus Bayern, ihr Vater ist
Schwabe. Seine Vorfahren sind vor rund
200 Jahren von Österreich nach
Süddeutschland eingewandert. Andrea teilt
die Reiseleidenschaft ihres Vaters.
Vielleicht wird Andrea in einigen Jahren
mehr zu ihrer eigenen Migrationsgeschichte
erzählen können, denn sie träumt davon,
nach ihrem abgeschlossenen Studium mit
ihrem Freund nach Kanada zu ziehen.
Was ihn heutzutage noch mit Kroatien, dem
Land seiner Kindheit und dem Heimatland
seiner Eltern verbindet? Er habe eine innige
Beziehung zu der kroatischen Kultur, zur
Sprache sowie auch dem Essen, sagt er
selbst. Fasziniert ist er von der Geschichte
des Balkans, in der er auch sehr belesen
ist. Als Migrant der zweiten Generation
sieht Elvir es als seine Aufgabe an, die
Zusammensetzung der deutschen
Gesellschaft und deren verschiedene
Gruppen mit ihrem jeweiligen
Migrationshintergrund besser zu verstehen.
Ernesto Edele
Elvir Salcin, 26, wohnt in Tübingen und
studiert im siebten Semester Soziologie
und Slawistik. Seine Lebensgeschichte
zeigt, weshalb die Wahl seiner
Studienfächer kein Zufall ist, sondern auch
mit seinem Alltagsleben viel zu tun hat.
Elvir stammt aus einer Familie mit
kroatischem Wurzeln, die heute in Stuttgart
lebt. Schon als Kleinkind zog der spätere
leidenschaftliche Zeichner nach Kroatien zu
seinen Großeltern und verbrachte die
ersten neun Jahre seines Lebens in der
Heimat seiner Vorfahren. Zurück in
Deutschland schaffte er den Aufschwung
von der Hauptschule, über die Realschule
bis zum Gymnasium. Den gebürtigen
Tugce Dizdar
Matthias Stange nimmt aus ganz
persönlichen Gründen an Seminar zum
Thema Migration teil: Die Mutter des
gebürtigen Stuttgarters kam in Budapest als
Tochter einer Donauschwäbin zur Welt.
1965 wanderte sie als 15-Jährige nach
Deutschland aus und kehrte damit in das
Land ihrer Vorfahren zurück. Auf der
väterlichen Seite hat Matthias schlesische
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
der erste Meilenstein für ihr Berufsleben
gelegt. Ein Dozent sprach sie an, ob sie
sich für Journalismus interessiere, da eine
Lokalzeitung in der Region freie Mitarbeiter
suche. Liane, die sich ihr Studium wegen
des früh gestorbenen Vaters durch
Nebenjobs verdiente, fand das nach
eigenen Worten „spannend“, begann dort
als freie Mitarbeiterin und hat so ihren
Traumberuf gefunden. Statt des
Referendariats für den Lehrerberuf
absolvierte sie nach Abschluss ihres
Studiums ein Volontariat beim Reutlinger
General-Anzeiger. Dort arbeitete Liane
mehrere Jahre als Lokalredakteurin.
Anschließend war sie Redaktionsleiterin der
Schwäbischen Zeitung in Markdorf am
Bodensee. Im Jahr 2000 kündigte sie ihre
Stelle und machte sich selbstständig.
Seither arbeitet sie freiberuflich als
Journalistin, Autorin und Dozentin.
Vorfahren. Diese flüchteten während des
Zweiten Weltkriegs aus Hirschberg bei
Breslau nach Rheinland-Pfalz. Zu seinem
Bedauern hat der 23-jährige Student jedoch
weder die ungarische noch die polnische
Sprache erlernt.
Matthias studiert Geschichte und Rhetorik
und wohnt in Tübingen. Als Sohn einer
Musikerfamilie – der Vater ist Pianist, die
Mutter Klavierlehrerin - hört er gerne
Musik, spielt Klavier und Trompete und
produziert Musik am Computer. Neben
der Musik spielt Matthias mit großer
Begeisterung Fußball. Doch auch das
Lesen, Diskutieren, Philosophieren, sowie
das Reisen, Planen und Organisieren
zählt der Tübinger zu seinen liebsten
Beschäftigungen. Im Rahmen des
Seminars hat sich Matthias ausführlich mit
den „Schwabenzügen“ beschäftigt und
hofft, im Gespräch mit seiner Familie auf
interessante Geschichten zu stoßen.
Sie lebt mit ihrem Mann am Stadtrand von
Berlin. Ihr Haus liegt genau im ehemaligen
Grenzstreifen zwischen Bundesrepublik
und DDR. In Nehren bei Tübingen hat sie
noch eine Wohnung, da sie für ihre Arbeit
oft in Baden-Württemberg ist. Lianes
Hobbys sind Lesen, Schreiben, Radfahren
und Reisen.
Martina Wiederkehr
Liane von Droste ist 49 Jahre alt und
ist in Ofterdingen, Kreis Tübingen, geboren.
Aufgewachsen ist sie mit zwei Brüdern. Ihr
Abitur machte sie in Mössingen und
studierte dann Anglistik und Germanistik in
Tübingen. Während ihres Studiums wurde
Liane bezeichnet sich selbst als
„Arbeitsmigrantin“ zwischen Nehren und
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
Berlin. Zu ihrem Migrationshintergrund zählt
sie, dass ihr Vater in Ostpreußen geboren
wurde. „Das hat damals noch zu
Deutschland gehört. Aber die Flucht seiner
Familie von dort ist ein tiefer Einschnitt
gewesen, eine Lebenswanderung in eine
andere Welt. Das ist Migration mit allem,
was dazu gehört. Und sie geschah unter
Zwang,“ sagt die 49-Jährige. Während des
Zweiten Weltkrieges wurde die Familie
ihres Vaters auseinander gerissen. Die
Großmutter und einige Geschwister von
Lianes Vater kamen als Flüchtlinge nach
Ofterdingen, Kreis Tübingen.
Michael Lutz und seiner Familie entdeckten
wir im Rahmen unseres Seminars. Tugce
Dizdar hat in dieser Seminarzeitung über
diese Spurensuche geschrieben. So weiß
Liane heute, dass ihr Urgroßonkel Michael
und seine Frau Agnes in den USA noch ein
weiteres Kind, Rosie, bekamen und dass
Michael als Schlosser in New York den
Lebensunterhalt für sich und seine Familie
verdiente.
Andrea Rumpel
Liane hat noch einen anderen
„Migrationshintergrund“: 2008 erschien ihr
Buch „Lebenswege von Auswanderern“
im Attempto Verlag in Tübingen. Dafür hat
sie Portraits von Menschen recherchiert,
die in den vergangenen zweihundert
Jahren nach Amerika und donauabwärts
Richtung Osten ausgewandert sind. Ihre
Arbeit an dem Buch und zum Thema
historische Migration sei die Grundlage
für unser Seminar „Lebenswege von
Auswanderern“ gewesen, sagt sie: „Ich
wollte weitergeben, wie spannend das
Thema historische Auswanderung sein
kann, wenn man es an den Schicksalen
einzelner Menschen festmacht.“
Erst als das Buch schon veröffentlicht
war, erfuhr sie, dass es auch in ihrer
eigenen Familie im 19. Jahrhundert
Auswanderer gab. Mehrere ihrer
Urgroßonkel emigrierten in die Vereinigten
Staaten von Amerika. Einer davon, Michael
Lutz, ging 1889. Seine Frau Agnes folgte
ihm mit den Kindern Albert, Konrad,
Johannes, Karl und Marie ein Jahr später.
Niemand in ihrer Familie wusste mehr, dass
es Verwandte in Amerika gab.
Martina Wiederkehr wurde am 1986 in
Ensingen bei Nürtingen geboren und wuchs
dort zusammen mit drei weiteren
Geschwistern auf. Die Vorfahren ihrer
Familie stammen ursprünglich aus dem
Schweizer Raum. Martina hat
herausgefunden, dass der Name
Wiederkehr besonders häufig in der Region
um Waldshut-Tiengen auftaucht. Ihre
Großmutter stammt aus diesem Gebiet an
der Schweizer Grenze. Andere Spuren ihrer
Familie führen in den Badener Raum.
Ein Familienforscher, mit dem sie
zusammenarbeitet, fand Hinweise auf die
Ausgewanderten im Ofterdinger
Familienregister der Kirchengemeinde.
Weitere Spuren von Lianes Urgroßonkel
Martina verbrachte längere Zeit in Mexiko
und in Irland und will diese und andere
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
Länder auch
künftig bereisen.
Sie engagiert
sich in der
Jugendarbeit.
Enger Kontakt zu
ihrer Familie
sowie der
Kontakt
untereinander
sind ihr sehr
wichtig. In ihrer
Freizeit spielt sie
Gitarre und treibt
Sport. Sie lebt in
Tübingen und
studiert Politik
und Geschichte.
Matthias Stange
Alte Fotos erzählen Geschichten: Ulrich Küenzlen (hinten rechts) hatte alte
Fotos seiner beiden Großonkel Otto und Erwin mitgebracht, die zum
Mittelpunkt eines Auswandererportraits für diese Seminarzeitung wurden
(siehe Bericht „Leder fürs Sofa von der Trapperfront).
Foto: Droste
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
Oksana Nazarenus
1))..3$!"&,!
&, <2
Oksana Nazarenus wurde 1985 in ArykBalyk in Kasachstan als erste von zwei
Töchtern geboren. Sie besuchte dort die
erste und zweite Klasse, bis sie mit ihrer
Familie und einigen Verwandten im Oktober
1994 nach Deutschland übersiedelte. Die
Familie lebte zunächst ein Jahr in
Linsenhofen, Baden-Württemberg, in einem
Heim für Spätaussiedler. 1996 fanden sie
im drei Kilometer entfernten Beuren eine
neue Heimat. Dort besuchte Oksana die
dritte und vierte Klasse und parallel
Während unseres Seminars
„Lebenswege von Auswanderern“
fanden sich unter den Biographien
der einzelnen Teilnehmer mehrere,
die für ganze Generationen von
Aus- und Einwanderern stehen.
Zwei davon stellen wir daher
ausführlicher als die anderen vor.
Hier geht es um Oksana
Nazarenus, die als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam.
Oksana Nazarenus
Foto: Köckeritz
finden. Vor allem die Sprache, so betont
Oksana, war am Anfang eine große Hürde.
Auch wenn ihr einige Verwandte mit „ein
paar Brocken“ Deutsch aushelfen konnten.
Die Vorfahren ihrer Familie stammten
ursprünglich aus Deutschland. Wie viele
andere Deutsche vor allem aus Hessen,
Baden-Württemberg und dem Rheinland
schlossen sich Oksanas Ahnen zur Zeit der
Zarin Katharina der Zweiten (1762-1796)
den Auswandererwellen aus Deutschland in
Richtung Russland an. Die
Ansiedlungsgebiete, die die Zarin den
Emigranten versprochen hatte, lagen in der
Region um St. Petersburg, vor allem aber
im Wolgagebiet um Saratow.
verschiedene Sprachkurse. Nach einem
Jahr auf der Hauptschule wechselte sie auf
die Realschule. Nach ihrer Mittleren Reife
2004 legte sie in Nürtingen das Abitur ab.
Seit 2007 studiert sie in Tübingen Slawistik
und Kunstgeschichte.
Die Siedler fühlten sich nicht akzeptiert von
den anderen Volksgruppen in der Region.
Viele zogen im Lauf des 19. Jahrhunderts
weiter in andere Gebiete, manche bis ans
Schwarze Meer oder aber nach Amerika.
Wie viele andere ihrer Generation weiß
Oksana, wie es sich anfühlt, ein neues
Land zu betreten und wie schwierig es ist,
sich dort einzuleben und sich zurecht zu
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 14 -
Seminar ;
1914 besonders aber nach der russischen
Revolution 1917 verschlechterte sich die
Lage der Siedler erheblich. So waren sie
Russifizierungsmaßnahmen, Verfolgung
und Deportationen ausgesetzt. 1941 wurde
die Mehrheit der deutschen Siedler in
Westrussland aus Angst vor möglicher
Kollaboration mit der anrückenden
Wehrmacht auf Beschluss des obersten
Sowjet nach Sibirien, in den Ural und - wie
wahrscheinlich bei Oksanas Großeltern der
Fall – nach Kasachstan deportiert.
Eingewöhnung in der neuen Umgebung, in
der nicht selten die Neuankömmlinge als
„Russen“ betrachtetet wurden. Dabei
fühlten sich Oksana und ihre Familie als
deutsche Spätaussiedler, trotz der
Sprachprobleme. Die unfreiwillige
Außenseiterrolle führte aber zu einem
starken Zusammenhalt innerhalb der
Familie. Gemeinsam schafften es alle mit
der Zeit sich einzuleben. Dabei konnte sich
Oksana vor allem durch den Kontakt zu
anderen Kindern und Jugendlichen in der
Schule schneller als ihre Eltern in die neuen
Lebensverhältnisse einfinden. Ihr Lebenslauf zeigt, wie gut ihr das gelungen ist.
Trotz der schwierigen Situation bewahrten
sich viele der Siedler deutsche Traditionen
und ihren deutschen Dialekt. So kam es,
dass einige von Oksanas Verwandten, mit
denen sie und ihre Eltern emigriert sind,
noch einige Worte Deutsch sprechen. Als
Grund für die Entscheidung, nach dem Fall
der Mauer und dem Zusammenbruch der
Sowjetunion nach Deutschland zu
emigrieren, sieht Oksana die
verwandtschaftlichen Verbindungen, die
nach Deutschland bestanden. Angehörige
hatten zuvor schon die Auswanderung
gewagt und ließen nicht nach zu betonen,
wie schön es hier sei. Die wirtschaftliche
und politische Lage in Kasachstan
verschlechterte sich nach dessen
Unabhängigkeit 1991 zudem immer mehr.
Für alle, die selbst erfahren haben, wie es
ist, ein Land zu verlassen und in ein neues
zu ziehen, ist die Frage, wo sie sich
heimisch fühlen, schwer zu beantworten.
Für Oksana und, wie sie sagt, auch für ihre
Eltern, hängt das Heimatgefühl stark von
der Identifikation mit ihrem Umfeld ab. Der
Kontakt zu Gleichaltrigen in der Schule
machte es für Oksana und ihre Schwester
leichter, sich zu Hause zu fühlen.
Sich ganz zu lösen von der eigenen
Wanderungsgeschichte hält Oksana für
unmöglich: „Selbst wenn der Wunsch nach
Rückkehr in die alte Heimat nicht besteht:
Es bleibt immer ein Gefühl von „irgendwo
dazwischen...“.
Als Oksana dann nach Deutschland kam,
musste sie nicht nur eine neue Sprache
lernen. Besonders schwierig war auch die
Matthias Stange
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 15 -
Seminar ;
Ernesto Edele
1.3$. &-.2
Ernesto Edele ist 28 Jahre alt und studiert
in Tübingen. Er wurde in Curitiba in
Brasilien geboren und kam mit acht Jahren
nach Deutschland. Seine Eltern leben in
Haigerloch-Owingen, wo er selbst Abitur
und ein Freiwilliges Soziales Jahr
absolvierte. Danach ging er für zwei
Monate nach Australien. Anschließend
begann Ernesto zunächst Internationale
Volkswirtschaft auf Diplom zu studieren.
Nach dem vierten Semester verbrachte er
ein Jahr in Argentinien und besuchte dort
Während unseres Seminars
„Lebenswege von Auswanderern“
fanden sich unter den Biographien
der einzelnen Teilnehmer mehrere,
die für ganze Generationen von
Aus- und Einwanderern stehen.
Zwei davon stellen wir daher
ausführlicher als die anderen vor.
Hier geht es um Ernesto Edele. Er
ist in Brasilien geboren, als Sohn
eines Österreichers, der ihn
Deutschland aufwuchs, und einer
Spanierin, die auf den Kanarischen
Inseln geboren wurde.
Ernesto Edele
Foto: Köckeritz
Studenten bei Bewerbungen für
Auslandssemester in Lateinamerika hilft.
Diese Arbeit kann er sich gut als späteren
Beruf vorstellen. Er würde aber auch gern
eine Sprachschule eröffnen. Er wurde
zweisprachig erzogen. Zu Hause spricht er
mit seinem Vater Deutsch und mit seiner
Mutter und seinen Geschwistern
Portugiesisch. Als er als Kind nach
Deutschland kam, hatte er zu Beginn
Schwierigkeiten mit dem schwäbischen
Dialekt, um den er jedoch in dem kleinen
Ort Owingen nicht herumkam. Selbst in der
Schule wurde Dialekt gesprochen.
Vorlesungen in Volkswirtschaftslehre.
Zurück in Tübingen beschloss er, das Fach
zu wechseln und studiert nun Spanisch im
Hauptfach im neunten Semester und
Volkswirtschaftlehre im Nebenfach (fünftes
Semester) mit dem Ziel eines BachelorAbschlusses. In Tübingen wohnt er seit
Kurzem mit seiner Freundin zusammen.
Seinen Lebensunterhalt verdient Ernesto
beim „Internationalen Austausch“ der
Universität Tübingen, wo er anderen
Ernesto hat zwei ältere Brüder: Alexander
und Andreas. Alexander hat drei Kinder,
lebt in Hirschau und hat den Kontakt zu
Brasilien schon ein wenig verloren.
Ernestos Vater stammt ursprünglich aus
Österreich, ist jedoch in den 1940er Jahren
nach Haigerloch gekommen. Von dort aus
zog er aus beruflichen Gründen nach
Brasilien, wo er Ernestos Mutter kennen
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ;
lernte. Sie arbeitete als seine Sekretärin
und stammt von der spanischen Insel Gran
Canaria. 1961 war sie im Alter von elf
Jahren mit ihren Eltern nach Brasilien
ausgewandert. Mitgezogen waren damals
die Großeltern und zwei Tanten und
eigentlich war Venezuela das Ziel. Niemand
in der Familie konnte jedoch den Arbeitsvertrag vorweisen, den die venezolanischen
Behörden damals für eine Einwanderungsgenehmigung voraussetzten. So zogen sie
zunächst nach Jundiai, wo der Großvater
Arbeit fand und später nach Campinas,
Brasilien. Aber all das ist eine andere
Geschichte, die Ernesto selbst an anderer
Stelle in dieser Seminarzeitung erzählt.
Aufenthalt in Brasilien eingestellt.
Heute lebt Ernestos brasilianische
Verwandtschaft in der Nähe von Sao Paolo.
Er versucht, den Kontakt zu ihr so gut es
ihm möglich ist zu halten. Während seiner
Schulzeit besuchte Ernesto seine Verwandten alle zwei Jahre. Die Kosten dafür hat
damals seine Familie getragen. Seit dem
Studium schafft er es aus finanziellen
Gründen nur noch alle drei Jahre. Das
letzte Mal ist er anlässlich der diamantenen
Hochzeit seiner Großeltern 2008 dort
gewesen. Erinnerungen an früher hat er
außer an die Familie noch an das Haus und
die Stadt, in der sie lebten und an seine
Freunde, zu denen der Kontakt aber zu
seinem Bedauern abgebrochen ist.
Ernestos Eltern heirateten 1975 und zogen
nach Curitiba im Süden Brasiliens. In
Brasilien besuchte Ernesto die erste und
zweite Klasse einer deutsch-portugiesischen Privatschule. Sein Vater hegte all die
Jahre in Südamerika den Wunsch, wieder
nach Deutschland zurückzukehren. Er
wollte seinen Kindern bessere Bildungschancen ermöglichen und der Familie das
Leben in einem Land mit mehr Sicherheit.
Die Großeltern väterlicher- und
mütterlicherseits haben sich gut mit der
Situation zurecht gefunden. In Brasilien gilt
eine Heirat mit einem Deutschen als gute
Absicherung und ist angesehen,
wenngleich es nach Ernestos Ansicht für
die Beteiligten emotional schwierig war und
ist. Den Eltern von Ernestos Mutter fiel der
Wegzug ihrer Tochter, zunächst in den
Süden des Landes und schließlich nach
Deutschland, schwer.
Ernesto ist über den Umzug nach
Deutschland nicht ganz glücklich. Vor allem
weil seine Mutter die Konsequenzen dieser
Entscheidung erst danach richtig begreifen
konnte, wie er sagt, und die Sprache bis
heute nicht richtig beherrscht. Ernesto hat
kein doppeltes Fernweh, Brasilien bleibt
seine Heimat. Deshalb besitzt er auch
heute noch die doppelte Staatsbürgerschaft, was für ihn einen symbolischen
Charakter hat. Er findet, die Mentalität der
Menschen, die Herangehensweise an
bestimmte Dinge und vieles im privaten
Alltagsleben der Menschen sei anders als
in Brasilien. Deshalb hat er sehr lange
gebraucht, sich hier zurecht zu finden.
Seinem Vater sei die Umstellung leichter
gefallen. Er hatte zuvor aus beruflichen
Gründen schon mehrere Jahre in Indien
gelebt und hatte sich von vorneherein auf
einen auf einige Jahre begrenzten
Ernesto kann sich gut vorstellen, später in
Brasilien zu leben, was jedoch für seine
Freundin beruflich schwierig werden
könnte, da sie Biologin ist und in Brasilien
für sie nach Ernestos Ansicht die
Berufschancen nicht so gut seien. Zudem
biete Deutschland eine stabilere Wirtschaft
und mehr Sicherheit. Heimat ist für Ernesto
ein schwer definierbarer Begriff und hat
vielerlei Bedeutungen. Familie gehört für
ihn dazu, die auch in Brasilien eine sehr
wichtige Rolle spiele. Seine Verwandten
väterlicherseits jedoch seien zerstritten. Auf
sie trifft daher für ihn der Begriff Familie
nicht mehr zu. In einer Familie stärke man
sich gegenseitig und bekämpfe sich nicht.
Andrea Rumpel
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Aus Schwaben nach Preussen und von dort weiter in Richtung Schwarzes Meer: Dieser Auszug aus
einem Personalbuch der bessarabischen Gemeinde Paris ist im Besitz einer Mössinger Familie,
deren Vorfahren Ende 18. und im 19. Jahrhundert im Rahmen der „Schwabenzüge“ aus dem
Südwesten Deutschlands nach Osten auswanderten.
Quelle: privat
Auswanderung in Richtung Osten im 18. und 19. Jahrhundert
1 ,)$"2
großen Wanderungsperioden des 18. und
19. Jahrhunderts sind geprägt von der
Migration ganzer Generationen deutscher
Siedler nicht nur in Richtung Amerika,
sondern auch in die östlichen Regionen
Europas und darüber hinaus. Aus dem
deutschen Sprachraum gab es neben der
Emigration nach Russland beispielsweise
Migration als Begriff ist in der politischen
und gesellschaftlichen Diskussion aktueller
denn je, auch in Deutschland. Was
hierzulande jedoch erst allmählich wieder
ins Bewusstsein rückt: Der Begriff der
Lebenswanderungen hat seit jeher auch die
Geschichte deutschstämmiger Ein- und
Auswanderer mit eingeschlossen. Die
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 18 -
Seminar mehrere Auswanderungswellen in Richtung
Ungarn, Siebenbürgen oder Slawonien. Die
Auswanderung in Richtung Osten im 18.
und Anfang des 19. Jahrhunderts wird heute
als die „Schwabenzüge“ bezeichnet.
Verkehrsader und legten Teile des Weges
auf großen Flusskähnen, den so genannten
„Ulmer Schachteln“ zurück. Der Gebrauch
der Bezeichnung „Donauschwaben“
entstand allerdings viel später, um 1920. Sie
diente zur Unterscheidung zwischen den
Schwaben im Bundesgebiet und den
deutschsprachigen Einwanderergruppen
aus dem Südosten Europas.
Mit der Niederlage des osmanischen
Reiches im Großen Türkenkrieg (1683 –
1699) und dem Frieden von Passarowitz
1718 fielen Ungarn, Siebenbürgen und
Slawonien an Österreich. Der Habsburger
Kaiser Karl VI. gab ab 1719 die durch die
Kriege verwüsteten und menschenleeren
Regionen zur Besiedlung frei. Kaiserliche
Bevollmächtigte warben
vor allem in
Südwestdeutschland für
die Umsiedlung nach
Ost- und Südosteuropa.
Eine Vielzahl von
Faktoren machte dieses
Angebot für die
Menschen attraktiv: Die
neue Heimat bot um ein
Vielfaches größere
Ackerflächen, als sie
der durch die
Realteilung im
südwestdeutschen
Raum zersplitterte und immer kleiner
werdende Landbesitz vieler Familien bieten
konnte. Armut und Unterdrückung im
eigenen Land, aber auch für die neue
Region nützliche berufliche Qualifikationen
waren die Gründe für viele Menschen, ihr
Bündel zu schnüren: Viele waren Bauern
oder Handwerker. Viele deutsche Staaten,
aber auch Kommunen und Städte
unterstützten zudem die Abwanderung,
indem sie die Reisekosten trugen oder
bestehende Schulden erließen.
Eines der Hauptsiedlungsgebiete, die
Region Banat mit der Hauptstadt Temesvar
(Timisoara), liegt heute, im 21. Jahrhundert,
in Rumänien und Serbien. Die deutschen
Siedler, die sich hier
im 18. Jahrhundert
niederließen, sollten
das Land urbar
machen, hatten
allerdings auch
militärische Aufgaben
wie zum Beispiel die
Sicherung der
Grenzen zum
benachbarten
osmanischen Reich.
Den immer wieder
aufbrandenden
militärischen
Auseinandersetzungen mit den Osmanen
waren sie jedoch nicht gewachsen. Viele der
Siedlungen wurden wieder verlassen oder
zerstört.
Weitere Kriege in der Region erschwerten
den Zuzug neuer Siedler. Erst nach Ende
des siebenjährigen Krieges 1763 schuf
Kaiserin Maria Theresia wieder günstigere
Bedingungen für niederlassungswillige
deutsche Einwanderer in der Region. Im
zweiten Schwabenzug in den Jahren 1763
bis 1772 fanden weitere 50.000 Siedler
ihren Weg in die Donauregion. Trotz der
immer noch unsicheren politischen Lage
gründeten die Neuankömmlinge zahlreiche
neue Gemeinden. Den Höhepunkt erreichte
diese Auswanderungs- und Siedlungswelle
in den Jahren 1768 bis 1771. Mit den neuen
Bewohnern entwickelten sich
Etwa 23.000 Deutsche folgten dem
kaiserlichen Ruf und ließen sich zwischen
1722 und 1726 in der Region der Flüsse
Donau und Theiß nieder. Diese
Wanderungsbewegung ist heute als „erster
Schwabenzug“ bekannt. Viele der
Auswanderer nutzten dabei die Donau als
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Transportwege und die Bevölkerungszahl in
der Region wuchs schnell. Unterbrochen
von einem weiteren türkischösterreichischen Krieg brachte der dritte und
letzte große Schwabenzug (1781 – 1787)
noch mal einen Zuwachs von weiteren
45.000 Siedlern. Rund 450.000 Menschen
lebten 1772 bereits in den
Siedlungsgebieten, bis 1840 stieg diese
Zahl noch mal um die Hälfte.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebten in
den Dörfern und Städten in Siebenbürgen
und im Banat über eine Million
deutschstämmige Siedler. Trotz der
Vertreibung und der Rücksiedelung nach
Deutschland in Folge der beiden Weltkriege
(1914-1918 und 1939-1945) und dem Fall
des Eisernen Vorhangs 1990 gibt es in den
ehemaligen Einwanderungsgebieten
deutscher Siedler in Ungarn, Rumänien und
Serbien bis heute Nachfahren derer, die
dorthin im 18. Jahrhundert ausgewandert
sind.
Wolfgang Baum und Matthias Stange
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 20 -
Seminar Über Tiflis und Kasachstan zurück zu den Wurzeln der Vorfahren
&*"&-./0.
Fast 200 Jahre dauerte es, bis Familie
Krämer den Heimatboden ihrer
Vorfahren wieder betrat. Die
Geschehnisse waren fast schon
vergessen. Sergej Krämer, geboren
1932, fiel es schwer, sich an seine
Familiengeschichte zu erinnern. In
einem Interview für unser Seminar
„Lebenswege von Auswanderern“,
erzählte Sergej Krämer seiner Enkelin
Oksana Nazarenus von den
Lebenswanderungen der Familie. Die
Vorfahren der beiden gehörten zu den
Auswanderern aus Württemberg, die
sich im Rahmen der so genannten
Schwabenzüge Anfang des 19.
Jahrhunderts in der Region Tiflis im
Kaukasus niederließen.
Mit einer Fotografie fing alles an. Sie
wurde vermutlich 1913 oder 1914 in
Tiflis im Kaukasus aufgenommen, wie
eine Inschrift auf der unteren rechten
Seite des Bildes verrät. Aber nicht nur
das gibt der Schriftzug wieder: Unter
Tiflis steht in kyrillischen Buchstaben
Elenendorf oder Helenendorf, wie es auf
Deutsch heißen würde. Das ist eine der
Christina und Wilhelm Krämer mit ihren Töchtern Erna
ersten Kolonien, die in Tiflis 1817 von
(rechts) und Irma.
Foto: privat
deutschen Auswanderern aus
Württemberg gegründet wurden.
Parallel entstanden im Kaukasus
Das Wachsen und Gedeihen der deutschen
deutsche Kolonien wie Neu-Tiflis,
Kolonien trug zu einem ökonomischen
Katharinenfeld, Elisabethtal, Alexanderdorf,
Aufschwung im Kaukasus bei. In jeder der
Petersdorf und Annenfeld.
Ansiedlungen gab es Schulen und in
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 21 -
Seminar Diese alte Aufnahme zeigt die Angehörigen der Familie Krämer in Tiflis.
Fotos: privat
ist. Ihre Schwester Erna gründete später
eine eigene Familie. Sie soll sechzehn
Jahre alt gewesen sein, als sie den
Armenier Karapet Karanjan kennen lernte.
Die beiden waren nie gesetzlich verheiratet.
Sie bekamen zwei Söhne.
Helenendorf sogar ein Gymnasium. Auf
dem beinahe einhundert Jahre alten Bild
sind Christina ( 1883 – 1943) und ihr Mann
Wilhelm Krämer abgebildet, mit den beiden
Töchtern Erna, die zum Zeitpunkt der
Aufnahme noch ein Baby war, und Irma.
Auf dem Bild ist Christina etwa 30 Jahre alt.
Da ihr Sterbedatum und das Geburtsdatum
von Erna bekannt sind, lässt sich schnell ihr
Alter rekonstruieren. Alle Familienmitglieder
sind wahrscheinlich in Elenendorf geboren
worden, da uns das nächste Foto die
Familie im großen Kreis der Verwandtschaft
zeigt. Das bedeutet, dass bereits davor
Familienmitglieder ausgewandert sein
müssen und wahrscheinlich auch einen Teil
zu der Gründung der Kolonie beigetragen
haben. Auf diesem Bild sind die Mädchen
Erna und Irma schon etwas größer.
Doch Irma bleibt nicht länger bei der
Familie. Sie wird ungefähr 1926 bei einem
Überfall der Gorzi verschleppt. So wurden
die marodierende Banden genannt, die in
den Bergen lebten und häufig deutsche
Siedlungen überfielen. Die Familie sah das
Mädchen nie wieder. Bis heute weiß
niemand, welches Schicksal ihr widerfahren
Erna Krämer und ihr Mann Karapet Karanjan
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 22 -
Seminar hinterließ seine Frau und Kinder. Sergej
heiratete Tamara Koþneva und hatte mit
ihm vier Kinder. Das erste Kind war ein
Junge, der auch den Namen Sergej erhielt,
danach folgten die Mädchen Ludmila,
Tatjana und Svetlana. Die Kinder wuchsen
in Kasachstan heran und ahnten zunächst
nichts von ihrer turbulenten
Familiengeschichte. So zumindest erzählte
es Sergej Krämer seiner Enkelin.
Der ältere hieß Vladimir und der jüngere
Sergej ( geb. 1932). Die beiden Jungen
wurden in Aserbaidschan geboren, zu dem
die letzten der deutschen Kolonien damals
gehörten. Die Familie musste weitere
Schicksalsschläge verkraften. Schon bald
nach der Geburt von Sergej starb dessen
Großvater Wilhelm Krämer. 1940, nach
Beginn des Zweiten Weltkriegs musste der
Vater, Karapet Karanjan, in den Krieg
ziehen und ist verschollen oder gefallen.
Keiner vermag das genau zu sagen. Erna
blieb mit den zwei kleinen Söhnen allein.
Aber irgendwann schloss sich schließlich
doch der Kreis. Sergejs Tochter, Tatjana
Nazarenus,
war die Erste,
die es mit ihren
Mann und den
Kindern wagte,
ihr Geburtsland
Kasachstan
gegen
Deutschland
einzutauschen.
Erst dann
folgten
Tatjanas
Geschwister,
ihr Vater
Sergej und ihre
Sergej, seine Frau Tamara und ihr vier Kinder nehmen die
Mutter Tamara.
Großmutter Erna Krämer in ihre Mitte.
Foto: privat
Während der
Kriegszeit
wurden viele
Männer aus
den deutschen
Kolonien zum
Militärdienst
und zum
Einsatz an der
Front
gezwungen
oder nach
Sibirien ins
Arbeitslager
gebracht. 1941
wurde der
noch
verbliebene
Rest der Familie Krämer nach Kasachstan
deportiert. So musste Erna mit ihrer Mutter
Christina und den beiden Jungen nach
Kasachstan übersiedeln. Dort standen alle
Familienmitglieder bis 1956 unter
„Komendatur“, also unter Meldepflicht bei
den Behörden. Erna gab den beiden
Jungen ihren Mädchennamen und seitdem
lebt der Familienname Krämer weiter.
Tatjana Krämer
heiratete 1984 Waldemar Nazarenus, der
ebenfalls deutsche Vorfahren hatte, die im
18. Jahrhundert nach Russland
ausgewandert waren. 1990 gingen die
ersten Mitglieder der Familie Nazarenus
nach Deutschland. Die große Wanderung
zurück zu den Wurzeln der Vorfahren
begann. 1994 folgte Tatjana, geborene
Krämer, mit ihrem Mann. Jahre später
folgten Tatjanas Eltern Sergej und Tamara
und ihre Schwestern Ludmila und Svetlana
samt Familien.
Bis zu ihrem Tod 1990 behielt Erna einen
starken deutschen, zum Teil einen
schwäbischen Akzent bei. Ihre beiden
Söhne wurden erwachsen und heirateten.
Doch Vladimir ertrank beim Fischen und
Ich selbst bin Tatjanas Tochter, geboren
1985, und heiße Oksana Nazarenus.
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 23 -
Seminar Donauabwärts in Richtung Osten – unterwegs im 19. Jahrhundert
*..&1. 2
Wir befinden uns im Jahre 1846. Die
Der Krämer um die Ecke hat schon ein
Menschen in Tübingen und in den
Fuhrwerk klargemacht. Tiefergelegte
umgebenden Dörfern leiden unter den
Doppelfelgen ohne Stoßdämpfer, zwei
Pferdestärken davor gespannt. Insgesamt
Folgen von Missernten und Hungersnöten.
Die Studiengebühren
werden wohl 25 Leute
steigen ins
mitkommen. Gepäck
aufladen, sich von allen
unermessliche,
schlechtes Wetter, miese
verabschieden. Könnte
Wie war die Reise? Zwei
Laune. Nichts also wie
sein, dass man sie nie
Arbeitsgruppen im Seminar
weg hier! Wir haben
wieder sieht. Innerlich
„Lebenswege von Auswandekeinen Kreuzer in der
wissen wir genau: Das ist
rern“ fragten sich, auf welchen
Tasche und bewerben
ein Abschied für immer.
Wegen und mit welchen
uns für ein Reisegeld.
Verkehrsmitteln die Auswanderer
Langsam zuckeln wir aus
Die Gemeinden zahlen
im 19. Jahrhundert unterwegs
freiwillig, um uns los zu
Tübingen in Richtung
waren. Um sich in deren Lage
werden. Ansonsten
Reutlingen und
versetzen zu können, haben die
bliebe uns nur das
verabschieden uns von der
Teilnehmer in der Phantasie ihr
Armenhaus.
wunderschönen
Hab und Gut in Kisten und Koffer
Neckargegend, in der wir
gepackt und sind auf Zeitreise
Das Reisegeld ist höchst
unser ganzes Leben
gegangen. Die einen zogen die
verbracht haben. Urach,
willkommen. Wir packen
Donau abwärts in Richtung
unser Hab und Gut in
und dann endlich Ulm. Im
Siebenbürgen. Die anderen
Holzkisten. Auch
Vergleich zu der ziemlich
hofften, im Amerika des 19.
holprigen Fahrt auf dem
Proviant für die nächsten
Jahrhunderts eine Zukunft zu
zwei Wochen. Wer weiß,
Pferdefuhrwerk wird die
finden. Auf den folgenden Seiten
ob’s im Ausland dunkles
Schifffahrt hoffentlich
haben sie ihre Reiseberichte
erholsam. Wie viele andere
Brot gibt. Wo wollen wir
niedergeschrieben.
eigentlich hin? Es hieß,
besichtigen auch wir das
in Siebenbürgen gebe es
Ulmer Münster und sind
angesichts seiner Größe
mehr als genug Land
und das auch noch billig.
und Schönheit erst mal
Also ab in den Osten, wo die Sonne früher
„überfahren“. Unsere „Ulmer Schachtel“
wird gerade noch gebaut. So werden hier
aufgeht als bei uns! So sieht unser
Reiseplan aus: Die Donau flussabwärts,
die Flusskähne bezeichnet. Mit einem von
vorbei an Passau, Wien und von da in
ihnen sollen wir tatsächlich bis nach Wien
kommen. Nach schwedischem Modell wird
Richtung Pest. Von dort aus mit dem
Fuhrwerk in die weiten Ebenen des
das Floß aus Brettern zusammengebastelt,
Siebenbürger Landes.
komplett ohne Bauanleitung und ImbusSchlüssel.
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 24 -
Seminar Da wir nicht sonderlich viel Ahnung von der
Schifffahrt haben, bezahlen wir drei nette
Zeitgenossen dafür, uns sicher die Donau
flussabwärts zu geleiten. Die unangenehme
Neuigkeit ist: Wir müssen rudern. Schön
dagegen: Wir sammeln Auslandserfahrung
in Bayern. So schippern wir weiter die
Donau abwärts, immer im Wechsel an den
Rudern. Die Frauen dagegen sorgen für
unser leibliches Wohl: Wochenlang
Kartoffelsuppe vom Feinsten – sie scheinen
das noch gerne zu machen.
gemeinsames Ziel bringt uns jedoch schnell
wieder zusammen, sodass wir erschöpft
von den anstrengenden Tagen und dem
leisen Plätschern der Wellen schnell
einschlafen.
Beim Erwachen stellt jeder von uns mit
ungläubigem Blick fest: Die Ulmer
Schachtel ist nur das eigene Bett und im
Bad nebenan duschen der Vater oder eins
der Geschwister, die heute früh raus
müssen. Allerdings irritiert der Geschmack
von Kartoffelsuppe auf der Zunge. Offenbar
eine Erinnerung an das letzte Abendessen.
Am Ufer ziehen hin und wieder mal
Ortschaften vorbei. Sobald es dunkel wird,
legen wir am Ufer an. Zur Sicherheit
verbleiben wir auf unserer Schachtel. Platz
ist Mangelware, so sind Streitigkeiten
gerade zu den Ruhezeiten die Regel. Unser
Was war das nur für ein Traum?
Wolfgang Baum, Oksana Nazarenus,
Matthias Stange und Martina Wiederkehr
Unternahmen eine Phantasiereise donauabwärts: Martina Wiederkehr, Matthias Stange,
Oksana Nazarenus und Wolfgang Baum (von links) mit dem Modell einer „Ulmer Schachtel“,
einfachen Holzbooten, mit denen Auswanderer im 19. Jahrhundert über Wien und Pest in
Richtung Südosten zogen.
Foto: Droste
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 25 -
Seminar Ein Koffer mit ein paar Habseligkeiten war meist alles, was die Passagiere auf den
Auswandererschiffen des 19. Jahrhunderts mitnehmen konnten.
Foto: Droste
Auswandern nach Übersee im 19. Jahrhundert barg viele Gefahren in sich
! "., & %
"#3 strecken in der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts gelangten immer mehr
Auswanderer mit der Bahn zu ihrem
Ausschiffungshafen. Zu Rotterdam, Le
Havre oder den italienischen Mittelmeerhäfen kamen Bremerhaven und Hamburg
als Orte, an denen die Auswanderer an
Bord der Schiffe nach Übersee gingen. Die
Auswanderung über Le Havre war vor
allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebt, weil die Reisenden die
Auswanderer aus dem Raum Tübingen
sind auf verschiedenen Wegen nach
Amerika gelangt. Aus den umliegenden
Dörfern begann ihre Reise meist zu Fuß
oder mit dem Pferdefuhrwerk. Von
Tübingen aus ging es dann in Booten und
Schiffen neckarabwärts in Richtung
Heilbronn und Mannheim. Von dort zogen
die Emigranten in der ersten Hälfte des 19.
Jahrhunderts meist auf dem Rhein nach
Rotterdam. Mit dem Bau der Eisenbahn-
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 26 -
Seminar allzu häufig zu entrichtenden Grenzzölle
innerhalb Deutschlands sparen wollten. In
den Häfen angekommen, mussten die
Auswanderer allerdings oft noch Wochen
auf die eigentliche Ausreise warten. Es
fehlten Unterkünfte für die Wartenden und
eine ausreichende Versorgung war
keineswegs sicher. Oft brachten die
Auswanderer ihren Proviant selber mit, der
durch das lange Warten oft schon bald zur
Neige ging. Dazu gehörten Nahrungsmittel
wie Getreide, Kartoffeln, Schinken,
Pökelfleisch, Schmalz, Butter und Käse.
Aber auch lebende Tiere wie Schweine,
Hammel, Hühner und sogar Kühe waren
auf engsten Raum mit dabei. Viele
Reisende wurden krank oder starben, bevor
sie überhaupt an Bord gehen konnten. Erst
allmählich verbesserten sich die
Reisebedingungen.
viele Auswanderer dabei. Die Umstände an
Bord waren extrem. Die Menschen waren
auf engstem Raum zusammen-gepfercht.
Es gab kaum Frischluft, von
Waschmöglichkeiten gar nicht zu reden.
Schon bald nach dem Ablegen der Schiffe
faulte das Wasser, was für viele zu
Krankheiten wie Typhus, Cholera und
Mundfäule führte. Je länger die Reise
dauerte, desto schlechter wurde die
Stimmung und es kam zu Konflikten.
Zwar wurden mit Einführung der
Dampfschifffahrt um 1850 die Verhältnisse
besser und die Reisezeit verkürzte sich.
Aber für den größten Teil der Passagiere
blieb es beschwerlich, in die neue Welt
auszuwandern. Nur zwei oder drei Prozent
der Passagiere konnten sich eine Reise in
der zweiten oder ersten Klasse leisten. Der
Rest fuhr in der dritten Klasse im Zwischendeck mit. Zielhäfen waren unter anderem
New York, New Orleans, Philadelphia und
Baltimore, aber auch südamerikanische
Häfen waren beliebt. Hatte die
Überquerung des Atlantiks auf den
Frachtseglern bis zur Mitte des 19.
Jahrhunderts je nach Wetter noch sechs bis
zwölf Wochen gedauert, waren es mit den
Dampfschiffen noch acht bis zwölf Tage.
Nicht nur Krankheiten und Hunger machten
den Reisenden zu schaffen, sondern auch
die hohen Kosten, die mit der langen Reise
verbunden waren. Die Schiffspassage von
Bremerhaven nach New York oder andere
Häfen in Übersee kostete die Auswanderer
nicht selten ihr ganzes Vermögen.
Wie haben die Leute das Geld zusammen
bekommen? Viele Familien hatten in der
Heimat ihr ganzes Hab und Gut verkauft.
Allein reisende Männer konnten die Reise
manchmal finanzieren, indem sie auf einem
der Schiffe anheuerten. In einigen Fällen
konnten die Auswanderer auch mitfahren,
wenn sie sich auf Jahre hinaus
verpflichteten, in Amerika ihre Schulden auf
Farmen oder in anderen Diensten
abzuarbeiten. Diese Arbeit wurde von den
Kapitänen der Schiffe vermittelt.
Endlich am Zielhafen angekommen, nach
tage- oder wochenlanger Überfahrt,
mussten die Auswanderer strenge
Einreisekontrollen überstehen. Gefragt
wurde nach dem physischen und
psychischen Gesundheitszustand, aber
auch die finanzielle Situation war für die
Einreise von Bedeutung. Auf Ellis Island,
einer Insel im Hudson River vor New York
mussten die Einwanderer einen Bürgen in
den USA und eine bestimmte Summe an
US-Dollar in ihrem Besitz nachweisen. Die
amerikanischen Behörden wollten sicher
sein, dass die Einwanderer nicht der
Staatskasse zur Last fallen würden.
Ab 1817 war dies jedoch nicht mehr
möglich und die Reisenden mussten die
Schiffskarten vor der Abfahrt bezahlen. Viel
Gepäck konnten die Reisenden nicht mit an
Bord nehmen. Außer dem Notwendigsten
zum Leben mussten sie ihre eigenen
Decken mitbringen. Auch eine Bibel hatten
Theresa Köckeritz, Susan Azimi, Ernesto
Edele, Andrea Rumpel
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Otto und Erwin Küenzlen machten sich einige Zeit nach ihrer Ankunft in den USA selbständig mit
einem Unzugsunternehmen. Das Bild wurde vermutlich kurz vor der Wende zum 20. Jahrhundert
aufgenommen.
Foto: privat
Die Geschichte der Brüder Otto und Erwin Küenzlen aus Besigheim
&3$!3!&##3!
bereits während des amerikanischen
Bürgerkriegs Ende des 18. Jahrhunderts in
die USA ausgewandert war. Wilhelm war
1829 geboren worden und hatte in
Tübingen Medizin studiert. Er muss zu
Hause das schwarze Schaf der Familie
gewesen sein. Nach einem Vorfall, der wohl
so schändlich war, dass keiner in der
Familie je wieder darüber sprechen wollte
und der deshalb hier nicht näher beleuchtet
werden kann, hatte Haagen heimlich seine
Sachen gepackt, um in die Staaten
auszuwandern.
Als im Frühjahr 1893 am Horizont die Küste
der Neuen Welt endlich sichtbar wurde,
hatte der gerade mal 17-jährige Otto
Küenzlen aus Besigheim in Württemberg
eine mehrwöchige Reise hinter sich.
Nachdem er die Einwanderungsbehörden
auf Ellis Island, New York erfolgreich
passiert hatte, war es offiziell: Er war in
seiner neuen Heimat angekommen.
Sein vier Jahre älterer Bruder Erwin war
schon 1888 in die Staaten gekommen. Die
beiden Brüder kamen zu Beginn bei ihrem
Onkel Wilhelm Christian Haagen unter, der
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Amerikafahrer, Ulrich Küenzlen, ist
passionierter Hobbygenealoge und war in
unserem Seminar zu Gast. Der
pensionierte Gymnasiallehrer für
Geschichte hat viel über seine Familie und
Vorfahren nachgeforscht und wusste uns
viele interessante Details zu berichten. Mit
Anekdoten, Bildern und Briefen hauchte er
einer klassischen, südwestdeutschen
Auswanderergeschichte des 19.
Jahrhunderts Leben ein. In diesen
einhundert Jahren verließen rund 5,3
Millionen Deutsche ihre Heimat in Richtung
In den USA machte Haagen mit der Arbeit
auf Zucker- und Tabakfarmen im Süden
gutes Geld und ließ sich später als Arzt in
New York nieder. Als er 1880 in Stuttgart zu
Besuch war, hinterließ er einen starken
Eindruck bei seinen Neffen Otto und Erwin,
die anschließend beschlossen, ebenfalls in
die USA auszuwandern.
Zusammen eröffneten die Brüder einige
Zeit nach Ottos Ankunft ein
Umzugsunternehmen unter dem Namen
„Otto Kuenzlen moving vans“.
16. März 1893: In der Original-Passagierliste ist Otto Küenzlens Reise von Amsterdam nach New
York festgehalten. Als Beruf hat der 17-Jährige Farmer angegeben.
Quelle: ancestry.de
USA. Gründe dafür waren beispielsweise
schlechte Lebensbedingungen für Bauern
und Handwerker durch anhaltende
wirtschaftliche Not und die
Industrialisierung. Dazu kam, dass es in
den meisten Familien schon zuvor
Auswanderer gegeben hatte, die in Briefen
die vielversprechenden Möglichkeiten in
den Vereinigten Staaten beschrieben.
Immer wieder folgten Verwandte und
Bekannte dann ihrem Beispiel. In vielen
Familien gab es im 19. Jahrhundert im
Südwesten Deutschlands wie auch in vielen
anderen Regionen in jeder Generation
einen oder mehrere Auswanderer. Dies
bezeichnet man als Kettenmigration.
Augenscheinlich war der Name des älteren
Bruders im Englischen zu sperrig, da er auf
offiziellen Dokumenten aus dieser Zeit
seinen Zweitnamen Wilhelm, im Englischen
William, verwendete.
Im Jahre 1899 erhielt Otto vom District
Court von New York City die amerikanische
Staatsbürgerschaft. Dies ist ersichtlich aus
einem Dokument, das auf einer Datenbank
im Internet unter www.ancestry.de zu
finden ist. Dort sind viele Informationen
über Auswanderer der vergangenen
Jahrhunderte gespeichert. Hier findet sich
auch Anträge, mit denen Otto Küenzlen alle
paar Jahre einen amerikanischen Pass
beantragte. Diese benötigte er, um in den
Jahren 1904, 1911 und 1924 auf Besuch zu
seiner Verwandtschaft in Deutschland zu
fahren. Er war auch der Patenonkel eines
seiner Neffen in Deutschland und hielt
Briefkontakt.
Obwohl die Geschehnisse um Otto und
seinen Bruder Erwin so lange her sind,
gelang es uns, der Spur der Brüder
Küenzlen durch die Jahrzehnte ihres
Lebens in Amerika zu folgen. Unter
ancestry.de fanden wir besonders viele
Dokumente aus dem Ort Boise, Idaho, wo
die Brüder lange gelebt haben. Aus einem
Wie sind wir auf diese Geschichte
gestoßen? Der Großneffe der beiden
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Otto Küenzlen wurde, wie die meisten Amerikaner, für den ersten Weltkrieg gemustert. Unter ancestry.de
findet sich auch sein Musterungsbescheid im Original.
Adressbucheintrag aus dem Jahre 1927
wird deutlich, dass Otto geheiratet hat:
Seine Frau Rebecca wird mit ihm
aufgeführt.
das Ledersofa und die ledernen
Schultaschen aus seiner Jugendzeit. In
einem ihrer Briefe forderten die Onkel in
Amerika ihren Neffen Otto Eugen in
Deutschland auf, das Theologiestudium
bleiben zu lassen und lieber Spanisch und
Englisch zu lernen, um so wie sie in die
USA auszuwandern.
Warum sind die Küenzlens nach Westen
gezogen? Nach Aussage von Ulrich
Küenzlen handelten Otto und Erwin an der
so genannten „Trapperfront“ mit Tierhäuten
und Pelzen und zogen mit den Pionieren,
Abenteurer und Siedler dieser Jahre
westwärts. Immer wieder, so erzählt Ulrich
Küenzlen, fanden sich in den „CarePaketen“, die sie zwischen 1945 und 1947
nach Deutschland an ihren Neffen Otto
Eugen Küenzlen, Ulrichs Vater, schickten,
neben Süßigkeiten und
Gebrauchsgegenständen auch Leder und
Felle. Ulrich Küenzlen erinnert sich gut an
Erwin starb schon 1926 im Alter von 44
Jahren an den Folgen einer Herzkrankheit.
Die Brüder hätten Zeit ihres Lebens
Sehnsucht nach ihrer alten Heimat gehabt,
erzählte uns Ulrich Küenzlen. Ihren letzten
Wunsch habe die Familie daher erfüllt:
Beide wurden auf dem Friedhof in
Besigheim begraben.
Ernesto Edele und Wolfgang Baum
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Ulrich Küenzlen zog seine Zuhörer zwei Stunden lang in den Bann seiner Erzählungen: Der
pensionierte Gymnasiallehrer hatte Bilder, Dokumente und Anekdoten mitgebracht über die beiden
Amerikafahrer Otto und Erwin Küenzlen - sie waren die beiden Großonkel des passionierten
Hobbygenealogen.
Fotos: Droste
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar 5
In dieser Abschrift aus dem Familienregister ist Michael Lutz als eines von zehn Kindern des Bäckers Johann Lutz
und seiner ersten Frau Margarethe verzeichnet.
Quelle: Aufzeichnungen Hermann Griebel
5
Michael Lutz – ein Ofterdinger sucht sein Glück in Amerika
,0) !,4!%
Michael Lutz, Sohn des Bäckers Johannes
Lutz und dessen Frau Maria Margaretha
Lutz, geb. Gulde, soll uns als eines der
typischen Auswanderer-Beispiele des 19.
Jahrhun-derts dienen. Die Lebensgeschichte des in Ofterdingen geborenen
Schlossers spiegelt eine Zeit wider, in der
gerade im Südwesten Deutschlands viele
ihre Habseligkeiten zusammen packten. Ein
Mann und seine Familie auf dem Weg zu
einem neuen Leben im fernen Amerika.
Doch was steckt hinter der Lebensgeschichte der Familie Lutz? Nicht viel mehr
als Michaels Namen kennend, begaben wir
uns in Archiven und Datenbanken auf seine
Spur. Wir sind fündig geworden. Die
Ergebnisse unserer Recherche haben wir
hier zusammen getragen.
Die Bedeutung der Kirchen- und
Gemeindearchive lernten die
Seminarteilnehmer bei einer
Exkursion ins Ofterdinger Pfarramt
kennen. Dabei gaben der
Familienforscher Hermann Griebel
aus Belsen bei Mössingen und der
Ofterdinger Gemeindearchivar Dr.
Gerhard Kittelberger einen Einblick
in die Personenrecherche in Ortsund Kirchenarchiven, unter
anderem am Beispiel des 1889
ausgewanderten Michael Lutz.
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar 5
Michael wurde am 27. Februar 1855 als
viertes von zehn Kindern geboren. Nach
dem Tod der Mutter heiratete der Vater
Johannes Lutz seine zweite Frau Anna,
geborene Hausch, die ihm weitere vier
Kinder schenkte. Michael hatte also vier
Halbgeschwister. 1878 heiratete Michael
selbst seine Frau
Agnes, geborene
Weidle. Für den
Ehebeginn
standen dem
jungen Paar 1300
Mark als Wert des
gesamten Hab und
Guts zur
Verfügung. Eine
genaue Auflistung
der in die Ehe
eingebrachten
Besitztümer, des
so genannten
„Beibringens“,
findet sich im
Ofterdinger
Gemeindearchiv in
Dokumenten mit
dem Titel „Inventur
und Teilungen“.
Johannes, geboren. Innerhalb weniger
Jahre folgten die weiteren sieben Kinder
Anna, Jakob, Albert, Konrad, Karl, Marie
und Anna. Drei von ihnen starben bereits
im Kindesalter, wie wir aus Einträgen im
Familienregister der Evangelischen
Kirchengemeinde Ofterdingen erfuhren.
Für das Jahr 1889 ist in
Dokumenten des
Gemeindearchivs der
Konkurs von Michaels
Handwerksbetrieb
verzeichnet. Noch im
selben Jahr ergriff der
Schlosser die Chance,
auszuwandern nach
Amerika. Michael nahm
dafür in Kauf, auf seine
Bürgerrechte im
württembergischen
Dorf Ofterdingen ganz
zu verzichten. Er gab
damit unter anderem
sein politisches
Mitspracherecht auf
und verzichtete auf die
so genannte Allmende,
also das Recht,
Gemeindeland und –
Michael, der nach
gut wie zum Beispiel
dem Tod der
Weiher oder Bäche zu
„Hier ist der Heiratseintrag von Michael Lutz und
Mutter ein Siebtel
nutzen. Ein Bürge
seiner Frau!“ Tugce Dizdar freut sich, eine Spur
zum
Lebensweg
des
1889
ausgewanderten
ihres Nachlasses
musste für ihn
Michael Lutz entdeckt zu haben. Foto: Droste
erbte, ging die Ehe
bezeugen, dass er
mit einem sehr
keine Schulden
bescheidenen Besitz ein. Als „Beibringen“
hinterließ, die dann andere für ihn hätten
ist in den Inventur- und Teilungsakten sein
bezahlen müssen. Vermutlich hoffte er, in
Vermögen im Wert von 776 Mark genannt,
Amerika in seinem Beruf als Schlosser
welches aus „einem Gesangsbuch,
arbeiten zu können.
Kleidern und Leibweißzeugs, einer Bettlade
und Leinwand, landwirtschaftlichem
Aus einer Hamburger Passagierliste aus
Hausrat, und Handwerkszeug“ bestand.
dem Jahr 1890 geht hervor, dass ein Jahr
Das Beibringen seiner Frau bestand aus
später seine Frau Agnes sowie auch die
„einem Gesangsbuch, Kleidern, Bettzeug,
gemeinsamen Kinder Albert, Konrad,
einer Laterne, einer Bettlade sowie auch
Johannes, Karl und Marie ihm folgten. Die
versprochenem Heiratsgut“ und hatte einen
Mutter bestieg mit ihren Kindern am
Wert von insgesamt 540 Mark. Im Jahre
9. November 1890 das Schiff „Gellert“ in
1878 wurde der erste Sohn der Familie,
Hamburg, um dem Mann und Vater nach
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar 5
Amerika zu folgen. Die Passagierliste
haben wir in den Datenbanken im Internet
entdeckt, die sich unter www.ancestry.de
durchforsten lassen – eine Homepage, die
sich für unsere Seminarrecherche als
Fundgrube für die Spurensuche nach
Auswanderern
entpuppte.
Vier Jahre nach der
Ankunft der Familie in
den USA wurde eine
weitere Tochter,
Rosie, geboren. In
Zensuslisten aus den
in den Vereinigten
Staaten damals alle
zehn Jahre
durchgeführten
Volkszählungen findet
sich die Familie Lutz
im Jahr 1900 unter der
New Yorker Adresse
Brooklyn Ward 18 im
Stadtteil Kings. Alle
acht Familienmitglieder sind penibel mit
Vor- und Nachnamen
und Alter aufgelistet.
diesen Volkszählungen ist, dass die
Familienmitglieder der deutschen Familie
englische Namen erhielten – ein
Anpassungsprozess an die amerikanische
Gesellschaft. So ist Johannes Lutz in den
Volkszählungen nur noch als John Lutz
Michael Lutz und seine Frau Agnes ließen sich im Staat New York nieder.
Die Zensusliste aus dem Jahr 1900 belegt, dass sie in USA noch eine
weitere Tochter bekamen: Rosi ist hier fünf Jahre alt. Die anderen, in
Deutschland geboren, haben nun „amerikanisierte“ Vornamen: John, 21,
Albert, 20, Conrad, 19, Charles, 15, Mary, 12.
Quelle: ancestry.de
Die nächste
Lebensspur finden wir
in den Nachlassakten
des Gemeindearchivs
Ofterdingen. Als im Jahre 1901 Michaels
Vater in Ofterdingen starb, sollte der Sohn
– wie die anderen in der Heimat
gebliebenen Geschwister auch - 334 Mark
erben. Michael lehnte dieses Erbe ab. Das
Geld wurde wohl unter seinen
Geschwistern verteilt. Warum er sein Erbteil
ausschlug, darüber geben die alten
Dokumente keine Auskunft.
auffindbar und sein Bruder Karl ist als
Charles verzeichnet.
Was innerhalb der nächsten zehn Jahre
passierte, ist nicht überliefert. Für das Jahr
1920 allerdings gibt uns die New Yorker
Volkszählung wieder Auskunft. Die Familie
ist umgezogen. Michael, seine Frau Agnes
und ihre Tochter Rosie wohnen nun in der
Brooklyn Assembly District 19, Kings, New
York. Rosie, nun 25 Jahre alt, wurde unter
dem Namen Rose geführt.
Aus den Zensuslisten der New Yorker
Volkszählung im Jahr 1910 ist zu
entnehmen, dass die Kinder Johannes,
Albert und Karl inzwischen aus dem Hause
Lutz ausgezogen sind. Interessant an
Konrad und Maria scheinen inzwischen
ebenfalls aus dem Haushalt ihrer Eltern
ausgezogen zu sein. Wann Michael Lutz
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 34 -
Seminar 5
gestorben ist, wissen wir nicht. Aber mit ihm
war die Auswanderungsgeschichte in
seiner Familie keineswegs zu Ende. Seine
Halbschwester Anna Maria beschloss zwei
Jahre nach ihm, Ofterdingen zu verlassen
und nach Amerika zu ziehen. Vermutlich
folgte sie ihrem Bruder nach New York, um
dort ein besseres Leben zu führen. Sie
verließ Deutschland über den Hamburger
Hafen im Juni 1891.
Eine Reportage zu der Exkursion
in die Ofterdinger Archive lesen
Sie im Pressespiegel im Anhang
zu dieser Seminarzeitung. Sie ist
am 15. Februar 2009 erschienen
„Evangelischen Gemeindeblatt für
Württemberg“, Ausgabe 7/2009.
Anna-Maria Lutz war bei ihrer Abreise 18
Jahre alt, wie die Passagierlisten des
Schiffes „Fürst Bismarck“ verraten. Diese
Daten passen auch ungefähr zu den
Geburtsdaten in den Kirchenbüchern: Anna
Maria war am 11. Dezember 1872 in
Ofterdingen auf die Welt gekommen.
Tugce Dizdar
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar 5
Gemeinsame Spurensuche: Hermann Griebel (vorne, sitzend) und Dr. Gerhard Kittelberger (zweiter von
rechts) zeigten den Teilnehmern der Seminarexkursion, wie sich in alten Kirchenbüchern Lebensspuren
früherer Bewohner des Dorfes finden lassen.
Foto: Droste
5
Kirchen- und Gemeindearchive bergen Schätze für die Personenrecherche
* **&53.
und in Datenbanken eingespeist, die sich
per Mausklick durchsuchen lassen.
Wer sich auf die Spurensuche nach den
Lebenswegen und Biographien seiner
Vorfahren im Allgemeinen oder aber der
Auswanderer im Besonderen begibt, kann
dazu verschiedene Quellen nutzen. Dabei
spielt zum einen das Internet eine wichtige
Rolle, wo sich beispielsweise die
Einwandererakten in Ellis Island, New York,
online durchsuchen lassen unter
www.ellisisland.org . Eine Fundgrube sind
außerdem genealogische Webportale wie
zum Beispiel www.ancestry.de .
Millionenfach wurden in den vergangenen
Jahren Volkszählungslisten, Militärakten,
Sterberegister, Kirchenbücher oder andere
Dokumente gescannt, abgetippt, digitalisiert
Aber neben dem Internet spielen natürlich
auch die klassischen Recherchequellen wie
zum Beispiel Kirchenbücher,
Familienregister und Dokumente in
Ortsarchiven eine wichtige Rolle. Bei einer
Exkursion in Ofterdingen haben wir viel
darüber gelernt, wie sich Kirchen- und
Gemeindearchive bei der Recherche nach
einer bestimmten Person nutzen lassen.
Rede und Antwort standen uns dabei als
Experten Hermann Griebel und Dr. Gerhard
Kittelberger (siehe Kasten bei
vorhergehendem Beitrag). Als Beispiel für
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 36 -
Seminar 5
unsere Recherche diente uns der
Ofterdinger und New Yorker Schlosser
Michael Lutz, der 1855 geboren wurde und
1889 nach USA auswanderte.
Kittelberger erläuterte uns, dass es zu
unserem Thema der historischen
Auswanderung nur sehr wenig spezielle
Dokumente und -quellen gibt. Namen, Zahl
und Daten der Auswanderer früherer
Jahrhunderte wurden in der Regel auch im
Archiv der bürgerlichen Gemeinden nicht
zentral festgehalten. Eine Ausnahme dabei
sind die so genannten
Bürgerrechtsverzichtsurkunden. In diesen
mussten Auswanderungswillige
unterzeichnen, dass sie bereit waren, ihre
Bürgerrechte unwiederbringlich abzugeben
und mussten versichern, dass sie keinerlei
Schulden hinterließen. Dazu mussten sie
unter anderem auch eigens einen Bürgen
beibringen, der dies bezeugte.
In Bezug auf Michael Lutz´ Biographie
lassen sich in diesen Archive wichtige
Hintergrund-Daten und Ereignisse finden,
aus denen mögliche Gründe für seine
Auswanderung erkennbar werden. Doch
wie kann man Kirchen- und
Gemeindearchive als biographische
Recherchequellen verwenden? Um diese
Frage zu klären, ist es wichtig, die
Hauptaufgaben dieser Archive zu kennen.
Seit 1875 werden über die Standesämter
der Städte und Gemeinden unter anderem
Geburts-, Heirats- und Sterbedaten der
Bürger erfasst. Auch die
Abstammungsdaten finden sich hier, also
Namen und Geburtsdaten der Eltern einer
Person. Vor 1875 finden sich diese Daten
zusammen mit Tauf-, Konfirmations- oder
Kommunionsdaten meist in den
Familienregistern und Kirchenbüchern der
jeweiligen Kirchengemeinden – in vielen
Fällen noch zurück bis ins 16. Jahrhundert.
Da Michael Lutz 1855 geboren wurde, bot
sich für uns also die Suche beim Pfarramt
der Evangelischen Kirchengemeinde
Ofterdingen an.
Häufig geschah dieser Bürgerrechtsverzicht
erst, wenn die Auswanderer in der neuen
Heimat Fuß gefasst hatten. So kommt es,
dass im Gemeindearchiv beispielsweise
Urkunden abgelegt sind, die in New York
oder Chicago von Notaren abgefasst
wurden und per Post aus Übersee nach
Ofterdingen geschickt wurden. Ja, ganze
Schriftwechsel finden sich hier, bei denen
beispielsweise Erbschaften quer über den
Atlantik geregelt wurden.
Aber auch wenn ihre Lebens- und
Auswanderungsdaten ansonsten nicht
gezielt gesammelt und festgehalten
wurden, lassen sich Informationen über
Auswanderer in den Archiven finden.
Schriftliche Dokumente, so erläuterte
Kittelberger, wurden in früheren
Jahrhunderten in der Regel aus rechtlichen
und finanziellen Gründen abgefasst, wenn
beispielsweise das Vermögen zweier
Eheleute bei der Heirat festgehalten wurde
oder ein Erbe zu verteilen war.
Wir hatten Glück und genossen es, dass es
für uns eine Ausnahme gab: Da das
Blättern vieler fremder Hände den in der
Regel handgeschriebenen und gebundenen
Bänden massiv zusetzt, wurden viele
Kirchenbücher inzwischen auf Mikrofilm
archiviert und lassen sich in den jeweiligen
landeskirchlichen Archiven am Bildschirm
durchsuchen. Hermann Griebel und Dr.
Hermann Kittelberger zeigten uns jedoch
am Beispiel einiger alter Bände und
Dokumente, wie faszinierend eine solche
Recherche in den Originaldokumenten sein
kann.
Mit der Hilfe von Hermann Griebel wurden
wir auf der Suche nach Michael Lutz fündig
im Familienregister der Kirchengemeinde
Ofterdingen. In diesem sind seine
Eheschließung sowie auch die wichtigsten
Lebensdaten seiner Eltern Johannes und
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar 5
Maria Margaretha Lutz, geb. Gulde,
eingetragen. Hier findet sich auch der
Eintrag zu seiner zweiten Heirat: Nach dem
Tod seiner ersten Frau Maria am
Silvestertag 1864 heiratete der Bäcker
Johannes Lutz schon wenige Monate
später, am 20. April 1865 Anna Hausch.
Vermutlich wollte Johannes Lutz so die
Versorgung seiner zahlreichen Kinder
sicherstellen: Maria Lutz hatte ihm in 16
Jahren Ehe zehn Kinder geboren, von
denen vier im Kindesalter starben. Drei von
ihnen starben innerhalb von drei Monaten
zwischen Februar und Mai 1858: Sie waren
nur vier Wochen, vier und neun Jahre alt
geworden.
kurz vor der Auswanderung nach Amerika
schon gestorben waren. Die Namen sowie
auch Geburtstage der anderen,
überlebenden Kinder in dem Kirchenbuch
stimmen mit den Namen der Passagierliste
des Schiffes „Gellert“ aus dem Jahr 1890
überein, die wir im Internet entdeckt hatten.
Mit der „Gellert“ war Agnes Lutz mit ihren
Kindern Albert, Konrad, Johannes, Karl und
Marie ein Jahr nach Michaels Aufbruch
über den Atlantik gereist.
Es ist uns also gelungen, mit unserer
Recherche der Familienbiographie der Lutz’
ein weiteres Puzzlestück hinzuzufügen: Im
Ofterdinger Familienregister fehlt Rosi, das
sechste Kind von Michael und Agnes Lutz:
Sie wurde 1894 oder 1895 in New York
geboren und ist daher im Ofterdinger
Kirchenbuch natürlich nicht erwähnt.
Aus dem Familienregister wissen wir, dass
Michael als viertes von 16 Kindern von
Johannes Lutz geboren wurde und seine
Mutter Maria Margaretha Lutz war. Alle
seine Geschwister und Halbgeschwister
sind im Familienregister mit Namen, und
Geburtsdatum, die meisten auch mit
Heirats- und Todesdatum verzeichnet.
Auch in den so genannten Inventur- und
Teilungslisten aus dem Archiv der
bürgerlichen Gemeinde werden wir fündig.
Hier finden sich Informationen zu den
finanziellen Verhältnissen der Bürger.
Penibel werden hier in Listen die
Besitztümer von Brautleuten oder die von
Verstorbenen bei Erbfällen aufgeführt.
Immer wieder lassen sich Hinweise auf
ausgewanderte Ofterdinger Bürger
entdecken. Ab und zu, so verrät Hermann
Griebel, sei hier auch das Hab und Gut
verzeichnet, mit dem Auswanderer die
Gemeinde verließen – bis hin zu Säcken
mit getrockneten Äpfeln und Birnen.
Haltbarer Proviant für die lange Reise.
Interessant an den Funden zu Michael Lutz
an dieser Stelle sind einige rot
eingetragene, handschriftliche
Kommentare, deren Autor unbekannt ist.
Diese Einträge gaben Informationen zu
seiner Auswanderung. In Fußnoten gaben
die Verfasser dieser Kirchenbücher
Querverweise zu anderen Archivbänden
an, in denen die Eheschließung von
Michael und seiner Frau Agnes registriert
wurde. Für uns sind das wertvolle
Recherchehinweise. So findet man mit Hilfe
der Fußnote „Band III S. 173“ auf der
bezeichneten Seite die Eheschließung von
Michael Lutz und seiner Frau Agnes, geb.
Weidle. Ebenfalls entnimmt man diesem
Kirchenbuch alle Geburtsdaten der in
Ofterdingen geborenen fünf Kinder.
Der letzte Eintrag, den wir mit der Hilfe von
Gerhard Kittelberger bei unserem Besuch
in Ofterdingen über Michael Lutz
entdecken, findet sich in Nachlassakten im
Gemeindearchiv aus dem Jahr 1901: In
diesem Jahr stirbt Michaels Vater Johannes
Lutz im Alter von 76 Jahren. Der Sohn, der
hier als „Schlosser in New York“ bezeichnet
wird, lehnt sein Erbteil ab.
Im Familienregistereintrag zur Familie von
Michael Lutz steht außerdem – wir haben
Glück! - das Jahr der Auswanderung sowie
auch die Todesdaten der drei Kinder die
Tugce Dizdar
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Bremerhaven entdeckt seine maritime Geschichte neu – auch die Bedeutung der Auswanderer für die
Entwicklung der Stadt: Als „Bremer Hafen“ in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet, gingen
hier Millionen von Emigranten an Bord von Schiffen.
Foto: Azimi
Bremerhaven – Geschichte der Stadt ist eng mit der Auswanderung verbunden
Menschen eine Einheit bilden, ist in den
letzten Jahren viel geschehen. Auf dem
Weg zur Identitätsfindung und zu den
Wurzeln entstehen nicht nur TourismusAttraktionen, sondern es entsteht auch ein
neues Gefühl für die Region und die
Menschen.
Bremerhaven: Was ursprünglich als
„Bremer Hafen“, also als eine Erweiterung
der Stadt Bremen gedacht war, entwickelte
sich im 19. Jahrhundert zu einer
eigenständigen Stadt und zu einem der
bedeutendsten Auswandererhäfen
Europas. Große Zerstörungen nach
Bombenangriffen im Zweiten Weltkrieg, der
Niedergang der Personenschifffahrt, das
Werftensterben und der Niedergang vieler
Reedereien – Bremerhaven und seine
Menschen haben Höhen und Tiefen erlebt.
Heute, im 21. Jahrhundert, ist wieder
frischer Wind spürbar. Dort wo ich
aufgewachsen bin, wo Wasser, Land und
Der Bremer Hafen
Als 1827 die Bauarbeiten für die
Hafenbecken der Stadt Bremen begannen,
war es noch nicht abzusehen, dass sich
das vom Bremer Senat erworbene Gebiet
an der Wesermündung in kürzester Zeit zu
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 39 -
Seminar einer eigenständigen Stadt entwickeln
sollte. Die ersten Auswanderungswellen in
Richtung Übersee in der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts trugen zum rasanten
Wachstum der Stadt und ihrer Bedeutung
als Umschlagplatz für Waren und
Menschen bei.
schlecht. Gleichzeitig gab es viele, die an
der Notlage der Ausreisewilligen verdienen
wollten, ob Händler, Gastwirte, Kapitäne
oder die Reedereibesitzer.
Wer es auf eines der Segelschiffe geschafft
hatte, dem erging es oft nicht besser. Die
drangvolle Enge in den Zwischendecks der
Frachtsegler, mangelnde Hygiene,
unzureichende und schlechte Ernährung
machten die Fahrt nach Übersee zur Tortur.
Wenn die See stürmisch war, kamen die
Passagiere der dritten Klasse, in der mehr
als 95 Prozent der Reisenden unterwegs
waren, kaum an die frische Luft an Deck.
Die Menschen verbrachten je nach
Jahreszeit und Wetter sechs bis zwölf
Wochen dicht gedrängt unter Deck. Zwei
mal zwei Meter Fläche auf übereinander
liegenden Holzpritschen mussten für fünf
Erwachsene und oft mehrere Kinder
reichen. Allein schon der immense
Platzmangel an Bord begünstigte eine
schnelle Ausbreitung von Krankheiten.
Viele überlebten die Schiffsreise nicht.
Um der Ausbeutung der Emigranten
entgegenzuwirken und die miserablen
Reisebedingungen zu verbessern, erließ
der Bremer Senat 1832 die „Verordnung
wegen der Auswanderer mit hiesigen und
fremden Schiffen“, die den Passagieren
einen Mindestschutz gewährleisten sollte.
Damit war der Senat im Vergleich zu
anderen europäischen Auswandererhäfen
nicht nur seiner Zeit voraus, sondern
förderte die Entwicklung der Stadt als
Ganzes. Immer mehr Auswanderer
entschieden sich für Bremerhaven als
Abreiseort, weil sie sich durch dieses
Gesetz geschützter fühlten als
beispielsweise in Le Havre, Rotterdam oder
Genua.
Mit einem letzten Blick auf den SimonLoschen-Leuchtturm in Bremerhaven nahmen
Hunderttausende von Auswanderern Abschied
von der alten Heimat.
Foto: Azimi
Auswanderer reisten vor 1850 unter den
schwierigsten Bedingungen. Allein schon
die Anreise zum Hafen aus den
verschiedenen Regionen Deutschlands und
Europas war beschwerlich. Eisenbahnen
gab es noch nicht und die meisten waren
Wochen auf dem Landweg und auf den
Flüssen unterwegs, bis sie in der
Hafenstadt ankamen. Dort mussten die
Auswanderer nicht selten noch mehrere
Wochen auf ihre Ausreise warten. Die
vorhandenen Unterkünfte reichten für die
große Zahl der Menschen bald nicht mehr
aus. Die hygienischen Zustände und die
Versorgung mit Lebensmitteln waren
Eine bedeutende Rolle für die
Auswanderung fiel der 1857 gegründeten
Norddeutschen Lloyd zu, einer Reederei,
die sich auf Auswanderung spezialisierte,
diese kommerzialisierte und die Dank der
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Auswanderungswellen des 19.
Jahrhundert zu einem weltweit
agierendem Unternehmen
wurde. Schon bald begann die
Norddeutsche Lloyd im ganzen
deutschsprachigen Raum und
darüber hinaus Anwerber
auszusenden, die den Leuten
von fernen Ländern berichteten
und ihnen in den buntesten
Farben die Möglichkeiten
schilderten, die ihnen dort
geboten würden.
Mit der stetig wachsenden
Anzahl von
Auswanderungswilligen wurde
auch die Infrastruktur vor Ort
ausgebaut. Der Hafen, der schon
bald einer so großen Menge an
Das Deutsche Auswandererhaus erhielt 2007 für sein
Menschen nicht gewachsen war,
außergewöhnliches Ausstellungskonzept die Auszeichnung
wurde Zug um Zug ausgebaut.
„European Museum of the Year“.
Foto: Azimi
Ein Auswandererhaus zur
Unterbringung der Reisenden
wurde errichtet und die
im 21. Jahrhundert, ist Bremerhaven einer
Anbindung an die in der zweiten Hälfte des
der größten Containerhäfen der Welt, in
19. Jahrhunderts entstandenen
dem jährlich mehr als 50 Millionen Tonnen
überregionalen Eisenbahnlinien verbessert.
an Waren umgeschlagen werden. Die
Menschen auf den riesigen
Schon seit den 1850er Jahren hatten nach
Kreuzfahrtschiffen, die hier anlegen, sind
und nach Dampfschiffe die Segelschiffe als
Touristen. Reisende auf Zeit.
Transportmittel für die Auswanderer
abgelöst. Die Norddeutsche Lloyd
entwickelte den ersten
Vierschornsteindampfer und nahm ihn in
Dienst. Der Dampfantrieb verkürzte die
Dauer der Überfahrt erheblich. New York
etwa war nun in acht bis zehn Tagen und
sehr viel komfortabler erreichbar als zuvor.
Maritime Stadtgeschichte neu entdeckt
Seit einigen Jahren wird der Geschichte
und der Bedeutung Bremerhavens als
Auswandererhafen wieder mehr Beachtung
geschenkt. Viele Einrichtungen sind
entstanden, die das maritime Bremerhaven
stärker hervorheben. Die Stadt an der
Wesermündung ist dadurch längst viel
mehr geworden als das Deutsche
Schifffahrtsmuseum und der Zoo am Meer.
Bis in die 1960er Jahre hinein war die
Entwicklung Bremerhavens durch die
Auswanderung geprägt, auch wenn sich
das Gesicht der Stadt durch alliierte
Bombenangriffe 1944 und den
Wiederaufbau in den 1950er Jahren stark
verändert hatte. 1974 legte das letzte Schiff
mit Auswanderern ab an einer der Kajen,
den Anlegestellen Bremerhavens. Heute,
Attraktiv für Besucher sind Projekte wie das
in seiner Art einzigartige „Klimahaus“, ein
Erlebnismuseum, das 2009 eröffnet werden
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 41 -
Seminar soll und die verschiedenen Klimazonen
rund um den Erdball erlebbar macht. Das
„Schaufenster Fischereihafen“, eine
Gastronomie- und Kulturmeile mit dem
daneben liegendem Meerwasseraquarium
„Atlanticum“ und dem
Veranstaltungszentrum „Forum
Fischbahnhof“ laden zum Besuch ein.
Passend zur Geschichte der Stadt öffnete
2005 das Deutsche Auswandererhaus
(DAH) seine Pforten, ein Erlebnismuseum
der besonderen Art, das seine Besucher
mitnimmt auf Zeitreise, gemeinsam mit
Auswanderern der vergangenen zwei
Jahrhunderte.
Nachfahren beispielsweise aus den USA
oder Südamerika an. Sie kommen, um ihrer
ganz persönlichen Geschichte
nachzuspüren oder die ihrer Vorfahren zu
erforschen. Edith Fuhrmann, geborene
Lemke, ist eine von ihnen. In den ersten
Januartagen des Jahres 2009 war sie zu
Besuch im DAH und an einem Nachmittag
danach erzählte sie mir ihre
Auswanderungsgeschichte.
!"
Ich fand es sehr interessant
dieses Thema zu
recherchieren und möchte
mich beim Team des
Deutschen Auswandererhauses, besonders bei
Sabine Wacker, Aislinn Merz
und Diab Bransi bedanken.
Sie gaben mir Gelegenheit,
mich umzusehen, Gespräche
zu führen und haben mir eine
Menge Fragen beantwortet.
Auch möchte ich Edith
Fuhrmann danken, dass sie
mir ihre Familiengeschichte
erzählt hat und mir dadurch
die Möglichkeit gegeben hat,
sie und ihre Familie ein
Stück weit kennen zu lernen
und so Einblick in eine sehr
persönliche Migrationsgeschichte zu gewinnen. Ihr
Bericht machte für mich
Geschichte lebendig und
greifbar. Und er zeigt, wie
wichtig in und für unsere
Geschichte die scheinbar
theoretischen Begriffe
Migration und Integration
sind.
Susan Azimi
Das DAH entstand in der Nähe des
historischen Auswandererhauses, das als
Unterkunft und Aufenthaltsort für die
Auswanderer gebaut worden war. Gleich
gegenüber liegt der Simon-LoschenLeuchtturm, das Gebäude, auf das
Hunderttausende Auswanderer noch einen
letzten Blick warfen, bevor die große Fahrt
begann.
Im DAH können die Besucher die Reise
einer Auswandererperson nacherleben.
Wer möchte, kann im so genannten Forum
Migration an Bildschirmen und über
Datenbanken selbst nach ausgewanderten
Vorfahren forschen. In
Sonderausstellungen, Vorträgen und
Veranstaltungen werden verschiedene
aktuelle und historische Aspekte des
Themas Migration aufgegriffen und einem
breiteren Publikum näher gebracht. Für
dieses Konzept wurde das DAH 2007 mit
der Auszeichnung „European Museum of
the Year“ ausgezeichnet, einem der
bedeutendsten Preise der europäischen
Museumslandschaft.
Neben Besuchern aus ganz Deutschland
zieht das DAH auch ehemalige
Auswanderer oder deren Angehörige und
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Edith Fuhrmann erzählt Auswanderergeschichten aus ihrer Familie
#$%#
wuchs der sehnliche Wunsch, seiner Mutter
in die USA zu folgen. 1936, mit elf Jahren,
machte er seinen Traum wahr und verließ
seine Familie in Deutschland. Der Abschied
war ein so einschneidendes Erlebnis für
alle Familienmitglieder, dass die Trauer
darüber noch Jahrzehnte später in der
Stimme von Edith Fuhrmann mitschwingt,
wenn sie erzählt, was sie von ihrer Mutter
weiß. Nur mit seinem Schulranzen
ausgestattet sei der kleine Henry mit elf
Jahren am 18. Mai 1936, an Bord des
Schiffes „Europa“ gegangen und
abgefahren.
Edith Fuhrmann lebt in einem kleinen Dorf
bei Bremerhaven, das zwischen Bremen
und Bremerhaven liegt. Dort betreibt sie,
mehr als Hobby, mit ihrem Mann in der
ehemaligen Dorfschmiede eine kleine
Fahrrad-Werkstatt. Ihr Mann arbeitet
hauptberuflich als Schiffsbauer in Bremen.
Edith Fuhrmanns Großtanten Bertha und
Alma Hartkopf wanderten über
Bremerhaven in die Vereinigten Staaten
von Amerika aus. Bertha, die älteste von
drei Schwestern, emigrierte 1912 im Alter
von 16 Jahren in die Vereinigten Staaten
und Alma folgte ihr 1925 mit 18 Jahren.
Johanne Hartkopf, die Schwester der
beiden, blieb im heimatlichen Dorf Düring in
der Nähe von Bremerhaven zurück.
Johanne war Edith Fuhrmanns Großmutter.
Mit der Geschichte ihrer Familie, die sie aus
den Erzählungen ihrer Mutter erfuhr,
beschäftigt sie sich noch heute und diese
lassen sie bis heute nicht los.
Die Kaje im Neuen Hafen, der für ganze
Auswanderergenerationen den Ort des
Abschieds darstellte, nimmt auch in der
Geschichte von Henry und Emilie einen
besonderen Platz ein. Später wird Emilie
ihrer Tochter Edith noch viele Male von
dem Moment des Abschieds berichten, der
sie nie wieder los ließ.
Während Bertha nach New Jersey
auswanderte und sich dort eine Zukunft
aufbaute, hatte Alma ihren unehelichen,
erst wenige Monate alten Sohn Henry in
der Heimat zurückgelassen, um in der
Ferne ihr Glück zu finden. Die Welt, in die
sie kam, war so ganz anders als das
niedersächsische Dorfleben, das sie
kannte. Edith Fuhrmann erzählt, dass ihre
Großtante Alma in New York die
Annehmlichkeiten einer Großstadt
entdeckte und ein ausschweifendes,
intensives Leben genoss. Ihr kleiner Sohn
Henry hingegen wuchs bei Almas
Schwester Johanne auf. Diese hatte
inzwischen geheiratet, hieß mit Nachnamen
Neif und hatte eine kleine Tochter mit dem
Namen Emilie.
In New York angekommen, gelang es
Henry nicht sich einzuleben. Er fand sich
nicht zurecht und seine Mutter Alma
unterstützte ihn weder, noch kümmerte sie
sich sonderlich um ihn. Voller Heimweh
nach der Familie und wohl auch nach der
Heimat Deutschland, hielt er sich immer
häufiger am Hafen auf, wo er versuchte,
sich das Geld für die Rückreise zu
beschaffen. Er schrieb nach Hause,
schaffte es aber nicht, das Geld für die
Überfahrt aufzutreiben.
Endlich gelang es ihm, auf einem Schiff als
Schiffsjunge anzuheuern, aber kurz vor
Ablegen des Schiffes ereignete sich ein
Unfall, bei dem er schwer verletzt ins
Krankenhaus eingeliefert werden musste.
Die Monate vergingen, bis er sich wieder
erholte.
Erst als Henry zehn Jahre alt war, erfuhr er,
dass Emilie nicht seine Schwester, sondern
Er kehrte erst als junger Mann zurück.
seine Cousine war und dass seine Mutter
Wieder in Deutschland, lernte er Wilma
Alma in Amerika lebe. In dem Jungen
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Hartkopf und seiner Familie für seine
Angehörigen in Deutschland.
Suhrhof aus Loxstedt kennen. Beide
heirateten und bekamen drei Kinder. Henry
stand aber fortan zwischen zwei Welten
und konnte sich nicht mehr richtig in
Deutschland einfinden. Deshalb wanderte
er mit seiner Frau und den drei Mädchen
Annemarie, 5, Berta, 3, und der
zweijährigen Johanna 1951 abermals in die
USA aus – diesmal sollte es für immer sein.
Die Schwestern Bertha und auch Alma
kehrten einige Male zu Besuch nach
Deutschland zurück, ihr Lebensmittelpunkt
aber blieb die USA. Den Kontakt hielten die
Familienmitglieder über Briefe aufrecht.
Aber da die Kinder beider Seiten wenig
Kenntnisse der jeweils anderen Sprache
besaßen, riss die Verbindung nach dem
Tod Emilies ab.
Dort arbeitete Henry Hartkopf zeitweilig in
den unterschiedlichsten Berufen, um seine
Familie zu ernähren. Das letzte was Edith
Fuhrmann von ihrem Großonkel erfuhr, ist
dass er als Küster in einer
Kirchengemeinde in New York arbeitete.
Dort verliert sich die Spur von Henry
Susan Azimi
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Susi und Peter Buschbacher aus Syracuse, USA
&'( )## *'(
'##' (+',
Susi Buschbacher
wurde in Polen
geboren und ihr
Mann Peter in
Jugoslawien. Auf
der Flucht kamen
sie im Zweiten
Weltkrieg nach
Deutschland und
wohnten zuletzt in
Heidenheim. Ihre
Eltern und sie
hatten während des
Krieges alles
verloren und so war
Susis und Peters
größter Traum,
eines Tages ein
eigenes kleines
Haus zu besitzen.
Susi und Peter Buschbacher haben nie bereut, Amerikaner geworden zu sein.
Ihre Biographien
Hier strahlen die beiden mit ihren beiden Enkeln um die Wette.
Foto:
und mangelnde
privat
berufliche
Perspektiven ließen
Nachbarn knüpften sie durch ihre Kinder
dies jedoch in Deutschland einen
schnell Kontakt und so gelang es ihnen
Zukunftstraum bleiben. Also beschlossen
auch ihr Englisch zu verbessern. Peters
sie, ein neues Leben in den USA zu
neuer Job brachte sie nach einer Weile nach
beginnen. Peter bekam einen Job in einer
Pennsylvania, wo sie sich tief im
deutschen Firma, in der seine berufliche
„Amishland“ eine Farm kauften. Die „Amish
Qualifikation sehr gefragt war. Außerdem
people“ verbindet ihr tiefer Glaube und eine
hatte er einen Bruder in Michigan, der den
Weltanschauung, zu dem ein Leben gehört,
beiden Auswanderern beim Start in der
das sie wie vor 200 Jahren ohne Strom,
Neuen Heimat seine Hilfe anbot.
Telefon oder Auto führen. Sie fahren in
Pferdekutschen und bestellen ihre Felder
mit von Mulis gezogenen Pflügen.
Im Jahr 1966 kamen sie mit ihren zwei
kleinen Kindern in Boston Massachusetts
an. Von da aus brachte sie Peters neuer
Chef nach New Hampshire, wo sie bereits
am ersten Tag ihren großen Traum wahr
machten und ein Haus kauften. Mit den
Dort wohnen viele Deutsche, auch jene die
schon Generationen zuvor in die USA
ausgewandert waren. Die Buschbachers
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Bundesstaat New York und fühlen sich dort
sehr wohl. Vor allem auch, weil ihre Tochter
mit Mann und Kind dort lebt. Obwohl bei
ihnen zu Hause noch viel Deutsch
gesprochen wird und deutsche Traditionen
wie Nikolaustag oder typische Gerichte beim
Essen weiter gepflegt werden, können sich
die Buschbachers nicht vorstellen, je wieder
nach Deutschland zurückzuziehen.
haben oft mit ihren Nachbarn und Freunden
zusammengesessen und deutsch geredet.
Sogar die Natur in Pennsylvania war der in
Süddeutschland sehr ähnlich. Rückblickend
betrachtet hätten sie sich dort am wohlsten
gefühlt, sagt Susi Buschbacher. Als die
Firma, in der Peter zu dieser Zeit arbeitete,
Pleite ging, mussten die Buschbachers nach
Missouri und später Virginia umziehen. Seit
zwanzig Jahren leben sie nun im
Theresa Köckeritz
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Susi and Peter Buschbacher, Syracuse, USA
&
'(%'###-.'.
(',
When and on which way did you move to
the USA?
/
Weil wir das Interview, das Theresa
Köckeritz
per
E-Mail
mit
Susi
Buschbacher in Syracuse führte, so
spannend finden, drucken wir es auf den
folgenden Seiten in voller Länge ab.
Theresa hat es in Englisch geführt – zwei
Deutsche, die sich in der Sprache ihrer
Wahlheimat austauschen, denn auch
Theresa könnte sich nach einem Jahr
Studienaufenthalt in Kalifornien gut
vorstellen, dort länger zu leben....
In June 1966, we arrived in the United
States of America by plane with two small
children in tow, one and three years old. We
landed in Boston, Massachussetts. My
husband’s new employer picked us up at the
airport and drove us to New Hampshire
where he had rented a lake cabin for us for
a week at one of the many lakes in this
region.
Immediately, we were shown around the
area, looking for a suitable house for us.
And believe it or not, the first day in
America, we purchased our first house. The
speed had our heads spin but we trusted his
boss to steer us in the right direction and he
did. We never regretted this.
corrections where necessary. It was a great
start.
While on business travel, my husband
received numerous job offers. German
education and technical know how is valued
everywhere. We decided on Pennsylvania.
The landscape is similar to the southern part
of Germany we came from. Some people
there still speak some German like it was
spoken a long time ago. You might have
heard of the religious groups of the
Mennonite and Amish. The Amish live their
lives like they did over two hundred years
ago with no electricity, telephone, car, etc.
They get around in horse drawn buggies
and use mules to work their fields. We
enjoyed meeting these people and talked
with them in German.
My husband travelled on a weekly basis on
business throughout the big country. I
stayed with the children at our house, got a
dog and cat and enjoyed life to its fullest.
With small children, one gets to know the
neighbors quickly. The result, I often had ten
or more children at our house, playing with
our children. After a couple of weeks I asked
one of the girls how they even communicate,
since our children of course did not speak
English. I found out that they had learned
the second language in no time by just being
around their American friends. The
American children also helped me with my
English. They brought books for me to read
to them aloud and they would make
We were immediately trustworthy. We
bought a farm in the middle of the Amish
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 47 -
Seminar country and we loved it very
much. Whenever we would
gather with our neighbors, we
communicated mostly in
German. We considered our
farm our ‘Heimat’. Having to
leave it was heart breaking for
all of us. But my husband’s
company went bankrupt and
we had to leave the area.
There was no other company
in his line of business
anywhere around and we had
no choice but to pack up and
move somewhere else.
We lived in different states
such as Missouri and Virginia
but we never felt that much at
home there as we did in
Schon gleich nach ihrer Ankunft in USA ging der Traum der
Pennsylvania. Now we live in
Buschbachers in Erfüllung: Das erste eigene Haus.
Upstate New York for over
twenty years. We will stay
here, especially since our daughter married
/
and settled here as well. Wild horses could
House purchase and sale in USA is totally
not move us away from our precious
different than in Germany. Here, people
grandsons.
are on the move a lot. All you need to do
here is call a realtor, he will price the
house and if you agree to it, he puts a sign
in the front of the house or lawn. Anyone
driving by that house looking for a new
house in that area due to a change of job
or other reasons, can call the number on
the sign and will be given a tour, if
interested. The newspaper, and of course
the Internet also list these properties. We
had more than once seen a “For sale” sign
placed in front of a house in the morning,
by evening the “Sold” sign was already
added to the sign. But of course, usually it
takes longer. Three months is probably a
good average to sell a house
On what places did you already live for a
longer time?
New Hampshire, Pennsylvania, Missouri,
Virginia, New York
What languages do you speak?
We both spoke school English before we
came here and we could make ourselves
nicely understood. However, the
understanding part was a bit trickier. It took
getting used to hearing and separating
words before we could understand them.
Our American friends really helped a lot by
speaking slow at first.
Susi Buschbacher
My husband also speaks some Russian,
Croatian, and Serbian. However, he has no
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 48 -
Seminar opportunity talking these languages except
when travelling overseas.
eight months until we got the go ahead by
the American Embassy in Munich.
My husband was hired by the
Representative of a German company and
had the necessary unique technical
background. It also helped that my husband
had a brother living in Michigan who agreed
to help us if need be.
What where your reasons for moving to
the USA?
Both of us are refugees of the World War II.
My husband comes from the former
Yugoslavia and I come from what is now
Poland. Our families had lost everything in
the war. Our dream was to own a small
house. We knew that with our background
and no great job possibilities in Germany for
us at that time, we would never be able to
accomplish our dream. America sounded
like a good place to start our life together, so
we gave it a try. I remember that we told
ourselves that we might encounter the worst
scenario possible. Our big dream was
How did you experience getting along in
a different country and a new culture?
What was difficult and what helped you?
It helped a lot that my husband’s employer
was Austrian, his wife was Swiss, they had a
three year old German speaking daughter, a
nanny from Austria who herself had a three
year old little girl.
They had a nice circle of friends. Most of
them were German. We were introduced
into this circle and befriended some of the
Germans ourselves. Therefore, we had a
great support group right away. Food was a
big thing to adjust to. Nothing tasted as it did
at home. Especially the bread was not what
we liked. It was way too soft. For our taste it
was suitable for toast only. We learned of a
bakery in Boston that had good bread to
order from by mail and found a butcher to
order cold cuts and sausages from. Other
than that, I cooked whatever my family liked.
Besides the German friendships we started,
we also befriended Americans that my
husband worked with. They were very
instrumental in teaching us the American
customs, including when to buy children
clothes at the beginning of school, what
educational television programs to watch,
etc. I remember the children cloth stories
very well. I was told that if I did not buy them
at a certain time, then I was out of luck
finding them again until next year. Since
everyone did this, this was true.
Die Kinder der Buschbachers fanden in der neuen
Heimat schnell Freunde und Spielgefährten.
fulfilled the very first full day in America. We
are aware that we were extremely lucky.
In order to immigrate, we had to have written
proof that we had a secure job and that no
American job would be taken away by us.
This gave us some sort of priority. But we
still had to stand in line and wait for app.
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Having small children helped a lot. They
were both very outgoing and well behaved.
The first stroll we took to the lake, people
came out of their houses, greeting and
welcoming us. They heard that a young
German family moved into the neighborhood
and they wanted to be the first ones to get to
know us and introduce themselves. On our
way back from the lake they came out again,
this time with tricycle, scooter, books, record
player, records etc. It was amazing. We had
all arms full by the time we got home. That
was awesome.
changed so drastically since the 1960’s. We
still enjoy a visit but we always come home
to America.
What connects you to Germany?
Relatives, Customs or visits in Germany?
We hardly have any relatives left in
Germany but we still have old dear friends
we keep in touch with. Whenever we are on
vacation in Europe, we always try to
squeeze in a little visit to one or the other.
Telephone calls and e-mail correspondence
is used a lot to stay in close touch and up to
date on things.
To this day, we are still in contact with some
of our first American and German friends. Of
course, it also helped a lot that we both
really wanted to come to America to start a
new life. And, we always kept an open mind.
How would you define the term
“integration”?
Adjust to the American way of life, accept
English as the official language, be a good
citizen, obey the law and love the country.
We became real true American citizens after
9/11.
What does “Heimat” mean for you?
Over the years, America has become our
home. We only talk German at home. My
cooking and baking recipes are taken from
the Dr. Oetker books. We celebrate
Christmas as we did at home, including
Nikolaustag. I am always pleased to see that
our children keep our traditions. Our
Children and all six grandsons also talk
German, so does our daughter in law. She is
American but was very much interested in
learning a second language. The only one
within our family not talking German is our
son in law. He understands at least 80 to 90
percent of our conversations but does not
speak himself. But at least he does not mind
that we talk German with his children.
Could you see yourself moving back to
Germany?
No. We have strong roots in this country,
which has been so good to us from the start.
In summary, we have been extremely lucky.
Of course, there have been ups and downs
along the way like it would have been
anywhere else in the world. We are grateful
for the opportunities we were given by this
country and we rolled up our sleeves and
took them. We always kept an open mind
and adjusted when it was necessary to
adjust. Overall, it was a good choice for us
to come to America.
For us, Heimat is a far away place. We really
do not feel at home in Germany any more.
Most likely it is because everything has
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Deutsche Einwanderer in Brasilien im 19. und 20. Jahrhundert
001' '##'
Die Auswanderungsfreude der Deutschen
war bekanntlich schon immer sehr groß.
Auch in Brasilien gab es zahlreiche Wellen,
in denen deutsche Einwanderer ins Land
kamen. Es wird geschätzt, dass heute 18
Millionen Deutschstämmige in Brasilien
leben, was zehn Prozent der
Gesamtbevölkerung ausmacht. Im Süden
des Landes ist es sogar jeder Dritte, der
deutsche Wurzeln hat.
Ziel, dauerhaft sesshaft zu werden, nach
Brasilien reisten, kamen in der ersten Hälfte
des 19. Jahrhunderts.
Der erste Schritt ist der schwerste
Im Jahre 1817 in Rio de Janeiro kamen
erste deutschsprachige Künstler,
Architekten, Handwerker und
Wissenschaftler in das Land. In ihrer Rolle
als Kronprinzessin hatte Leopoldine stets
großen Einfluss auf ihren Ehemann, der
vielleicht deshalb große Anstrengungen
machte, möglichst viele Menschen aus
Europa und vor allem aus dem
deutschsprachigen Raum in Brasilien
anzusiedeln. So kamen im Jahr 1818
genau 261 Familien, zu denen 1.682
Männer, Frauen und Kinder gehörten, aus
der Schweiz in den heutigen Bundesstaat
Rio de Janeiro. Sie gründeten dort die Stadt
Novo Friburgo (Neu-Freiburg). Es war die
erste Stadt, die nicht von Portugiesen
Die ersten deutschsprachigen Kolonisten,
die nach Brasilien kamen, kamen aus
Österreich. Durch die Heirat der
Erzherzogin Leopoldine vom Wiener Hof
mit dem portugiesischen Kronprinzen Dom
Pedro I.
Der erste Deutsche, der das
südamerikanische Land unter seinen
Füßen spürte, war Johannes Varnhagen,
auch Meister Johann genannt, der bei der
Entdeckung des Landes im Jahre 1500
unter Pedro Álvarez Cabral als Steuermann
diente. Ihn begleiteten 35 deutsche
Söldner. Hans Staden aus Homberg
kämpfte im 16. Jahrhundert für die
portugiesische Krone in Brasilien und
schrieb das erste Buch auf Deutsch, das
sich mit dem Land befasste. Dies waren
jedoch nur vereinzelte Abenteurer, die die
lange Reise auf sich nahmen. Die ersten
tatsächlichen Einwanderer, die mit dem
Deutsche Einwanderer in Brasilien (1824-1969)
Zeitraum
Anzahl
182447
8.176
184872
187379
188089
189099
1900-09
191019
1920-29
193039
194049
1950-59
196069
19.523
14.325
18.901
17.084
13.848
25.902
75.801
27.497
6.807
16.643
5.659
Quelle: Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE)
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 51 -
Seminar gegründet wurde. Im selben Jahr begaben
sich Siedler aus dieser Gemeinde in die
heutigen Bundesstaaten Bahia und Minas
Gerais im Norden Brasiliens, um dort
Agrarkolonien zu gründen.
Die Siedler ließen sich hauptsächlich am
Fluss Rio dos Sinos nieder. Schon nach
wenigen Jahren gab es in den
Flussniederungen mehrere deutsche Orte.
Die Region entwickelte sich mit der Ankunft
der zahlreichen Siedler sehr rasch, es
entstanden Städte wie Novo
Hamburgo, Germania und
Elsenau. Doch auch in den
südlichen Bundesstaaten Santa
Catarina und Paraná kam es zu
dieser Zeit zu immer größeren
Einwanderungswellen aus
Deutschland. So wurden dort
deutsche Kolonien mit
entsprechenden Namen wie
Blumenau oder Pomerode
gegründet.
Es waren in erster Linie Bauern,
die in dieser Phase nach Brasilien
auswanderten, doch es kamen
auch viele Handwerker und Händler. Das
dortige Königreich wollte durch ihre
Ansiedlung einerseits seine Souveränität
schützen, indem das Land an die
Neuankömmlinge verschenkt wurde und
diese dadurch einen Rechtsanspruch auf
die Ländereien hatten. Andererseits wollte
Kaiser Dom Pedro I. erreichen, dass sich
eine bäuerliche Mittelschicht entwickelte,
damit die Binnennachfrage nach
Nahrungsmitteln gedeckt werden konnte.
Die Kolonisten erhielten deshalb nicht nur
kostenlos ihr Land, sondern auch
Arbeitsgerät, Saatgut, Vieh. In den meisten
Fällen wurden sogar die Kosten für die
Überfahrt aus Europa von der
brasilianischen Krone übernommen. Den
Einwanderern wurden weitgehende
Freiheiten in Bezug auf die Ausübung ihrer
Sprache, ihrer Religion und ihrer
Traditionen gewährt. Durch ihre
Abgeschiedenheit von bevölkerungsreichen
Gegenden waren die deutschen Siedlungen
jedoch oft isoliert, auch bei den
versprochenen Lieferungen von Hilfsgütern
und der Erschließung des Landes hielt der
König meist seine Versprechen nicht. Das
Die Gründung der deutschen Kolonien
im Süden Brasiliens
Am 3. Mai 1824 kam die erste kleine
Einwanderungswelle aus Deutschland. 332
Immigranten siedelten sich in Novo
Friburgo an. In der Zwischenzeit hatte sich
jedoch einiges geändert: 1822 war Brasilien
von Portugal unabhängig und dadurch ein
selbstständiges Land geworden. Brasilien
bildete mit Hilfe seiner Einwanderer
Freiwilligenkorps, um seine Grenzen und
dadurch seine Souveränität zu schützen.
Dazu musste Kaiser Dom Pedro I. jedoch
vor allem die Gebiete im Süden Brasiliens
besiedeln, in denen zu jener Zeit kaum
Menschen lebten. So kam es, dass am 25.
Juli 1824 die Siedlung São Leopold zu
Ehren von Leopoldine im Bundesstaat Rio
Grande do Sul von 39 Deutschen
gegründet wurde. Sie war inzwischen
Kaiserin von Brasilien geworden. Diese
Siedlung diente fortan als erste Station für
weitere deutsche Einwanderer im Süden
des Landes.
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 52 -
Seminar Leben der Kolonisten war deshalb
nicht selten ein Überlebenskampf.
Gründe für eine abenteuerliche
Entscheidung
Doch warum verließen die Deutschen
ihre Heimat überhaupt, um sich in ein
solches Wagnis zu stürzen? Anfang
des 19. Jahrhunderts setzte in ganz
Europa die Industrialisierung ein.
Durch den Einsatz von Maschinen in
der Industrie und der Landwirtschaft
standen viele Menschen plötzlich
ohne Arbeit da. Zudem kam auch,
dass immer mehr Menschen Zugang
zu medizinischer Versorgung hatten,
was die Bevölkerung schneller
wachsen ließ. Dies und die wegen der
Industrialisierung einsetzende
Landflucht vieler arbeitsloser Bauern
brachten viele Städte zum
Überquellen. So ermutigte das
deutsche Kaiserreich seine
Untertanen zur Auswanderung, was
nicht nur die Überbevölkerung
eindämmen, sondern auch noch
zusätzliche Absatzmärkte für
deutsche Produkte schaffen sollte. Die
Menschen, die Deutschland verließen,
kamen aus allen Regionen des Landes,
überwiegend aber aus Sachsen, Pommern
und dem Rheinland.
aus den Großstädten Deutschlands, die
aufgrund der katastrophalen
wirtschaftlichen Situation ihr Glück in der
Ferne suchten. Die Auswirkungen der
Weltwirtschaftskrise waren unter anderem
hohe Arbeitslosigkeit und extrem hohe
Geldentwertung, die viele Familien in kurzer
Zeit um ihre Ersparnisse brachte. Die
deutschen Auswanderer siedelten sich
meist in brasilianischen Großstädten wie
São Paolo, Curitiba und Porto Alegre an.
Eben dort, wo die Industrie stark vertreten
war und sie Arbeit finden konnten.
Die Auswanderer im 20. Jahrhundert
Eine wesentlich größere Zahl von
deutschen Auswanderern als je zuvor kam
dann im 20. Jahrhundert nach Brasilien, vor
allem in den 1920ern, den Jahren der
Weltwirtschaftskrise. So waren es zwischen
1920 und 1929 über 75.000 Menschen, die
aus Deutschland nach Brasilien kamen,
dreimal soviel wie im Jahrzehnt davor.
Dieses Mal hatten die Ankömmlinge andere
Hintergründe: Es waren vor allem Arbeiter
Ernesto Edele
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Seminar Ernesto Edele erzählt die Migrationsgeschichte seiner Mutter
' 2#
Die Geschichte beginnt am 2. Juli 1961.
Meine Mutter Carmen Elias Santana, ihre
zwei jüngeren Schwestern Ermelita und
Eveli und ihre Eltern Ermela Santana Pérez
und Enrique Elías de la Cruz treten ihre
Reise mit dem Schiff von Spanien nach
Brasilien an. Eigentlich soll es nur ein
beherrschten Land sind alles andere als
rosig, und mit drei Kindern sehen sie keine
Zukunft für die Familie.
Mein Großvater verdient als Radiofunker im
Militärflughafen Gando auf Gran Canaria
nicht gerade viel. Der Zusatzverdienst, den
meine Großmutter durch
gelegentliche Näharbeiten
nach Hause bringt, kann ihre
Situation auch nicht wirklich
verbessern. Eines steht fest:
Ihre drei Töchter werden in
Spanien keine richtige
Ausbildung genießen
können. Einige InselBewohner sind schon in den
vergangenen Jahren von den
Kanaren nach Südamerika
ausgewandert, vor allem
nach Venezuela. So auch
einige Geschwister meines
Großvaters, die ihm immer
wieder schreiben, wie gut die
Mein Großvater Enrique als Radiofunker
Foto: privat
Berufsaussichten dort seien
und dass er dort bestimmt
auch einen gut bezahlten Job
Zwischenstopp sein, bevor sie nach
finden könne. Zu ihrem Bedauern sind so
Venezuela reisen, wo die wirtschaftliche
viele Menschen in den letzten Jahren in das
Lage gut ist und wohin schon einige
Land eingereist, dass neue Einwanderer
Verwandte ausgewandert sind. Doch wie so
eine feste Stelle bei einer venezolanischen
oft im Leben kommt nicht alles so, wie man
Firma mit einem unterschriebenen
es sich vorstellt.
Arbeitsvertrag vorweisen müssen – eine fast
unüberwindbare Barriere für meine
Die Zukunft der Kinder ist das Wichtigste
Großeltern.
Meinen Großeltern, geht es in den 1950er
Jahren auf den zu Spanien gehörenden
Kanarischen Inseln vor der Westküste
Afrikas nicht gerade gut. Die wirtschaftlichen
Aussichten in dem von Diktator Franco
Doch wie der Zufall es will, lernt mein
Großvater Enrique im Unterricht - er bringt
jungen Männern das Radiofunken bei einen Landsmann kennen, der schon
längere Zeit in Brasilien wohnt und kürzlich
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 54 -
Seminar Die Ausreisepapiere der Familie aus dem Jahr 1961: Ermela, meine Großmutter, ist 28, mein
Großvater Enrique 38, meine Mutter Carmen 11 und meine Tanten Eveli und Ermelita sind
gerade mal 9 und 6 Jahre alt.
Quelle: privat
die seine rapid wachsende Industrie. Und so
fällt die Entscheidung meiner Großeltern,
ihre kleine Wohnung mitsamt den Möbeln zu
verkaufen und den abenteuerlichen Schritt
ins Ungewisse zu wagen.
nach Spanien zurückgekehrt ist, um zu
heiraten. Als dieser von den
Auswanderungs-Plänen meines Großvaters
hört, bietet er an, ihm und seiner Familie
den ersten Schritt nach Venezuela zu
ermöglichen, indem er ihnen hilft, nach
Brasilien zu kommen. Von dort ist die Reise
in das gewünschte Land nicht mehr so
schwierig, da Brasilien an Venezuela grenzt.
Irgendwie, so hoffen meine Großeltern,
müsste man von Brasilien ja auch ohne
Arbeitsvertrag über die Grenze nach
Venezuela kommen.
Die Überfahrt - ein kleines Abenteuer
Der Abschied von der Verwandtschaft fällt
kurz aus, die letzten Stunden verbringen sie
im Haus der Mutter des Funker-Schülers
meines Großvaters. Dieser wird sie alle bei
ihrer Ankunft in Brasilien empfangen und bei
sich aufnehmen. Mit einer Nähmaschine,
einer elektrischen Waschmaschine und ein
paar Koffern stehen sie nun am Hafen von
Las Palmas, der Hauptstadt der Insel Gran
Canaria, meine Großeltern, meine Mutter
und meine zwei Tanten.
Viel Geld haben sie nicht, um sich die
Schiffsreise für die fünfköpfige Familie zu
leisten. Als Geschenk des Himmels
erscheint ihnen daher, dass die katholische
Kirche Spaniens mit Unterstützung der
brasilianischen Regierung die Überfahrt für
Auswanderer bezahlt. Zu dieser Zeit braucht
das südamerikanische Land Arbeitskräfte für
Allen ist klar, dass es eine Reise ohne
Wiederkehr ist: Meine Großeltern haben
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 55 -
Seminar nicht vor, eines Tages wieder nach Spanien
zurückzukommen. Die Kinder verstehen
ein Wort Portugiesisch zu können, stehen
sie hilflos an den Anlagedocks. Schon bei
zwar noch nicht ganz, was das für sie
bedeutet, doch sie haben keine Angst, denn
ihre Eltern sind bei ihnen. In ihnen regt sich
sogar Abenteuerlust - für sie ist es eher eine
Entdeckungsreise. Was sie an ihrem
Reiseziel erwartet, weiß keiner von ihnen so
genau, nicht mal meine Großeltern.
der Zollkontrolle muss mein Großvater für
die Waschmaschine Steuern zahlen, da sie
elektrisch ist. Zusätzlich gibt es das
Problem, dass das Gerät nicht im Bus
mitgenommen werden kann. So machen
sich mein Großvater und sein ehemaliger
Schüler, der inzwischen ein Freund
geworden ist, mit dem Bus auf den Weg in
das 200 Kilometer entfernte Itupeva, wo sein
Freund sein Haus und ebenfalls einen LKW
hat.
Meine Großmutter und die Kinder müssen
am Hafen beim Hab und Gut der Familie
warten, bis beide diese riesige Strecke
zurückgelegt haben. Die Kinder bekommen
zum ersten Mal Angst, denn meine
Großmutter ist mit den Nerven am Ende und
weint. Dieses Bild werden sie wohl nie
vergessen. Doch glücklicherweise schaffen
die beiden Männer es wieder zurück, und
bei Dunkelheit treten alle gemeinsam die
Reise im LKW nach Itupeva an. Am
nächsten Morgen wachen alle bei
strahlendem Sonnenschein und
Kaffeegeruch auf, und als sie aus dem
Fenster schauen, sehen sie, dass sie auf
einer Fazenda, einem großen Landgut, sind.
Der Ausblick auf die Natur ist
atemberaubend. In der Küche finden sie ein
blondes 15-jähriges Mädchen vor, die das
Frühstück vorbereitet. Sie wird in einigen
Jahren meine Mutter bei einer Firma
vorstellen, wo sie meinen Vater treffen wird.
Meine Mutter Carmen mit ihrer Schwester Eveli.
Quelle: privat
Sie haben von vielen in Gran Canarias
gehört, in Brasilien gäbe es nur arme
Menschen, doch das wollen sie einfach nicht
glauben. Die Schiffsreise jedenfalls ist mehr,
als sie sich vorgestellt haben: Es gibt
Unmengen an Essen, für das schon bezahlt
wurde, die Kajüten sind komfortabel. Es
werden sogar kleine Feste auf dem Deck
gefeiert. Letztendlich kommt es ihnen vor,
als sei die elftägige Überfahrt eine
Kreuzfahrt für Touristen.
Der Zwischenstopp wird zur Heimat
Der erste Schritt ist also getan. Meine
Großeltern ziehen bald mit den Kindern in
das nahegelegene Jundiaí, der größten
Stadt in der näheren Umgebung, um dort
eine eigene Unterkunft und vor allem eine
Arbeit zu finden. Sie ziehen für die ersten
drei Monate in ein Haus mit einem großen
Garten.
Die Ankunft in Santos, der Hafenstadt vor
der Metropole São Paolo, beendet das
kurze Eintauchen in eine andere Welt: Ohne
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 56 -
Seminar Mein Großvater arbeitet zunächst als
Elektriker bei einer Firma, doch bald ändert
er sein Metier: Er fängt an, mit Süßigkeiten
zu handeln. Meine Großmutter hat bei ihrer
Mutter in Las Palmas oft im Tante-EmmaLaden mitgeholfen und so ein Gespür für
kaufmännische Tätigkeiten bekommen. Auf
ihre Idee hin fährt er regelmäßig in das 60
Kilometer entfernte São Paolo, wo er
Süßigkeiten aller Art beim Großhändler
kauft, um sie in Jundiaí in den kleinen Bars
weiterzuverkaufen. Die Kinder helfen von
Anfang an mit und müssen manchmal
nachts aus dem Bett, um ihren Eltern beim
Umladen zu helfen. Das Geschäft läuft sehr
gut, denn es gab zuvor nur einen einzigen
Süßigkeiten-Händler in der Stadt, sodass
mein Großvater zu seinem ersten
Konkurrenten wird.
Sprache in Berührung kommen. Da sich das
Spanische und Portugiesische sehr ähneln,
lernen sie relativ schnell.
Als das Schuljahr schließlich beginnt,
nehmen meine Mutter und ihre mittlere
Schwester Eveli neben dem Besuch der
normalen Schule auch Privatunterricht, um
in Fächern wie Portugiesisch, Geschichte
oder Erdkunde den Anschluss an ihre
brasilianischen Mitschüler zu kriegen. Für
diese Privatstunden wollen meine
Großeltern den besten Lehrer der Stadt
anheuern, doch dieser verlangt zu viel Geld
für seine Dienste. Nach einem Gespräch mit
dem Lehrer begreift dieser, wie wenig Geld
die Familie zur Verfügung hat. Wegen des
guten Eindrucks, den meine Mutter und ihre
Schwester Eveli bei ihm hinterlassen, ist der
gute Mann damit einverstanden, die zwei
Schülerinnen zu einem Sonderpreis zu
unterrichten. Meine Mutter fängt nach kurzer
Zeit an, Aufsätze jüngerer Schüler zu
korrigieren, wodurch sie zusätzlich viel lernt.
Bald schon fangen meine Großeltern an, die
Leckereien selber daheim herzustellen,
lassen irgendwann eigens für ihre
Kreationen Blechformen herstellen. Auch
hier sind meine Mutter und meine Tanten
mit vollem Elan dabei, wenn die Küche zu
einer kleinen Schokoladenfabrik wird. Sie
erfinden sogar eine Eigenkreation: eine Art
Im Großen und Ganzen verläuft die
Anpassung an die neue Heimat sehr gut.
Meine Großeltern arbeiten und haben
dadurch freundschaftlichen Kontakt zur
brasilianischen Bevölkerung. Sie sind zwar
im Spanien-Club der Gemeinde, doch ist der
Austausch mit anderen Landsleuten eher
gering, was die Eingewöhnung zwar
schwieriger, dafür aber umso erfolgreicher
macht. Die drei Kinder sind in der Schule,
lernen Portugiesisch und finden Freunde.
Insgesamt wird es fünf Jahre dauern, bis
sich die Familie meiner Mutter an das Leben
in Brasilien gewöhnt hat und dieses Land als
ihr neues Zuhause ansehen.
Kinderüberraschung, bei der Bonbons und
kleines Spielzeug in einer Waffel versteckt
werden. Sie verkaufen Tausende dieser
Leckereien in ganz Jundiaí. Das Geschäft
floriert. Die Familie kann sich über Wasser
halten. Noch mehr: Es geht ihnen sogar so
gut, dass sie die Pläne, nach Venezuela zu
ziehen, völlig über Bord werfen.
Die Sprache ist für sie inzwischen keine
Barriere mehr. Meine Großeltern lernen das
Portugiesische so gut sie können, mein
Großvater spricht heute noch eine Mischung
aus Spanisch und Portugiesisch. Doch das
ist ihm für seine Kinder nicht genug. Da das
Schuljahr in Brasilien erst im Februar
anfängt, kauft er ihnen für die
Überbrückungszeit zahllose Komikhefte,
damit sie schon einmal mit der neuen
Ernesto Edele
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 57 -
Seminar Mirian Stoll hat eine große Brasilien-Karte mitgebracht, um zu zeigen, wo sie geboren wurde und mit
ihren Eltern gelebt hat.
Foto : Droste
Mirian Stoll: Brasilien ist ihre Heimat, Deutsch ihre Muttersprache
(##' &'#',
das für das größte Oktoberfest außerhalb
Deutschlands bekannt ist.
Die Familie von Mirian Stoll, gebürtige
Goller, lebte in einer ländlichen Gegend, wo
sie mit anderen Familien eine deutsche
Kolonie bildeten. Der Kontakt untereinander
war eng, und durch den Zusammenhalt
wurden viele deutsche Traditionen
beibehalten. Es gab einen Kegelclub und
auch in der kleinen Gemeinde wurde das
Oktoberfest gefeiert. In der Gegend gab es
ringsum nur Fazendas, also große
Landbesitze, auf denen meist Viehzucht
betrieben wurde. Dementsprechend war die
Infrastruktur dort in den 1960ern nicht sehr
Eine sehr bewegte Familiengeschichte hat
Mirian Stoll an ihren heutigen Wohnort
Ofterdingen im Süden von Tübingen
geführt. Sowohl ihre Großeltern
mütterlicherseits als auch ihre Urgroßeltern
väterlicherseits wanderten über Hamburg
nach Brasilien aus, wo sich später ihre
Eltern kennen lernen sollten.
In Brasilien ließen sich vor allem in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts viele
Auswanderer aus Deutschland im
südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul
nieder. So entstanden dort Städte wie Novo
Hamburgo (Neu-Hamburg) oder Blumenau,
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 58 -
Seminar Worten am Anfang der technische
Entwicklungsstand in Deutschland. Hier
gab es Strom, gute Straßen und jeder hatte
einen Fernseher.
weit entwickelt: Es gab keinen Strom, kein
Fernsehen und kaum befestigte Straßen.
Mirians Vater Armindo Goller hatte in der
Gemeinde ein kleines Lebensmittelgeschäft
mit einer Metzgerei. Außerdem arbeitete er
als Viehtreiber, oder wie es auf
Brasilianisch heißt, als „Gaucho“. Durch die
Abgeschiedenheit war der Kontakt zu
Brasilianern eher spärlich. Es war zudem
auch üblich, dass nur die Männer in
benachbarte Städte reisten, um größere
Besorgungen zu machen.
Trotz ihrer acht Jahre kam sie in die erste
Klasse, da ihre Eltern wollten, dass sie mit
ihren Schulkameraden aufschließen kann.
Eine Zeit lang behielt die Familie beide
Staatsbürgerschaften. Doch der
bürokratische Aufwand wurde für ihre Eltern
irgendwann zu groß, denn
Passverlängerungen waren nur auf dem
Konsulat in München möglich. Deshalb
verzichteten sie auf die brasilianische
Staatsbürgerschaft.
In ihrer Familie und mit den meisten
Bekannten sprach Mirian Stoll, die damals
noch Goller hieß, immer Deutsch. So sah
sie diese Sprache immer als ihre
Muttersprache, obwohl sie die ersten acht
Jahre ihres Lebens in Brasilien gelebt hat.
Sie lernte durch den eher sporadischen
Kontakt zu der brasilianischen Bevölkerung
nur wenig Portugiesisch. In der
gemeindeeigenen Schule waren alle
Klassen zusammengefasst, und es wurde
auf Deutsch unterrichtet.
Heute lebt Mirian Stoll mit ihrem Mann
Hans Stoll und ihren beiden Kindern Linda
und Kai in Ofterdingen in der Nähe von
Tübingen. Sie war nach ihrer
Auswanderung nach Deutschland 1973
noch vier Mal in Brasilien, auch mit ihrem
Mann und den Kindern. Ihre emotionale
Verbindung zu Brasilien bezeichnet sie als
„nicht sehr stark“. Trotzdem betrachtet sie
das Land als ihre Heimat. In ihrer Familie
wird heute kein Portugiesisch mehr
gesprochen. Aber sie kocht oft
brasilianische Gerichte und das Interesse
an ihrem Geburtsland ist bei ihrem Mann
und auch bei ihren Kindern sehr groß.
Die Auswanderung ihrer Familie „zurück“
nach Deutschland im Jahre 1973 sollte
ursprünglich nicht endgültig sein. Ihr Vater
Armindo Goller wollte seine deutschen
Wurzeln entdecken, außerdem lebte ein
Teil seiner Verwandtschaft hier. „Der
Mensch denkt und Gott lenkt“ habe ihre
Mutter Julita Goller damals gesagt, erinnert
sich die Tochter. Die Gollers blieben in dem
Dorf St. Johann auf der Schwäbischen Alb.
Besonders Hans Stoll hat Brasilien bei
seinen Besuchen ins Herz geschlossen und
begeistert sich für die soziale und
wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Auf
die Frage, ob sie sich vorstellen könnten,
eines Tages in Brasilien zu leben,
antworteten beiden mit Ja: Einige Jahre in
dem südamerikanischen Land zu
verbringen, könnten sie sich vorstellen.
Wegen ihrer Kinder sei dies momentan
jedoch nicht möglich. Sie wollen Linda und
Kai eine Entwurzelung ersparen, wie Mirian
Stoll sie selbst erfahren hat.
Die Auswanderung nach Deutschland war
für die Familie schwer: Der Vater, so sagt
Mirian Stoll, konnte sich nie ganz an das
Leben hier gewöhnen. Auch sie selbst hatte
mit Vorurteilen zu kämpfen, denn die
Dorfbewohner sagten oft: „Da kommen die
Brasilianer“. So kam es, dass sie ihre
brasilianische Herkunft eher verdeckt hielt,
um sich besser an das neue Leben
anzupassen. Ein Schock für sie war nach
ihren eigenen
Ernesto Edele und Wolfgang Baum
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Eine alte Postkarte, Fotos von Familienfesten, einige Erinnerungsstücke wie zum Beispiel Trinkgefäße (links unten):
Für Mirian Stoll ist ihre Kindheit in Brasilien Vergangenheit, die zu ihrem Leben gehört, nah und doch weit weg.
Fotos / Repros: privat (5), Liane von Droste (1)
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar Svitlana Burmey zu Besuch bei ihrer Großmutter in der Ukraine.
Foto: privat
Svitlana Burmey: Die Ukrainerin arbeitet in Böblingen als Deutschlehrerin
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Svitlana Burmey bereut den Schritt
keineswegs, der ihr Leben umkrempelte: Mit
einundzwanzig Jahren reiste die gebürtige
Ukrainerin nach Deutschland, um ein
Praktikum in München zu machen. Danach
studierte sie in Braunschweig und Tübingen
und arbeitet heute in einer Schule in
Böblingen als Deutschlehrerin.
und dem Westen der Ukraine bestehen.
Bevor Svitlana Burmey sich selbst nach
Deutschland aufmachte, um dort ihr Leben
als Einwandererin aufzubauen, konnte sie
schon in ihrer Heimat multi-nationale
Erfahrungen sammeln. Ihre Heimat ist
Tschernowitz, gelegen an der Grenze zu
Rumänien und nicht weit entfernt von
Ungarn und Polen. Bis 1814 war dieses
Gebiet Teil des österreichisch-ungarischen
Reiches und je nach dem jeweiligen
Herrscher seien in den Dörfern die
unterschiedlichen Sprachen von oben
durchgesetzt worden.
Die Berufsschule, an der sie arbeitet,
besuchen viele Jugendliche mit
Migrationshintergrund. Svitlana Burmey ist
überzeugt davon, dass immer mehrere
Seiten zur Integration gehören: Der Staat,
die Gesellschaft und die Migranten selbst
müssten dazu beitragen. Burmey wurde im
westlichen Teil der Ukraine geboren. Sie
betont, dass große sprachliche und
kulturelle Unterschiede zwischen dem Osten
Ihn ihrer Heimatregion sei es häufig
vorgekommen, sagt Burmey dass in einem
Dorf Rumänisch, im nächsten Ungarisch
und dem Dorf daneben wiederum Polnisch
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 61 -
Seminar gesprochen wurde. Nach dem zweiten
Weltkrieg seien die Russen gekommen und
es durfte nur begrenzt Ukrainisch
gesprochen werden. „Ich bin es gewohnt,
multikulti zu leben“, meint Svitlana Burmey
im Hinblick auf diese Erinnerungen, die in
ihrer Familie weitererzählt werden.
In Deutschland, Ukraine und
Italien zu Hause
Mutter und Schwester der nebenberuflichen
Russischlehrerin leben inzwischen in Italien.
Die Schwester hatte dort einen Job
gefunden und ihre Mutter ist nachgereist.
Auch seien die Italiener etwas offener
gegenüber Fremden, lächelt Svitlana. Auf
die Frage, wo sie sich denn zu Hause fühle,
weiß die junge Frau mehrere Antworten:
Deutschland, Ukraine und Italien. Wobei sie
sich eigentlich heimatlos fühle und
momentan eher Deutschland ihr Zuhause
sei, da sie hier wohne. Auch in der Ukraine
habe sie sich oft „ausländermäßig“, anders
gefühlt. Das liege daran, dass ihr Großvater
ein sehr reicher Mann gewesen war.
Svitlanas Vater lebt noch in der Ukraine.
Mut, Ehrgeiz und Durchsetzungsvermögen
braucht man, um dauerhaft ins Ausland zu
gehen, zieht Svitlana Burmey ihr Fazit. Man
müsse sich sicher sein, dass man den
Schritt ins Unbekannte wagen will, den
sonst halte man den Ortswechsel samt
Mentalitäts- und Kulturunterschieden nicht
aus.
Martina Wiederkehr
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 62 -
Seminar Sultan Braun – ein Gespräch mit der Reutlinger Integrationsbeauftragten
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Wachsen der Bedeutung und der
Handlungsfähigkeit des Referats für
Migrationsfragen zeigt. Als „interkulturelle
Öffnung der Verwaltung“ beschreibt Sultan
Braun in einem Interview für unser Seminar
„Lebenswege von Auswanderern“ ihren
Aufgabenbereich. Konkret bedeute das,
dass jedes Amt in seinem Bereich einen
Beitrag zur Integration leisten müsse. Dies
natürlich mit Beteiligung der Migranten.
Bundesweit gibt es seit etwa 20 Jahren
Integrationsbeauftragte. Eine von ihnen ist
Sultan Braun in Reutlingen. Als eine der
ersten Städte
BadenWürttembergs
schufen
Verwaltung und
Stadtrat 1984,
vor 25 Jahren,
die Stelle einer
„Ausländerbeauftragten“.
Sie war damals
im Sozialamt
angesiedelt und
Sultan Braun
diente als
Foto: pr
Anlaufstelle für
Ausländer bei
Fragen und Problemen. Seit 2001 liegt ihr
Aufgabenbereich nicht mehr in der
Beratung, sondern in einer übergreifenden
Öffnung der Verwaltung im Bezug auf die
Belange verschiedener Kulturen. Die Städte
sind nicht verpflichtet, diese Stelle zu
schaffen. Dementsprechend gibt es von
Stadt zu Stadt strukturelle Unterschiede. In
Tübingen beispielsweise ist die Schaffung
einer solchen Anlaufstelle für Migranten
geplant, aber noch nicht umgesetzt.
Die interkulturelle Öffnung in der Altenhilfe
sei als positives Beispiel der
Integrationshilfe zu nennen. Es hat Braun
4
„Mit dem wirtschaftlichen Aufschwung in
der Bundesrepublik Deutschland
wurden Arbeitskräfte knapp. Das erste
Abkommen zur Arbeitskräfteanwerbung
wurde 1955 mit Italien geschlossen, es
folgten Spanien und Griechenland,
1961 die Türkei, 1964 Portugal, 1965
Tunesien und Marokko und schließlich
1968 Jugoslawien. Während der
Rezession 1966/67 kehrten ca. 46
Prozent der angeworbenen Arbeiter und
Arbeiterinnen zurück in ihre
Herkunftsländer.“
Jedes Amt muss Beitrag zur Integration
leisten
Aus dem Bericht der
Ausländerbeauftragten 2001-2003
Reutlingen zur Anwerbung der ersten
Gastarbeiter in den 1950ern
Seit 2004 ist die Abteilung in Reutlingen
direkt beim Verwaltungsbürgermeister
angesiedelt, was gleichermaßen das
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 63 -
Seminar sehr gefreut zu sehen, wie sich die
Mitarbeiter im Bezug auf Integration
schulten. Bestimmte Mitarbeiter bildeten
sich für die Arbeit mit griechischen und
türkischen Senioren, wieder andere für die
Arbeit mit pflegebedürftigen Spätaussiedlern
fort. Auf diese Weise, so Sultan Braun, habe
sich die Altenhilfe für Bürger mit
Migrationshintergrund weiter geöffnet. Der
prozentuale Anteil von Bürgern mit
Migrationshintergrund ist mit 34 Prozent in
Reutlingen im Vergleich zu anderen Städten
sehr hoch.
für den Heimatwechsel seien: Ist der Migrant
ein Flüchtling, sind Arbeit oder Armut der
Grund, ist der Auswanderer eine
Professorin, eine Studentin oder ein
Spätaussiedler? Zweitens müsse die
Situation im Aufnahmeland berücksichtigt
werden: Wie sind dort die rechtlichen, die
sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen
Bedingungen, welche Begegnungen vor Ort
finden statt, ist das Aufnahmeland gut
vorbereitet?
Für Braun ist Migration etwas sehr
Individuelles und situationsbedingt für jeden
Für die Integration in Reutlingen sind seit
Menschen einzigartig. Für sie stehen eher
knapp 25 Jahren vor allem Ausländerrat und
die Menschen im Mittelpunkt als das
die Migrationsbeauftragte
Phänomen Migration.
zuständig. Davor, und auch
Von großer Bedeutung
noch heute, waren kirchliche
sei es, ob man die
/
Einrichtungen in der
„Menschen gleich in der
Auf der Internetseite der
Integrationsunterstützung
ersten Stunde an die
Stadt Reutlingen gibt es
aktiv: Die Caritas für
Hand nehmen kann“. Die
eine Rubrik „Reutlinger
Migranten und Migrantinnen
Einwanderer bräuchten
Einwanderer erzählen“. Hier
aus katholischen Ländern,
Anschluss und
werden Lebensgeschichten
die Diakonie für Einwanderer
Normalität, um
von 14 Einwanderern und
mit evangelischem Hinteranzukommen und sich
Einwandererinnen
grund und die Arbeiterwohlintegrieren zu können,
vorgestellt, die seit rund 40
fahrt (AWO) für Migranten
sagt Sultan Braun: „Es
Jahren in Reutlingen leben.
aus Ländern mit anderen
gibt bestimmte
Glaubensrichtungen. Eine
Anlaufstellen, die ich als
www.reutlingen.de
direkte Beratung und
Mensch benötige.“ Dazu
Anlaufstelle von Seiten der
gehören für sie zum
Kommunen gab es
Beispiel Kindergarten
beispielsweise in den 1950er
und Schule.
Jahren nicht, als die ersten Gastarbeiter aus
dem Süden Europas nach Deutschland
Spannende persönliche Geschichte
geholt wurden. Für Sultan Braun jedoch ist
Integration Aufgabe der gesamten
Spannend ist die persönliche Geschichte
Gesellschaft.
der Reutlinger Integrationsbeauftragten.
Sultan Braun, geborene Saricoban: Ihr
Vorname Sultan ist ein türkischer
Migration differenziert betrachten
Frauenname, den es als Männername nicht
gibt. Mit neun Jahren kam Sultan Saricoban
nach Deutschland und verbrachte ihre
Die Integrationsbeauftragte stimmt zwar zu,
Jugend in Reutlingen. Trotz ihres
dass Migration etwas Normales sei und es
Hauptschulabschlusses konnte sie keine
diese schon immer gegeben habe.
weiterführende Schule besuchen, da sie in
Allerdings seien die Rahmenbedingungen
der Hauptschule nicht am Englischunterricht
sehr verschieden. So müsse man erstens
teilnehmen durfte. Die Lehrer in der Schule
unterscheiden, welches die Beweggründe
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 64 -
Seminar In der Presse und in Gesprächen wird sie
jedoch immer wieder mit ihrer Herkunft
konfrontiert und muss sich fragen, wo sie
steht. Migration und auch ihr
Migrationshintergrund werde immer wieder
zum Thema. Generell, schließt Sultan
Braun, sei man als Migrant dann
hatten beschlossen, sie solle erst einmal
richtig Deutsch lernen.
Für die Institutionen, aber auch für die
Menschen in Reutlingen und die
Gastarbeiter selbst sei es damals klar
gewesen, dass der Aufenthalt nur für kurze
Zeit sei. Für Bildung und Ausbildung der
Kinder in Migrantenfamilien habe sich
deshalb keiner verantwortlich gefühlt. Die
junge Sultan Saricoban selbst kehrte
Deutschland den Rücken und ging zurück in
die Türkei, um dort das Gymnasium zu
besuchen. Danach studierte sie vier Jahre
Germanistik in Ankara. In den
Semesterferien besuchte sie regelmäßig
ihre Eltern in Deutschland und arbeitete in
diesen Wochen in Reutlingen in
verschiedenen Ferienjobs.
4
„Die Integration von Menschen mit
Migrationshintergrund ist ein
Prozess der wechselseitigen
Annäherung von ZuwanderInnen
und Bevölkerung der
Aufnahmegesellschaft. Sie ist
abhängig von der Unterstützung
durch Politik, staatliche Stellen,
gesellschaftliche Gruppen und
Verbände sowie der Medien.“
Nachdem sie einen Deutschen geheiratet
hatte, kehrte Sultan Braun zurück nach
Deutschland und zog nach Tübingen. Dort
begann sie ein Studium der
Erziehungswissenschaften an der EberhardKarls-Universität, das die Tübingerin 1995
erfolgreich beendete. Ihre eigene Erfahrung
als „Wandererin“, als Migrantin, habe
durchaus Einfluss auf ihren Beruf und ihr
Einfühlungsvermögen. Es spiele eine
wichtige Rolle, ob man bestimmte
Situationen selbst erlebt habe oder nicht.
Wenn Sultan Braun in Tübingen und
Reutlingen unterwegs sei, komme es ihr
nicht in den Sinn, dass sie eine Migrantin
sei. Die Tübingerin hat ihre Freunde und
ihre drei Kinder hier, in Deutschland: Ihr
Leben findet die engagierte Frau stimmig.
Aus dem Bericht der
Ausländerbeauftragten 20012003, Stadt Reutlingen
angekommen, wenn man stabile
Beziehungen und keine Angst um seinen
rechtlichen Status habe. Erst dann sei das
Leben in der neuen Heimat „stimmig“.
Martina Wiederkehr
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 65 -
Seminar 0/
0/
Tübinger Passanten sagen, was Migration und Integration für sie bedeuten
' *%'##(('
Tübingen zeichnet sich nicht nur durch
seine interessante Geschichte, seine
malerische Altstadt und durch seine
Universität aus. Hier leben auch viele
Bürger aus vielen Nationen der Welt. Tugce
Dizdar und Andrea Rumpel wollten sich
einen Einblick verschaffen, wie die
Menschen aus verschiedenen Kulturen hier
zusammenleben. In den Straßen der
Tübinger Altstadt haben sie Passanten
befragt und wollten wissen, was diese mit
den Begriffen „Migration“ und „Integration“
verbinden. Nachdem die zu Beginn
vorhandene Befangenheit abgeklungen
war, fanden sich mehrere Interviewpartner,
die gerne Auskunft gaben. Die beiden
Interviewerinnen haben ihre Antworten im
folgenden zusammengefasst.
es schwer, zwischen zwei Ländern zu
leben, da er Vergleiche ziehen müsste.
Jeder stelle sich doch die Frage, zu
welchem Land er gehöre, findet Doru. Die
Antwort auf diese Frage lautet für ihn: „Man
gehört dorthin, wo man sich wohl fühlt.“
Kathi, 24, Krankenschwester
Kati sagt:
„Migration ist
Einwanderung von
Menschen in ein
neues Land.“
Für problematisch
hält sie die
Migrationspolitik in
Deutschland, da
diese nicht gut
durchdacht sei.
Integration sei „die
soziokulturelle Teilnahme am
gesellschaftlichen Leben“.
Doru, 29, Doktorand aus Rumänien
Migration ist für
Doru „das
erzwungene
Verlassen seines
Heimatlandes, um in
einem anderen Land
überleben zu
können“. Zwar
verlasse niemand
freiwillig sein
Heimatland. Doch
bei vielen sei der
Wunsch groß, in
einem anderen Land ein besseres Leben
zu führen. Integration sei erst dann möglich,
wenn man sich in der neuen Heimat zu
Hause, aber trotzdem der alten Heimat
verbunden fühle. Für einen Migranten sei
Für Birgit, 46, und Rose, 46, beide
Verkäuferin
Für die beiden Frauen ist Migration: „Wenn
jemand hierher kommt.“ Integration erfolge
dann, wenn jemand Kompromisse
schließen und sich anpassen könne.
Integriert sei außerdem, wer einen Beruf
habe und arbeite. Integration sei auch
wichtig für das Zusammenleben von
Menschen mit und ohne Behinderung. Die
Gesellschaft müsse Menschen mit
Handicaps akzeptieren.
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 66 -
Seminar 0/
Unterschied.“ Viele seien hier in
Deutschland politisch und kulturell nicht
integriert. Die kulturellen Kenntnisse der
Deutschen über Ausländer im Gegensatz
zu ihren Erwartungen seien viel zu niedrig.
Deutsche würden zu viel erwarten von den
„zu Integrierenden“.
Stephen Burrows, 22, Student aus USA
Für Stephen hat das Wort Migration zwei
Bedeutungen: „Erstens, wenn Vögel von
Süden nach Norden ziehen oder
andersrum; zweitens wenn Menschen von
einem in das andere Land gehen.“
Integration gehe
nicht nur von den
Menschen aus,
die einwandern in
ein Land, da man
sich nicht selbst
integrieren
könne. Die
Anderen müssten
die Einwanderer
als Einwohner
anerkennen.
Integration
geschehe also
gegenseitig.
Erfolgreich sei sie dann, wenn man sich als
Einwohner sehe und von anderen auch als
solcher betrachtet wird.
Britta Berger, 23, Studentin Deutsch,
Englisch, Musik, und Matthias Berger,
26, Student der Informatik
Migration bedeutet für die Geschwister
Britta und Matthias, die aus Berlin kommen
und in Tübingen und Bremen studieren, in
ein anderes Land aus- oder einzuwandern.
Integration gehe von der Person selbst aus,
sei „Kopfsache“ und funktioniere nur durch
Eigeninitiative. Umgesetzt sei sie, wenn die
Kultur angenommen und die Sprache
beherrscht würde. Zudem erlebe ein
Integrierter „das Miteinander“ mit
Einheimischen.
Martin, 52, Heilpraktiker
Migration ist für
Martin die Aufnahme
von Bürgern aus
anderen Ländern.
Integriert seien
ausländische
Bürger, wenn sie
sich gut einleben
und die Kultur
mittragen.
Tim, 14 Jahre, und Florian, 13 Jahre,
Schüler
Die beiden Schüler denken beim Begriff
Migration an Menschen, „die viel
Schlimmes in der Vergangenheit und
schwere Schicksalsschläge erlebt haben“.
Denn dann müsse man oft in ein anderes
Land ziehen. Doch auch die Liebe und
Sehnsucht nach dem Partner kann, das
wissen die beiden,
Daniel , Mediziner aus Eritrea
Für Daniel gilt: „Migration ist gleich
Integration. Zwischen beiden gibt es keinen
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
- 67 -
Seminar 0/
Heimatland seien sie Fremde, da die
Freunde und Nachbarn von früher nicht
mehr da seien. Früher sei, so Mahsuni, der
Religionsunterschied noch als wesentliches
Merkmal im Zusammenhang mit Integration
angesehen worden, und die Frage, woher
ein Mensch komme. Inzwischen spiele dies
keine Rolle mehr. Er selbst lebt seit 17
Jahren in Deutschland.
ausschlaggebend dafür sein, wegzuziehen.
Integriert sei man, wenn man sich in die
Gesellschaft einfüge, aber eigene Bräuche
nicht vergesse.
Mahsuni, 34, Schuhmacher
Migration ist für
Mahsuni etwas,
„das früher
geschehen ist“.
Als Gastarbeiter
zum Arbeiten nach
Deutschland
kamen und
eigentlich wieder
zurück in ihr
Heimatland
wollten.
Mittlerweile seien
diese hier integriert, das bedeute, sie haben
deutsche Freunde und in ihrem alten
Monika, 26, aus Rumänien
Für Monika bedeutet Migration
Einwanderung. Integration heißt für sie, „die
Kultur eines Landes akzeptieren und sich
zu eigen machen, ohne dabei die eigene
Kultur aufgeben.“
Die Fotos dieser Umfrage haben die Autorinnen
Andrea Rumpel und Tugce Dizdar gemacht.
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar ///
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Definition laut Wörterbuch
„Unter Migration versteht man die
Wanderung von Individuen oder Gruppen
im geographischen Raum (horizontale,
geographische
Mobilität),
wobei
der
Ortswechsel vorübergehend oder dauernd
1
sein kann.“
Der Begriff
wird in verschiedenen
Disziplinen, zum Beispiel in der Soziologie
oder Biologie verwendet und kann
unterschiedlich
modifiziert,
also
2
abgewandelt eingesetzt werden .
Wird die Zahl der Migranten weltweit
statistisch erfasst, liegt als Definition des
Begriffs
meist
der
Vollzug
eines
dauerhaften Wohnortwechsel zugrunde.
Die Bedeutung des Begriffes „dauerhaft“ ist
1960 mit mindestens fünf Jahren festgelegt
worden (von 1950-1960 wurden alle
Wanderer ab einem Jahr in die Statistik
aufgenommen). In Deutschland hingegen
genügt ein tatsächlich stattgefundener
Wohnsitz-wechsel (unbeachtet bleibt hier
die
Frage
der
Freiwilligkeit
/
Unfreiwilligkeit). Aufschluss gibt hier der
Migrationsbericht
2007
der
Bundesregierung. Er steht im Internet unter
www.bmi.bund.de zum Herunterladen zur
Verfügung.
Migration im Allgemeinen
Der Begriff Migration bedeutet übersetzt
„Wanderung“ und stammt von dem
lateinischen Verb „migrare“, wandern ab.
Es gibt freiwillige und unfreiwillige
Migration.
Unterschieden
wird
auch
zwischen
Einund
Auswanderung,
Emigration und Immigration. Zu den
„typischen Einwanderungsländern“ zählen
Migrationsforscher unter anderem Kanada,
3
Australien, Neuseeland und USA . Von
Migration wird dann gesprochen, wenn der
Lebensmittelpunkt
verlegt
wird.
Internationale Migration findet statt, wenn
die Wanderung über eine Staatsgrenze
4
hinweg geschieht .
Einige Gründe für Migration
Armut
Kriegsdienst und Militärdienst
Hoffnung auf ein besseres Leben
Glaubensfragen
Politische Verfolgung
Fernweh
Liebe
...
Einige Formen von Migration
Kettenmigration,
Familiennach-zug
Massenwanderung
Arbeitsmigration
Fluchtmigration
Postkoloniale Migration
Heiratsmigration
...
Durch
die
englische
Übersetzung
„Migration“
des
lateinischen
Wortes
„migrare“ ist das Wort immer mehr in die
deutsche Alltagssprache und in die
Sozialwissenschaften integriert worden.
1
Stimmer: Lexikon der Sozialpädagogik und der
Sozialarbeit, S. 435
2
Vgl. Stimmer: Lexikon der Sozialpädagogik und der
Sozialarbeit, S. 435
3
Vgl. http://www.zebra.or.at/lexikon/m.html (Zugriff:
31.01.2009)
4
Vgl. S.12, Migrationsbericht 2007, www.bmi.bund.de
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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bzw.
Seminar ///
unter
anderem
deutlich,
dass
die
„Abwanderung“ (sowohl von Deutschen, als
auch von Ausländern) in der Politik und
Öffentlichkeit
eine
immer
größere
Bedeutung bekommt.
Nachfolgend werden einige Zahlen im
Überblick dargestellt.
Wichtige Begriffe
1. Binnenmigration:
Verlegung
des
ständigen
Wohnsitzes innerhalb nationaler
Grenzen
2. Internationale Migration
Verlegung
des
ständigen
Wohnsitzes
zwischen
verschiedenen Nationalstaaten
3. Kettenmigration
Findet
dann
statt,
wenn
Pioniermigranten
ihren
Familienangehörigen / Bekannten
eine
nachfolgende
Migration
ermöglichen
und
sie
dazu
motivieren.
4. „Push-Faktoren“
Druckfaktoren im Herkunftsland, die
zur Auswanderung zwingen
5. „Pull-Faktoren“
Sogfaktoren
im
Einwanderungsland,
die
zur
Einwanderung motivieren
rund 15,8 Millionen Zuzüge aus
dem Ausland im Zeitraum 19912007
rund 11,6 Millionen Fortzüge in das
Ausland im selben Zeitraum
Vergleicht man beide Zahlen, ergibt
sich
ein
so
genannter
Wanderungsüberschuss
von
4,2
Millionen (Vgl. S. 15, Migrationsbericht
2007, www.bmi.bund.de)
Literatur:
Bundesministerium für Migration und Flüchtlinge
(Hrsg.): Migrationsbericht 2007.
Han, Petrus: Soziologie der Migration. Stuttgart
2005.
Das Migrationsgeschehen
am Beispiel Deutschland
Stimmer, Prof. Dr. Franz (Hrsg.): Lexikon der
Sozialpädagogik und der Sozialarbeit.
München, 2000.
In
regelmäßigen
Abständen
werden
Migrationsberichte
im
Auftrag
der
Bundesregierung durch das Bundesamt für
Migration und Flüchtlinge (BAMF) erstellt.
Es folgt nun ein kleiner Auszug aus dem
Migrationsbericht 2007. In diesem wird
http://www.zebra.or.at/lexikon/m.html
31.01.2009)
Andrea Rumpel
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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(Zugriff:
Seminar ///
Zu- und Fortzüge nach und aus Deutschland im Jahr 2007:
Europa ohne EU:
114.980 Fortzüge
103.823 Zuzüge
Afrika:
19.896 Fortzüge
25.056 Zuzüge
Europäische Union (EU-12):
192.804 Fortzüge
265.927 Zuzüge
D
Europäische Union (EU-14):
151.151 Fortzüge
131.663 Zuzüge
Amerika, Australien und
Ozeanien:
60.842 Fortzüge
57.986 Zuzüge
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar !
!
Historische Migration
Migration – Hintergrund und
Nachschlagewerke
www.ancestry.de
www.ancestry.com
www.familysearch.org
www.ellisisland.org
www.ahnenforschung.net
www.genealogy.net
www.russlanddeutschegeschichte.de
Bade, Klaus J.: Europa in Bewegung.
Migration vom späten 18. Jahrhundert bis
zur Gegenwart. München, C.H. Beck Verlag
2002.
Klaus J, Bade, Leo Lucassen, Pieter C.
Emmer und Jochen Oltmer (Hg.),
Enzyklopädie Migration in Europa vom 17.
Jahrhundert bis zur Gegenwart.
Ferdinand Schöningh Verlag, Paderborn, 2.
Aufl. Okt. 2008
Auswanderung Baden-Württemberg
Datenbank Staatsarchiv Stuttgart
www.auswanderer-bw.de
Stumpp, Karl: Die Auswanderung aus
Deutschland nach Rußland in den Jahren
1763 bis 1862. 1978
Migration allgemein
Dossier Migration Bundeszentrale für
politische Bildung
http://www.bpb.de/themen/8T2L6Z,0,0,Migra
tion.html
Auswanderung aus dem Südwesten
Deutschlands (Auswahl)
Moltmann, Günter: Aufbruch nach Amerika.
Friedrich List und die Auswanderung aus
Baden und Württemberg 1816/17.
Dokumentation einer sozialen Bewegung.
Tübingen 1979
Netzwerk Migration in Europa
www.network-migration.org
www.migration-info.de
Moltmann, Günter (Hrsg): Aufbruch nach
Amerika. Die Auswanderungswelle von
1816/17. J.B. Metzlersche
Verlagsbuchhandlung, Stuttgart 1989
Internationale Organisation für Migration
www.iom.int
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge
www.bamf.de
von Droste, Liane: Lebenswege von
Auswanderern. Aus dem Steinlachtal in die
Welt – Portraits aus zwei Jahrhunderten.
Tübingen, Attempto Verlag, 2008. ISBN
978-3-89308-403-6
Deutsches Auswandererhaus Bremerhaven
www.dah-bremerhaven.de
Auswanderermuseum Ballinstadt Hamburg
www.ballinstadt.de
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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Seminar 070
070
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Dr. Thomas von Schell
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Rümelinstraße 27
72070 Tübingen
Telefon (Leitung) 07071-2977138
Fax 07071–295182
E-Mail [email protected]
www.career-service.uni-tuebingen.de
Fakultät für Philosophie und Geschichte
Historisches Seminar
Eberhard-Karls-Universität Tübingen
Sigwartstraße 17
72076 Tübingen
Telefon 07071-29 72568
Fax 07071-252897
www.geschichte.uni-tuebingen.de
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Liane von Droste
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Liane von Droste
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Theresa Köckeritz
Liane von Droste
Eberhard-Karls-Universität Tübingen, WS 2008/09
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