Link zum Heft - Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln eV
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Heft 2 Jahrgang 28 Herbst 2011 Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs 50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland · Indien als Idee gerät in Schwierigkeiten · Mission und Evangelisierung · Indische Diaspora in Afrika · Tempelschätze von Thiruvananthapuram · Interview · Gedichte · Erzählungen · Rezensionen i I n h a lt i Editorial........................................................................................................................................ 3 Herausgeber Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln e.V. Abteilung Integration und Migration Georgstr. 7, 50676 Köln Tel. 0221/2010-287 www.caritasnet.de Vertreter des Herausgebers: Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV E-Mail: [email protected] Redaktion: Jose Punnamparambil (verantwortlich), Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren, Tel. 02224 / 7 53 17 E-Mail: [email protected] Thomas Chakkiath, Novalisstr. 45, 51147 Köln, Tel. 02203 / 2 26 54; E-Mail: [email protected] Eine Nation, die vom Staat zerfressen wird ............................................................................ 4 Ramachandra Guha Mein Leben ist meine Botschaft ............................................................................................. 13 Jose Punnamparambil Indische Erfahrung ist wichtiger als die Sprache, . in der das literarische Werk geschrieben wird ...................................................................... 15 Kannan Sundaram Die Chancen aus den Krisen ................................................................................................... 17 Dr. George Arickal Tempel-Schätze von Thiruvananthapuram . .......................................................................... 19 König Marthanda Varma Mission und Evangelisierung .................................................................................................. 20 Prof. Dr. Joseph Pathrapankal Mahatma Gandhi war ganz bestimmt ein holistischer Denker, . auch wenn das zu seiner Zeit kein Modewort war. .............................................................. 24 Irmel Marla 50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland Nisa Punnamparambil, Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren Tel. 02224/9897690; E-Mail: [email protected] Wie war es am Anfang ............................................................................................................. 28 Redaktionelle Mitarbeit: Walter Meister, Öhringen Ein Tag aus dem Leben von Schwester Deenamma ............................................................ 35 Unterstützung und Beratung: Pater Ignatius Chalissery, Köln; Dr. Urmila Goel, Bonn; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan, Indien; Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Walter Meister, Öhringen; Pfarrer Darius Glowacki, Königswinter; Dr. Claudia Warning, Lohmar Die Inderinnen suchten Gesellschaft und waren immer zuvorkommender . und fröhlicher . .......................................................................................................................... 37 Gestaltung und Satz: Alexander Schmid Das einsame Leben und der Tod von Elfriede Maria Schmidt ........................................... 48 Jose Punnamparambil Das Unternehmen „Auszug aus Indien, Aufenthalt in Deutschland“ ............................... 30 Sunitha Vithayathil Edward Nazareth Schw. Ute Nedden 50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland ...................................................... 39 Ciciliamma Thundiyil, Mercy Thadathhil, Fredeena Nazareth, Elsy Vadakkumchery, Joseph Kurumundayil Wachstum an sich kann nicht unser ultimatives Ziel sein ................................................... 50 Layout: Jose Punnamparambil; Jose Ukken Amartya Sen Herstellung und Vertrieb: Jose Ukken, Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter, Tel. 02223 / 49 49; E-Mail: [email protected] A. Khaliq Kaifi Druck: Siebengebirgs-Druck, Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef Uday Prakash Erscheinungsweise: dreimal jährlich Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von den Lesern erwartet. Konto-Nr. 106 3205, Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 370 205 00), Diözesan-Caritasverband, Köln Indische Diaspora in Afrika .................................................................................................... 51 Indische Musik bedeutet für mich der Atem des indischen Subkontinents, . in welchem meine Seele beheimatet ist. ................................................................................ 57 Diptesh alias Fichi Diamond Ein hilfsbereiter Mensch ......................................................................................................... 59 Prof. Dr. Shiva Prakash ist neuer Direktor des Tagore Centers in Berlin ......................... 62 Annakutty Valiamangalam K. Findeis Die Megacity mit vielen Stimmen (Gedichte) ...................................................................... 63 Annakutty Valiamangalam K. Findeis Gedichte:.................................................................................................................................... 64 K. Satchidanandan, Shiva Prakash Indische Literatur als gesellschaftliche Kraft . ...................................................................... 65 Christina Kamp Titelbild Ohne Titel von Gurdeep Singh, Neu Delhi (Ausschnitt) Rückseite „Dawn” von Medha Bhatt, Patchworkkunst aus Textilabfall (siehe Seite 70) Neue Bücher ............................................................................................................................. 66 Chili, Chai, Chapati .................................................................................................................. 67 Josua Walbrodt Die magische Kraft alter Überlieferungen . .......................................................................... 68 Franz Schneider Indorama ................................................................................................................................... 69 2 meine welt 2/2011 i e di t o ri a l I Eine Erfolgsgeschichte Die Einwanderung indischer Krankenpflegekräfte nach Deutschland ist ohne Zweifel eine Erfolgsgeschichte. Sie kamen Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts ohne Vertrag durch private, meist kirchliche Kanäle. In den Spitzenzeiten – Anfang der 70er Jahre – zählten sie ca. 5.000 Personen. Die meisten kamen als junge Mädchen aus christlichen Mittelschichtfamilien im südindischen Bundesstaat Kerala. Einige wenige hatten schon eine Ausbildung als Krankenschwester in Indien und wollten hier eine Arbeitstätigkeit aufnehmen. Es war nicht leicht für diese jungen Mädchen, in Deutschland Fuß zu fassen. Allergrößtes Problem war die Sprache, aber auch die Essgewohnheiten, die Verhaltensweisen, das kalte Wetter etc. bereiteten ihnen große Anpassungsschwierigkeiten. Hinzu kam später die große Unsicherheit in Bezug auf Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Auch die Fremdheit der hoch urbanisierten Lebenskultur im deutschen Alltag machte den jungen, meist aus ländlicher Umgebung stammenden Mädchen zu schaffen. Es gab aber auch verbindende und rettende Faktoren, die den jungen Inderinnen Abhilfe schafften. Menschen aus fremden Kulturen waren damals in Deutschland keine alltägliche Wirklichkeit wie heute. Gegenüber ihnen waren die meisten Deutschen besonders offen und zuvorkommend. Dies gilt insbesondere für Inder und Inderinnen, da sie aus einem in Deutschland hochgeschätzten Kulturland kamen. Auch die Zugehörigkeit zu der christlichen Kirche half den Mädchen, Freundschaften und Bindungen mit den Deutschen zu knüpfen. Nachdem die Probleme in Bezug auf Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis gelöst worden waren, heirateten die Mädchen, meist indische Männer aus der Heimat, und gründeten Familien. Dann kamen die Kinder und damit auch die Schwierigkeit, Familie und Beruf zu vereinbaren. Da die meisten Krankenschwestern Schichtdienst oder Nachtdienst machten, konnten sich nicht richtig um die Kindern kümmern. Viele indische Ehepaare erinnern sich heute mit Dankbarkeit daran, wie ihre deutschen Freunde ihnen bei der Überwindung dieser schwierigen Situation kräftig geholfen haben. Die indischen Krankenschwestern und deren Ehepartner legten großen Wert auf gute Bildung und Ausbildung für ihre Kinder. Dafür waren sie bereit, eigene Bequemlichkeiten zurückzustecken. Mit großer Opferbereitschaft und mit beispielhaftem Einsatz wurden die Kinder in guten Schulen untergebracht und ihnen später ein Hochschulstudium ermöglicht. So sind heute viele dieser Kinder Ärzte, Ingenieure, Betriebswirte, Forscher, Hochschullehrer, Journalisten. Deutschland verhängte 1973 einen Anwerbestopp für nichteuropäische Arbeitskräfte. Danach kamen nur sehr wenige zur Ausbildung als Krankenpfleger/ Krankenpflegerin nach Deutschland. Heute befindet sich die große Mehrzahl der Inderinnen, die in den 1960er und 1970er Jahren nach Deutschland kamen, im Ruhestand. Viele ihrer Kinder haben bereits geheiratet und Familien gegründet. Die Ankunft der Enkelkinder verändert das Leben der 1. Generation der Krankenschwestern radikal. Viele sprechen nicht mehr von Heimweh nach Indien, sondern von einem Leben mit den eigenen Kindern und Enkelkindern in Deutschland. Es wird doch genug sein, einmal im Jahr Indien und die Verwandten/ Freunde dort zu besuchen! So ist die Geschichte einer einmaligen Einwanderung aus Indien nach Deutschland fast abgeschlossen. In einigen Jahren werden Erinnerungen an diese Einwanderung nur noch als ein gelegentliches scharfes Essen, als ein komischer Name, als schöne dunkle Hautfarbe bei einigen und als ein Hauch mehr Spannkraft und Offenheit in der Gesellschaft zurückbleiben. So war es auch bei den deutschen Soldaten, die Vasco Da Gama 1498 und noch zweimal danach nach Calicut und Cochin mitnahm, um die Herrscher von Calicut zu besiegen. Diese Soldaten entschieden sich nach Beendigung der Mission in Cochin, Kerala, zu bleiben, dort zu heiraten und Familien zu gründen. Was merken wir von diesen Deutschen heute bei einer Reise nach Kerala? Die Einwanderung der indischen Krankenschwestern nach Deutschland ist das Schwerpunktthema dieses Heftes. Wir haben viele Interviews, Stellungnahmen etc. über dieses Thema abgedruckt. Wir hoffen, dass dies auf Ihr Interesse stößt. Ansonsten haben wir viele andere interessante Beiträge in diesem Heft untergebracht. Wir empfehlen insbesondere den Beitrag von Ramachandra Guha, eine schonungslose Analyse des Zustands des heutigen Indien. Herzlichst Ihr J ose P unnamparambil Meine Welt Die Zeitschrift „Meine Welt” erscheint drei Mal im Jahr. Eine Spende von mindestens 13,00 Euro wird von den Lesern erwartet. Alle Rechte bleiben dem Herausgeber vorbehalten. Für unverlangt eingesandte Manuskripte übernimmt die Redaktion keine Haftung. Die in den Beiträgen vertretenen Ansichten decken sich nicht immer mit der Auffassung der Redaktion. Die Redaktion behält sich redaktionelle Änderungen vor. Alle Zuschriften sind an die Redak tion zu richten. meine welt 2/2011 3 i I d e e v o n I n di e n i Eine Nation, die vom Staat zerfressen wird Eine Unzahl von zerstörenden Faktoren – eingeschlossen der indische Staat – nagen an der Idee von Indien. Das ist nicht die Republik, die wir werden wollten. R amachandra G uha Ramachandra Guha ist einer der profiliertesten Historiker und Sachbuchautor im heutigen Indien. Seine international bekannten Bücher sind „The Unquiet Woods” 1989 ( Die unruhigen Wälder), ein Pionierwerk über die bedrohliche Entwicklung unserer Umwelt, und „India after Gandhi” 2007, die Geschichte Indiens nach dem Tod von Gandhi. Ramachandra Guha hat an der Yale und der Stanford Universität gelehrt, hat bereits einen Lehrstuhl an der Oslo Universität gehabt und war „Visiting Professor” an der California Universität in Berkeley. Vor kurzem war er als Inhaber des „Philippe Roman Chair in History and International Affairs” bei der London School of Economics für das akademische Jahr 20112012 berufen worden. Im folgenden Beitrag, der bereits in der indischen Zeitschrift „Outlook” erschienen ist, gibt er eine schonungslose, aber konstruktive Analyse des Zustandes des heutigen Indien als eine Nation, als eine „Idee”, als die größte Demokratie der Welt. Den Beitrag, den Anna Martin aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hat, drucken wir leicht verkürzt mit freundlicher Genehmigung des Autors. D ie R edaktion 4 meine welt 2/2011 Der Dichter Wallace Stegner bemerkte einmal: „Ideen zu verfolgen ist ein Ratespiel. Man kann nicht mit Sicherheit sagen, wer eine Idee zuerst hatte – man kann höchstens sagen, wer eine Idee zuerst verwendet hat, zuerst in irgendeiner Form, in einem Gedicht, einer Gleichung oder einem Bild formuliert hat, über das andere stolpern und schockiert feststellen, dass sie ähnliches auch schon gedacht haben.“ So verhält es sich auch mit der Idee von Indien. Rabindranath Tagore schrieb in einem Brief an einen Freund im Jahre 1921, „dass die Idee von Indien dem Bewusstsein der Getrenntheit des eigenen Volkes von anderen entgegensteht und unausweichlich zu endlosen Konflikten führen muss.“ Es mag andere gegeben haben, die sich vor ihm bereits in der Form geäußert hatten, aber erst im Jahr 1997, als Sunil Khilnais wundervolles Buch erschien, stellten seine Landsleute mit Entsetzen fest, was die Idee von Indien bedeutete. Der aufkommende Nationalismus im Europa des 19. Jahrhunderts, der Bürger im Namen einer einzigen Religion und einer einzigen Sprache gegen einen gemeinsamen Feind vereinte, lieferte das Modell für viele spätere nationalistische Bewegungen (die Israels und Pakistans eingeschlossen). Anderseits schließt die Idee von Indien, wie sie schon von Tagore und Gandhi formuliert wurde und auch in der indischen Verfassung festgeschrieben ist, in ihren weitläufigen Grenzen mehr soziale Vielfalt ein als jede andere Nation: Keine bestimmte Religion wird einer anderen vorgezogen, keine gemeinsame Sprache wird durchgesetzt und Patriotismus wird nicht durch ein gemeinsames äußeres oder inneres Feindbild geschürt. Wir als indische Staatsbürger benutzen ständig eine stereotype Erscheinungsform des Wun- ders Indien, nämlich unsere Banknoten, die auf der einen Seite ein Porträt Gandhis ziert und ein Bild des Parlaments. Auf der anderen Seite ist der Nennwert in 17 Sprachen und tatsächlich 17 unterschiedlichen Schriften angeführt, von denen jede einzelne eine eigene, anspruchsvolle, alte und ehrwürdige Literaturtradition repräsentiert. Da Geldscheine ein Produkt des täglichen Lebens sind, nehmen wir deren Bedeutung nicht mehr wahr. Drei Feinde Die pluralistische, inklusive Idee von Indiens hat drei Feinde: der bekannteste ist der Gedanke eines Hindu Rashtra, wie er auf eine unberechenbare Weise von der Bharatiya Janata Party und auf eine entschlossene (oder eher bigotte) Weise von der Rashtriya Svayamsevak Sangh, dem Vishwa Hindu Parishad, Bajrang Dal und anderen ähnlichen Vereinigungen vertreten wird. Als Khilnai im Jahr 1997 sein Buch veröffentlichte, schien die Idee des Hindutva die größte Herausforderung für die Idee von Indien zu sein. Der Sangh Parivar, so schrieb er, biete eine Alternative zu der „theoretisch unsauberen, improvisierten, pluralistischen Herangehensweise“, wie sie von Gandhi und Nehru geboten wurde, nämlich die Alternative einer „im kulturellen wie ethnischen Sinne gesäuberten, homogenen Gemeinschaft mit einer indischen Staatsangehörigkeit, die von einem Staat verteidigt wird, der sowohl Gott als auch nukleare Sprengköpfe auf seiner Seite hat.“ Diese Herausforderung erfuhr ich, als ich im Zeitraum zwischen 1988 und 1994 in Nordindien lebte, direkt und indirekt – als ich mitbekam, wie meine muslimischen Freunde unter Hindu- Namen Fahrkarten reservierten, als ich nach den Krawallen, i die von Lal Krishna Advanis rath yatra ausgelöst worden waren, nach Bhagalpur fuhr, als ich beobachtete, wie die öffentliche Meinung sich allgemein an den religiösen Fronten erhärtete. Die giftigen Überbleibsel dieser Jahre blieben auch im nächsten Jahrzehnt erhalten, wie die Pogrome gegen Muslime im Gujarat des Jahres 2002 zeigen. Die Bedrohung Indiens durch Hindutva-Fanatismus erreichte ihren Höhepunkt in der Zeit von 1989 bis etwa 2004. Diese Bedrohung scheint allgemein abgenommen zu haben, obwohl die kürzlich aufgedeckten terroristischen Aktivitäten durch Sundry Sadhvis und Swamis keinen Grund für eine Entwarnung geben. Wie auch immer, der religiöse Fundamentalismus der Rechten wird inzwischen sowohl was die Macht als auch was den Einfluss betrifft, von der Linken eingeholt, die in Gestalt der Kommunistischen (Maoistischen) Partei Indiens ebenfalls eine Herausforderung für die Idee Indiens darstellt. Der Aufstieg der Maoisten ist untrennbar mit der Enteignung der Stammesbevölkerung Zentralund Ostindiens verbunden. Diese Stammesvölker leben in den dichten Wäldern Indiens, an ihren schnell fließenden Flüssen – und auf einem Boden, der die reichsten Adern an Eisenerz und Bauxit enthält. Mit der Industrialisierung des Landes haben sie ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage im Zuge von Abholzungskampagnen, Dammbauten und Bergbau verloren, die von mächtigeren, davon profitierenden gesellschaftlichen Kräften geleitet werden. Selbst wenn sie nicht enteignet werden, werden die Stammesvölker aktiv diskriminiert. Sie leben in wenigen Bergregionen, sie stellen kein Stimmenpotential dar, deren Stimmen wenigstens symbolisch von den Politikern vernommen werden können. Es gibt hier einen Kontrast zu den Dalits (wie auch zu den Muslimen), die gleichmäßiger über das Land verteilt sind und demzufolge einen weiter reichenden Einfluss auf die Folgen der Wahlen haben. Die Stammesbevölkerung jedoch, die unter den höheren Beamten kaum vertreten ist und sowieso über keine politische Stimme verfügt, ist Missachtung und Geringschätzung seitens der Forstbehörden, der Polizei, des Finanzamtes und der Gesundheitsäm- I d e e v o n I n di e n i Slumbewohner in Mumbai ter ausgesetzt, die offiziell den Adivasi zur Verfügung stehen sollten, sie de facto aber schikanieren und ausbeuten. Die Maoisten Alles in allem kann man sagen, dass die Stammesbevölkerung in den letzten 63 Jahren der Demokratie und Entwicklung in Indien nur verloren hat. Ich will damit nicht sagen, dass Dalits und Muslime nicht diskriminiert worden sind. Deren Anliegen haben aber durch demokratisch gewählte Parteien und Politiker ein mächtiges Sprachrohr gefunden, während die Stammesbevölkerung noch nicht einmal diesen Trost für sich verbuchen kann. Dieses Vakuum haben die Maoisten mit steigendem Erfolg zu füllen versucht – und dabei kommt ihnen eine wachsende Sympathie der indischen Intelligentsia entgegen. Weltläufige Intellektuelle hatten seit jeher eine Faszination für linke Rebellen: von Mao über Che Guevara und dem Subcomandante Marcos bis zum Genossen Kishenji: Guerillagruppen in den Wäldern oder Bergen galt der bewundernde Blick von Dichtern und Schriftstellern, die selbst in Städten lebten. Dieser Kontrast erklärt die Stärke ihres Engagements. Weil diese Intellektuellen selbst einen gutbürgerlichen Lebensstil pflegen in einem Land, in dem es so viel Armut gibt, sublimieren diese Autoren ihre Schuldgefühle mit einer überschwänglichen Anerkennung bewaffneter Rebellen, die für sich in Anspruch nehmen, für die Armen und Entrechteten zu sprechen. (Rainer Hörig. Quelle: Indien Verstehen 2010) Im Sommer des Jahres 2006 reiste ich durch den Distrikt Dantewada im Bundesstaat Chhattisgarh als Angehöriger einer Gruppe unabhängiger Bürger, die Übergriffe einer Bürgerwehr untersuchen sollte, die von der Landesregierung gefördert worden war. Wir fanden heraus, dass diese Bürgerwehr die Gesellschaft der Adivasi polarisiert hatte, zahlreiche Morde angeheizt und mindestens 60.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben hatte. Empörung und Abscheu gegenüber der Politik der Regierung ließ uns aber nicht die Augen vor den Fehlern der anderen Seite verschließen: Die Maoisten hatten eine Spirale der Gewalt ins Laufen gebracht, indem sie vermeintliche Spitzel köpften, Dorfvorsteher ermordeten und Landminen einsetzten, denen sowohl Polizisten als auch Zivilisten zum Opfer fielen. Sie hatten auch Schulen in die Luft gesprengt, Hochspannungsleitungen gekappt, Schienen gesprengt und Sanitäter daran gehindert, in Dörfern zum Einsatz zu kommen, die unter der Kontrolle der Maoisten waren. Mir war klar, dass die Maoisten keine Gandhianer waren, aber es brauchte eine Unterhaltung mit einem Muria, um die Maoisten in einem klareren Licht zu sehen. Mein Gesprächspartner gehörte zur ersten Generation der Stammesangehörigen mit einem Schulabschluss und war ein ehemaliger Lehrer, der durch den Bürgerkrieg heimatlos geworden war. Er erklärte mir, dass hinter dem Macho-Bild des bewaffneten Revolutionärs ein Mann meine welt 2/2011 5 i stand, dem jegliche Zivilcourage fehlte. Ich kann immer noch seine Worte hören - er sagte auf Hindi: „Naxaliyon ko himmat nahin ki woh hathiyaaron ko gaon ke bahar chhod ke hamare beech mein aake behas karein“ (die Naxaliten haben nicht den Mut, ihre Waffen außerhalb unseres Dorfes abzulegen und dann zu kommen und mit uns zu diskutieren). Das war eine faszinierende Bemerkung, die tiefe Einsicht und ein tiefes Verständnis von der wirklichen Bedeutung der Demokratie verriet, Trotz des zur Schau getragenen Machismo und der vermeintlichen Sicherheit fürchtet sich der Maoist in Wirklichkeit vor sich selbst, dass er es nicht wagt, an einer demokratischen Debatte teilzunehmen – nicht einmal mit armen, unbewaffneten Dorfbewohnern. Wenn er seinen eigenen Überzeugungen trauen würde, warum sollte er zuerst versuchen, sie mit Waffengewalt zu untermauern? Die Bemerkung des Muria-Lehrers führte mir auch vor Augen, dass die Gewalt der Maoisten nicht willkürlich oder anarchisch ist, sondern äußerst gezielt. Schulen wurden angegriffen, weil die Revolutionäre nicht wollten, dass die Kinder einer anderen Pädagogik ausgesetzt sind als ihrer eigenen. Die Maoisten ermordeten regelmäßig Mitglieder und Führer des Panchayats (darunter auch Frauen), weil für sie die Wahldemokratie sogar – oder vielleicht insbesonders – auf dem Niveau einer Dorfgemeinschaft, eine Gefahr für die maoistische Vision eines Ein-Parteienstaates darstellte. Kurzfristig unterstützen die Maoisten die Dorfgemeinschaften vielleicht manchmal gegen die Forderungen von Forstschützern und Geldverleihern, mittel- und längerfristig bieten sie jedoch keine wirkliche Lösung. Sie betrachten die Stammesvölker im Wesentlichen als Kanonenfutter, als ein Sprungbrett im größeren Krieg gegen den indischen Staat, der nach ihrer Ideologie damit enden wird, dass die rote Fahne in dreißig oder vierzig Jahren von der Spitze des Roten Forts flattern wird. Indem sie diese Fantasie verfolgen, wird die Gewalt immer mehr eskalieren und die Adivasi werden immer mehr Leid und Unzufriedenheit ausgesetzt sein. 6 meine welt 2/2011 I d e e v o n I n di e n i Ein Flickwerk? Die dritte Herausforderung der Idee Indiens geht ebenfalls zurück bis in die Zeit der Staatsgründung. Es ist die Idee, dass die Indische Union nichts weiter ist als ein Flickwerk aus konkurrierenden Nationen, das früher oder später in seine Einzelteile zerfallen wird. Im Sommer des Jahres 1946 gab eine Splittergruppe der Nagas bekannt, dass sie nach Abzug der Briten einen eigenen Staat bilden würden. Im Sommer 1947 wurden ähnliche Ansprüche unter anderem vom Dewan von Travancore, dem Maharaja von Kaschmir und dem Nizam von Hyderabad geäußert. Der 15. August 1947 wurde für den Dravida Kazhagam, einer einflussreichen Tamilischen Partei, die ebenso eine unabhängige Nation ausrufen wollte, zum Tag der Trauer. Die Sikhs waren über die Trennung zwischen Indien und Pakistan aufgebracht, da sie gehofft hatten, ein dritter Staat namens Khalistan würde ebenfalls ins Leben gerufen werden. Viele britische Imperialisten glaubten, dass ein unabhängiges und vereintes Indien nicht überleben würde. Zu diesen Skeptikern gehörte auch der ehemalige Premierminister Winston Churchill, aber auch einige Beamte, die zur Zeit der Machtübertragung im Dienst der britischen Regierung angestellt waren. Die Mizo-Berge, damals als Lushai-Berge bekannt, wurden von einem Mann namens A.R.H. MacDonald regiert. Dieser MacDonald schrieb im März 1947 an seinen unmittelbaren Nachfolger, dass sein „Rat an die Lushais seit dem Ende des Krieges bis jetzt immer gewesen sei, sich um die zukünftigen Beziehungen zum Rest Indiens keine Sorgen zu machen, da niemand vorhersagen kann, wie die Lage Indiens in zwei Jahren sein wird oder ob es dann überhaupt noch ein einheitliches politisches Gebilde Indien geben wird. Ich würde meine kleine Tochter nicht ermutigen, ein lebenslanges Gelübde der Jungfernschaft abzulegen, aber ich würde es als ein noch schlimmeres Verbrechen ansehen, sie im Kindesalter mit einem Jungen zu verloben, der selbst noch unentwickelt ist.“ In den darauffolgenden Jahren entwickelte das Kind sich ausreichend, um seine unwilligen Partner zu überzeugen oder regelrecht zu nötigen, mit ihm eine Bindung einzugehen. Aber es brauchte Zeit und Geld, und viel Blut wurde dabei vergossen. Zwischen den Jahren 1947 und 1950 wurden über fünfhundert Fürstenstaaten in die Indische Union eingegliedert. 1963 gaben die dravidischen Parteien den Anspruch auf einen eigenen Staat schließlich auf. Die Mizos rebellierten 1965, zwei Jahrzehnte später legten deren Anführer die Waffen nieder und beteiligten sich am demokratischen Prozess. In die 80er Jahre fiel die separatistische Bewegung der Sikhs im Punjab, die schließlich befriedet wurde, wobei allerdings viele ihr Leben lassen mussten. In den 80ern und 90ern brach eine weitere Welle der Gewalt los, die von der Vereinigten Front zur Befreiung Assams (ULF) initiiert wurde - auch diese ebbte schließlich ab und die große Mehrheit der Assamesen sucht ihr Glück innerhalb der Indischen Union anstatt nach einem unabhängigen Staat Assam zu streben. Im Jahr 2011 gibt es drei separatistische Bewegungen, die ihren Einfluss und ihre Bedeutung bewahren: in Nagaland, Manipur und Kaschmir. Die erste dieser Bewegungen wurde über drei Jahrzehnte lang von einem Thangkul Naga namens T. Muivah angeführt. In den späten Achtzigerjahren war der Niederländische Autor Bertil Lintner entlang der indisch-burmesischen Grenze unterwegs, um den Naga-Anführer in seinem Versteck im Dschungel zu treffen. Muivah erzählte ihm, dass „die einzige Hoffnung, die die Naga hätten, wie sie ihre Unabhängigkeit erreichen könnten, sei, dass der Staat Indien zusammenbreche.“ Die Naga hatten Kontakte zu Sikh- und kaschmirischen Separatisten geknüpft und Muivah „hegte die inbrünstige Hoffnung, dass eine ähnliche Bewegung unter den Tamilen in Südindien entstünde, da dies das Land in die Anarchie stürzen würde, die er sich erhoffte.“ Die Tamilen bleiben relativ zufrieden mit der Indischen Union und die Sikh- Separatisten sind nicht länger aktiv oder einflussreich (wenn man von den BhindranwalePlakaten absieht). Aber das Kaschmirtal bleibt ein brodelnder Krisenherd; Manipur beherbergt Dutzende bewaffneter Separatistengruppen, und 13 Jahren Waffenstillstand zum Trotz ist zwischen der indischen Regierung und den Anhängern Muivahs i keine Einigung erreicht. Das Unbehagen in diesen drei Staaten hat vier Hauptgründe: erstens sind sie zu weit entfernt vom Landesinneren der Indischen Union, und zwar sowohl geographisch als auch kulturell. Zweitens ist die Idee der Unabhängigkeit unter den jungen Männern der genannten Staaten enorm attraktiv, drittens wächst I d e e v o n I n di e n i die Wut über die Immunität vor Inhaftierung und Strafverfolgung der Soldaten der indischen Armee, deren Vorgehen gegen Zivilisten nur zu mehr Unruhe führt. Der vierte Grund, der für Unbehagen sorgt, ist die Unterstützung manipulativer und korrupter Politiker seitens der indischen Zentralregierung. Die Aufständischen verüben ihrerseits eigene Verbrechen, wie zum Beispiel die Vertreibung von Pandits im Fall von Kaschmir und die ständige Erpressung von Zivilisten durch Rebellen aus Manipur und Nagaland zeigt. Oft kommt die finanzielle Unterstützung für diese Gruppen aus dem Ausland. Hauptgrund des Konfliktes bleibt aber das Tagore-Kulturpreis 2011 für Prof. Dr. Dietmar Rothermund und Günther Paust sondern vor allem auch durch heute auf 52 Konzerttourneen mit über die Medien. Als Experte für 1850 Gastspielen europaweit und in Indien den südasiatischen Raum ist er zurückblicken. in zahlreichen Rundfunk-, FernDie Preisverleihung fand am 24.09.11 seh- und Zeitungsreportagen im Rahmen einer Festveranstaltung im ein gefragter Ansprechpartner. Kulturrathaus Dresden statt. Die beiden Seine Sachund Fachkompetenz, Preisträger erhielten den Preis von Herrn die nicht nur in Europa, sondern Hans-Joachim Kiderlen, dem Vorsitzenden weltweit hohe Anerkennung erder Deutsch-Indischen Gesellschaft e.V. fährt, stellt er zahllosen OrganiAnwesend war Prof. Dr. Shiva Prakash, sationen und Institutionen zur Direktor des Tagore Centers Berlin und Verfügung. So konnte auch die Botschaftsrat (Kultur) bei der Indischen Deutsch-Indische Gesellschaft Botschaft in Berlin. Der Preisträger Prof. Rothermund mit Herrn Kiderlen lange Jahre von seinem Wirken Der Rabindranath Tagore-Preis wurde bei im Bundesvorstand und Beirat seiner Errichtung im Jahre 1986 als ein der Gesellschaft profitieren. Prof. Rothermund wurde der Preis vor „Literaturpreis“ begründet und erst im Günther Paust wurde mit dem Tagore allem für die außergewöhnliche BreiJahre 2002 zu einem „Kulturpreis“ erweiKultur-Preis ausgezeichnet für seinen seit tenwirkung seiner Arbeit verliehen. Sein tert. Der mit insgesamt Euro 5000 dotierte Jahrzehnten andauernden unermüdlichen Interesse an Indien erstreckt sich neben Preis wird alle drei Jahre verliehen. JP Einsatz als Kulturbotschafter und historischen, wirtschaftlichen und landesKulturschaffender, fokussiert auf kundlichen Aspekten auch auf den künstIndien. lerischen bzw. literarischen Bereich. Ein Er widmet sich nun seit über 30 Beispiel hierfür ist der kürzlich erschieJahren mit hohem Engagement nene Beitrag zum Band „Rabindranath und harter Arbeit der VermittTagore and Germany. The History and its lung klassischer indischer Musik Relevance for Today“ (New Delhi 2011). und klassischen indischen Tanzes Prof. Dr. Dietmar Rothermund, geb. 1933 in Deutschland und Europa, auch in Kassel, Historiker und emeritierter in beispielhafter Zusammenarbeit Professor für die Geschichte Südasiens mit anderen Kulturkreisen. Die an der Universität Heidelberg, prägte zunehmende Popularität seines über Jahrzehnte hinweg das Indien-Bild Ensembles weit über die Grenin Deutschland. Als herausragender Mittzen Deutschlands hinaus spiegelt ler zwischen beiden Nationen legte Rosich in zahlreichen Einladungen thermund einen besonderen Schwerpunkt zu Festivals in Rumänien, Italiauf die Verbreitung von indienkundlichem en, Teneriffa, Österreich und der Wissen in Deutschland, nicht nur durch Schweiz wider. So kann er bis Der Preisträger Günther Paust mit Herrn Kiderlen seine Publikationen und Vorlesungen, meine welt 2/2011 7 i starke Engagement der Rebellen auf der einen Seite und der übermäßige Einsatz von Gewalt auf Seiten des Staates. Einige werden einwenden, dass es für Länder wie Spanien und England Jahrhunderte gedauert hat, die ethnischen Minderheiten, die an den Grenzgebieten leben, unter Kontrolle zu bringen. Man könnte auch das Beispiel des amerikanischen Bürgerkriegs anführen und Chinas Vorgehen in Tibet und Xinjiang. Der Prozess der Staatwerdung ist oft von Qualen, Verbitterung und Brutalität begleitet. Indien beansprucht den Status einer modernen Demokratie. Die Maßstäbe, die Indien selbst dabei setzt, müssen sich von denjenigen eines aristokratischen Regimes des 19. Jahrhunderts oder denen eines totalitären Staates der Gegenwart unterscheiden. Die Kaschmiris, Manipuris und Nagas lassen sich nicht mit Nötigung oder Bestechung für die Idee Indiens gewinnen. Das Beharren auf Unterdrückung seitens des Staates und das Bestehen auf dem Streben nach nationaler Souveränität seitens der Rebellen hat laut Tagore zu „endlosen Konflikten“ geführt. Wenn die Gewalt enden soll, muss die indische Regierung weit mehr unternehmen, um die Bevölkerung in Kaschmir, Nagaland und Manipur zu erreichen. Das Sonderermächtigungsgesetz für die Streitkräfte (Armed Forces Special Powers Act) muss aufgehoben werden. Polizisten und Soldaten, die sich I d e e v o n I n di e n i der Verletzung von Menschenrechten schuldig gemacht haben, müssen bestraft werden. Die ständige Beeinflussbarkeit der Arbeitsweise demokratisch gewählter Regierungen einzelner Staaten muss aufhören. Gleichzeitig sollte man kleine Nationalismen nicht verklären, da sie ein hässliches Gesicht haben. Die Intoleranz der Naga-Aktivisten zeigte sich deutlich im Sommer 2010, als sie das Imphal-Tal über zwei Monate lang versperrten und so Zivilisten den Zugang zu Lebensmitteln, Benzin und Medikamenten verwehrten. Die Engstirnigkeit (vielleicht auch die Paranoia) von Meitei Aufständischen zeigt sich darin, dass sie DVDs von Hindi-Filmen sogar für den privaten Gebrauch verbieten. Es gibt auch die Frage der Durchführbarkeit. Die kleinen, bergigen, abgeschiedenen unabhängigen Binnenstaaten, von denen die Radikalen träumen, würden im wirtschaftlichen und politischen Sinn nicht überleben können. (Und ein unabhängiges Kaschmir würde höchstwahrscheinlich zu einem Sammelbecken für Al-Qaida werden). Wenn Tamilen und Mizos innerhalb der Indischen Union leben können, gibt es keinen Grund, warum die Meiteis und Nagas es nicht können sollten. Diesen Gemeinschaften, die gut ausgebildet sind, Englisch sprechen und sich durch ein hohes Maß an Geschlechtergerechtigkeit auszeichnen, stehen die besten Arbeitsstellen in ganz Indien offen (die tatsächlich Erscheinungsbild krasser Ungleichheiten. Auf einer Baustelle für einen Softwarepark in Pune bewegen Tagelöhnerinnen in Handarbeit schwere Steine. (Foto: Rainer Hörig. Quelle: Indien Verstehen 2010) 8 meine welt 2/2011 schon einige von ihnen innehaben). Warum sollten sie sich also auf eine kleine abgegrenzte Region beschränken? Diese drei konzeptuellen und ideologischen Herausforderungen (Hindu-Fundamentalismus, kommunistische Diktatur und enthnischer Seperatismus) gehen allesamt in die Tage der Staatsgründung zurück. Zu diesen sind in jüngster Zeit drei eher weltliche und materialistische Herausforderungen hinzugekommen: Ungleichheit, Korruption und Umweltzerstörung. Im heutigen Indien gibt es enorme Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen, Reichtum, Konsum, Besitz, Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung und in Bezug auf Arbeitsverhältnisse. Diese verschiedenen Missverhältnisse laufen entlang verschiedener sozialer Grenzen wie Kaste, Religionszugehörigkeit, Ethnie, Region und Geschlecht. Höhere Kasten (insbesondere die Brahmanen und Banias) besuchen bessere Schulen und Krankenhäuser und sind massiv überrepräsentiert unter den Unternehmern und Fachkräften. Sowohl wirtschaftlich als auch sozial betrachtet, sind Hindus, Sikhs und Christen besser dran als Muslime. Die Stammesvölker Zentralindiens sind, wie wir gesehen haben, sogar noch schlechter dran als die Muslime. Diejenigen, die im Westen und Süden des Landes leben, haben bessere Einkommensverhältnisse als diejenigen, die im Norden oder Osten leben. In ganz Indien ist das Pro- Kopf-Einkommen in Städten viel höher als auf dem Land. Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass in jeder sozialen Schicht Männer einen besseren Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und Erwerbstätigkeit haben als Frauen. Ich bin kein Sozialist und noch weniger ein Marxist. Die Geschichte des Kommunismus zeigt, dass die Versuche, eine Mustergesellschaft zu schaffen, in der alle Menschen gleich sind, nur in verschärfter Unterdrückung der Bürger und in der Entstehung einer neuer Klasse mündet, die mehr Privilegien und größere Immunität vor Strafverfolgung genießt als sie mittelalterlichen Herrschern zu eigen waren. Der Staat Nordkorea ist ein geeignetes Beispiel dafür, wie schwachsinnig und barbarisch die Suche nach der absoluten Gleichheit i Kinderarbeit werden kann.Wie unser kluger Landsmann Andre Beteille immer betont, ist es nicht die absolute Gleichheit, die erstrebenswert ist, sondern die Chancengleichheit. Diese haben wir schlichtweg nicht erreicht, daher die oben genannten Ungleichheiten. Die Chancen eines Dalit sind weiterhin weit von denen eines Brahmanen entfernt, die eines Muslim von denen eines Hindu. Einem Stammesangehörigen werden nicht die gleichen Chancen gewährt wie einem Hindu oder Muslim, ein Dorfbewohner liegt hinsichtlich der Chancengleichheit weit hinter einem Städter. Bürger des Staates Orissa oder Jharkhand können mit denen Maharashtras oder Tamil Nadus nicht mithalten. Korruption Diese Ungleichheiten werden durch Korruption noch verstärkt. Öffentliche Gelder, die dazu bestimmt sind, Arbeitsplätze oder soziale Einrichtungen zu schaffen, fließen in die Taschen von Politikern und Bürokraten. In einem Roman aus den 50er Jahren bemerkte Verrier Elwin, wie handgesponnene Baumwolle (khadi), einst „ein Symbol des Aufbegehrens gegen die britische Kolonialherrschaft“, inzwischen fast schon zu einer offiziellen Uniform, einem Zeichen von Macht und Autorität geworden ist. Einstige Rebellen sind nun an der Regierung beteiligt, trotzdem assoziierte man lange noch handgesponnene Baumwolle mit Anstand und Ehrenhaftigkeit. Ich bin alt genug, um mich noch an eine Zeit erin- I d e e v o n I n di e n i (Quelle: Länderreport Indien 2008, DGB) nern zu können, in der indische Politiker noch nicht allesamt selbstherrlich, engstirnig und bestechlich waren. Lal Bahadur Shastri regierte zwischen 1964 und 1966 mit einem Kabinett von ehrenhaften Männern und Frauen. Sein Kollege, Gulzaril Nanda, verbrachte seinen Lebensabend in einer schäbigen, dunklen Wohnung in Ahmedabad, ohne Auto, Kühlschrank etc. Die Politiker der Rechten und Linken waren meist so integer wie diejenigen der Mitte. Als in den 1980er Jahren ein Einbrecher in das Haus von E.M.S. Namboodiripad einbrach, der für drei Legislaturperioden der Ministerpräsident des Staates Kerala war, fand er nur achthundert Rupien und einen Gold- Sovereign [Anmerkung: alte britische Münze]. Man könnte von drei sich überlappenden Phasen in der Entwicklung der politischen Korruption in Indien sprechen. Die erste Etappe war die Zulassungserlaubnis für Stücklizenzen der Britischen Herrschaft in Indien (Raj) der 50er und 60er Jahre. Bestimmten Personen oder Betrieben wurde einen Gefallen getan und sie erhielten eine Gegenleistung. In der zweiten Etappe, die in den 70ern begann, war die regierende Partei involviert, die von Rüstungsaufträgen größere Beträge zum eigenen Nutzen abzweigte. Die dritte Etappe, die zur selben Zeit begann, sich aber in den 90ern verstärkte, besteht immer noch: der Missbrauch staatlicher Macht bei der Zuweisung von Land und natürlichen Ressourcen an Freunde und Handlanger. Am Ende des letzten Jahrhunderts war Bangalore ein Vorzeigeprojekt für die Vorteile der Liberalisierung. Der Zugang zu den weltweiten Märkten hatte den ausgebildeten Arbeitskräften der Stadt die Möglichkeit geschaffen, ein Ausmaß an Wohlstand zu erreichen, in dessen Folge eine neue Welle der Menschfreundlichkeit in Indien aufkam. Zu Beginn des gegenwärtigen Jahrzehnts war mein Heimatland Karnataka ein sprichwörtlich gewordenes Beispiel für die dunklere Seite der Globalisierung. Die Ausbeutung von Mineralien und deren Export nach China hat Umweltschäden im großen Ausmaß verursacht und das politische System durch Kaufen und Verkaufen durch den Gesetzgeber ruiniert. Der enorme Profit durch Bergbau entsteht teils aufgrund der hohen Preise auf dem internationalen Markt, aber zu einem größeren Teil entsteht er, da der Staat eine sehr geringe Förderabgabe auf Eisenerz erhebt, viele Lieferungen ohne jegliche Abgaben die Häfen erreichen und keinerlei Einhaltung umwelttechnischer Auflagen oder Arbeitsstandards von den Bergwerksbetreibern verlangt werden. Im Oktober des Jahres 2010 versuchte die Opposition in Karnataka, die Regierung ihres Amtes zu entheben. Medienberichten zufolge wurden einigen MLAs bis zu 500 Mio Rupien (Rs 50 crore) angeboten, um ihre Meinung zu ändern. Da die meisten sich nicht kaufen ließen, kann man davon ausgehen, dass ihre eigene Partei mehr bot, um sie auf ihrer Seite zu halten. Mehrere Milliarden Rupien werden in dieser Angelegenheit den Besitzer gewechselt haben. Das sind grobe Schätzungen, aber es ist sicher, dass mit illegalem Bergbau in Karnataka ein Milliardengeschäft gemacht wird. In anderen Bundesstaaten wie Goa und Orissa wird der Profit aus illegalem Bergbau noch schlimmere Auswirkungen auf die Demokratie haben. Maharashtra scheint der nächste Staat auf der Liste zu sein. Letzten Monat verbrachte ich in Puna einige Stunden mit dem Umweltschutzexperten Madhav Gadgil. Gadgil war gerade von einer Reise zurückgekehrt, die ihn an die Westküste geführt hatte Dort hatte er einst eine gedeihende Landwirtschaft vorgefunden, die auf dem Anbau von Früchten und Gewürzen und meine welt 2/2011 9 i auf Fischfang basiert. Inzwischen ist dort eine massive Aneignung von Land im Gange. Bergwerkbetreiber, Betreiber von Luxushotels und Kraftwerken versuchen zusammen mit Juristen und Ministern die lokale Bevölkerung zu vertreiben und Wälder und Mündungsgebiete zu zerstören. Supermacht Indien Der Bergbau- und Kraftwerksboom ist zum Teil mit dem Wahn zu erklären, dass man unbedingt die Wachstumsrate von 9 Prozent erreichen will, die, wie manche Kreise in Neu Delhi behaupten, notwendig sei, damit Indien den Status einer Supermacht erreicht. Dieses Ziel wird vor allem von bestimmten Ministern, Großunternehmern und Zeitungsverlegern verfolgt, die alle von einem tiefen Minderwertigkeitskomplex befallen sind: Sie wollen um jeden Preis im internationalen Vergleich mit den Politikern, Billionären und Herausgebern des Westens auf einer Stufe stehen. Dieses zwanghafte Streben nach dem Status einer Supermacht ist ebenso ein männliches Machogehabe wie der Naxalismus oder der Hindu Fundamentalismus. Es ist genauso eine Fantasie und eine genauso gefährliche obendrein. Viele Konflikte sind bereits dadurch entstanden. Mit der Politik, die mit großer Mehrheit das Bestreben befürwortet, ein Wachstum von neun Prozent zu erreichen, haben wir Agrarflächen und Lebensraum der Stammesbevölkerung überaus zerstörerischen Formen von Industrie und Bergbau überlassen. Indem die Zentralregierung die neun Prozent zur I d e e v o n I n di e n i Priorität erklärt hat, zum sine qua non, hat sie die Regierungen der Bundesstaaten ermutigt, Korruption, Kriminalität und möglicherweise nicht wieder gut zu machende Umweltzerstörung voranzutreiben. Natürlich muss die indische Wirtschaft stetig wachsen, um unser Volk aus der Armut zu hieven. Es ist jedoch unbedingt notwendig, sich die Einzelheiten dieses Wachstums genauer anzuschauen, aus dem das Erbe für spätere Generationen gemacht wird. Unternehmen und Projekte müssen nach der Art der Arbeitsplätze, die sie schaffen, und nach deren jeweiligen Folgen für die Umwelt bewertet werden. Wir müssen sicherstellen, dass jegliche Form der Aneignung von Land fair, gerecht und transparent von statten geht. Die Kosten für eine engstirnige Fokussierung auf das Wachstum des BIP und die Fetischisierung einer bestimmten Zahl – acht Prozent, neun Prozent, zehn Prozent – können verheerend sein. Denn im BIP ist nicht der Verlust eingerechnet, der durch Tagebau entsteht: Wasserknappheit, Umweltverschmutzung und -zerstörung. Der Markt kann Effizienz und Produktivität fördern, aber nicht Nachhaltigkeit oder soziale Gerechtigkeit. Der Markt legt keinen Wert auf die Bedürfnisse der Armen, auf die Zukunft und auch nicht auf das Recht auf Leben anderer Spezies. Es liegt also im Interesse der Bergwerkbetreiber und Industriellen, die Kosten der Schädigung der Umwelt nicht offen zu legen (die Gesetze, die solche Schädigung verhindern könnten, existieren zwar auf dem Papier, Bauern protestieren gegen ihre Vertreibung durch eine Serie von Großstaudämmen am Narmada-Fluss. (Foto: Rainer Hörig. Quelle: Indien Verstehen 2010) 10 meine welt 2/2011 werden aber bis auf einige Ausnahmen nicht angewendet). Das heutige Indien ist ein hoffnungsloser Fall, was die Umwelt betrifft: Absinken des Grundwasserspiegels, enorm hohe Luftverschmutzung und Bodenerosion, die Entsorgung von Giftmüll, die keinerlei Regelungen unterliegt, Abholzung der Wälder und Dezimierung der Artenvielfalt sind verheerend. Dies wird durch Korruption und Ungleichheit begünstigt. Sowohl die Politiker der Zentralregierung als auch die Regierungen der einzelnen Bundesstaaten, die nur im Interesse der Reichen agieren, überlassen die Kosten der Umweltzerstörung den Armen und zukünftigen Generationen. Am 4. November 1948 brachte B.R. Ambedkar einen Verfassungsentwurf in die verfassungsgebende Versammlung ein. Dieser Entwurf sollte, mit einigen Änderungen, die Indische Verfassung werden. Ambedkar äußerte sich über das Dokument, das er betreut hatte, dass es „brauchbar, flexibel und geeignet genug sei, das Land in Kriegs- wie Friedenszeiten zusammen zu halten. Wenn etwas mit der neuen Verfassung tatsächlich schief läuft, liegt es nicht daran – wenn ich mir erlauben darf, das zu sagen –, dass die Verfassung schlecht ist, sondern an der schlechten Natur des Menschen.“ 62 Jahre später können wir hinsichtlich unseres Versagens, die Ideale der Verfassung wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu erfüllen, schlussfolgern, dass bestimmte Menschen besonders versagt haben: diejenigen, die eben diese Ideale von Berufs wegen fördern und durchsetzen müssten. Das Ausmaß und die Allgegenwärtigkeit der Korruption in der Politik bedeutet, dass möglicherweise der mächtigste Feind der Idee von Indien inzwischen der indische Staat selbst ist. Die Kongresspartei hat hierbei eine wichtige Rolle gespielt. Als die Partei der Unabhängigkeitsbewegung hat sie geholfen, die Idee von Indien zu definieren. Als die Partei, die nach der Unabhängigkeit für Einheit und Demokratie warb, hat sie der Idee von Indien Tiefe verliehen. In den letzten Jahrzehnten jedoch haben die Partei und ihre Führer hauptsächlich an der Zerstörung der Idee von Indien gearbeitet. i I d e e v o n I n di e n i Familiengeführte Unternehmen Man kann ebenso gut Namen nennen: Unter Indira Gandhi, selbst ein Kind des Freiheitskampfes, in der Tradition Gandhis und Nehrus geschult, wandelte sich die Partei von einer dezentralisierten, demokratischen Partei mit starken Bezirksausschüssen und Landesausschüssen in ein familiengeführtes Unternehmen, das die Autonomie und die Integrität des gehobenen Dienstes zerstörte, indem sie Loyalität zur Parteispitze zum Hauptkriterium für den Aufstieg machte. Rajiv Gandhi, ein modern gesinnter Mann, der Indien ins 21. Jahrhundert führen wollte, öffnete die Tore an der Moschee von Ayodhya und anschließend annullierte er, um den Bigotten auf der anderen Seite zu gefallen, die Entscheidung des Höchsten Gerichtshofs im Shah Bano-Fall. Dies führte zu zwei Jahrzehnte währender religiöser Feindschaft und zu religiös motivierten Krawallen mit tausenden Toten und noch mehr Obdachlosen (und bahnte nebenbei Hindutva den Weg vom politischen Rand auf die politische Bühne). Manmohan Singh, der selbst ein integerer Mann ist, regiert mit einem Kabinett, das vor Korruption nur so stinkt, sieht dabei zu, wie mehrere Milliarden von Rupien als Vergütung für die Sanktionierung spezieller Wirtschaftszonen, Energieprojekte und andere Dinge illegal von einer Hand in die andere wechseln. Was persönliche Integrität und Aufrichtigkeit betrifft, scheinen die Kommunisten im Parlament die am wenigsten verhassten unter den indischen Politikern zu sein. Sie unterhalten z.B. keine Schweizer Bankkonten und sind nur äußerst selten in FünfSterne-Restaurants anzutreffen. Viele von ihnen haben ein tiefes Mitgefühl mit den Armen und Ausgeschlossenen. Sie haben jedoch, wo sie an der Macht waren, Parteigenossen energisch in der Verwaltung, der Polizei und, was am schlimmsten ist, an den Universitäten gefördert. An der Universität von Kalkutta, einst eine ausgezeichnete akademische Adresse, sank das Niveau der Lehre erheblich dadurch, dass Professorenstellen zuerst mit Parteiideologen besetzt wurden. Es ist eine erstaunlich archaische Ideologie, der diese Kommunisten anhängen. Protest gegen staatliche Untätigkeit: Demonstration von BJP-Anhängern gegen Straßenbau in Delhi. (Quelle: Länderreport Indien 2008 DGB) Baburam Bhattarai, der Ideologe der nepalesischen Maoisten, äußerte, seine Partei „möchte ein neues Modell ausprobieren, welches sich auf die Ideen Gandhis, Lohias, Marx’ und Lenins bezieht und dabei eine Synthese von allen darstellt”. Sein Führer, Genosse Prachanda, spricht oft mit Bewunderung vom Buddha. Die indischen Genossen lassen sich von weiter entfernten Persönlichkeiten inspirieren. Auf den jährlichen Versammlungen der CPI(M) sind immer vier Porträts auf dem Podium zu sehen: Marx, Engels, Lenin und Stalin – also zwei deutsche Denker des 19. Jahrhunderts und zwei russische Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Ich hoffe, dass ich es noch erleben darf, bei Versammlungen der CPI(M) dereinst Porträts von repräsentativen indischen Demokraten wie z.B. Gandhi und Ambedkar zu sehen. Um einigermaßen gut zu funktionieren, braucht eine Demokratie drei Bereiche, die mitziehen müssen: den Staat, die Privatwirtschaft/ Privatwirtschaftliche Unternehmen und die Zivilgesellschaft. In den 50ern und 60ern, als die Unternehmer zaghaft und nicht besonders risikofreudig waren und eine Zivilgesellschaft noch nicht existierte, gab der Staat sich größte Mühe. Heute schreiben wir das Jahr 2011 und es scheint, als wäre es jetzt die Zivilgesellschaft, die sich größte Mühe gibt. Hunderte von selbstlosen sozialen Aktivisten schuften in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Umwelt, Frauenrechte, und Verbraucherschutz, um nur einige zu nennen. In der Privatwirtschaft gibt es Visionäre ebenso wie diejenigen, die sich nur bereichern wollen. Vor zehn Jahren waren es die Philanthropen, die die Trends vorgaben, jetzt sind es die Gauner und ihre Handlanger, die immer mehr an Macht und Einfluss gewinnen. meine welt 2/2011 11 i Um den Glauben an die Idee von Indien wieder herzustellen, brauchen wir eine fähigere ehrliche Klasse von Politikern. Bis es soweit ist, können wir uns auf die massive Unterstützung der Bürger verlassen, die trotz der Provokationen durch Extremisten Demokratie und Vielfalt kontinuierlich hochhalten. Außerhalb von Gujarat wurden die Hindutva-Hardliner von den Wählern wiederholt energisch abgewiesen (wie unlängst in Bihar bewiesen, wo die NDA (National Democratic Alliance) einen spektakulären Sieg bei den Wahlen auf Landesebene verbuchen konnte, indem sie Narendra Modi von ihrer Kampagne ausschloss). Den islamistischen Terrorakten in Bombay, Delhi und anderswo sind keine Krawalle oder religiösen Racheakte gefolgt. Das Gespür der Bürger zeigte sich auch, als die Kampagne gegen Sonia Gandhi, die vor den Wahlen im Jahr 2004 gestartet wurde und sie als eine Fremde darstellen sollte, zurückgewiesen wurde. Die Fremdenfeindlichen hofften, die niederen Gefühle der Inder im Allgemeinen und der Hindus im Besonderen anzuregen, indem sie die Gefahren, die ein möglicher ‚Rome Raj’ auslösen könnte, herauf beschworen. Außerhalb der Kreise der Hindu-Fundamentalisten stieß diese Kampagne allerdings auf keinerlei Resonanz. Der Wähler stellte klar, dass sie Mrs. Gandhi anhand von anderen Kriterien beurteilen würden. Ihre italienische Herkunft und die katholische Erziehung waren nicht relevant. Sie hatte sich das Recht, eine Inderin zu sein, durch vier Jahrzehnte Aufenthalt auf indischem Boden erworben. Zwar gibt es viele Inder, die mit dem Familienkult unzufrieden sind, der in der Kongresspartei gepflegt wird, und viele andere, die mit der Wirtschaftsund Sozialpolitik der Partei nicht glücklich sind. Aber das europäische Erbe Sonia Gandhis spielt dabei keine Rolle. Die Idee von Indien, die auf Werten wie Dialog- und Kompromissbereitschaft, Gegenseitigkeit und Anpassung aufbaut, ist nichts für diejenigen, die schnelle und endgültige Lösungen für Probleme suchen. Diese Idee scheint deshalb Ideologen der Rechten oder der Linken ebenso wenig zu gefallen wie Populisten. Lassen Sie mich diesen Skeptikern eine 12 meine welt 2/2011 I d e e v o n I n di e n i letzte Randbemerkung anbieten: Am Unabhängigkeitstag fuhr ich einmal von Bangalore nach Melkote, eine Tempelstadt im südlichen Karnataka, wo es zufällig auch einen berühmten Gandhi- Ashram gibt. Der erste Teil der Fahrt, der uns durch das ständig wachsende Ballungsgebiet Bangalores führte, war eintönig. Dann fuhren wir auf die Autobahn Richtung Mysore und die Landschaft wurde vielseitiger. Irgendwo zwischen Mandya und Melkote fuhren wir an einem Ochsenkarren vorbei, auf dem drei Jungen saßen. Einer von ihnen trug einen Anzug und eine Brille, der zweite eine Bandgala mit einem typischen Mysorer Peta-Hut auf seinem Köpfchen und der dritte war in ein schlichtes Tuch gehüllt. Diese Jungen waren offensichtlich gerade von einer Schulveranstaltung zurückgekehrt, bei der sie jeweils als B.R. Ambedkar, M. Visvesvaraya und M.K. Gandhi aufgetreten waren. Das Bemerkenswerte war, dass keiner ihrer Helden, die sie verkörperten, ein Kannada-Muttersprachler war. Jedoch betraf die Botschaft, für die diese drei historischen Figuren standen, die gegenwärtige und zukünftige Lebensrealität dieser jungen Kannada-Sprecher. Die Jungen kannten Ambedkar als denjenigen, der den Unterdrückten Würde und Hoffnung gegeben hatte, Visvesvaraya kannten sie als denjenigen, der moderne Technologie für soziale Zwecke eingesetzt hatte, wie z.B. bei den Kanälen des Kaveri, die die Felder ihrer Väter bewässern, und Gandhi kannten sie als denjenigen, der sich für ein Miteinander der Religionen ausgesprochen hatte und gewaltlos den Freiheitskampf des Landes angeführt hatte. Die Vision der Jungen war umfassend. Ideologen mögen einwenden, dass Ambedkars und Gandhis Ideen nicht miteinander vereinbar seien; Historiker werden wissen, dass Gandhi und Visvesvaraya sich bezüglich der Wichtigkeit der Industrialisierung und des Wirtschaftswachstums nicht einig waren. Die Jungen verstanden aber, was Parteianhänger und Wissenschaftler nicht verstehen: dass unser Land dieser Tage alle drei braucht, da alle diese drei Persönlichkeiten Inder waren, die mit ehrlichen und rechtschaffenen Mitteln versucht haben, das menschliche Leiden zu lindern, da alle drei ein Vermächtnis verkörpern, das es verdient, auch heutzutage gepflegt zu werden. Was ich an jenem Tag sah, war ein großartiges Bild der Idee von Indien. Diese Idee vollständig wiederaufzunehmen, würde unter anderem bedeuten, den Pluralismus, den jene Schuljungen verständlich machten, an die Vorstellung von Demokratie anzupassen, die jener erwähnte Muria-Lehrer in Dantewada so klar verteidigt hatte. Wachstum und Nachhaltigkeit Wachstum und Nachhaltigkeit gehen zusammen. Gerade in den Regionen, wo es wenig Fortschritt und Wachstum gibt, haben wir den gravierendsten Verlust an Biodiversität. Denn es sind gerade die Menschen in den wirtschaftlichen schwächsten Regionen, die zu unzeitgemäßen, destruktiven Methoden gezwungen werden, um ihr Leben zu sichern. Das Abholzen von Bäumen zu Heizzwecken oder die Zerstörung von Mangrovenwäldern durch Dynamitfischerei im Meer sind Beispiele hierfür. Ein intelligentes Fortschrittsmodell ist Voraussetzung für Nachhaltigkeit. Im Übrigen: Was immer wir in Deutschland auch tun, Länder wie China, Indien oder Brasilien wollen und werden wachsen. Sie verweisen zu Recht darauf, dass der Wohlstand des Westens über einen Industrialisierungspfad erreicht wurde, der zu den Problemen wie dem Klimawandel geführt hat. Und dieser Wohlstand solle ihnen nun verwehrt werden? Deshalb müssen die entwickelten Industriestaaten zeigen, dass Wachstum und Nachhaltigkeit vereinbar sind. So werden die Schwellenländer statt zu Konkurrenten um die knapper werdenden Ressourcen zu unseren Partnern. M athias M aching (Quelle: „Grünes Wachstum ist drin“. DIE ZEIT; 4.11.2010) i Begegnung i Mein Leben ist meine Botschaft Über das Leben und Wirken einer bemerkenswerten Sozialaktivistin Indiens J ose P unnamparambil Sie heißt Dayabai, auf Deutsch „barmherzige Schwester“. Seit 30 Jahren lebt sie in einem Adivasi-Dorf im Chindwada Bezirk, Madhya Pradesh, unter den Gonds. Wie eine von ihnen. Obwohl sie aus einer wohlhabenden traditionellen Familie in Kerala abstammt, entschied sie sich sehr früh im Leben, ihre ganze Kraft, Energie und Kreativität in den Dienst der Armen und Entrechteten zu stellen. So verließ sie ihr Haus nach der Schulausbildung im Alter von 17 und ging nach dem Tausende Kilometer entfernten Hazaribag im Bundesstaat Bihar. Dort wollte sie Nonne werden, um in den Missionsgebieten zu arbeiten. Das war der Beginn eines abenteuerlichen und risikoreichen Leben für Dayabai. Ein Dokumentarfilm über ihr Leben „Ottayal“ (Die Einzelgängerin) wurde neulich mit dem indischen Nationalpreis ausgezeichnet. Im September war sie in Europa, um ihre Freunde und Bekannte zu besuchen. Erst kam sie nach Paris, dann nach Basel, Mokau, Frankfurt und schließlich nach Unkel, zu uns. Ich habe Dayabai sie vom Kölner Bahnhof abgeholt. Sie sah aus wie eine Adivasi Frau aus Nordindien, im einfachen Sari und mit einem kleinen Koffer und ein paar überfüllten Taschen. Unterwegs nach Unkel erzählte sie mir aus ihrem Leben: Dayabai beim Teetrinken mit einem Mädchen aus dem Dorf Im Kloster in Hazaribag, Bihar, unterbrach sie die Nonnenausbildung ein Jahr vor dem endgültigen Gelübde. Es folgte einige Zeit als Lehrerin in einem Adivasi- Dorf, dann ging sie zurück nach Kerala, um als Krankenschwester ausgebildet zu werden. 1971 ging sie für ein Jahr nach Kalkutta und Bangla Desh, um den Kriegsverletzten zu dienen und bei ihrer Rehabilitation mitzuwirken. Dann ging ihr Weg nach Bombay, um dort im Nirmala Niketan ein Studium als Sozialarbeiterin zu beginnen. Dort arbeitete sie in den Slums und lebte alleine wie eine von den Slumbewohnern. 1979 beendete sie ihr Sozialarbeitstudium und ging nach Chindwada in Madhya Pradesh, um ein an das Studium angeschlossenes Praktikum zu machen. Seit 1980 lebt sie mit den Gonds wie eine von ihnen. 1995 baute sie ein Haus in dem Dorf Barul in Chindwada mit dem Geld, das sie von ihrem Vater geerbt hat. Dort lebt sie alleine mit einem Hund und einer Katze. Dayabai hat keine große Organisation gegründet, keine große Schule errichtet und kein Krankenhaus gebaut. Überall, wo sie gewesen ist, hat sie sich für die Rechte der einfachen Menschen eingesetzt, hat sie sich darum bemüht, diese Menschen zu befähigen, selbst um ihre Rechte zu kämpfen, selbst für die Verbesserung ihrer Lebensbedingung zu arbeiten. Und sie lebte genau so, wie diese einfachen Menschen. Was Gandhi über sein eigenes Leben sagte, kann man auch über ihr Leben sagen: „Mein Leben ist meine Botschaft“. Dayabai verbrachte einen Tag in unserem Haus, bevor sie nach Frankfurt zurückging und von dort nach Indien. Während ihres Aufenthaltes bei mir hatte ich die Möglichkeit, mit ihr über ihr Leben, ihre Arbeit und ihr Engagement für die Adivasi ein Gespräch zu führen. Ich fragte sie: Warum haben Sie sich für so ein Leben entschieden? Nichts war zufällig in meinem Leben. Ich war immer eine Außenseiterin. Die meine welt 2/2011 13 i Begegnung i Welche Art von Entwicklung wollen Sie unterstützen? Das Wort „Entwicklung“ höre ich nicht gerne. Jetzige „Entwicklung“ ist zerstörerisch, sie fördert die Entstehung großer Ungleichheit zwischen den Menschen und zwischen den Völkern. Für ganz wenige entsteht großer Reichtum und für viele katastrophale Armut. Und es entstehen irreparable Schäden für die Umwelt. Was wir brauchen, ist Fortschritt, der gerecht ist; die Möglichkeit, die Grundbedürfnisse jedes Menschen zu befriedigen. oder ein Leben integriert in die moderne Gesellschaft? Es ist fast unmöglich, Adivasi abzuschirmen von dem Einfluss von Fortschritt und Zivilisation. Dies ist auch nicht erforderlich. Aber sie müssen die Möglichkeit haben, viele Elemente ihrer Lebenspraxis beizubehalten, zum Beispiel wie man Landwirtschaft betreibt. Sie besitzen enorme Kenntnisse und Erfahrung beim nachhaltigen Anbau von Getreide und Gemüse. Sie achten auf Biodiversität und Schutz von Umwelt. Sie haben unschätzbare Kenntnisse über Heilpflanzen und Heilmethoden wie „Pranik-Heilung“ (Heilung durch Atmungstechnik), die wirksam für die Gesundheit eingesetzt werden können. Vor allem haben sie eine Ernährungspraxis, die ausgeglichen ist. Ich selbst fühle mich sehr angezogen von ihrem einfachen Leben und von ihrer engen Bindung aneinander und an die Natur. Leider hat die Berührung mit der Außenwelt ihr Leben radikal verändert, nicht immer zum Guten! Welche Art von Leben stellen Sie sich für die Adivasi vor? Ein Leben für sich alleine, abgeschlossen von der Außenwelt, Warum haben Sie für sich ein Leben wie das der Adivasi gewählt? Ihr einfaches Leben, ihr Leben in Harmo- große Disparität zwischen denjenigen, die „haben“, und denjenigen, die „nichthaben“, hat mich empört. Diesbezüglich stellte ich den herrschenden Zustand der Gesellschaft in Frage. Vielleicht hat das Leben von Jesus Christus und Mahatma Gandhi mich in jungen Jahren sehr beeinflusst. Nachdem ich das Kloster verlassen habe, zog mich das einfache Leben der Adivasi sehr an. Fotos aus: „The Lady with Fire“von Mercy Mathew and Annie Drese Dayabai bereitet die Jugendlichen im Dorf für Straßentheater vor. 14 meine welt 2/2011 nie mit der Natur und ohne Klassenund Kastenunterschiede, auch ihr Lebensstil war für mich sehr ansprechend. Was wollen Sie im Leben erreichen? Ich habe mir nie über das Erreichen bestimmter Ziele im Leben Gedanken gemacht. Weil ich auf Besitz keinen Wert lege, bin ich frei. Ich brauche mich vor niemandem zu fürchten, da ich nichts zu verlieren habe. Ich kann dann handeln wie ich will und mich unbekümmert für die Verbesserung der Lebensbedingungen einfacher Menschen einsetzen. Zur Zeit bin ich sehr besorgt über die zerstörerische Wirkung der sich verändernden Lebensstile in Indien auf die Umwelt und auf das soziale Klima. In meinem Dorf, insbesondere auf meinem kleinen Grundstück, versuche ich konsequent, biologischen Anbau zu betreiben und zusammen mit den Dorfbewohnern Verfügbarkeit von Grundwasser zu sichern. Indien kann es sich nicht leisten, nach europäischer Art und Weise zu wirtschaften und den verschwenderischen Lebensstil von dort zu übernehmen. j i I n t e rvi e w Ak t u e l l i Indische Erfahrung ist wichtiger als die Sprache, in der das literarische Werk geschrieben wird K annan S undaram Kannan Sundaram ist der Sohn des bekannten tamilischen Schriftstellers Sundara Ramaswamy. Er ist Redakteur der angesehenen Tamil-Literaturzeitschrift „Kalachuvadu“ sowie der Geschäftsführer des gleichnamigen Verlags. Seit Jahren versucht Herr Sundaram durch regelmäßigen Besuch der Frankfurter Buchmesse und Kontakte mit den deutschen Verlegern die moderne tamilische Literatur hierzulande bekannter und zugänglicher zu machen. Im folgenden Interview haben wir ihn über die modernen Trends in der Tamil- Literatur, über die Akzeptanz der Literatur in indischen Sprachen hierzulande etc. gefragt. Seine Antworten in englischer Sprache, übersetzt von Thomas Chakkiath, drucken wir unverkürzt nachfolgend ab. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil. D ie R edaktion Meine Welt: Herr Kannan Sundaram, Sie sind der Redakteur des populären Magazins „Kalachuvadu“, das von Ihrem Vater Sundara Ramaswamy, dem bekannten tamilischen Schriftsteller, gegründet wurde. Sie sind auch eng mit dem gleichnamigen (Kalachuvadu) Verlag verbunden. Wie würden Sie die Trends und Strömungen in der zeitgenössischen tamilischen Literatur beschreiben? Kannan Sundaram: Ich bin wohl der Redakteur des Magazins „Kalachuvadu“. Aber der Verlag „Kalachuvadu“ ist heute ein Privatunternehmen, also eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Ich bin der Geschäftsführer dieses Unternehmens. Zwei wichtige Trends, die die Richtung der tamilischen Literatur in den letzten zwei Jahrzenten änderten, sind Dalit- Literatur und Frauenliteratur. In den späten achtziger Jahren gab es kaum Dalitoder Frauenautoren. Man kann jetzt mit Gewissheit behaupten, dass das ganze soziale Gefüge der tamilischen Gesellschaft mit all ihren immensen Komplexitäten in der tamilischen Literatur widergespiegelt wird. Meine Welt: Tamil ist eine der ältesten und reichsten südindischen Sprachen und hat große Dichter und Erzähler hervorgebracht. Wer sind heute die führenden tamilischen Autoren? Warum? Kannan Sundaram: Ich bin kein Literaturkritiker, der solch eine Liste aufstellen kann. Stattdessen werde ich Ihnen eine Liste der lebenden Autoren aufstellen/ erstellen, die die Leser und Verleger interessant und lesenswert finden. Ashokamitran, Ambai, Thoppil Mohammed Meeran und Ki. Rajanarayanan gehören zu den älteren und ranghohen Autoren. Jayamohan, Salma, Joe D’Cruz, Bama, Imayam und Perumal Murugan gehören zur nächsten Generation. Diese Autoren repräsentieren sehr unterschiedliche Facetten der tamilischen Literatur, und das Lesen ihrer Werke wird die westlichen Autoren nicht nur bereichern, sondern ihnen auch tiefgründige Einblicke in das heutige tamilische Leben ermöglichen. Meine Welt: Sie sind ein ständiger Gast auf der Frankfurter Buchmesse.Welches Interesse zeigen die deutschen Verleger an zeitgenössischer indischer Literatur in Regionalsprachen? Warum glauben Sie, dass die führenden deutschen Verleger weniger Interesse an Werken zeigen, die in indischen Sprachen erscheinen und nicht auf Englisch? Kannan Sundaram: Autoren, die in indischen Sprachen und nicht in Englisch schreiben, werden von den indischen Autoren, die auf Englisch schreiben, von den indischen Zeitungen, die auf Englisch erscheinen, und von den westlichen Medien nicht anerkannt. Es ist daher nicht erstaunlich, dass weder deutsche Leser noch Verleger sich deren bewusst sind. Die deutschen Verleger sollten es schätzend zur Kenntnis nehmen, dass, wenn einmal ein indisches literarisches Werk auf Deutsch erscheint, es dem Leser nichts aus macht, ob die Ausgangssprache Englisch, Marathi, Tamil oder irgendeine von den über zwanzig aktiven literarischen Sprachen ist. Es ist die indische Erfahrung, die wichtig ist. In Anbetracht des sozialen Umfeldes der Englisch-sprechenden Klasse Indiens wird die Darstellung verschiedener Schattierungen des Lebens wahrscheinlich in indischen Sprachen authentischer sein als das indische Schreiben auf Englisch. Meine Welt: Sie sind der Verleger des Romans The Hour Past Midnight von Salma, dessen deutsche Übersetzung der Draupadi Verlag mit dem Titel Die Stunde nach Mitternacht herausgebracht hat. Nach seinem Ersterscheinen (2004) in Tamil wurde dieser Roman in Indien sehr viel diskutiert. Später wurde er ins Englische und in viele andere indische Sprachen übersetzt. Was ist meine welt 2/2011 15 i bahnbrechend und kontrovers an diesem Roman? Wie wurde der Roman in Tamil Nadu und in den anderen Unionsstaaten aufgenommen? Kannan Sundaram: Irandaam Jaamangalin Kathai ist wahrscheinlich der erste von einer muslimischen Frau geschriebene Roman in Tamil. Salmas Roman legte eine Welt von muslimischen Frauen in einem Dorf in Tamil Nadu offen. Dieses Thema ist in tamilischer Literatur bis jetzt noch nie aufgegriffen worden. Der Roman war kontrovers wegen seiner kritischen Darstellung der muslimischen Männer und der offenen Stellungnahme zum Thema weibliche Sexualität. Ein Kapitel, das von dem außerehelichen Verhältnis einer Muslimin mit einem hinduistischen Mann aus der Nachbarschaft handelt, verärgerte die religiösen Fundamentalisten. Es ist interessant, dass diese Fundamentalisten sich kaum über einen anderen bedeutenden Charakter des Romans, Kareem, einen Muslim, aufregen, wenn er eine HinduDalitfrau, Mariyayi, als Konkubine hält. Deshalb ist es in Wirklichkeit weder die Sexualität noch das sexuelle Vergehen das Problem, sondern die Politik der Sexualität und des religiösen Verstoßes. Männer dürfen alle Normen missachten, Frauen aber nicht. Salma wurde Verrat an der Gesellschaft zur Last gelegt, eine Anschuldigung, gegen die sie sich in aller Öffentlichkeit noch wehrt. Vor einigen Monaten brachte ein islamisches Magazin eine Titelgeschichte über sie heraus, worin ihr vorgeworfen wurde, dass sie nach eigenen Angaben im Facebook Status eine Rationalistin ist. Meine Welt: Welche Maßnahmen sind, glauben Sie, erforderlich für einen Durchbruch bezüglich der Förderung von zeitgenössischer indischer Literatur in Deutschland? Kannan Sundaran: Autoren von indischen Sprachen und ihren reichen Literaturen sollen den deutschen Lesern und Verlegern bekannt gemacht werden. Ein effizientes und großzügiges Subventionierungsprogramm seitens der indischen Regierung wird dabei mit Sicherheit eine große Hilfe sein. j 16 meine welt 2/2011 I n t e rvi e w Ak t u e l l i Diktatur der Mittelklasse A rundhati R o y Frage: Wie sehen Sie den Western, zehn Jahre nach 9/11? Roy: Demokratie und freie Markwirtschaft sind zu einem einzigen Raubtier verschmolzen, dessen Fantasie ausschließlich um sein Futter, die Profitsteigerung, kreist. Es wird ja behauptet, dass die westliche Welt die Kriege in Afghanistan und im Irak führt, um den westlichen Lebensstil zu verteidigen. Dieser Lebensstil, der dort mit Waffen verteidigt wird, ist es aber, der den Untergang des westlichen Imperiums herbeiführt. Wenn es etwas gibt, worauf der Westen zu Recht stolz ist, dann ist es sein Lebensstil, seine Kultur der Freiheit und des Individualismus. Roy: Natürlich gibt es westliche Werte, die es wert sind, verteidigt zu werden. Die Frage ist, zu welchem Preis. Der Westen denkt nicht in Zusammenhängen. Er denkt in getrennten Ressorts. Der Krieg gegen den Terror ist ein Ressort. Die Wirtschaft ein anderes. Die Demokratie ein drittes. Aber man muss das alles zusammen sehen. Wir erledigen alle brav unsere Ressortarbeiten und stellen dann erstaunt fest, dass wir ohne Bienen, die Blüten befruchten, nicht überleben können. Was ist Ihre Prognose, hat der Kapitalismus eine Zukunft? Die Zukunft? Das werden Kriege der Eliten gegen die Armen sein. Das ist der wahre Konflikt, um den es heute geht. Wir haben eine weltweite Elite, die kulturell und wirtschaftlich sehr gut vernetzt ist und der es nur noch um ihr eigenes Überleben geht. Wer ist diese Elite? In Europa, in Amerika, in China, in Indien gibt es eine Elite, die nur noch nach unten kämpft. Ihr geht es um Herrschaft, um Re- alpolitik, um Energie. Woher nimmt China seine Rohstoffe, um seine Wachstumsmaschine immer weiter zu füttern? Es wird Kriege dafür führen müssen. Woher nimmt Indien seine Rohstoffe? Im Augenblick von seinen Ärmsten in den Wäldern. Das alte Argument, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen geschehe zum Wohle des Landes und mehre am Ende den Wohlstand aller, hat abgewirtschaftet. All das sind nur noch Floskeln der herrschenden Mittelklasse, der weltweit bestens verlinkten Elite. Leben wir in einer Diktatur der Mittelklasse? Ja. Es gibt einen Mittelklasse- Totalitarismus. Das lässt sich an vielen Indizien zeigen. Die kulturellen und ökonomischen Codes in Indien haben sich in den letzten zwanzig Jahren völlig verändert. Ein Beispiel ist der Bollywood- Film. Im Bollywood-Film sieht man keine amen Menschen mehr. In den siebziger und achtziger Jahren spielte Amitab Batchchan, der große Bollywoodstar, die Slumkönige, die Kulis, den kleinen Mann, der gegen das System kämpft. In den Neunzigern sieht man denselben Mann nur noch in Villas wohnen und in Hubschraubern herumfliegen. (Quelle: Auszug aus dem Interview „Die Diktatur der Mittelklasse“ von Iris Radisch mit Arundhati Roy in DIE ZEIT vom 8.9.2011) i Meinung i Die Chancen aus den Krisen D r . G eorge A rickal Dr. George Arickal hat in Deutschland studiert und war lange Jahre im entwicklungspolitischen Bereich in leitender Position tätig. Zuletzt war er Vorstandsmitglied der Karl Kübel Stiftung für Kind und Familie, bevor er vor 10 Jahren nach Kerala, Indien, übersiedelte. Als interessierter und kenntnisreicher Beobachter der deutschen und indischen Szene haben wir ihn gebeten, einen Beitrag über seine Wahrnehmung der heutigen Situation Indiens für MEINE WELT zu schreiben. Nachfolgend sind seine Beobachtungen. D ie R edaktion Es war in einer Mitternacht im Monat Juli 2011. Draußen tobte der Monsun. Im Haus aber war es ganz still und dunkel, eigentlich die beste Voraussetzung für einen guten, tiefen Schlaf. Eine hartnäckige Erkältung mit immer wiederkehrendem Hustenanfall ließ mich jedoch nicht zur Ruhe kommen. Ich wünschte mir, dass diese endlos scheinende Nacht möglichst schnell dem ersten Sonnenstrahl, dem morgendlichen Vogelzwitschern und den Gebetgesängen aus der nahegelegenen Kirche, der Moschee und dem Tempel weichen würde. Die Nacht hatte jedoch keine Eile und kein Erbarmen mit mir und zog sich, ihrem üblichen Rhythmus folgend, dahin. Der Wecker blieb stumm und ich hatte keine Alternative als mir zu überlegen, wie ich diese Nacht irgendwie nutzbringend vertreiben könnte. Ganz spontan fiel mir ein, dass es an der Zeit war, mit einem bereits zugesagten Beitrag für „Meine Welt” anzufangen. Nutze die Chance der Stunde, sagte ich mir und begann erst einmal damit, meine Gedanken zielgerichtet fließen zu lassen. Nach einigen interessanten Einfällen schlief ich schließlich doch irgendwann ein. Als der Wecker klingelte und sich die von mir zuvor heiß ersehnten Signale der Morgendämmerung meldeten, war ich zwar nicht gerade erfreut, gleichzeitig jedoch dankbar, dass der Titel meines Beitrags während dieser Stunden entstanden war. Ähnliche, manchmal ganz kleine, aber oft auch signifikantere Erlebnisse im Leben scheinen zu bestätigen, dass manche Krisensituationen neue Chancen eröffnen. Wenn es so ist, dann sollten wir doch erst recht versuchen, die mit den größeren Herausforderungen der Gegenwart verbundenen positiven Veränderungsmöglichkeiten zu entdecken. Gerade in diesen krisengeschüttelten Zeiten sind die Warnungen sehr ernst zu nehmen und wir sollten bestrebt sein, neue Perspektiven zu identifizieren. Wir sind inzwischen an viele Krisenherde in der Welt gewöhnt. Der verheerende Vietnamkrieg gehört längst zur Geschichte, obwohl viele Opfer auch heute noch leiden. Die Lehre daraus wäre gewesen, auf neue abenteuerliche militärische Interventionen zu verzichten. Weitere Lernfelder wie Afghanistan und Irak folgten. Sie befinden sich im Abwicklungsprozess. Der Rückzug der Truppen hat bereits begonnen, ohne dass jedoch eine klare Aussage dazu möglich ist, wozu sie dort waren, was sie angerichtet haben und welchen Frieden sie dort letztendlich hinterlassen. An unzähligen Ecken dieser Welt brennt es, und niemand will das Feuer löschen. Machtgierige Nationen und Gruppierungen brauchen die Flammen, um Öl ins Feuer zu gießen, sobald es ihnen opportun erscheint. So ist es beispielsweise im Nahen Osten, im Kosovo, in Serbien, Tschetschenien oder anderswo in der Welt. Für die Weltöffentlichkeit sind dies nur kleine Krisenherde. „Arabischer Frühling“ klingt zwar schön, doch er vernichtet unzählige unschuldige Menschen – ihre Zahl wird immer unübersichtlicher. Lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. In diesem Spruch mögen die Sympathisanten der dortigen Widerstandsbewegungen Trost finden. Selbst die andauernde Hungerkatastrophe in Afrika, insbesondere in Somalia, machen keine weltweiten Schlagzeilen mehr. All dies wird als Routine bagatellisiert und den karitativen Fachorganisationen überlassen. Auffallend ist dagegen die weltweite Aufgeregtheit bei neuen Arten von Katastrophen, die insbesondere in den Industrienationen unerwartet auftauchen. Diese Krisen offenbaren das wahre Gesicht der Globalisierung. Der Slogan, dass Seveso und Tschernobyl überall sein können, klingt noch in unserem Ohr, doch wir haben daraus kaum etwas gelernt. Mit vehementeren katastrophalen Folgen sendet Fukushima nun neue eindeutige Signale und Warnungen an die Völker dieser Erde. Die sich ständig ausweitende Eurokrise mit Überschuldungen von Griechenland, Irland, Italien, Portugal, Spanien oder anderswo hat fatale Konsequenzen nicht nur für die Weltwirtschaft, sondern für alle Dimensionen des Lebens. Die drohende Zahlungsunfähigkeit der größten Wirtschaftsmacht USA wurde zwar abgewendet, doch sie wurde lediglich aufgeschoben, nicht aufgehoben. Es ist kaum vorstellbar, was passieren wird, wenn die Galgenfrist verstreicht. Diese Krisen bedrohen insbesondere das Leben der Menschen in den Industriena meine welt 2/2011 17 i tionen. Anders als je zuvor prägen und bestimmen daher diese Entwicklungen die Schlagzeilen in den weltweiten Massenmedien. Die heißen Debatten in den Parlamenten, die diversen Planungsund Strategieüberlegungen in den Chefetagen sowie die diversen Spekulationen und Dispositionen an den Finanzmetropolen sind eindeutige Zeichen für den Ernst der Lage. Die beängstigenden Berichte und Analysen aus den Börsen und gleichzeitig die verführerischen Anlageangebote der Berater und Finanzexperten, die aufgeregten Diskussionen an den Theken und in den Teestuben sowie das Konsum- und Sparverhalten der einzelnen Haushalte bezeugen, dass alle Schichten der Gesellschaft von diesen Krisenentwicklungen betroffen sind. Wir sind Zeugen davon, wie die weltweite Globalisierung die Völker dieser Welt zu einer Schicksalsgemeinschaft verwebt und wie eng die Maschen, d.h. die Menschen mit den positiven und negativen Folgen dieser Entwicklungen verflochten sind. Ohnmachtsgefühl Die Verfolgung der mit den Krisen verbundenen Auseinandersetzungen in den Medien führen zu einem Ohnmachtsgefühl. Viele Entscheidungsträger aus der Politik und den Finanzzentralen sind selbst als Verursacher in diese Krisen verstrickt. Sie sind selbst Teil des Problems und können daher nicht Teil der Lösung sein. Andere Entscheidungsträger sind trotz guten Willens machtlos. Traditionelle Rezepte zur Krisenbewältigung greifen nicht mehr. Es sind mehr Akteure als gewöhnlich im Spiel. Manche sind transparent und greifbar, andere wiederum ziehen ihre Fäden hinter der Kulisse. Spekulanten haben Hochsaison. Viele von ihnen verspekulieren sich und ziehen damit ihr Klientel in die Pleite mit hinein. Niemand sieht momentan einen Ausweg, Verantwortung wird hin und her geschoben. Rating-Agenturen und Spekulanten interpretieren jede Aussage der Entscheidungsträger in ihrer Weise und lassen das Kapital in ihre Richtung vagabundieren. Durch manche mehr oder weniger hektisch entwickelte Mechanismen wird versucht, Zeit zu gewinnen, d.h. die Zuspitzung der 18 meine welt 2/2011 Meinung i Krisen aufzuschieben. Sicherlich liegt der Lösungsansatz im Abbau der Überschuldung. Die zeitweilige Aufschiebung der Staatspleite in den USA wurde durch versprochene billionenschwere Einsparungen erkauft. Die Frage dabei ist jedoch, wessen Gürtel dabei noch enger geschnallt werden müssen. Werden die Reichen zur Kasse gebeten? Sind nicht die Rüstungsausgaben reduzierbar? Wird der Luxus stärker besteuert? Können die Mitverursacher und Mitgewinner dieser Krise bei der Bewältigung derselben nicht zur Verantwortung gezogen werden? Die diesbezüglichen Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen wenig Raum für Optimismus. Am Trend der Sozialisierung der Verluste und der Individualisierung der Gewinne wird festgehalten. Der Zeitpunkt für neues Wertebewusstsein, Umdenken, Neuorientierung und neue Prioritätensetzung kommt erst dann, wenn sich jeder dessen bewusst geworden ist, dass diese Krise keine Bevorzugung der Reichen oder der Armen kennt. Alle sitzen im gleichen Boot und keiner wird verschont. Ein solches Bewusstsein kann die Tür für neue Chancen öffnen. Zum Glück gibt es auch ermutigende Beispiele, wie aus manchen Krisen auch Chancen genutzt werden. Dafür gebe in dieser Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs je ein Beispiel aus Deutschland und Indien: Die Entscheidung Deutschlands zum Ausstieg aus der Atomindustrie und zur verstärkten Förderung alternativer Energien ist eine Folge von Fukushima. Dieser Entschluss mag als opportunistisch oder wahltaktisch angesehen werden, er ist trotzdem richtig - erst recht, da die Entscheidungsträger davon ausgehen mussten, dass das Wahlvolk für diese Richtung optiert. Was will man mehr? Die Chance der Krise wurde entdeckt und die Schienen für eine bessere Zukunft gelegt. Ich bin mir sicher, dass viele Nationen diesem mutigen Beispiel folgen und die Chancen sowie die Akzeptanz für erneuerbare Energien signifikant gestärkt werden. Schwerste Korruptionskrise Indien befindet sich gegenwärtig in der schwersten Korruptionskrise. Common Wealth Games 2010, Adarsh Building, 2G Spektrum, „Note for Vote” etc. sind inzwischen Synonyme für massivste Korruption, Anhäufung von illegalem Reichtum und Bestechung geworden. Die von der Kongresspartei geführte Zentralregierung steht im Ruf, diese Korruption und Bestechungen durch Bundesminister, hochrangige Beamte, Parlamentarier und Parteianhänger geduldet zu haben. Auch die Oppositionspartei wie die BJP ist in Bestechungsund Korruptionsskandale verwickelt. Manche Beschuldigte sitzen inzwischen zwar im Gefängnis, doch die Glaubwürdigkeit der indischen Demokratie steht auf dem Spiel. Die Menschen vertrauen kaum darauf, dass die legislativen, exekutiven und juristischen Organe Indiens gewillt oder in der Lage sind, der unsagbaren Korruption Einhalt zu gebieten. So waren die Massen bereit, einem Hungerstreik des Sozialaktivisten und Gandhianers Anna Hazare zu folgen. Mitte April dieses Jahres entstand damit eine breit unterstützte außerparlamentarische Bewegung gegen die Korruption. Gemäß ihrer Forderung wird ein neues, von den Regierungen unabhängiges Organ unter dem Namen „Lokpal” geschaffen. Lokpal soll in einer OmbudsmannFunktion berechtigte Klagen der Bürger gegen Parlamentarier, Minister und hohe Regierungsbeamte untersuchen und erforderlichenfalls der Verurteilung zuführen. Der heiß umstrittene Gesetzentwurf zum Lokpal liegt seit August zur Verabschiedung im indischen Bundestag. Durch diese Initiative wird meines Erachtens offenbart, dass an der Basis jeder Gesellschaft Selbstreinigungskräfte wie die Funken in der Asche glühen. Sie sind mobilisierbar als die wahren Solidaritätspartner in der Zeit der Krisen und im Kampf für Demokratie und mehr soziale Gerechtigkeit. Hierin liegen die Chance und die Hoffnung, dass auch in ausweglos erscheinenden Krisensituationen befreiende Handlungsperspektiven sichtbar werden. Es kommt auf jeden einzelnen von uns an, ob und wie wir sie nutzen. j i i n t e rvi e w i Tempel-Schätze von Thiruvananthapuram Auszüge aus einem Interview mit dem ehemaligen König Marthanda Varma Die Entdeckung von Schätzen im Wert von ca.7,7 Milliarden Euro (einige Schätzungen zufolge ca.20 Milliarden Euro) im Padmanabhaswamy Tempel, Thiruvananthapuram, Kerala, Indien, hat über das Land hinaus zu heftigen Diskussionen über das Eigentungsrecht und die Verwendung dieses Vermögens geführt. In aller Wahrscheinlichkeit stammen die Schätze von der Königsfamilie des ehemaligen Königsreichs Thiruvananthapuram. Es folgen Auszüge aus einem längeren Interview, das die Journalistin Padma Rao Sundarji (PRS) mit Uthradam Thirunal Marthanda Varma, dem ehemaligen König von Thiruvananthapuram, führte. Das Interview erschien in voller Länge in der indischen Zeitung Hindustan Times. Aus dem Englischen ins Deutsche übertragen von Thomas Chakkiath. D ie R edaktion PRS: Was verbindet Sie mit dem Padmanabhaswamy Tempel? VARMA: Wir sind die Cheras, eine der vier früheren Königsfamilien von Südindien und haben einen langen dynastischen Stammbaum. Um das Jahr 1750 war der Königreich/Staat Travancore reich und groß geworden. So leistete mein Ahn, der damalige König, einen einzigartigen spirituellen und historischen Beitrag. Er entschloss sich, all seinen Reichtum dem Tempel zu übergeben. Padmanabhaswamy ist auch die Hauptgottheit/Schutzgottheit unserer Familie. Er sagte, unsere Familie würde das Vermögen, den Tempel und das Königreich immer gut behüten. So erklärte er unsere Familie für Padmanabhas „dasas“, Padmanabhas Anhänger. Ein Diener kann seinen Job kündigen, ein dasa, ein Anhänger, kann dies nur tun, wenn er stirbt. (Ein Anhänger ist Anhänger bis zum Tode.) Padmanabhaswamy Tempel PRS: Sie sind eine der reichsten Familien Indiens, und dennoch führen Sie im Gegensatz zu vielen ex-royals ein spartanisches Leben. Warum? VARMA: Um diese Frage beantworten zu können, muss ich mal etwas zurückblicken. Alle denken, wir Inder machten den Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft erst im Jahr 1857. Falsch. 1741 war Travancore die einzige asiatische Macht, die im Stande war, die Niederländer zu schlagen/besiegen/überwältigen. Nach der Schlacht knieten sämtliche niederländischen Soldaten vor meinen Ahnen nieder. Ein Holländer, Benedictus Eustachius, trat sogar unserem Militär bei. Wir nannten ihn den Großen Kapitän. Später, als der Enkel Franklin Roosvelts hierher kam, um die historischen Rekorde zu untersuchen, erfuhr ich, dass der Große Kapitän der Ahne des amerikanischen Präsidenten war. Dann 1839, fast zwei Jahrzehnte vor dem ersten indischen Aufstand von 1857, erhoben wir uns gegen die Engländer. Die Strafe, die wir bekamen, war schwer. Sie lösten unsere Polizei und Armee von 50.000 Mann auf, verlegten unsere Hauptstadt nach Kollam (Quilon) und bürdeten uns zwei britische Regimenter auf, die wir unterhalten mussten. Thomas Munroe ernannte sich zum Diwan of Travancore (etwa Ministerpräsident von Travancore). Als unser Kampfgeist nicht nachließ, holten sie Missionare hierher. Wir ließen uns nicht von westlichen Gedanken verschlingen. Wir gehen gelegentlich ins Ausland. Aber dies hat unseren einfachen Lebensstil weder beeinträchtigt noch verändert. Warum erzähle ich Ihnen all dies? Damit Sie etwas Ahnung davon haben können, wie viel unser Leben, trotz vielen äußeren Einflüssen in die Gegenrichtung, sich um den Gottesglauben gedreht hat. PRS: Die Kellerräume werden aufgeschlossen, über den künftigen Verbleib Ihrer Schenkungen / Stiftungen wird überall in der Welt diskutiert. Es gibt Kritik und Furore. Was, glauben Sie, spielt sich gerade um den Tempel herum ab? VARMA: Tut mir leid. Ich kann darüber keinen Kommentar abgeben. Die Sache meine welt 2/2011 19 i ist sub judice, wird also gerade von einem Gericht untersucht. Aber so viel möchte ich sagen. Ich habe keine Probleme mit der Bestandsaufnahme und den zusätzlichen Sicherheitskräften, die der Staat zum Schutz des Tempels gewährt hat. Aber bitte entfernen Sie nicht die Gegenstände (Schätze) von dem Tempel. Sie gehören niemandem, mit Sicherheit auch nicht unserer Familie. Sie gehören Gott, und unsere Gesetze erlauben es. All diese Debatten um die Tempelschätze sind unerfreulich. Dies ist alles, was ich momentan dazu sagen kann. Ich muss auf meinen Arzt, Anwalt und Auditor hören. Seit Jahrhunderten hat unsere Familie dem Tempel viele Sachen geschenkt. Als Schirmherr/ Schutzherr des Tempels besuche ich den Tempel täglich. Wenn ich einen Tag verpasse, wird mir eine Geldstrafe in Höhe von 16635 Rupien auferlegt. Eine alte Tradition von Travancore. R e l igi o n i Mission und Evangelisierung Neue Einsichten und neue Herausforderungen P rof . D r . J oseph P athrapankal Prof. Dr. Joseph Pathrapankal PRS: Aber Sie können es nicht leugnen, dass solche Schätze für die Armen besser gebraucht werden könnten, oder? VARMA: Wir Inder sind heute mehr gebildet. Aber diese Reaktion auf die Geschenke der königlichen Familie ist alles andere als progressiv. Wir verlieren langsam unsere indische Identität. Geld ist alles geworden. Aber ich bin nicht überrascht. Ich werde hier eher etwas philosophischer als enttäuscht, weil ich die Welt nicht ändern kann. Papst Benedikt XVI. hat die europäischen Bischöfe aufgerufen, nach neuen Wegen der Evangelisierung zu suchen. Hierzu wird er eine Synode im Oktober 2012 einberufen. Im folgenden Beitrag versucht Prof. Dr. Joseph Pathrapankal, ein bekannter katholischer Theologe aus Indien, einige Gedanken über das Thema „Evangelisierung in der modernen Zeit“ zu entwickeln. PRS: Es ist auch das Argument der Rationalisten, dass alles sich um Aberglauben dreht. Was halten Sie davon? VARMA: Es ist schwierig, unseren Glauben der heutigen modernen Welt zu erklären, wenn die Leute keinen mehr haben. Wenn Selbstsucht wächst, scheint alles, was Sie tun, richtig und alles, was die anderen tun, falsch zu sein. Es geht alles darum, was man von einer Sache abbekommen kann, nicht um das, was ich eigentlich tue. Ich erinnere mich gerne an den Besuch eines Wildreservats in Südafrika. Nachdem ich die Wildtiere angesehen hatte, fragte ich den Reiseführer, welches Tier das raubgierigste und furchterregendste wäre. Er zeigte mir einen Spiegel. j Es scheint, dass in der langen Geschichte der Kirche keine anderen christlichen theologischen Begriffe solche radikalen Veränderungen durchlaufen haben wie die Begriffe Mission und Evangelisierung. Alle scheinen ein klares Verständnis dieser Begriffe zu haben. Doch es ist Tatsache, dass, geht man in die Einzelheiten dieser Begriffe, man soviel Verschwommenheit antrifft und in einem Maß, dass einige sogar dazu neigen, diese beiden Begriffe als gleichbedeutend zu identifizieren. Daher ist in unserer Zeit eine eingehende Analyse des inneren Gehalts dieser Begriffe notwendig. Jetzt, da die Kirche ernstlich über die Notwendigkeit einer Neuevangelisierung nachdenkt und eine Bischofssynode für Oktober 2012 in Rom geplant wird, ist 20 meine welt 2/2011 D ie R edaktion es wichtig, dass wir über diese theologischen Begriffe etwas mehr Klarheit und Präzision haben. In der Tat, sollen diese Begriffe Hunderten und Tausenden von Missionaren in der ganzen Welt einen neuen Impetus für ihre künftige missionarische Arbeit und die Evangelisierung geben. Mission und Evangelisierung sind grundsätzlich biblische Begriffe. Während „Mission“ als solche sowohl eine säkulare als auch religiöse Bedeutung haben kann, ist „Evangelisierung“ grundsätzlich ein religiöser Begriff. Jede Kategorie von Aussendung eines Menschen oder einer Gruppe von Menschen kann eine Mission genannt werden, wie eine religiöse Mission, eine politische Mission, eine Rettungsmission, eine medizinische Mission oder eine Weltraummission. Bei jeder Mission ist es wichtig, dass jene, die eine solche Sendung empfangen, sich voll bewusst sein müssen über die Natur, den Zweck und die Ziele der ihnen anvertrauten Sendung. Sie müssen innerhalb des Rahmens ihrer Sendung bleiben. Es könnte sein, dass zuweilen eine Mission einen zu beanstandenden Zweck hat, wie eine militärische Mission; Beispiele davon haben wir in den geschichtlichen Aufzeichnungen und den Erinnerungen der Menschen. Nun, da wir diese allgemeine Bedeutung von Mission festgestellt haben, wenden wir uns dem Begriff von Evangelisierung zu. Es muss klar festgehalten werden, dass dieser Begriff eine spezifisch religiöse und theologische Bedeutung, hat. So hat auch in unserer gegenwärtigen Studie Mission eine religiöse und theologische Bedeutung insofern sie der erste Schritt auf eine Evangelisierung hin ist. In diesem spezifischen Sinn beschäftigen wir uns in der vorliegenden Studie mit diesen zwei Begriffen. Evangelisierung ist ein wesentlich christlicher Begriff. Ihre Terminologie und ihr Inhalt stammen aus der Bibel. Das Wort kommt von dem griechischen Wort euaggelion, das ins Lateinische als Evan- i R e l igi o n i Anhäufung von Reichtum aus den KoloEuropa, was mit den geografischen Entgelium übersetzt wurde. Im Neuen Tesnialländern, zu dem hinzukam eine reiche deckungen des 16. und 17. Jahrhunderts tament treffen wir diesen Ausdruck sehr Skala missionarischen Expansionswirkens begann. Die westlichen Mächte gingen häufig; die vier Evangelien sind im Grunde zur Bekehrung der Völker zu verschiedebezüglich Politik, Wirtschaft, Religion um diesen Begriff herum entwickelt. In nen Kirchen mit einem gewissen Beitrag und Soziologie verschieden vor. Das christlicher Theologie bezieht sich die von Konkurrenzdenken. gründete auf der wirtschaftlichen, misubstantivische Form Evangelisierung In ihren Anstrengungen, das Christentum litärischen und weitgehend kulturellen und die verbale Form evangelisieren auf und die Kirche aufzurichten als einzigÜberlegenheit Europas, verbunden mit die Tätigkeit derer, die ausgesandt sind, artig und über allen anderen Religionen einer gewissen Arroganz, übernommen einen Menschen oder eine Situation durch stehend, wurden verschiedene Stellen aus von der griechisch-römischen und imperidie Kraft des Evangeliums umzuformen. dem Alten und Neuen Testament Spontan erhebt sich die Frage: Was angeführt, was eine negative Halist dann das Evangelium? Was ist tung anderen Religionen gegendie Frohe Botschaft? Die synoptiüber förderte. Andere Religionen schen Evangelien machen es sehr wurden gesehen als dem Götzenklar, dass es der elementaren Frohe dienst, dem Polytheismus und der Botschaft um die Nähe des Reiches Unmoral verfallen. Der von den Gottes geht, ein technischer BeJuden geübte Hass anderen Religriff, der aus dem Alten Testament gionen gegenüber half diesen Kostammt. Obschon dieser Begriff in lonialmächten, die gleiche Haltung der langen Geschichte des Volkes anderen Religionen gegenüber Israel größeren Entwicklungen unweiter einzuehmen, einschließlich terworfen war, bezeichnet er im dem Judentum. Theologisch erhob Neuen Testament eine Situation, sich auch ein falsches Verständnis in der Gott offenbart wird als der der Notwendigkeit der Mission und abba der ganzen Schöpfung, in Evangelisierung nach dem verländer die gesamte Menschheit die gerten Schluss des MarkusevangeGemeinschaft der Kinder Gottes liums, der auf der Notwendigkeit ist und alle unter sich Brüder und von Glaube und Taufe als heilsSchwestern sind. Folglich bedeunotwendig besteht (Mk 16,16). So tet Evangelisierung die Tätigkeit wurde auch das große Gebot bei jener, die den Aufbau und das Matthäus 28, 16-20 interpretiert als Wachstum dieser Situation verBevollmächtigung und Gebot an wirklichen möchten durch ihre die Kirche, die Völker zu Jüngern verschiedenen Aktivitäten, denen zu machen und ihnen die Lehre sie sich verschrieben haben. FolgJesu als zum Heil notwendig aufzulich sollten alle Christen, soweit sie zwingen. Mission wurde verstanden gesandt sind, einen Sinn für Hin- Ankunft von St. Francis Xavier in Indien (Goa, 1542). Ein Gemälde von S. Genevieve. als eine spirituelle Eroberung und gabe und Einsatz für die Sache des Quelle: The St. Thomas Christian Encyclopaedia of India, George war ausschließlich auf Bekehrung Reiches Gottes und seiner Werte Menachery, 1973. ausgerichtet. Darüber hinaus lag haben. Diese Werte müssen um der Hauptakzent von Mission auf der jeden Preis durchgetragen und aufrecht alen Zivilisation. Diese Mächte waren von Ausbreitung und der Einpflanzung der erhalten werden. ihrer von Gott stammenden Herrschaft Kirche in den neu entdeckten Ländern. über die gesamte Menschheit überzeugt, koloniale und missionarische Propaganda Von Klarheit zu Verwirrung gingen Hand in Hand. Mission wurde verWenngleich diese biblischen Begriffe MisNeues Bewusstwerden in der standen als Ausbreitung des vom Westen sion und Evangelisierung in sich klar sind, universalen Kirche kommenden Christentums. Das Christenhaben diese nämlichen Begriffe im Auf In unserer Zeit gibt es einen beträchtlichen tum nahm eine Haltung ein, die annahm, und Ab der Geschichte viele drastische Wandel in der Haltung der Kirche und der dass es nichts gab, was darüber hinaus ging, Änderungen erfahren, wodurch ein sehr Christen hinsichtlich des Verständnisses dass es alles beherrschen konnte, dass es verschiedener und entstellter Begriff beivon Mission und Evangelisierung. Viele der Richter aller Probleme der Welt sein der Konzepte entstand. Alles begann mit Faktoren haben zu diesem Wandel der konnte. Dieses Phänomen ging weitgeder kolonialen Ausbreitung und Besetzung Perspektive beigetragen. Vor allem behend hervor aus der Identifizierung mit von außereuropäischen Territorien durch steht ein neues Bewusstsein von religiöden westlichen Kolonialmächten und der die so genannten „Kolonialmächte“ von sem Pluralismus als einem bestehenden meine welt 2/2011 21 i Faktum menschlicher Geschichte. Die römisch-katholische Kirche und der Weltbund der Kirchen haben kühne Schritte unternommen in ihrem Verständnis und ihrer Wertschätzung anderer Weltreligionen. Im Weltbund der Kirchen wurde das erste interreligiöse Treffen 1970 in Ajaltoun, Libanon, gehalten, und später, 1971, wurde eine getrennte Untereinheit für „Dialog mit Menschen lebendigen Glaubens und lebendiger Ideologien“ errichtet. 1965 erzielte die römisch-katholische Kirche mit der Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen des Zweiten Vatikanischern Konzils, bekannt unter Nostra aetate, einen größeren Durchbruch. Wie Augustin Bea sagte, sollte diese Erklärung die Christen zu wirksamem Tun führen. Ihre Grundsätze und ihr Geist sollte das Leben aller Christen und aller Menschen inspirieren, so dass der durch dieses Dokument begonnene Dialog Frucht tragen möge. So setzte Papst Johannes Paul II. 1986 einen Tag des Gebetes in Assisi ein, zu dem er 50 christliche und 50 Führer nichtchristlicher Religionen einlud – ein Akt des Dialoges höchsten Maßes. Die Auswirkungen dieses Ereignisses reichten weit über das Ereignis selbst hinaus. Es verlieh eine theologische Legitimität, Notwendigkeit und ein theologisches Gebot für den interreligiösen Dialog, nicht allein, um verschiedene Religionen zusammen zu bringen und sich mit ihnen auszutauschen, sondern auch dazu, dass die Religionen sich ihrer Aufgabe bewusst werden, Frieden zu schaffen auf allen Ebenen unserer zeitgenössischen Gesellschaft. Die Bedeutung des vor 25 Jahren statt gefundenen R e l igi o n i Treffens in Assisi wird aufs Neue erlebt und hervorgehoben im Jahr 2011, wenn christliche Führer und Anhänger der anderen Religionen sich wiederum im Oktober 2011 in Assisi treffen als „Pilger der Wahrheit und des Friedens“. Papst Benedikt XVI. will damit ausdrücken, dass dieser Gipfel „die Anstrengungen jener Gläubigen aller Religionen sichtbar macht, ihren Glauben als einen Dienst für den Frieden zu leben“. Das ist das neue Klima für Mission und Evangelisierung. Die Begriffe Mission und Evangelisierung haben auch durch die tiefgehende Studie dieser beiden Begriffe durch Theologen und Bibelexegeten eine realistischere Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren. Wie ihre Studien zeigten, ist Mission ein Grundbegriff der Bibel, wo wir eine Reihe von Missionen antreffen von der Erschaffung des ersten Menschenpaares bis zur Berufung und Sendung Abrahams und der andere Patriarchen. Mose hatte eine einzigartige Mission, die Befreiung Israels aus Ägypten und die Hinführung zum Berg Sinai, wo Gott mit ihnen einen Bund schloss. Als mit Gott im Bund stehend, hatte Israel selbst eine Sendung, „ein Reich von Priestern und ein heiliges Volk“ (Ex 19,6) zu werden, wie ebenso Zeugnis zu geben als Volk inmitten der umgebenden Nationen (Deut 4,6-8). Gott wählte im Lauf der Geschichte verschiedene Führer aus, wie die Richter und die Könige. Alle hatten eine eigene spezifische Mission. Unter diesen Erwählten bildete die Mission der Propheten eine wichtige Stufe in Israels Geschichte. Eine einzigartige Gestalt in der prophetischen Literatur ist der Knecht des Herrn, dessen Mission Was Deutsche und Migranten glauben So viel Prozent der Befragten glauben an …. Deutsche Gott 51% die Vergebung 50% die Evolutionstheorie nach Darwin 49% die göttliche Schöpfung 39% den Himmel 38% die Sünde 36% die Wiedergeburt 25% die Hölle 15% 22 meine welt 2/2011 Migranten in Deutschland 75% 72% Jeder dritte deutschstämmige Deutsche 39% und jeder zweite Migrant bezeichnet sich 67% nach der Liljeberg-Studie als relativ oder 62% sogar streng religiös. Der Glaube an Gott 64% und die Vergebung verbindet die Gruppen. 43% (Quelle: Kontinente November/Dezember 2010) 43% es war, durch sein hingebendes und aufopferndes Leiden der Welt die Erlösung zu bringen. Alles was diese Menschen zur Verwirklichung ihrer Mission taten, war, eine neue Situation göttlichen Segens und menschlichen Friedens und Wohlergehens in der Welt zu schaffen. An der Schwelle zum Neuen Bund finden wir die Sendung Johannes des Täufers, der kam, um den Weg für den Herrn zu bereiten, der zu seiner Zeit kam, um die Frohe Botschaft des Gottesreiches einzusetzen. Als der vom Vater Gesandte hatte Jesus von Nazaret eine klare Vision und Mission der Verkündigung des euaggelion Gottes an alle Menschen. Als Johannes eingekerkert war, kam Jesus von GaIiläa und verkündete die Frohe Botschaft von Gott: „ Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1, 14-15). Diese Frohe Botschaft vom Reich ist ein Geschenk Gottes. Das Reich Gottes ist grundsätzlich eine Situation interpersonaler Beziehung auf vertikaler und horizontaler Ebene. Auf vertikaler Ebene bedeutet es, dass Gott offenbart ist als der abba der Menschheit. Alle Menschen sind damit zu Kindern Gottes erklärt. Auf horizontaler Ebene bedeutet es, dass alle unter sich Schwestern und Brüder sind, jenseits der Ausgrenzungen von Kaste, Hautfarbe und Glaubensbekenntnis. Nach Markus 3, 13-14 wählte Jesus aus seinen vielen Jüngern 12 aus und gab ihnen eine besondere Mission, bei ihm zu sein und ausgesandt zu werden, die Frohe Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden und die Vollmacht zu haben, die Teufel auszutreiben, die dieser grundsätzlichen Frohen Botschaft im Wege standen. Diese Wahl und Sendung der Zwölf steht als Muster für alle Christen unserer Zeit für ihre eigene Sendung in der Kirche und in der Welt, wo immer sie sind und was immer sie tun. Nach den synoptischen Evangelien haben wir vier Beschreibungen darüber, wie Jesus seine unmittelbaren Jünger für ihre Mission in der Welt aussandte. Während Matthäus (10, 1-15), Markus (3, 14 -19) und Lukas (9, 1- 6) sich auf eine Sendung der 12 Apostel unter die Juden als ein Muster für ihre weitere Mission bezieht, bezieht sich Lukas auf eine Sendung von i 70 in jede Stadt und jeden Ort, wohin Jesus selbst kommen wollte. Dabei hatte er die kommende Mission der zukünftigen Generation der Jünger Jesu in die weitere Welt im Sinn (10, 1-12). Was sie während ihrer Mission zu tun hatten, war, all das zu tun, was sie befähigen würde, den Segen des Reiches Gottes im Leben der Menschen, unter denen sie wirkten, aufzubauen. Und das war ihre evangelisierende Mission. Da ging es nicht um ihre Bekehrung und um die Mitgliedschaft einer neuen Religion. Die Jünger Jesu sollten ihnen allen zur Verfügung stehen. Sie sollten die Gemeinden durch die Werte des Gottesreiches umwandeln. Lukas seinerseits hat auf Grund seiner allumfassenden Sorge um das ganze römische Reich einen universalen Rahmen für diese Mission gegeben. Lukas hat auch einen wichtigen Beitrag beizusteuern zum Verständnis von Mission und Evangelisierung, als er den Dienst Jesu als in der Synagoge von Nazaret beginnend einführt. Nach der Lesung des Abschnittes aus dem Propheten Jesaja über die Sendung des Gesalbten, wendet er diesen auf sich selbst an und sagt, dass er gekommen ist, den Armen eine gute Nachricht zu bringen, den Gefangenen die Entlassung, den Blinden das Augenlicht und die Zerschlagenen in Freiheit zu setzen (Lk 4, 16-30). Dadurch macht Lukas klar, dass es bei Evangelisierung um Humanisierung geht, um Umwandlung der menschlichen Gesellschaft, gegründet auf die Werte des Reiches Gottes Herausforderung und Dimensionen von Mission und Evangelisierung in unserer Zeit Diese neuen Einsichten, die aus der Bibel wieder entdeckt wurden, sollten alle Diskussionen und Überlegungen über Mission und Evangelisierung in unsrer Zeit inspirieren und leiten. Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute, Gaudium et Spes, hat die Kirche und ihre Mitglieder befähigt, die Bedeutung von Mission und Evangelisierung zu verstehen aus einer neuen Perspektive von Einbeziehung und Transzendenz, von Einsatz auf eine Umwandlung der gesamten menschlichen Gesellschaft und des Kosmos hin. Was immer die Jünger Jesu tun, R e l igi o n i wo immer sie sind, hat ihr hingebungsvolles Wirken für die Verwirklichung der Werte des Gottesreiches eine Perspektive von Evangelisierung, handelt es sich nun um die Belehrung der Analphabeten, die Sorge um die Kranken und Leidenden in einem Krankenhaus oder einem Altersheim, oder die Arbeit in einer Pfarrei oder den Einsatz an Zeit und Energie für jene, die im aktiven Apostolat stehen. Das trifft vor allem zu, wenn wir sehen, dass Menschen, als Teil eines Migrationsprozesses, von einem Kontinent zu einem anderen wechseln, einbezogen in pastorale und humanitäre Arbeit. Wichtig ist hierbei, dass sie auf eine Weise ständig auf dem Laufenden gehalten werden über ihr Missionsbewusstsein, dass sie nicht von einem Gefühl der Vereinsamung und Entfremdung überwältigt werden. Wir alle sind Bürger eines globalen Dorfes. Während die multinationalen und ökonomischen Mächte sich nach Kräften bemühen, aus dieser Situation Vorteil zu ziehen für ihre eigenen selbstischen Zwecke, müssen die Kirche und ihre Mitglieder neue Strategien entwickeln, um über diesen kommerziellen Angelegenheiten zu stehen und Werte und Prinzipien einzubringen, die aus der Lehre Jesu Christi, wie sie in den Evangelien dargelegt sind, genommen werden. Anstrengungen müssen auch gemacht werden, um den zunehmenden Einfluss der Kommerzialisierung in das administrative System in den Diözesen und Pfarreien zu kontrollieren. Gleich wichtig ist die Notwendigkeit, den billigen Pentecostalismus, der unter dem Vorwand einer neuen Evangelisierung sich in die Kirche einschleicht, unter Kontrolle zu halten. Jetzt, da wir vom kolonialen Verständnis von Mission und Evangelisierung als spirituelle Eroberung für die Kirche und ihrer maßgeblichen Kreise befreit sind, müssen wir alle auf eigenen Füßen stehen und unsere Einsichten in klaren Begriffen artikulieren. Die Ankündigung der Bischofssynode im Oktober 2012 unter dem Thema von Neuevangelisierung ist eine günstige Zeit für die Kirche, um der Welt ein für alle Mal klar zu machen, dass die Kirche die Dienerin des Gottesreiches in der Welt ist und sie eine Menge Freude (gaudium) und Hoffnung (spes) bezüglich der Welt hat. Wie das vatikanische Dokument feststellt, ist die Anstrengung der Kirche nach „Neuevangelisierung“ kein Versuch, das Evangelium den Menschen, die es beim ersten Mal nicht verstanden haben, erneut vorzustellen, sondern das Evangelium auf eine Weise darzustellen, dass es modernen Männern und Frauen verständlich ist und ihnen Hoffnung gibt. Der Entwurf der Synode definiert „Neuevangelisierung“ als „den Mut, neuen Wegen Bahn zu brechen entsprechend den sich wandelnden Umständen und Bedingungen, denen sich die Kirche in ihrer Berufung, das Evangelium zu verkünden und zu leben, heute gegenüber gestellt sieht“. Das Dokument stellt weiter fest, dass es unmöglich ist, die Menschen zurück zu Christus zu bringen, wenn nicht Anstrengungen gemacht werden, säkulare Kulturen zunehmend zu evangelisieren, verschiedene Gesellschaftsschichten immer mehr zu evangelisieren, die Medien, die Ökonomie, Politik, Wissenschaft und die Kirche selbst. Das Dokument hält fest, dass eine Frucht der Evangelisierung „der Mut ist, aufzustehen gegen Untreue und Skandal in christlichen Gemeinschaften als ein Zeichen und eine Konsequenz von Momenten der Müdigkeit und des Überdrusses in der Verkündigung.“ Wenn der Entwurf der Synode sagt, dass Christen immer so handeln müssen, dass sie Zeugnis ablegen für den Glauben und keine Angst haben dürfen, zu anderen über Christus zu sprechen, sagt er auch, dass Dialog mit Mitgliedern anderer Religionen Christen helfen kann, mehr über das geteilte menschliche Sehnen nach Gott und nach Sinn und Bedeutung zu lernen. Je mehr Christen den sehnlichen Wunsch des menschlichen Herzens verstehen und wie er sich heute äußert, desto leichter können sie den Herausforderungen in ihrer persönlichen und sozialen Beziehung entsprechen. Die wichtigste Lektion, die wir heute über Mission und Evangelisierung zu lernen haben ist, dass alle Christen verantwortungsbewusste Mitglieder der Kirche werden müssen, die sich ihrer Mission in dieser Welt sicher sind und auch ausgerüstet mit den nötigen Qualitäten, die notwendig sind, um die Welt umzuwandeln in das Reich Gottes. j meine welt 2/2011 23 i I n t e rvi e w Ak t u e l l i „Mahatma Gandhi war ganz bestimmt ein holistischer Denker, auch wenn das zu seiner Zeit kein Modewort war. Seine Konzepte zur Dezentralisierung und ‚self-reliance‘ der Dörfer sind auch heute noch aktuell“ I rmel M arla Frau Irmel V. Marla hat Soziologie und Anthropologie an der Heidelberger Universität studiert und war 28 Jahre Leiterin der Personalabteilung einer privaten Versicherungsgesellschaft in Deutschland. Durch die Forschungsprojekte ihres verstorbenen indischen Mannes Dr. V. Sarma Marla ist sie mit den Verhältnissen im ländlichen Indien sehr vertraut. Seit 7 Jahren lebt sie permanent in Indien. Sie ist Vorsitzende der Dr. V. Sarma Marla Foundation sowie des Internation Institute for Holistic Research & Voluntary Action. Ihr neuestes Buch „Misery of Leadership“ (Frühjahr 2011), das sie zusammen mit Herrn Kamal Taori herausgab, analysiert die Schwäche und einseitige Orientierung der politischen Führung Indiens. Wir drucken nachfolgend ihre Antworten auf unsere Fragen ab, die Jose Punnamparambil stellte. D ie R edaktion Meine Welt: Sie haben vor kurzem zusammen mit dem indischen Autor Kamal Taori ein Buch mit dem Titel: „Misery of Leadership” veröffentlicht. Das Buch bezieht sich vornehmlich auf die Qualität der Führungselite Indiens. Was hat Sie dazu bewegt, so ein Buch zu schreiben? Frau Irmel Marla: Am Rande unserer Arbeit im ländlichen Indien, in vielen Diskussionen mit Menschen aus allen Bevölkerungsschichten und in der Presse wurden wir in den letzten Jahren sehr häufig damit konfrontiert, dass der Ruf nach einem „Leader” als Allheilmittel für alle Probleme im Lande sehr deutlich erhoben wurde. Es hat uns besorgt gemacht, weil wir das für eine schlichte Ausrede 24 meine welt 2/2011 Frau Marla im Gespräch mit Anna Hazare halten, nichts selbst zu tun. Die Tatsache, dass „Hitler” und andere furchtbare Gestalten als „Leader” dargestellt wurden, die alles regeln würden, was schlecht ist, Mahatma Gandhi aber nicht, hat schließlich das Fass unserer Verständnisbereitschaft zum Überlaufen gebracht. Wir fühlten uns einfach gezwungen, das Buch zu schreiben. In unseren Vorlesungen und Workshops, die wir regelmäßig in Universitäten und Colleges halten, ist dieses Thema wichtiger Bestandteil. Es geht uns vor allem darum zu definieren, was „Good Leadership” bedeutet und aufzuzeigen, dass der Schrei nach einem „Hero” für ein demokratisches Land sehr gefährlich ist. Die Resonanz bei der jüngeren Generation ist teilweise recht ermutigend. Meine Welt: Was bedeutet „holistischer Ansatz” zu guter Führung in einem demokratischen Land wie Indien? Frau Marla: ¸Holistisch’ bedeutet ¸allumfassend’. Mahatma Gandhi war ganz bestimmt ein holistischer Denker, auch wenn das zu seiner Zeit noch kein Modewort war. Seine Konzepte zur Dezentralisierung und self-reliance der Dörfer sind auch heute noch aktuell. Wir folgen, in aktualisiertem Sinn, seinen Ideen, die er vor allem in „Hind Swaraj” beschrieben hat. (Sarma hat das Buch in den 80ern ins Deutsche übersetzt und kommentiert, allerdings ist es vergriffen, wie ich hörte.) Es wäre der einzige Weg, Indiens ländliche Regionen endlich nachhaltig zu entwickeln. Wir erarbeiten zusammen mit der ¸Grassroot’-Bevölkerung „Village Action Plans”, in denen alle materiellen und immateriellen Ressourcen in den Dörfern identifiziert, analysiert und bewertet werden. Daraus ergeben sich konkrete Schritte zum koordinierten Aufbau einer dörflichen Infrastruktur, i I n t e rvi e w Ak t u e l l i Rebellion gegen Korruption Anna Hazare und seine Bewegung Die Bewegung wäre ohne ihre überraschende Führungsfigur undenkbar. Der Mann ist ein typisch indisches Unikum. Er stammt aus der tiefsten Provinz, brach als Zwölfjähriger die Dorfschule ab, um den Rest seiner Jugend ohne feste Unterkunft in den Straßen Bombays Blumen und Girlanden zu verkaufen. Dann ging er zur Armee und überlebte mit viel Glück den indisch-pakistanischen Krieg von 1971. Sein Glück brachte ihn auf neue Gedanken: Er wollte es zurückzahlen, las Gandhi und den hinduistischen Philosophen Swami Vivekananda. Wie sie wollte er nun in Selbstlosigkeit den Menschen dienen. Er ging zurück in seine ländliche Heimat, verzichtete auf Familie und richtete sich vor 36 Jahren in einem der ärmsten Dörfer seiner Gegen in einem Tempel ein. Dort predigte er den Dorfbewohnern Wasserbau und Enthaltsamkeit und schuf, nicht ohne autoritäre Strenge, ein Modelldorf. Sein leuchtend buntes rosa-grün-gelbes Gotteshaus gleicht heute einem Wallfahrtsort. Dort lebt der Alte an normalen Tagen in einem kleinen, kahlen Zimmer. Darin steht nur ein winziges grünes Stahlbett, das für westliche Augen einem Kinder- bett gleicht, eine rosa Kommode und ein Stuhl. Die ganze Garderobe liegt in einem kleinen Haufen gestapelt auf dem Bett. „Es ist Harazes Geheimnis, nie geheiratet und niemals private Dienste für sich in Anspruch genommen zu haben. Sonst wäre er wie alle bestechlich“, verrät der ehemalige Schuldirektor des Dorfes, Thakaram Raut. Es ist diese Dorfgeschichte, die Hazare jetzt für viele Inder so glaubwürdig machte. Jeder kennt hier die Geschichte von der korrupten Kolonialgesellschaft, vor der sich Gandhi in Abscheu aufs Land zurückzog. Daran knüpft Hazare heue an. Er achtet als Hindu wie Gandhi darauf, Muslime und Unberührbare direkt anzusprechen. Er predigt wie Gandhi die gewaltlose Aktion als Protestmittel – und tatsächlich geschah in den letzten zwei Wochen, als ihn die Massen in den Straßen hochleben ließen, keinem Menschen etwas. Das war eine neue Erfahrung für das Land. Zu oft endeten Massenaufläufe in der Vergangenheit mit blutigen Ausschreitungen gegen Minderheiten. „Ich bin zu jung, um Gandhi zu kennen. Aber jetzt habe ich das Gefühl, ihn anzuschauen“, sagte der die kleine Unternehmen befördert (selfemployment) und dafür sorgt, dass soziale Ungerechtigkeiten und Perspektivelosigkeit abgebaut, besser: abgeschafft, werden. Wir legen großen Wert darauf, die lokalen gewählten Autoritäten (village Sarpanch, Panchayat, Block Development Officers, District Collectors), auch die Banken (zu Mikrofinanzierungsprojekten, Start-Up ventures) einzubeziehen. Der holistische Ansatz zwingt dazu, umweltfreundliche Technologien zu fördern, was auch dem Erwecken von Umweltbewusstsein dient. Gesundheitsfragen (Müttersterblichkeit, female foeticides, Ernährung) und sportliche Aktivitäten für die Jugend, insbesondere für Mädchen und Frauen, Bildung und Ausbildung, auch Erwach- senenbildung und berufliche Ausbildung, angepasste Informationstechnologie für Bauern, Bio-Anbau (die Fertilizer Industry ist sehr mächtig, sie hat die Regierung fest im Griff, während monatlich Hunderte von Kleinbauern Selbsttötung begehen) und nachhaltige Wasserkonservierung sind die wichtigsten Bestandteile unseres village action plan. Die Arbeit an einem solchen Plan hat außerdem weitere wichtige Vorteile: sie erweckt das Bewusstsein, dass die Dörfler ihr Geschick selbst in die Hand nehmen können, was wiederum zu einer Stärkung des Selbstbewusstseins führt; sie werden über ihre Rechte aufgeklärt und beanspruchen sie; die ländliche Jugend beginnt, über den Trend zur Flucht in die Städte zumindest nachzudenken; Gelder, Kleinunternehmer Tiwari, als er Hazare in Delhi zum ersten Mal sah. Sind im Hazare-Fieber Indiens demokratische Institutionen, beschädigt worden? Schließlich ist dies bei allen Mängeln kein autoritärer Staat wie Mubaraks Ägypten. Mit einem kollektiven Kniefall befriedete das indische Parlament erst am vergangenen Samstagabend den Streit im Land. Aus der Sorge, dass die friedlichen Massen bei den ersten Krankheitsanzeichen des fastenden Hazares Amok laufen könnten, erfüllten die Parlamentarier auf Regierungsgeheiß alle Bedingungen der Protestbewegung. Sie setzten die Eckpfeiler einer Gesetzgebung fest, mit der eine neue, starke, unabhängige Behörde zur Korruptionsbekämpfung geschaffen werden soll. Vielleicht wird dies nun tatsächlich geschehen, wenn das Parlament das endgültige Gesetz wie geplant bis Jahresende verabschiedet. Ist damit ein antidemokratischer Präzedenzfall geschaffen? Beschließt die Straße die Gesetze statt des Parlaments? „Die Bewegung demonstrierte mit ihrem großen Fluss auch ihre Fähigkeit, über die Ufer der Verfassung zu treten. Waren das Schatten der Anarchie?“ fragte Outlook. (Quelle: „Die weiße Rebellion“ von Georg Blume, DIE ZEIT vom 1.9.2011) die bisher von den staaltichen Autoritäten entweder nicht ausbezahlt, falsch verwendet oder dreist unterschlagen werden, kommen dem Dorf zugute; Korruption wird aktiv bekämpft – um die wichtigsten Punkte zu nennen. Wir versuchen auch, Studierende in Universitäten und Colleges dazu zu bewegen, sich konstruktiv als Teil ihres Studiums mit Projekten zum holistischen Aufbau einer nachhaltigen dörflichen Entwicklung zu beschäftigen. Die meisten Studierenden haben sich noch nie in einem Dorf aufgehalten. Meine Welt: Frau Marla, Sie leben seit einigen Jahren abwechselnd in Indien und Deutschland. Wie bewerten Sie den raschen Fortschritt Indiens in den letzten Jahren? meine welt 2/2011 25 i I n t e rvi e w Ak t u e l l i Jahr wurde von der Zentralregierung mit Wird Indien von der jetzigen Regierung position kann nicht viel dazu sagen, ist sie großem Getöse ein Gesetz verabschiedet, gut geführt? doch selbst in solche Skandale verwickelt das jedem indischen Kind das „Recht zur – Frau Marla: Ich komme seit fast 40 Jahren (Karnataka). Indien wird von der jetzigen schulischen – Ausbildung” garantiert. Mir nach Indien und hatte das Glück, meinen Regierung überhaupt nicht geführt, von ist nicht bekannt, dass sich inzwischen im verstorbenen Mann. Dr. V. Sarma Marla, „gut” ist nicht zu reden. ländlichen Indien irgendetwas geändert in den Pilotphasen seiner ForschungsWas mich etwas optimistisch stimmt, ist hat: Es gibt keine neuen Schulen, es ist projekte begleiten zu können. Auf diese das Wählerverhalten in der letzten Zeit, nach wie vor festzustellen, dass in vielen Weise wurde ich mit den Verhältnissen allen voran in Bihar, das bis vor einigen ländlichen Schulen bezahlte Lehrer seit im ländlichen Indien sehr vertraut, vor Jahren als das Armenhaus Indiens galt. Jahren überhaupt nicht auftauchen, mit allem in den südindischen Ländern. Seit Der Ministerpräsident Nitish Kumar hat Wissen der lokalen und übergeordneten fast 7 Jahren lebe ich permanent in Indiin seiner ersten Amtszeit bereits große staatlichen Stellen! Es gibt, mit Ausnahme en und habe mit meinem „International positive Veränderungen bewirkt und hat einiger NGOs, keine Anstrengungen, verInstitute for Holistic Research and Vodafür bei den letzten Wahlen einen unerstärkt Mädchen zur Schule zu schicken, es luntary Action” meinen Aktionskreis auf wartet großen Erfolg erzielt, obwohl die gibt nach wie vor Kinderheiraten (speziell nordindische Gebiete ausgeweitet, wo die Oppositionsparteien mit der üblichen Einin Rajasthan), wo minderjährige Witwen Lebensverhältnisse auf dem Lande sehr schüchterung und „cash for vote”- Takproduziert werden, deren Lebenspersviel schlechter sind als im Süden. Das geht tiken alle Anstrengungen unternommen pektiven vernichtet sind, bevor ihr Leben natürlich nur mit der Hilfe eines Freunhaben. Die Anit-Korruptionsbewegung hat überhaupt begonnen hat. deskreises gleichgesinnter Aktivisten, die sich inzwischen auf das ganze urbane Indimich ungemein unterstützen. en ausgeweitet und beginnt, auch Der „rasche Fortschritt Indiens“ Vom Fortschritt profitieren lediglich im ländlichen Indien Wirkung zu ist eine sehr trügerische Angelezeigen. Es steht zu erwarten, dass genheit: Vom Fortschritt profitie- die indischen Mittelklassen, und das eine Stärkung der „Civil Society” ren lediglich die indischen Mittelkünftigen Regierungen und den stetig steigende Bruttosozialprodukt es klassen, und das stetig steigende industriellen pressure groups sehr Bruttosozialprodukt sagt nichts aus sagt nichts aus darüber, dass die schwer machen wird, ihre Politik darüber, dass die Schere zwischen der ländlichen Ausbeutung fortzuSchere zwischen Armen und Reichen führen. Die Diktate von Weltbank Armen und Reichen mit großer Geschwindigkeit immer weiter mit großer Geschwindigkeit immer und IMF und auch Millionenproauseinander geht. Das ländliche jekte der UN führen fast alle zur weiter auseinander geht. Indien hat nichts davon. Im Gegenweiteren Verelendung der ländteil, die großen Industrien beuten lichen Bevölkerung. Wir werden Die indische Regierung scheint nicht bedie ländlichen Ressourcen immer stärker auch darüber schreiben, z.B. in unserem reit, in großem Stil in das ländliche Indiaus, z.B. wird durch mächtige Bergbauunkommenden Buch „Development Aid – en investieren zu wollen. Wir haben vor ternehmen (legal und illegal) der lokalen For Whom?“ j einigen Jahren (!) einen „Open Letter to Stammesbevölkerung die LebensgrundlaPlanning Commission” geschrieben, in ge entzogen (West Bengal, Orissa, MahaL e s e rbr i e f dem wir die Problem der verfehlten zenrashtra, Chhattisgarh, Karnataka, um nur tralen Planung aufgezeigt und Wege aus die schlimmsten Brennpunkte zu nennen); Lieber Jose, dem Elend beschrieben haben, aber wir industrielle Anlagen vernichten oder verdas Exemplar von „Meine Welt“ gefällt haben keine Resonanz erhalten. Das Proschmutzen die Wasservorräte irreparabel, uns sehr. Die Auswahl ist hervorragend, blem der maoistischen Outfits in großen so dass die Bauern ihre Existenz verliedas Ganze ist sehr informativ; „erschreTeilen Indiens ist auf die Vernachlässigung ren; der indische Agarminister verkünckend“ informativ vor allem der Beitrag der ländlichen Regionen zurückzuführen, det noch heute, dass Endolsulfan völlig über female feticide oder auch der Reiseaber die Regierung will es mit Waffengeungefährlich sei, obwohl die Chemikalie bericht von 1700. Die Zusammenfassung des Buches von Martin Kämpchen „Lewalt lösen. Das ist, wie klar zu erkennen, in fast allen Ländern verboten ist, aber ben ohne Armut” spiegelt genau unsere der falsche Weg. Indien produziert das Gift in großem Stil, Erfahrung wider. Das Interview zur Die jetzige Regierung befindet sich an70% der Weltproduktion (ich frage mich Modellschule Orissa bestärkt uns, mit scheinend in einem komatösen Zustand: allerdings, wohin das Gift exportiert wird, unserem Projekt (website „wecankimh. durch die Anti-Korruptionskampagne, die wenn es angeblich nicht verwendet werden jimdo.com”) weiterzumachen. von Anna Hazare angestoßen wurde, ist darf). Es sind nur einige Beispiele. Das sie in große Bedrängnis geraten, sind doch alles geschieht mit Wissen und UnterViele Grüße die meisten Minister in mehrere Korruptistützung der Regierungen in Delhi und Erika und Raju (Rajendra) Pathak onsskandale (scams) verwickelt. Die Opin den Bundesländern. Im vergangenen 26 meine welt 2/2011 i thema i 50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland Einwanderung ... Anpassung ... Eingliederung ... Integration c Gespräche c Interviews c Kurzgeschichte c Bilder Prozession der indischen Gemeinde beim Pfarrfest Köln 2010 Foto: Devis Vadakkumchery meine welt 2/2011 27 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d i Wie war es am Anfang? Ein Gespräch mit Pater Jerome Cherussery und Frau Anni Jülich über die Anwerbung und das Einleben indischer Krankenschwestern in Deutschland J ose P unnamparambil Pater Jerome Cherussery ist indischer Priester der Karmeliter Ordensgemeinschaft. Er kam 1966 nach Deutschland zum Studium an der Kölner Universität. Schon damals befanden sich einige indische Mädchen in der Krankenpflegeausbildung in Köln, Bonn, Heidelberg etc. Im Laufe der Zeit erkannte die katholische Kirche Deutschlands die Notwendigkeit der Seelsorge für die wachsende indische Gemeinschaft. Pater Jerome wurde dann 1969 offiziell als Seelsorger für Inder eingestellt mit Sitz in Köln. Auf dem Papier war er für Inder/Inderinnen in den Diözesen Köln, Aachen und Essen zuständig, aber in der Praxis erstreckte sich seine Tätigkeit auf ganz Deutschland. Pater Jerome diente als Seelsorger für fast 17 Jahre, bevor er 1986 endgültig nach Indien zurückging. Frau Anni Jülich ist deutsche Sozialarbeiterin, die beim Deutschen Caritasverband für die Stadt Köln in den 1960er Jahren und danach für fremdsprachliche Katholiken zuständig war. Zusammen mit dem damaligen Direktor des Caritasverbandes für die Stadt Köln Prälat Dr. Josef Koenen entwickelte sie ein Konzept für soziale Beratung und Betreuung der indischen Katholiken, insbesondere der indischen Krankenpflegekräfte in den Diözesen Köln, Essen und Aachen. Ende der 1960er Jahre wurde ein Sozialdienst für Inder in Köln eingerichtet und ein in Deutschland ausgebildeter Sozialarbeiter, Herr Varghese Podur, wurde als Vollzeitkraft eingestellt. Mit großem Einsatz setzen sich Frau Jülich und Prälat Dr. Josef Koenen für die Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der indischen Krankenpflegekräfte ein, nicht nur in den obengenannten drei Diözesen, sondern auch in ganz Deutschland. Anfang September dieses Jahres traf ich mit Pater Jerome und Frau Anni Jülich in einem Restaurant in Köln zusammen. Pater Jerome war aus Indien auf Besuch nach Deutschland gekommen. Frau Jülich lud uns zu diesem Treffen ein und wir führten ein Erinnerungsgespräch an die alten Zeiten: Ohne Vertrag Während die Krankenschwestern aus Südkorea und den Philippinen auf der Grundlage eines Vertrages zwischen der Bundesregierung und den anderen jeweiligen Regierungen kamen, kamen die indischen Krankenpflegekräfte durch kirchliche Kanäle. Frau Jülich sagte, dass die Regierungsstellen auf der indischen Seite damals nicht interessiert waren, Krankenschwestern aus Indien auf Vertragsbasis nach Deutschland zu schicken. Deshalb waren die Vermittler vornehmlich indische Bischöfe/Priester und deutsche Priester/ Anni Jülich Ordensgemeinschaften etc.. Die sprachliche und interkulturelle Vorbereitung der indischen Pflegekräfte war sehr dürftig. Da die meisten dieser Schwestern aus ländlichen Umgebungen mit einfachen Lebensgewohnheiten kamen, war das Einleben in eine total fremde Kultur mit Normen und Verhaltensweisen einer urbanisierten Gesellschaft äußerst schwierig. Sie fanden oft Zuflucht in kirchlichen Veranstaltungen, die der indische Seelsorger organisierte, und in Heimatveranstaltungen in eigener Sprache, die von dem Sozialdienst für Inder organisiert wurde. Der Seelsorger und der Sozialarbeiter arbeiteten damals eng zusammen und organisierten Seminare, Reisen, Gemeinschaftsaktivitäten, kirchliche Feste, Kulturveranstaltungen etc. Frau Jülich und Prälat Dr. Koenen förderten diese Aktivitäten uneingeschränkt. Zurück nach Indien Pater Jerome bei einem Schulbesuch in Deutschland 2011 28 meine welt 2/2011 In der Spitzenzeit – Mitte der 70er Jahre – gab es ca. 5000 ausgebildete und auszubildende indische Krankenschwestern in Deutschland. 1973 verhängte die Bundesregierung einen allgemeinen Anwerbestopp für nichteuropäische Arbeitskräfte. Damit war die Frage aktuell geworden, was mit den ausgebildeten indischen Krankenschwestern geschehen soll. Einerseits i herrschte großer Bedarf für Krankenpflegekräfte in deutschen Krankenhäusern und Altenheimen, andererseits verbot die geltende Regel, Studenten und Auszubildende aus nichteuropäischen Ländern nach Beendigung des Studiums/der Ausbildung in Deutschland weiter zu beschäftigen. So kursierte die Nachricht, dass alle ausgebildeten indischen Krankenschwestern bald nach Hause geschickt werden sollen. Dies wäre für viele der Betroffenen aus zweierlei Gründen katastrophal: Zum einen war die deutsche Krankenpflegeausbildung in Indien überhaupt nicht anerkannt und zum Anderen, hatten die Inderinnen während der Ausbildungszeit nur wenig verdient und hatten daher keine große Möglichkeit, ihre Familien in Indien substantiell zu unterstützen, was eigentlich der Grund war, warum sie das Risiko auf sich genommen hatten, in ein so fremdes Land wie Deutschland zu kommen. Große Unsicherheit breitete sich aus, Trauer mischte sich mit Wut, die in Versammlungen und Zeitungsinterviews etc. mündeten. Der Sozialdienst für Inder begegnete der Situation zweigleisig: einerseits bemühte man sich mit Unterstützung des Caritasverbands und anderer kirchlichen Stellen, die Zurückschickung der ausgebildeten Krankenschwestern nach Indien zu verhindern/verschieben, andererseits wurde mit betreffenden Stellen in Indien verhandelt, um die deutsche Krankenpflegeausbildung dort anerkannt zu bekommen. Frau Jülich und Prälat Dr. Koenen sowie viele andere Verantwortliche in der katholischen Kirche Indische und deutsche Kinder bei einer Kommunionfeier 1990 der anfang i Deutschlands haben sich dafür eingesetzt, die existierenden Regeln zu Gunsten der indischen Krankenpflegekräfte zu ändern. Schließlich lenkte die Regierung ein, die indischen Krankenschwestern konnten bleiben. Sie bekamen eine entsprechende Aufenthaltsund Arbeitserlaubnis. Familienzusammenführung Dann folgte die Phase der Eheschließung und Familiengründung. Einige wenige heirateten deutsche Partner, aber die große Mehrheit der Krankenschwestern ging nach Hause und heiratete Männer anderer Berufe. Die Familienzusammenführung bereitete aber große Probleme. Die deutsche Regierung verordnete, dass die Ehemänner, die im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland kommen, vier Jahre lang nicht arbeiten dürfen, sie bekamen keine Arbeitserlaubnis. Das war ein großer Hammer für die indischen Ehemänner, die mit dem Rollenverständnis aufwuchsen, der Mann habe Alleinverdiener zu sein, mit entsprechender Machtbefugnis über das verdiente Geld. Dieser radikale Rollenwechsel in der Familie führte zu Verzweifelung, Gewalt, Bindungsstörungen bei einigen Familien. Frau Jülich und Dr. Koenen versuchten durch Einschaltung kirchlicher Stellen, eine Änderung der Regelung zu Gunsten der indischen Ehemänner zu erreichen, aber ohne Erfolg. Der Dienst der Seelsorger war in dieser Phase stark gefragt. Glaube und die Glaubenspraxis boten vielen Trost und Halt. Das Mitarbeiterteam, das Anfang der 1970er Jahre im Rahmen des „Indischen Sozialdienst, Köln“ tätig war. Von rechts nach links: (stehend) Pater Jerome Cherussery (Seelsorger), Jose Punnamparambil (Redakteur der MalayalamZeitschrift „Ente Lokham“), Abraham Oommen (Sozialberater), (sitzend) Frau Sunitha Vithayathil (Sozialberaterin) und T. A. Jose (Mitarbeiter der Zeitschrift „Ente Lokham“ in Indien, auf Besuch in Deutschland) Nachdem die Ehemänner eine Arbeitserlaubnis bekommen hatten und die Gesetze so geändert wurden, dass diejenigen Ausländer, die 8 Jahre ohne Unterbrechung in Deutschland gelebt haben, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen können, hatte sich die Situation total entspannt. Die große Mehrheit der indischen Krankenschwestern und deren Ehemänner entschieden sich, vorläufig in Deutschland zu bleiben und hier eine Familie zu gründen. Zwischen Deutschland und Indien Im Rückblick meinten Pater Jerome und Frau Jülich, dass trotz anfänglicher Probleme und Schwierigkeiten die Einwanderung indischer Krankenschwestern nach Deutschland eine Erfolgsgeschichte ist. Die meisten dieser Krankenschwestern und deren Familie leben heute mit einem Lebensstandard, der nach deutschem Maßstab als überdurchschnittlich bezeichnet werden kann. Die Mehrzahl ihrer Kinder befindet sich im Studium oder üben nach dem Studium gehobene Berufe wie Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler, Betriebswirte aus. Da viele dieser Kinder hier geheiratet und eine Familie schon gegründet haben, ist eine oft geträumte endgültige Rückkehr für die Eltern in die Heimat nicht mehr vorstellbar. Sie werden, bis es nicht mehr geht, zwischen Deutschland und Indien pendeln. j meine welt 2/2011 29 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d i Das Unternehmen „ Auszug aus Indien, Aufenthalt in Deutschland“ Indische Krankenschwestern haben die Möglichkeit bekommen, sich positiv zu entfalten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sowohl im Beruf wie auch im Alltag selbstständig zu leben und zu handeln. S unitha V itha y athil Frau Sunitha Vithayathil war Sozialarbeiterin beim indischen Sozialdienst des Caritasverbandes der Stadt Köln von 1973 bis 1976, der Spitzenzeit der Einwanderung indischer Krankenpflegekräfte nach Deutschland. In dem folgenden Interview haben wir sie nach ihren Erinnerungen an die damalige Zeit sowie nach ihrer Meinung zu der Wirkung dieser einmaligen Einwanderung auf die Betroffenen gefragt. Wir drucken ihre Antworten unverkürzt ab. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil D ie R edaktion Meine Welt: Die meisten der indischen Krankenschwestern kamen in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nach Deutschland. Sie waren damals Sozialarbeiterin beim Caritasverband für die Stadt Köln, zuständig für die Inder/Inderinnen in den Erzdiözesen Köln, Aachen und Essen. Welche Erinnerungen haben Sie aus dieser Zeit an die Berufs- und Lebenssituation der indischen Krankenschwestern/ Krankenpfleger in Ihrem Zuständigkeitsbereich? Welche waren die größten Probleme dieser Personengruppe, mit denen Sie oft konfrontiert wurden, und welche die Lösungsansätze des Caritasverbandes? Frau Vithayathil: Es fällt mir nicht leicht, über die Berufs- und Lebenssituation der indischen Krankenschwestern in den 70iger Jahren in Deutschland zu berichten. Denn ich war nur relativ kurze Zeit – von Juni 1973 bis April 1976 – beim Caritasverband für die Stadt Köln als Sozialarbeiterin für die Inder/Inderinnen in der Erzdiözese Köln und in den Diözesen 30 meine welt 2/2011 Aachen, Essen, Münster und Paderborn tätig. Es gibt Kollegen und Kolleginnen, die vor, mit und nach mir konstant und kontinuierlich mit dieser Arbeit beauftragt waren und somit länger und intensiver die Entwicklungen beobachtet und begleitet haben. Ihre Berichte und Stellungnahmen wären von weitaus größerer Aussagekraft. Als ich die Arbeit beim Caritasverband anfing, waren Einreise nach Deutschland und Eingewöhnungsphase der Krankenpflegeschülerinnen und Krankenschwestern größtenteils abgeschlossen. Ich würde sagen, ich habe die Phase der Eingliederung in das Berufsleben sowie in die Gesellschaft begleitet. Die Anfänge der Familiengründungen und damit entstehende neue Lebenssituationen und Probleme konnte ich intensiver beobachten. Gleich nach meinem Dienstantritt habe ich ein bereits von meinen Vorgängern vorbereitetes Studienseminar für Inder und Inderinnen in Hamburg begleitet. Solche Studienseminare fanden jährlich mit mehrtägigem Aufenthalt und Besichtigung einer bundesdeutschen Großstadt statt. Veranstaltet wurden sie in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für politische Bildung vom Land NRW. Den Ausländern sollten politische, wirtschaftliche, geschichtliche und gesellschaftliche Vorgänge, Zusammenhänge und Hintergründe in Deutschland vermittelt werden und somit deren Loyalität gefördert und Integration erleichtert werden, Die Teilnehmer/ Teilnehmerinnen nutzten diese Angebote unter anderem auch, um sich untereinander kennen zu lernen, Kontakte zu pflegen und neue Kontakte zu knüpfen. Weil diese Maßnahmen vom Land NRW angemessen bezuschusst wurden, konnten die Teilnehmer / Teilnehmerinnen diese Aufenthalte finanziell gut verkraften. Der Bedarf an Geselligkeit und Kontaktpflege mit Landsleuten war in der ersten Zeit sehr ausgeprägt. Durch Tagungen, Seminare und Fahrten sowie kulturelle und religiöse Feste, die vom Sozialdienst auf den Weg gebracht und mit organisiert wurden, konnte diesen Wünschen Rechnung getragen werden. Die größten Probleme der indischen Krankenpflegeschülerinnen und Krankenschwestern, die in der genannten Zeit an mich herangetragen wurden, lagen im arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Bereich. Für gleiche Arbeit bekamen sie nicht überall den gleichen Lohn. Es wurde nicht durchgehend nach den geltenden Tarifverträgen bezahlt. Manche Einrichtungen waren nicht bereit, die Arbeitsverträge zu verlängern, weil die Arbeitnehmerinnen nach ihrer Meinung aus Mangel an Sprachund Fachkenntnissen nicht die erwarteten Leistungen erbrachten. i Es gab auch Ausländerämter, die trotz vorhandener Arbeitsverträge die Aufenthaltserlaubnis verweigerten. Mitte der Siebziger Jahre war die Arbeitsmarktlage angespannt. Obwohl im Pflegebereich Personalbedarf bestand, wurde bei der Gewährung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen sehr repressiv vorgegangen. Hilfestellung bei der Lösung dieser Probleme basierte von Seiten des Caritasverbandes überwiegend auf Vermittlungsgesprächen und Werben und Bitten um Rücksichtsnahme und Verständnis. Diese Versuche auf Dialogebene waren bei kirchlichen Arbeitgebern öfter erfolgreich. Einige Ausländerämter in NRW waren dafür bekannt, dass sie nur die „harte Linie“ verfolgen wollten, um so wenig Ausländer wie möglich in ihrem Einzugsbereich zu halten. Verglichen mit den heutigen Integrationsbemühungen kann man kaum glauben, dass es in den Siebziger Jahren Regierungsbezirke gab, die den Zuzug von Ausländern gesperrt hatten, um den Ausländeranteil prozentual unter Kontrolle zu halten. Bei solchen Konstellationen konnte man nur die Betroffenen aus den jeweiligen Zuständigkeitsbereichen herausholen und versuchen, anderswo zum Ziel zu führen. In manchen Fällen waren es gesundheitliche Probleme, die die Betroffenen gezwungen haben, ihre Arbeitsstelle aufzugeben und eine neue Existenzmöglichkeit zu suchen. An einem Beispiel kann ich vielleicht die Komplexität der Problematik, der manche Krankenschwestern ausgesetzt waren, und die Lösungsversuche von Seiten des Sozialdienstes verdeutlichen. Eines Tages rief mich eine Krankenschwester an und sagte mir, sie stünde ohne Arbeitsstelle da. Die alte Stelle hätte sie selbst gekündigt, der neue Arbeitgeber wolle seine Zusage nicht einhalten, da sie jetzt schwanger sei. Wir sollten ihr nun zu einer neuen Stelle verhelfen. Nach der Kündigung bei ihrem alten Arbeitgeber hatte die Krankenschwester sich zunächst einmal für mehrere Monate in Indien aufgehalten, dies mit der Sicherheit, nach ihrer Rückkehr nach Deutschland eine neue Stelle antreten zu können. Eine entsprechende Zusage hatte sie. Sie hatte I n t e rvi e w Ak t u e l l i in Indien geheiratet und wurde kurze Zeit später schwanger. Als sie nach Deutschland zurückkehrte, wollte der neue Arbeitgeber auf Grund der Schwangerschaft keinen Arbeitsvertrag mit ihr abschließen, und der alte Arbeitgeber wollte sie nicht wieder beschäftigen. Durch unseren Einsatz konnten wir ihr in Zusammenarbeit mit einer kirchlichen Schwangerschaftsberatungsstelle in einem Krankenhaus in Trägerschaft von Ordensschwestern eine neue Arbeitsstelle vermitteln. Sie hat als Schwangere im Schwesternwohnheim ein Zimmer bezogen. Ihr Mann konnte noch nicht einreisen, weil er in Indien im öffentlichen Dienst tätig war und in Deutschland keine Aussicht auf Arbeit bestand. Das Kind wurde geboren, und sie konnte es während ihres Dienstes in der betriebseigenen Kinderkrippe unterbringen. Fast ein Jahr hat sie alleine versucht, dem Kind und ihrem Beruf gerecht zu werden. Sie musste aber feststellen, dass Früh- und Spätdienst im Wechsel sehr viel Stress und auch Überforderung bedeutete sowohl für sie als auch für das Kind. Früh morgens musste das Kind aus dem Schlaf gerissen werden, um es in die Kinderkrippe zu bringen. Hatte sie Spätdienst, wurde es wieder in seinem Schlaf gestört. Auf die Dauer war das Wohnheim kein ideales Umfeld für Entwicklung und Aufenthalt eines Kleinkindes. Die Mutter stand vor der Alternative, das Kind einer Tagesmutter anzuvertrauen oder es nach Indien zum Vater zu geben. Die Unterbringung des Kindes in einer anerkannten Tagespflegestelle war einerseits mit Kosten verbunden und zum anderen hatte sie Angst, dass das Kind ihr fremd würde und sie seine Erziehung nicht wie gewünscht beeinflussen könnte. Ihr Mann wollte seine sichere Arbeitsstelle in Indien nicht aufgeben und zu Frau und Kind nach Deutschland einreisen, um nur eine „Hausmanntätigkeit“ auszuüben. Sie selbst konnte zu dem Zeitpunkt ihre Arbeit nicht aufgeben, um mit dem Kind nach Indien zurückzukehren, weil sie unerledigte finanzielle Verpflichtungen hatte und zu der gemeinsamen Existenzgründung noch beitragen musste (wollte). So sah sie sich gezwungen, sich vorerst von ihrem Kind zu trennen, um es in die Obhut des Vaters und seiner Verwandten nach Indien zu geben. Bei diesem Beispiel will ich noch kurz verweilen, weil es nicht untypisch ist für die Phase der Familiengründung. Nach Abschluss der Ausbildung zu Pflegefachkräften sind die Krankenschwestern, abgesehen von einigen wenigen Ausnahmen, nach Indien geflogen und heirateten dort während ihres Urlaubes nach indischer Tradition einen Partner nach ihrer und ihrer Familie Wahl. Die Ehepartner durften im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland einreisen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen bekamen sie ohne Schwierigkeiten eine Aufenthaltserlaubnis. Wie wir alle wissen, durften sie aber für mehrere Jahre kei- Das alljährliche Seminar für indische Krankenschwestern in Freiburg (1970-1980) meine welt 2/2011 31 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d ne berufliche Tätigkeit ausüben. Es war oft eine krisenreiche und leidgeprüfte Zeit für viele Partnerschaften. Männer mit akademischer oder sonstiger beruflicher Qualifikation sind eingereist, waren aber aus ausländerund arbeitsrechtlichen Gründen „verdonnert“, die besten Jahre ihres Lebens nur den eigenen Haushalt zu führen und Säuglinge und Kleinstkinder zu versorgen. Die umgekehrte Rolle in Familie und Gesellschaft einzunehmen, das kannten sie weder aus ihren Herkunftsfamilien noch erfuhr dies eine gesellschaftliche Wertschätzung. Wegen fehlender Sprachkenntnisse war die Kommunikation mit der Außenwelt schwierig, und sie konnten im Gegensatz zu ihren Frauen am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen. Zum Teil fehlten Wille und Motivation, die deutsche Sprache zu erlernen, da der „Focus“ auf baldige Rückkehr nach Indien gerichtet war. Intensivsprachkurse oder andere be- rufliche Aufbaukurse konnten die meisten mit einem Gehalt nicht finanzieren. Öffentliche Förderung durch Arbeitsamt oder Bildungsträger bekamen sie nicht, weil sie durch Erwerbstätigkeit keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geleistet hatten und so keine Rechtsansprüche begründet hatten. Frust, Unzufriedenheit, Ratlosigkeit, Isolation, Vertrauensverlust, Eifersucht, Misstrauen, Depression usw. machten in manchen Familien die Runde. Es herrschte eine sehr ausgeprägte Überzeugung, dass Probleme zwischen Eheleuten keinen Fremden etwas angehen und die Lösung in den eigenen vier Wänden gefunden werden muss. So haben sie niemandem ihre Probleme anvertraut oder professionelle Hilfe gesucht. Die Probleme drangen zwar nicht nach außen, aber Gewalt in der Ehe, Gewalt gegen Kinder usw. waren häufig die Folgeerscheinungen. Spektakuläre Fälle gingen durch die Tagespresse: Ermordung von Ehefrau und I n d i sch e k ü ch e Mango Chutney Zutaten 1 kg rohe Mangos 1 kg Zucker 2 Teelöffel Ingwer (lang und dünn geschnitten) 50 Gramm Salz 6 Kardamom (nur Kerne) 4 Zimtstangen 4 Lorbeerblätter 3 Teelöffel rotes Chilipulver ¼ Tasse Rosinen 2 Teelöffel Pfefferkörner (gemahlen) ¼ Tasse getrocknete Kokosnuss (dünn geschnitten) ¼ Tasse Cashewnüsse ¼ Tasse Mandeln 2 Teelöffel Melonenkerne 150 Gramm Essig 2 Teelöffel Kümmel (geröstet und gemahlen) Zubereitung Rösten Sie die Melonenkerne in einer öligen Pfanne bis sie aufgehen. Nehmen Sie die Pfanne vom Herd und stel- 32 meine welt 2/2011 len Sie diese daneben. Rösten Sie die Mandeln und Cashew Kerne, bis diese leicht gebräunt sind. Schälen und schneiden sie die Mangos. Legen Sie die Mangos in eine Pfanne mit dickem Boden, und geben Sie Zucker und Salz dazu. Kochen Sie das Ganze, bis der Zucker sich auflöst, und geben dann Ingwer, Kardamom, Zimt, Lorbeerblätter, rotes Chilipulver und Pfefferkörner dazu und kochen es, bis es zu einer dicken, breiigen Sauce wird. Geben Sie Essig hinzu und kochen das Ganze für fünf Minuten. Geben Sie dann die Nüsse, die Rosinen, die Kokosnuss und das Kümmelpulver dazu. Verrühren Sie das Ganze und testen dann dessen Geschmack. Falls gewünscht, geben Sie mehr Essig hinzu. (Quelle: Perspektiven Indien, Mai 2011) i Kindern, Selbsttötung usw. Die Verzweiflung und Ratlosigkeit in der relativ kleinen indischen Gruppe wurde deutlich. Die jungen Familien waren zusätzlich finanziell mehrfach belastet. Bis zur Heirat haben die Frauen fast ihren ganzen Lohn ihren Herkunftsfamilien für deren Lebenssicherung und Existenzaufbau überlassen. Nach der Familiengründung mussten sie, oft nur von einem Gehalt, die eigene Lebensgrundlage in Deutschland aufbauen, aber auch die Erwartung auf weitere Unterstützung der Herkunftsfamilien befriedigen. Zum Teil sollten sie auch noch der Familie des Ehemanns finanziell zur Seite stehen. Der Versuch, all diesen Wünschen zu entsprechen, verstärkte die Spannungen in der Partnerschaft. Manche Ehepaare entschieden sich, sich von ihren Kindern zu trennen und sie zeitweilig fremd unterzubringen, was ungeahnt weit reichende Folgen für die familiären Beziehungen bis zum heutigen Tag hat. Die individuellen Entscheidungen sahen sehr unterschiedlich aus. Manche Frauen sind zur Entbindung nach Indien geflogen, haben nach der Geburt ihre Kinder dort ihren Verwandten anvertraut und sind allein an ihren Arbeitsplatz zurückgekehrt. Andere haben nach der Niederkunft in Deutschland die Säuglinge nach Indien gebracht, damit die Kinder dort besser versorgt werden. Es gab auch Ehepaare, die sich dazu entschlossen haben, dass der Vater mit nach Indien zurückging und die Mutter nach wenigen Jahren folgen sollte. Es gab wiederum Eltern, die ihre Kinder bei guten deutschen Freunden in Obhut gegeben haben und später Mühe hatten, ihre Position als Eltern zu behaupten. Alle diese Eltern hatten triftige Gründe für ihr Handeln und niemand von ihnen hat leichtfertig eine Entscheidung getroffen. Dennoch blieben auf die Dauer Folgen wie Entfremdung der Kinder, fehlende ElternKind-Beziehung, Bindungsstörungen und Bindungsängste usw. nicht aus. Aus der heutigen Sicht der Kinder können sie nicht verstehen und nachvollziehen, warum sie nicht bei den Eltern bleiben konnten und durften. Aus ihrer Sicht wiederum haben die Eltern alles getan, damit es ihren Kin- i I n t e rvi e w Ak t u e l l i dern gut geht. Bei vielen Kindern ist in solchen Fällen eine emotionale Störung im Eltern-Kind-Verhältnis als Folge zurückgeblieben. Meine Welt: Wie hat sich die Lebenssituation der indischen Krankenpflegekräfte in Deutschland weiter entwickelt? Konnten sie sich in Deutschland gut integrieren und hier ein gutes Leben führen? Welche Bilanz ziehen Sie heute? Hat das Unternehmen sich gelohnt, für die Personen selbst, für das Herkunftsland und für Deutschland? Frau Vithayathil: Wie man heute feststellen kann, ist der überwiegende Teil der damaligen Schülerinnen und Schwestern mittlerweile mit ihren Familien in Deutschland „alt“ geworden. Manche von ihnen haben ihren Traum „Reintegration“ in Indien ausgetestet. Nach einigen Berufsjahren in Deutschland sind sie mit vielen Träumen, Vorsätzen und Erwartungen nach Indien zurückgekehrt, mussten aber feststellen, dass sich das Land rapide fortentwickelt hat und schnelllebig geworden ist. Der Schutz und die Fürsorge der Großfamilien und die Tugenden des Füreinanderund Miteinander Einstehens in den Familien sind vielfach verloren gegangen. Die Rückkehrer haben das Land noch aus der Zeit ihres Wegganges in Erinnerung. Unterstützung, Verständnis oder Rücksichtsnahme auf die Zurückgekommenen findet man aber im Land kaum. Kaum jemand hat Zeit und ein Ohr für die Anderen. Die „Hast du was, bist du was“-Mentalität ist inzwischen sehr ausgeprägt im Lande. Bei dem Streben nach Erfolg und Wohlstand konnten manche Rückkehrer nicht mithalten. Ihre Ersparnisse aus Deutschland waren im Laufe der Zeit aufgebraucht und neue Ressourcen mussten erschlossen werden. Andere wiederum sahen keine Zukunftsperspektiven für sich und ihre Kinder in Indien. Manche mussten feststellen, dass sie von der Verwandtschaft und anderen Vertrauenspersonen bei der Verwaltung ihres in Deutschland schwer verdienten Vermögens betrogen worden sind, und entschieden sich, alles in Indien hinter sich zu lassen. So unterschiedlich waren die Gründe, die Reise nach Rom die Reintegrationswilligen dazu bewogen haben, wieder zurück nach Deutschland zu kommen. Ich möchte aber hier trotz aller Schwierigkeiten nicht den Eindruck entstehen lassen, dass kein Rückkehrer sich in Indien nicht wieder eingelebt hätte. Es gibt erfolgreiche Unternehmer, glückliche Landwirte und andere unter den Rückkehrern, die in der dortigen Gesellschaft und Öffentlichkeit wichtige Positionen bekleiden, Ruhm und Ansehen genießen. Spätestens Mitte der Neunziger Jahre ist die Focussierung auf eine Rückkehr nach Indien dem Wunsch nach Integration in Deutschland gewichen. Eigene Erfahrungen in Indien, Berichte von Rückkehrern, Integration der Kinder durch Schulen und deutsche Freunde, berufliche Integration und Zufriedenheit der Ehepartner, gesellschaftliche Anerkennung der Familien und vor allem die Beherrschung der deutschen Sprache und Kommunikationspflege mit der hiesigen Gesellschaft haben sicherlich zum Umdenken beigetragen und die Entscheidungen beeinflusst. Etliche Familien haben Mitte der Neunziger Jahre Eigentum in Deutschland erworben und viele haben die deutsche Staatsangehörigkeit angenommen. Sie haben sich entschieden, sich als Teil dieser Gesellschaft zu integrieren und nicht als Subkultur in dieser Gesellschaft zu leben. Das „Unternehmen Auszug aus Indien, Aufenthalt in Deutschland“ hat viele positive, aber auch negative Bilanzen hervorgebracht. Positiv ist, besonders für die Frauen, dass sie mehr Möglichkeiten bekommen haben, ohne in Verruf zu geraten sich positiv zu entfalten, ihre Fähigkeiten zu entwickeln, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sowohl im Beruf wie auch im Alltag selbständig zu leben und zu handeln. Sie haben ihr Vorhaben, nämlich für ihre Familien in Indien finanziell zu sorgen und deren Existenzgrundlage zu sichern, erfolgreich durchgeführt. Ohne die Eltern zu belasten, konnten sie ihre eigenen Familien und Haushalte gründen. Durch den Aufenthalt in Deutschland bekamen sie die Gelegenheit, in andere europäische Länder zu reisen und unterschiedliche Kulturen kennen zu lernen. Ihre Kinder konnten nach ihren Begabungen, Fähigkeiten und Wünschen Schulen, Hochschulen und andere Bildungseinrichtungen besuchen und von der Chancengleichheit im Bildungssektor profitieren. Aus finanzieller meine welt 2/2011 33 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d Sicht war der Aufenthalt in Deutschland ein Gewinn, der ihnen ermöglichte, ihr Leben komfortabler zu gestalten. Es gibt aber auch einige negative Bilanzen, die nicht unerwähnt bleiben dürfen. In vielen Familien bleibt eine große Trauer, dass die Kinder und Enkelkinder sich nicht mit Indien identifizieren und sie das Land nur als Heimat ihrer Eltern und Vorfahren akzeptieren. Bei längerem Aufenthalt in Indien fühlen sich viele von der „Elterngeneration“ nicht wohl; sie fühlen sich einsam, der Alltag gestaltet sich umständlich und kompliziert, und sie wollen dann so schnell wie möglich wieder aus Indien weg. In Deutschland lässt sich das Alltagsleben zwar leichter gestalten, aber viele Ältere erleben ihren Alltag dennoch auch hier als still und einsam. Es bieten sich allerdings mehr Möglichkeiten in Deutschland durch Eigeninitiative den Tagesablauf kreativer zu gestalten. Trotzdem bleibt die „Sehnsucht“ nach Sonne und Wärme übrig. Kurz gesagt, viele von der ersten Generation der Inder fühlen sich nirgends i ganz zugehörig – weder zu Indien noch zu Deutschland, obwohl viele nach dem Personalausweis Deutsche sind. Diese „Heimatlosigkeit“ ist ein Verlust von elementarer Bedeutung. Im Alter versuchen einige zwischen den Kontinenten zu pendeln. Viele besitzen „Alterssitz“ oder „Ferienwohnungen“ in Indien und fliegen hin und her zwischen Deutschland und Indien. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man leben wird, wenn man nicht mehr reisefähig ist, wird noch erfolgreich verdrängt. Viele Familien haben Hab´ und Gut in Indien und manche investieren immer noch weiter dort. Die Frage bleibt auch hier offen, was mit diesen Besitztümern nach der Zeit der Eltern geschehen soll. Können in Deutschland aufgewachsene Kinder mit dem Besitz ihrer Eltern in Indien etwas Sinnvolles anfangen? Sind sie dieser Aufgabe gewachsen? Kommen sie mit den geschriebenen und ungeschriebenen Gesetzen und der Bürokratie, mit der Mentalität und evtl. mit den Besitzansprüchen der Verwandtschaft in Indien zurecht? Fragen über Fragen, auf die niemand abschließend antworten kann. Dennoch können viele von uns erhobenen Hauptes versichern, dass wir uns gebotene Chancen aufgegriffen und genützt haben und unser Mögliches getan haben für uns selbst, für unsere Kinder, indem wir ihnen eine sicherere und sorgenfreiere Zukunft ermöglichen, aber auch unser Mögliches getan haben für unsere Familien in Indien und dadurch dem Land genutzt haben. Abschließend sei bemerkt, dass durch die Globalisierung manche deutsche Firmen vorzugsweise Mitarbeiter mit indischem Migrationshintergrund nach Indien schicken, um dort die Märkte für sie zu erobern. Einige dieser Fachkräfte aus der zweiten Generation haben mit ihren Familien in den gehobeneren Stadtteilen der Industriemetropolen Wohnungen bezogen. Es ist nur zu hoffen, dass dieser Trend anhalten wird und die Generation unserer Kinder es schaffen wird – was uns nicht gelungen ist –, nämlich Brücken zwischen Europa und Indien zu bauen und frei zu wählen, wo sie leben und arbeiten will. j haben keine Schule oder nur eine Grundschule. Die Jugendlichen in den Dörfern haben deshalb wenige Möglichkeiten für Weiterbildung. Nach dem Besuch der Grundschule müssen sie leider mit dem Lernen aufhören. Für die Jugendlichen und Erwachsenen unterhält Chest Abendschulen und Alphabetisierungszentren in den Dörfern. Für die Jungen wird Berufsausbildung als Techniker, Elektriker, Schweißer etc. und für die Mädchen als Krankenschwester, Grundschullehrerin etc. angeboten. Chest unterhält auch Internate für die Schüler/Schülerinnen und Auszubildende. Zur Zeit existieren zwei Häuser für die Jungen (Martinushaus und Chavara Nivas) und zwei Häuser für die Mädchen (Ursulaheim und Franziskushaus). Insgesamt wohnen dort 180 Kinder. Die Finanzierung des Projekts erfolgt vornehmlich durch Spenden. Projekt Kinder-Erziehung für soziale Veränderung Pater Jerome Cherussery CMI, der langjährige Seelsorger für Inder in Deutschland, kehrte vor fast 25 Jahren nach Kerala, Indien, zurück. Er übernahm dann viele verantwortliche Aufgaben im Rahmen des Engagements seines Ordens im Bildungsund Sozialbereich und führte sie erfolgreich durch. Seit ein paar Jahren arbeitet er in einem Missionsgebiet namens Dhule im Bundesstaat Maharashtra. Dort ist er tätig im Rahmen eines Projektes namens C H E S T (Child Education for Social Transformation, „Kinder-Erziehung zur sozialen Veränderung“). Chest ist ein eingetragener Verein. Der Verein ist auf die Alphabetisierung der Dorfbevölkerung und die Abschaffung von Kinderarbeit fokussiert. Viele Dörfer 34 meine welt 2/2011 Kontaktadresse: Pater Jerome Cherussery CMI, CMI Ashram, New Station Road, 424001 Dhule, Maharashtra, India oder Pater Pauly Perepaden CMI, Burg-str.45, 53177 Bonn, Tel:0228-3867409 i Erz ä h l u n g i Ein Tag aus dem Leben von Schw. Deenamma E dward N azareth Ein Vogelkonzert weckte Deenamma aus dem Schlaf. Sie blieb eine Weile im Bett sitzen, dann ging sie zum Fenster, zog die Gardinen zur Seite und schaute in den Garten draußen. Der Kirschbaum stand da mit seinen herrlichen Blüten, gebadet in der Sonne. Für einige Minuten stand sie da wie fixiert, ihre Augen konnte sie nicht wegnehmen. Als sie dann zum Bett zurückging mit der Absicht, noch ein bisschen zu schlafen, sah sie den Wecker auf dem Nachttisch. „Mein Gott, ist es so spät?“ sagte sie, „warum hat Mathachan mich nicht geweckt? Normalerweise weckt er mich, wenn er um halb Fünf zur Arbeit geht!“ Sie eilte zum Badezimmer für die Morgentoilette. Dabei fühlte sie sich schwindelig, vielleicht weil sie schnell ging. Sie lehnte sich an die Badezimmertür und atmete tief ein und aus. Nach einigen Sekunden fühlte sie sich besser. Das Schwindelgefühl war verschwunden. Zu sich selbst sprechend brachte sie das Toilettenritual schnell hinter sich. „Wieder habe ich Schwindel. Es wird bald sechs Uhr“, sagte sie zu sich, „und um 6.30 Uhr muss ich anfangen zu arbeiten!“. Zurück im Zimmer, öffnete sie den Schrank und suchte nach der Arbeitskleidung. Sie fand sie nicht. „Ich sehe die Uniform nicht“, klagte sie „Wer hat sie weggenommen? Lass Mathachan nach der Arbeit zurückkommen. Ich hatte ihm wiederholt gesagt, dass er seine Finger nicht auf meine Kleider legen soll.“ Nach langem Suchen im Schrank fand sie endlich ihre Schwesterntracht. Blitzschnell zog sie sie an. Dann schaute sie auf die Uhr. „Keine Zeit mehr, um zu frühstücken. Es ist besser, dass ich sofort gehe.“ Deenamma zog eine Strickjacke über die Uniform und ging schnell zum Krankenhaus. Sie wohnte nicht weit entfernt vom Krankenhaus in ihrem eigenen Haus. In 10 Minuten war sie da. In schnellem Tempo ging sie zur Station. Dort fand sie Edward Nazareth lebt seit fast 40 Jahren in Deutschland und arbeitet im pflegerischen Bereich. Als Hobby schreibt er Erzählungen, basiert auf Erfahrungen als Migrant in Deutschland, in seiner Muttersprache Malayalam. Er hat bereits zwei Erzählsammlungen veröffentlicht. Ein paar seiner Erzählungen sind schon in deutscher Übersetzung in MEINE WELT erschienen. Die vorliegende Erzählung ist vom Autor mit Unterstützung von Jose Punnamparambil ins Deutsche übertragen. zu ihrem Erstaunen ihre Arbeitskollegen und Kolleginnen beim Kaffeetrinken und miteinander Reden. „Was ist hier los?“, sagte sie etwas irritiert. „Wisst ihr nicht, wie spät es ist? So lange ich hier die Verantwortung als Stationsschwester trage, geht so was nicht. Bitte steht sofort auf und fangt an zu arbeiten.“ Daraufhin lachten alle laut im Chor. Deenamma konnte ihren Ohren nicht glauben. Sie schaute die Kollegen und Kolleginnen genau an. Kein Gesicht kam ihr bekannt vor. Sie strengte sich an. Ist sie auf der falschen Station? Nein, das kann nicht sein. Endlich konnte sie ein Gesicht erkennen, das von Ruth! Schw. Ruth stand auf, kam zu ihr und sagte freundlich. „Hallo Schwester Deenamma, guten Morgen! Bist du wieder da? Warum? Du bist schon im Ruhestand. Warum musst du noch arbeiten? Du kannst dich jetzt ausruhen.“ Deenamma wurde es wieder schwindelig. Schwankend setzte sie sich auf einen Stuhl. Sie konnte aber genau hören, was Schw. Ruth den anderen erzählte: „Letztes Mal, als Deenamma wie heute kam, hatte ich ihre Tochter angerufen und ihr gesagt, dass sie im Fall ihrer Mutter bald eine Entscheidung treffen muss. Seit 5 Jahren ist sie schon Rentnerin. Der Mann ist bereits vor einem Jahr an einem Herzinfarkt gestorben. Danach hat sich alles bei ihr verschlimmert. Ihr Verhalten zeigt Anfänge von Demenz, und sie wohnt ganz alleine. Einen Sohn und eine Tochter hat sie, aber sie leben in Großstädten weit entfernt von ihr. Beide brauchen mindesten 2 Stunden, um hierher zu reisen. Sie sollten endlich zu der Entscheidung kommt, Schw. Deenamma in einem Altenheim unterzubringen. In der letzten Zeit kommt sie häufiger früh morgens hierher, um zu arbeiten. 30 Jahre hat sie hier gearbeitet, davon die letzten 10 Jahre als Stationsschwester. Sie hat hart gearbeitet, mit Leib und Seele war sie dabei. Und seht, welches Schicksal ihr jetzt droht! Auf jeden Fall wird sie uns langsam ein Problem. Passt auf sie auf, ich versuche jetzt, ihre Tochter anzurufen.“ Deenamma saß da, stillschweigend. Ihr flossen die Tränen. Noch einmal was falsch gemacht! Konnte sich nicht erinnern, dass sie schon im Ruhestand ist. Das letzte Mal kam die Tochter und schimpfte sie reichlich aus. Sie wollte Deenamma sofort in ein Altenheim einliefern. Der Sohn aber war dagegen. Sie soll noch eine Weile zu Hause bleiben, hatte er damals gesagt. Und nun, was wird passieren, wenn die Tochter kommt? Weinend ging Deenamma zurück nach Hause. Sie machte die Tür auf und setzte sich auf den Sessel im Wohnzimmer. Sie betrachtete das Foto von Mathachan im meine welt 2/2011 35 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d Regal. Es war ein Farbfoto, aufgenommen zwei Jahre nach ihrer Hochzeit. Daneben war noch ein Foto mit zwei Kindern acht Jahre nach ihrer Hochzeit. Am Ende der Reihe war ein Porträt-Foto von Mathachan. Bitterlich weinend fing sie an zu klagen: „Mein Mathachan, warum hast du mich alleine gelassen und bist weggegangen? Schau mal her, ich bin jetzt eine Verrückte! Du hattest immer gesagt, dass ich niemals in ein Altenheim komme. Und dann hast du mich alleine gelassen und bist weggegangen. Im Ruhestand werden wir das Leben richtig genießen, hattest du mir versprochen. Und dann hast du mich verlassen! Du liebt mich nicht, deshalb bist du fort.“ In der letzten Zeit saß sie öfter im Sessel und sprach alle ihre Sorgen vor dem Bild von Mathachan aus. Nachdem sie alles ausgesprochen hatte, fühlte sie sich erleichtert und schlief danach ein. In der letzten Zeit kam sie viele Nächte nicht zum Schlafen. Auch kümmerte sie sich wenig um das Essen. Den Tod ihres geliebten Mathachan konnte sie nicht verkraften. Dauerschwin- del und starke Rückenschmerzen machen ihr zu schaffen. Die meiste Zeit verbrachte sie liegend im Wohnzimmersessel. Als die Tochter kam und nach ihr rief, öffnete sie die Augen. Die Tochter fing sofort an zu schimpfen : „Mama, du bist wieder ins Krankenhaus, nicht wahr? Was kann man machen, wenn du wiederholt so was machst. Ich und mein Bruder wollen dich nicht ins Altenheim bringen. Aber wenn du so weitermachst, welche Alternative haben wir dann noch? Wir beide können unsere Jobs nicht aufgeben und bei dir wohnen, um uns um dich zu kümmern. Du schaffst es alleine nicht mehr. Du vergisst auch viel. Isst auch nicht regelmäßig. Es gibt nur einen Ausweg: Du musst in ein Altenheim. Ich habe schon einen Platz in einem guten Altenheim in meiner Nähe reserviert. Dort kann ich dich öfter besuchen und mich um dich kümmern. Was sagst du dazu, Mama?“ Deenamma hörte aufmerksam zu, sagte aber nichts. Sie wusste schon, dass es nichts nutzt, dagegen zu sein, wenn die Tochter schon die Entscheidung getroffen hat. Sie hat ein unheimlich starkes Durchsetzungs- ak t u e l l Indiens Atomkraftwerk gegen die Bevölkerung Die Akteure und das Projekt Der französische Kernkraft-Konzert AREVA, mit 9,5 Milliarden Euro Jahresumsatz der größte Atomkonzern der Welt, baut im Auftrag der staatlichen Nuclear Power Corporation India im Dorf Maban, nahe Jaitapur, Bundesstaat Maharashtra, einen Druckwasserreaktor (RPR). Jaitapur liegt etwa 300 Kilometer südlich der Millionenstadt Mumbai an der Arabischen See. Indien will zur ökonomischen Großmacht aufsteigen, benötigt dafür aber entsprechend viel Energie. Bis 2032 soll die Kernkraftwerkleistung von derzeit knapp fünf auf rund 64 Gigawatt steigen. Derzeit betreibt Indien landesweit 20 Reaktoren und gehört damit schon jetzt zu den sechs größten Atomenergie-Nationen. 36 meine welt 2/2011 Der Widerstand der Bevölkerung Die Menschen der Region sind davon überzeugt, dass das AKW nichts mit ihren Bedürfnissen zu tun hat und überdies ein nicht vertretbares Risiko darstellt. Sie befürchten, dass die Gefahr von radioaktiven Emissionen bereits im Normalbetrieb besteht und ein katastrophaler Atomunfall wie in Fukushima nicht auszuschließen ist. Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung lehnt die Entschädigungsangebote der Regierung für ihr Land ab, obwohl die Summe inzwischen auf umgerechnet 40.000 Euro pro Hektar versiebenfacht wurde. Am 18. April 2011 wurde ein Fischer während einer Demonstration von Polizeikräften erschossen, acht weitere Menschen verletzt. Ende April meldete sich Erzbischof Alwyn Barreto von Sindhudurg zu Wort: „Wir wollen nicht, dass in Indien ein Desaster wie in Tschernobyl geschieht oder sich eine Krise wie in Fukushima ereignet.“ (Quelle: Kontinente, Juli-August 2011) i vermögen! Der Sohn ist anders. Er liebt Mama sehr und kann nicht zusehen, wenn Mama traurig wird. Aber es ist ziemlich sicher, dass die Beiden sich beraten und die Entscheidung zusammen getroffen haben. Vielleicht haben sie auch recht. In diesem Land haben die Kinder keine Zeit, sich um die alt werdenden Eltern zu kümmern. Wenn die Eltern nicht in der Lage sind, sich selbst zu versorgen, gehören sie in ein Altenheim! Ich werde den Rest des Lebens in einem Heim verbringen. Deenamma weiß schon, wie der Alltag in einem Altenheim sein wird. Eine Bekannte, die in einem Heim wohnt, hatte ihr das alles erzählt. Man kann nicht so lange schlafen oder so spät aufstehen, wie man will. Da kommen Pflegekräfte in weißer Uniform früh morgens und machen das Licht an. Man wird einfach geweckt. Die warme Decke wird weggenommen und das Nachthemd ausgezogen. Ein lauwarmer Waschlappen wandert vom Gesicht zum Fuß und dann wird schnell abgetrocknet. Dabei schaut die Schwester oder der Pfleger ständig auf die Uhr. Schnell wird man mit dem, was zur Hand ist, angezogen. Dann wird man in das Zimmer gebracht, in dem die anderen Alten sitzen. „Guten Morgen“, werden einige mechanisch sagen, einige sitzen still und gucken geradeaus und einige dösen friedlich. Um 8.30 Uhr ist Frühstück, um 12.00 Uhr Mittagessen und um 18.30 Uhr das Abendbrot. Um 19.30 Uhr geht man dann ins Bett. Deenamma war trostlos traurig, als sie sich so ein Leben vorstellte. Die Einengung des ganzen Lebens auf das Schlafzimmer und den Speisesaal! Und das ewige Schauen durch das Fenster voll Sehnscht nach den Kindern, Verwandten oder Freunden!! Lieber Gott, lass mich dort nicht lange bleiben, betete Deenamma heimlich. Lass mich schnell dorthin bringen, wo Mathachan verweilt. Sie schaute wieder das Foto von Mathachan an und klagte: Du Räuber, du hast dich rechtzeitig gerettet. Eigentlich hast du mich reingelegt, indem du in meiner Anwesenheit den Kindern nahegelegt hattest, mich niemals in ein Altenheim zu bringen. Jetzt wartet die Tochter auf mich, um mich in das Altenheim zu fahren. Also fahre ich halt mit, habe ich eine andere Wahl? j i I n t e rvi e w Ak t u e l l i „Die Inderinnen suchten Gesellschaft und waren immer zuvorkommender und fröhlicher“ S chw . U te N edden Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts kamen ca. 60 junge Mädchen aus dem südindischen Bundesstaat Kerala nach Bonn, um in den Universitätskliniken als Krankenschwester ausgebildet zu werden. Sie kamen im Rahmen einer Vereinbarung zwischen Pfarrer Hubert Debatin von Baden und Herrn Schäfermeier, Verwaltungsdirektor der Uni-Kliniken in BonnVenusberg. Pfarrer Debatin hatte mit Erzbischof Mar Gregorius der Syromalankararitus der katholischen Kirche in Kerala ein Projekt konzipiert, bei dem junge Mädchen aus christilichen Familien zur Ausbildung im krankenpflegerischen Bereich nach Deutschland gebracht werden. Diese Mädchen bekommen eine 3-jährige Ausbildung in verschiedenen Krankenhäusern/Kliniken in Deutschland. Später sollten sie alle in eine Schwesterngemeinschaft namens „Nirmala Schwestern“ eingebunden werden. Nach der Ausbildung werden sie nach Indien zurückkehren oder hier bleiben, wie die Einzelne dies entscheidet oder die Situation dies erlaubt. Die Idee war, dem wachsenden Mangel an Pflegekräften in deutschen Krankenhäusern auf diese Weise konstruktiv zu begegnen und den indischen Mädchen die Chancen einer Berufsausbildung anzubieten, was eventuell zur Verbesserung der Lebensbedingungen ihrer Familien und Verwandten in Indien führen wird. In dem mit dem Deutschen Roten Kreuz vereinbarten Vertrag stand, dass die Inderinnen für 5 Jahre nach Deutschland kommen, davon wurde ein Jahr als Vorschulzeit betrachtet, drei Jahre für die Ausbildung und ein Schw. Ute Nedden im Gespräch mit indischen Krankenpflegeschülerinnen 1966-1967. Jahr für die Tätigkeit als ausgebildete Krankenschwester. Eine andere Vertragsbedingung war, dass die Mädchen in Gruppen zusammenbleiben und eine Schwester zur Betreuung erhalten. Die Rote Kreuz- Schwester Ute Nedden übernahm damals die Verantwortung für die Betreuung der Inderinnen. Nach der Ausbildung blieben die meisten dieser Inderinnen viele Jahre als Krankenschwester in den Kliniken, und während dieser Zeit war Schw. Ute Nedden als Oberschwester ihre beliebte Bezugperson. Heute lebt Schw. Nedden im Ruhestand in Bonn. Ich traf sie Anfang August in ihrer Wohnung im Roten Kreuz Komplex, Bonn, und führte das folgende Gespräch. J ose P unnamparambil Meine Welt: Die meisten der indischen Krankenpflegeschülerinnen kamen nach Deutschland in den 60er und Anfang der 70er Jahren des letzten Jahrhunderts. In den Universitätskliniken auf dem Venusberg, Bonn, gab es damals eine große Gruppe von fast 60 indischen Schülerinnen. Als Rote Kreuz Schwester waren Sie damals die Betreuerin dieser Personengruppe. Welche Erinnerungen haben Sie aus dieser Zeit? Wie verlief das Einleben indischer Schülerinnen in einer total fremden deutschen Umgebung? Schw. Nedden: Das war eine Zeit, in der kaum Ausländer da waren. Für die Deutschen machten die andersartigen indischen Mädchen ein faszinierendes Bild. Mit ihrer enormen Ausstrahlung gewannen sie die Herzen aller sehr schnell. Für die Mädchen war alles total fremd. Vieles verstanden sie nicht, vieles passte nicht zu ihrer Einstellung. Dass sie in der Vorschulzeit meine welt 2/2011 37 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d Eine Schülerin im Dienst. nur putzen und ähnliche manuelle Arbeit leisten müssen, war für sie sehr schwer zu verstehen. Sie konnten nicht glauben, dass der hochangesehene Verwaltungsdirektor der Kliniken zusammen mit seiner Frau im Garten arbeitet! Die Kommunikation mit den Deutschen war auch schwierig wegen fehlender Sprachkenntnisse. Es war mir auffällig, dass sie grelle Farben liebten und alle Sachen sammelten, die für mich Kitsch waren. Sie fühlten sich wohl in Gruppen und vermieden, alleine zu sein. Die koreanischen Schülerinnen waren etwas anders: Sie waren ehrgeiziger und individualistischer. Die Inderinnen suchten Gesellschaft und waren immer zuvorkommender und fröhlicher. Der Chefarzt der Psychiatrie sagte immer: Schicken Sie die Inderinnen zu den Patienten in der Psychiatrie, sie werden schnell ruhiger. Ich war sehr beeindruckt von ihrer Gastfreundschaft. Bischöfe und Priester kamen aus Indien auf Besuch und wurden von ihnen herzlich empfangen und bewirtet. Ich kann Ihnen sagen, dass ich von den indischen Mädchen sehr viel gelernt habe. Meine Welt: Später heirateten viele dieser Schülerinnen in ihrer Heimat Kerala und brachten ihre Ehemänner mit nach Deutschland. Welche Probleme hatte dieser Personenkreis bei der Gründung einer Familie in Deutschland? 38 meine welt 2/2011 Schw. Nedden: Ja, die meisten dieser Schülerinnen sind nach der Ausbildung in Deutschland geblieben. Einige gingen zurück nach Indien, einige wenige heirateten Deutsche. Aber die meisten gingen nach Kerala und heirateten dort Männer, die bereits einen Beruf hatten. Als die Ehemänner nach Deutschland kamen, mussten sie zu Hause bleiben, da sie für vier Jahre keine Arbeitserlaubnis bekamen. Die meisten dieser Ehemänner waren nicht geneigt, eine Krankenpflegeausbildung zu machen. Sie kümmerten sich aber um die Kinder und den Haushalt. Die Mütter haben das Geld verdient. Einige Familien brachten die Kinder nach Indien und haben sie dort eingeschult. In solchen Fällen wuchsen die Kinder meist im Internat auf. Ich war erstaunt darüber, mit wie viel Einsatz die indischen Eltern sich darum bemüht haben, den Kindern eine gute Schulbildung und später ein akademisches Studium zu ermöglichen. So sind viele Kinder der damaligen Krankenpflegeschülerinnen heute Ärzte, Ingenieure, Betriebswirte etc. etc. Meine Welt: Waren nach Ihrer Meinung die Inderinnen ausreichend vorbereitet, um eine pflegerische Tätigkeit in Deutschland zu übernehmen? Schw. Nedden: Für die Mädchen war alles total fremd in Deutschland. Ihre Deutschkenntnis war auch sehr dürftig. Sie hatten eigentlich keine Vorbereitung in Indien auf diesen Einsatz in Deutschland bekommen. Die Situation war fast katastrophal. Dann übernahmen die deutschen Rote Kreuz Schwestern die Verantwortung für ihre Betreuung. Meine Welt: Warum zögern die Krankenhäuser in Deutschland, trotz großen Bedarfs an Pflegekräften, indische Kran- i kenschwestern hierher zu holen? Schw. Nedden: Die Universitätskliniken in Bonn haben großen Bedarf an Pflegekräften, und sie würden gerne indische Krankenschwestern einstellen, da ihre Erfahrungen mit ihnen sehr positiv waren. Leider haben wir seit 1973 einen Anwerbestopp und dieser besteht immer noch. Meine Welt: Welche Bilanz ziehen Sie heute über den Einsatz indischer Krankenpflegekräfte in Deutschland? Schw. Nedden: Die Inderinnen haben gute Dienste geleistet. Ihre Art und Weise, mit Patienten umzugehen, war hoch geschätzt. Sie waren nicht sehr geneigt, höhere Tätigkeiten wie Stationsschwester etc. zu übernehmen. Die Zeit damals war eine total andere. Ausländer waren sehr selten in den Kliniken und ihrer Umgebung. Wir haben mit den indischen Schwestern keine negativen Erfahrungen gemacht. Die Deutschen haben von ihrer Anwesenheit sehr profitiert. Heute sind sie alle hier total integriert. Fast alle ihre Kinder haben eine akademische Laufbahn. Mit Kindern, Enkelkindern und Kirchengemeinden führen sie heute ein Leben im Ruhestand. j Essensmüll – unfassbar! Während eine Milliarde Menschen hungern, landen in den entwickelten Ländern Lebensmittel, die noch genießbar sind, in großem Maßstab im Abfall. Vom Essensmüll der USA und Europas könnten die Hungernden der Erde siebenmal satt werden. Die 80 Kilogramm, die der durchschnittliche Deutsche jährlich wegwirft, haben einen Wert von über 300 Euro. 30 Prozent der verpackten Lebensmittel werden gar nicht erst geöffnet. Die meisten Verbraucher missverstehen auch das Mindesthaltbarkeitsdatum auf der Packung: Anders als das Verbrauchsdatum etwa auf Fleischprodukten sagt es nichts darüber aus, ob das Lebensmittel noch genießbar ist. (Quelle: DIE ZEIT, 15.9.2011) i I n t e rvi e w Ak t u e l l i 50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland Migrationshintergründe – Anfangsschwierigkeiten – Familiengründung und Integration ... eine Bilanz Die ersten Pflegeschülerinnen und bereits ausgebildeten Krankenschwestern kamen Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts aus Indien nach Deutschland. Nachdem die Bundesregierung 1973 einen Anwerbestopp für Pflegekräfte aus asiatischen Ländern verhängte, kamen nur noch wenige aus Indien, um hier als Pfleger oder Pflegerin ausgebildet zu werden. Die meisten der indischen Pflegekräfte sind heute bereits im Ruhestand oder am Ende ihres Berufslebens. Es ist deshalb Zeit, auf die vergangenen Jahre zurückzublicken und Bilanz zu ziehen. Aus diesem Anlass haben wir einige der hier lebenden indischen Krankenschwestern/Krankenpfleger über ihre Anfangs- und Eingliederungserfahrungen, über ihr Berufs- und Familienleben und über das, was sie in den Jahren des Migrantendaseins in Deutschland erreicht haben, gefragt. Ihre Antworten drucken wir nachfolgend unverkürzt ab. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil. D ie R edaktion Meine Welt: Unter welchen Umständen kamst du nach Deutschland, um hier als Krankenpfleger/Krankenpflegerin zu arbeiten oder eine Krankenpflegeausbildung zu absolvieren? Beschreibe deine Beweggründe. Welche Erinnerungen hast du heute an die Anfangszeit? Ciciliamma Thundiyil: Mein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann in Kallara, einem Dorf nicht weit von Kottayam in Kerala. Wir waren sieben Kinder, sechs Mädchen und ein Junge. Ich war das jüngste Kind und hatte dadurch anders als meine Schwestern, die früh heirateten, die Möglichkeit, eine umfassende Schulausbildung zu erhalten. Als mein Vater sich aus dem Geschäftsleben zurückzog und die Verantwortung an den einzigen Sohn weitergab, entwickelte sich das Geschäft schlecht. Als ich am Ende meiner Collegeausbildung in Indien stand, hatte sich die finanzielle Situation der Familie extrem verschlechtert und auch die Möglichkeiten, mit meiner Ausbildung genügend Geld in Indien zu verdienen, waren schlecht. Daher riet mir mein Onkel, der als katholischer Priester in Deutschland lebte, ihm nach meinem Collegeabschluss zu folgen. In Deutschland würde ich die Möglichkeit erhalten, eine Ausbildung als Krankenschwester zu machen und auch einige weitere Jahre in Deutschland zu arbeiten. Sowohl der Wunsch, selber Geld zu verdienen und meine Familie in Indien finanziell unterstützen zu können, als auch der Ruf Deutschlands als Land der klugen Köpfe ließen in mir den Entschluss reifen, dem Rat meines Onkels zu folgen, ohne genau zu überlegen, was es bedeutet, die Familie und Heimat zu verlassen und in ein anderes Land mit einer sehr anderen Kultur auszuwandern. Mercy Thadathil: Ich war ein naives und schüchternes Mädchen, das behütet in Kerala aufgewachsen ist und nicht mal im Geringsten daran gedacht hat, irgendwann alleine in ein ganz fremdes Land zu ziehen, das später meine neue Heimat wird. Aber es kam in meinem Leben immer alles anders, als ich es mir vorgestellt habe, und immer wendete es sich zum Guten! Ich bin in Mookanoor (Angamaly) als viertes von neun Kindern geboren und dort zur Schule gegangen. Ich habe Geschichte und Englisch am Sree Sankara College Kalady studiert. 1972, nach meiner letzten Klausur, habe ich direkt eine Stelle als Referendarin an einer High School in Thripunithara bekommen. Lehrerin zu sein war mein Traumberuf, und ich freute mich über das unerwartet schnelle Angebot sehr. Hier verstand ich schon, dass Gott immer was für mich bereit hielt. So fing ich mit 20 Jahren zu unterrichten an und mochte die neue Stadt sehr. Jeden Tag wurde ich von den schönen Gebetschören aus den hinduistischen Tempeln geweckt. Als das Schuljahr beendet war, holte mich mein Vater ab und er fragte mich am selben Abend, ob ich nicht nach Deutschland wolle. Meine älteste Schwester Leelamma lebte schon in Deutschland, meine jüngere Schwester Sheela sollte ihr folgen. Mein Vater arrangierte ein Visum für sie, erst da erfuhr er, dass man mindestens 18 Jahre sein muss, um eine Ausbildung in Deutschland anzufangen, und Sheela war erst 15. Da mein Vater schon alle Vorbereitungen getroffen hatte und auch schon das Geld für den Flug etc. zusammen hatte, wollte er gern eine andere Tochter nach Deutschland schicken. Meine anderen beiden älteren Schwestern waren Ordensschwestern und lebten in Klöstern, also kam nur noch ich in Frage. Naja, ich wollte erst nicht so recht, denn ich war mit meinem Leben hier zufrieden. Deutschland kannte ich von den Geschichtsbüchern als Land, welches die Weltkriege begonnen hat und in dem Hitleranhänger lebten. Aber Leelamma hatte uns auch Bilder geschickt, auf denen ein anderes Deutschland zu sehen war. Im Sommer stand sie vor einem paradiesisch schönen Blumenteppich und im Winter in einer traumhaften Schneelandschaft. Zwar sah sie in meinen Augen lustig verkleidet wie ein Astronaut aus, aber die Bilder faszinierten mich. (Später stellt sich heraus, dass das Astronautenkostüm ein meine welt 2/2011 39 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d Schneeanzug ist, den ich später bei dem Schnee im Sauerland noch oft benutzt habe.) Da dachte ich: Gut, nutze ich die Chance, um ein neues Land und die Kultur dort kennen zu lernen. Es soll ja auch ein Wirtschaftswunderland sein. So landete ich im November 1973 auf deutschem Boden. Zuerst zog ich zu meiner Schwester nach Meschede, aber wir konnten nur zwei Monat zusammen bleiben, danach bekam sie eine Anstellung in Düsseldorf und zog weg. Sie hat mich aber gut vorbereitet und mich mit allem vertraut gemacht. Sie hatte mir auch ein Buch geschenkt „German made simple“, das wurde zu meiner Bibel, mit der ich Deutsch lernte. Ich blieb auch nicht lange allein. Es kamen noch drei weitere Krankenschwesterschülerinnen, Ammini, Molly und Baby aus Kerala in meine Ausbildungsschule in Meschede. Wir lebten zusammen und machten alles gemeinsam: lernen, arbeiten, kochen, feiern, einfach alles. Ich erinnere mich mit Freuden an die Zeiten zurück. Es war eine sehr schöne und aufregende Zeit mit vielen neuen Freunden, neuen Herausforderungen und kleinen Touren in Europa. Immer waren wir eine große Truppe Mädels aus Kerala in unseren Saris, weit und breit war keine Spur von Ausländerfeindlichkeit und Missachtung uns gegenüber zu spüren. Im Gegenteil, alle waren sehr freundlich und zuvorkommend. Fredeena Nazareth: Ich bin Fredeena Nazareth (geb. Janappan) und kam nach Deutschland im Jahr 1965. Meine Eltern Janappan and Grace hatten vier Kinder und ich war das zweite Kind. Ich hatte zwei Schwestern und einen Bruder. Als ich mein 11. Schuljahr abgeschlossen hatte, hörte ich, dass der Bischof von Kollam, Kerala, einige junge Mädchen zur Ausbildung als Krankenschwester nach Deutschland schicken möchte. So habe ich mich dafür beworben. Er hatte bereits drei solche Gruppen nach Deutschland geschickt. Ich wurde in die 4. Gruppe aufgenommen. Wir waren in der Gruppe 10 Mädchen und bekamen vor der Abreise 10 Monate lang Deuschunterricht. Die Priester P. Thekkevila und P. Kayavil haben uns deutsche Grammatik und 5.000 deutsche Wörter beigebracht. 40 meine welt 2/2011 i dazu noch sehr strenge Nonnen! Eine einzige Person im Speisesaal war sehr nett zu uns, sie war wie eine Mutter. Sie hieß Frau Jembusch. Als sie gesehen hat, dass wir das Essen auf dem Tisch nicht essen konnten, hat sie heimlich für uns Bratkartoffeln und Rührei gemacht. Dafür waren wir ihr sehr dankbar. Von dieser Zeit haben wir nur schlechte Erinnerungen. Die zuständigen Ordenschwestern waren generell sehr streng, aber zwischenzeitlich, je nach ihrer Laune, sehr nett und lieb. Uns war nicht erlaubt, ohne Begleitung der zuständigen Nonnen alleine auf die Straße zu gehen. Ciciliamma Thundiyil: Geboren in Kallara, Kerala, Indien. Nach Ausbildung als Grund schullehrerin in Indien kam sie 1968 nach Deutschland. Ausbildung zur Krankenschwester. Weiterbildung als Stationsleiterin. Verheiratet mit James Thundiyil. Drei Kinder. Damit konnten wir uns einigermaßen auf Deutsch verständigen.Trotzdem war es uns nicht leicht, die Sprache in Deutschland weiter zu vervollkommen. Das erste halbe Jahr waren wir Vorschülerinnen, gleichzeitig lernten wir auch die deutsche Sprache. Er war nicht leicht für uns, während der Vorschülerinnenzeit alles mitzumachen. Normalerweise heißt Vorschule Vorbereitung für die Ausbildung, aber in unserem Fall war es nicht so. Wir hatten die schwerste und niedrigste Arbeit zu erledigen. Wir mussten den ganzen Tag die Toilette sauber mache, den Flur putzen etc. Die Anordnungen kamen von den Nonnen, die für uns zuständig waren. Nach der Arbeit saßen wir irgendwo zusammen und haben uns ausgeweint, eine hat die andere getröstet. Die Nonnen waren sehr streng mit uns. Alles Essen auf dem Tisch mussten wir aufessen, sonst gab es Ärger und Strafe. Der Käse und die Wurst auf dem Tisch verbreiteten einen Gestank, den wir nicht ertragen konnten. Zum ersten Mal im Leben waren wir in einem fremden Land, in einer fremden Umgebung mit fremden Menschen und mussten Dinge essen, die uns total fremd waren. Und Elsy Vadakkunchary: Im Jahre 1969 habe ich meinen Schulabschluss namens S.S.L.C. gemacht, und dann erhob sich die Frage: Was mache ich weiter? Zu der Zeit arbeitete meine Tante – eine Ordensschwester – in Deutschland als Krankenschwester. Ich dachte, dass die Krankenpflege auch gut für mich sei. Als meine Tante dies hörte, schlug sie vor, dass sie für mich einen Ausbildungsplatz in Deutschland besorgt. Zunächst war mein Vater gegen diese Idee. Er hatte zwei Gründe dagegen. Erstens war Deutschland weit weg von der Heimat und er wollte mich nicht so weit weg schicken. Zweitens hatte der Beruf der Krankenpflege zur damaligen Zeit keinen besonders guten Ruf. Meine Tante hat ihn überredet, und zum Schluss war er auch einverstanden. Den Ausbildungsplatz in der Krankenpflege habe ich in Saarbrücken erhalten.Anreisen konnte ich jedoch noch nicht, weil ich keine 18 Jahre alt war. Die Wartezeit habe ich mit einem Deutschkurs in einem Kloster in Aluva (Kerala) überbrückt. Dort war eine Ordensschwester, die einige Jahre in Deutschland gearbeitet hatte und dann nach Indien zurückgekehrt war. Sie brachte mir die Grundkenntnisse der Sprache und allgemeine Verhaltensregeln für Deutschland bei. Endlich war es soweit, ich konnte nach Deutschland reisen. Am 11. Januar 1972 flog ich in Richtung Frankfurt. Ich war ganz allein auf der Reise. Morgens um 8 Uhr sollte der Flug in Deutschland landen. Die Schwester Oberin und zwei weitere Mädchen aus Kerala warteten am Frank- i furter Flughafen auf mich. Wegen starken Schneefalls konnte das Flugzeug nicht in Frankfurt landen und wurde eine Stunde später nach London umgeleitet. Der Anschlussflug von Großbritannien nach Deutschland startete erst um 20 Uhr. Ich konnte niemanden anrufen, Handys gab es auch nicht zu dieser Zeit.Als ich um 22 Uhr in Frankfurt landete, waren die Schwester Oberin und die zwei Mädchen noch da. Mit dem Auto sind wir nach Saarbrücken gefahren. Unterwegs haben die Mädchen erzählt, dass sie von morgens um 8 Uhr bis abends um 22 Uhr am Flughafen gewartet hatten. Als ich abends noch nicht angekommen war, wollte die Schwester Oberin ein Telegramm nach Indien senden mit dem Text „Elsy nicht angekommen“. Als wir in der späten Nacht in Saarbrücken ankamen, aßen wir Reis mit indischem Curry. Das hat mich sehr gefreut. Dort waren auch einige indische Ordensschwestern und die beiden indischen Mädchen. Alle waren sehr nett zu mir. Am nächsten Morgen fuhr die Schwester Oberin mit mir in die Stadt und besorgte westliche Kleidung. Sie kümmerte sich um jede Kleinigkeit, war mir wie eine Mutter. Zwei Tage später habe ich angefangen, in der Volkshochschule einen Deutschkurs zu besuchen. Der Unterricht fand abends statt. Die Schwester Oberin brachte mich immer hin und holte mich anschließend ab. Nach einigen Wochen habe ich ihr gesagt, dass ich alleine mit dem Bus fahren könne. Darauf sagte die Oberin: „In Indien laufen die Mädchen abends draußen auch nicht alleine herum.“ Bereits nach einer Woche fing ich an, als Vorschülerin im Krankenhaus zu arbeiten. Die dortige Stationsschwester war eine indische Ordensschwester. Meine Sprachkenntnisse waren sehr gering. Trotzdem waren die Stationsschwester und die anderen Arbeitskollegen sehr nett und geduldig mit mir. Inzwischen lebe und arbeite ich seit knapp 40 Jahren in Deutschland. Die ersten Tage verbinde ich mit großer Dankbarkeit in meiner Erinnerung. Joseph Kurumundayil: Ende der sechziger Jahre habe ich meinen High SchoolAbschluss absolviert. I n t e rvi e w Ak t u e l l i Mercy Thadathil: Geboren in Mookannoor, Kerala, Indien. Bachelorstudium für Lehramt in Kerala. Ankunft in Deutschland 1973. Anschließend habe ich mich für ein College Studium in Palai eingeschrieben. Zu der damaligen Zeit hatten die Kinder aus Bauernfamilien es schwer, ein College Studium zu finanzieren und später einen gut bezahlten Job zu bekommen, da entweder eine große Summe als Kaution (Donation) oder einflussreiche Personen nötig waren. Beides war in meinem Fall nicht vorhanden. Jedoch war die katholische Pfarrgemeinde für mich wegweisend. Meine Großtante, die als Ordensschwester tätig war, hatte mich aus unserer Verwandtschaft für eine Krankenpflege- Ausbildung in Deutschland ausgewählt, damit ich dann auch meine Verwandten bei ihren Bildungswünschen unterstützen kann. Mit dieser Aussicht habe ich alles auf eine Karte gesetzt und belegte Deutsch als Zweitsprache während meines Studiums, welches damals am St. Thomas College, Palai, angeboten wurde. Nach zweieinhalb Jahren Bangen und Warten habe ich die Zulassung für die Krankenpflegeausbildung in Deutschland erhalten und mein Visum wurde genehmigt. Meine Anfangszeit in Deutschland war vor allem geprägt durch Heimweh, berechtigte Unsicherheit, Verständigungsprobleme, Hilflosigkeit, Klimaumstellung und Probleme mit den Essgewohnheiten. Meine Welt: War die Krankenpflegeausbildung damals für dich schwer? Waren deine Sprachkenntnisse gut genug, um Lerninhalte zu verstehen und mit den Patienten zu kommunizieren? Ciciliamma: Für mich begann die Zeit in Deutschland mit einem sechsmonatigen Pflegepraktikum, welches ich vor der eigentlichen Ausbildung absolvieren musste. Ich hatte große Schwierigkeiten aufgrund meiner nicht vorhandenen Deutschkenntnisse. Aber sowohl ein Sprachkurs als auch die Kontakte zu Patienten und Kollegen haben mir die deutsche Sprache näher gebracht. 1969 fing ich mit der richtigen Ausbildung zur Krankenschwester an. Dank des vorangegangenen Praktikums fiel es mir nicht sonderlich schwer, den komplexen medizinischen Lehrinhalten zu folgen. Befreundete deutsche Schwesternschülerinnen unterstützen uns mit völliger Selbstverständlichkeit beim Lernen. Und auch die ausbildenden Ärzte und Schulschwestern hatten viel Geduld und nahmen auf unsere lückenhaften Deutschkenntnisse Rücksicht. Mercy: Eigentlich war ich nicht an einer Krankenpflegeausbildung interessiert. Mein Vater hatte mir auch Mut gemacht, Medizin zu studieren. Die Oberin, die ich hier kennen lernte, riet mir, erst eine Ausbildung zu machen und später zu studieren. Da ich nun viele neue Freunde fand, die alle die Ausbildung anfingen, ging ich einfach mit dem Rudel. Ich erinnere mich auch gerne an die lieben und hilfsbereiten Menschen in Meschede zurück, ob es beim Einkaufen war oder bei der Bahnfahrt, überall wurde mir geholfen. Es war zwar ungewohnt kalt im Sauerland, aber die Menschen waren warm und freundlich. Ich denke auch immer noch gern mit Dankbarkeit an unsere Leiterin Schwester Renate zurück. Als die erste Prüfung anstand, kam sie heimlich zu uns und hat uns die Fragen schon durchgegeben. Sie meinte, wir sollten bloß nicht an der Sprache scheitern und die Antworten so gut es geht vorbereiten. Diese Prüfung bestanden als einzig mit der Note „1+“ die vier indischen Schülerinnen. Da wusste Schwester Renate, dass eine so große Hilfe für uns nicht mehr nötig war. Die restlichen Prüfungen bestand ich zwar meine welt 2/2011 41 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d nicht mehr mit 1+, aber ohne Vorsagen mit gutem Abschluss. Ich erinnere mich noch an eine besondere Betriebsfeier. Bei der Damenwahl suchte der Chefarzt unter allen Damen mich aus. Ich fühlte mich wie Cinderella geehrt und akzeptiert. Dass der Chefarzt ausgerechnet eine ausländische Schwesternschülerin zum Tanz aufforderte, fand ich eine tolle Auszeichnung, und es war eine zauberhafte Feier. Ammini und ich waren ganz begeistert von dem Tanzabend und wollten mehr von der deutschen Kultur erfahren. Deshalb nahmen wir Tanzunterricht, welches uns sehr Spaß gemacht hat. Später als mein Mann kam, nahmen wir weiter Tanzunterricht als Paar, sogar in Rock’n’Roll. Die deutschen Tänze und Lieder haben mir immer riesigen Spaß gemacht. Fredeena: Wegen fehlender Sprachkenntnisse war die Krankenpflegeausbildung damals sehr schwer. Es war in der ersten Zeit nicht leicht, die Lerninhalte zu verstehen. Zum Glück bestanden wir alle 10 die Zwischenprüfung. Groß war unsere Freude! Da das schwierigste Jahr vorbei war, haben wir uns entschlossen, fleißig zu lernen, um unser Ziel zu erreichen. Unsere deutschen Kolleginnen waren sehr nett zu uns und haben uns sehr viel geholfen. Mit den Patienten zu kommunizieren war nicht so schwer, da wir dazu die Hände und Füße reichlich benutzt haben. Elsy: Nach acht Monaten in Deutschland, in denen ich als Vorschülerin arbeitete und die Sprachschule besuchte, fing ich die Krankenpflegeausbildung an. Die Sprache fiel mir weiterhin sehr schwer. Ich konnte dem Unterricht kaum folgen. Die Wiederholung des ersten Schuljahrs war unvermeidlich. Im zweiten Jahre fiel mir das erste Jahr etwas leichter. Auch die Kommunikation mit den Patienten hat sich gebessert. Joseph: Obwohl ich zwei Jahre in Indien Deutsch gelernt hatte und zwei Jahre als Praktikant im Krankenhaus gearbeitet habe (als Essensträger in der Verteilerküche), war es aufgrund der Sprachbarrieren schwierig, in der Anfangszeit dem 42 meine welt 2/2011 i auch der innige Kontakt zu den Patienten auf der Strecke blieb. Dennoch habe ich mich weiter um einen engen Kontakt zu den Patienten bemüht. Aber ich habe auch den Eindruck, dass sich die Patienten verändert haben. Die Menschen begegneten mir früher familiärer, neugieriger und offener als in der letzten Zeit meiner beruflichen Karriere. Fredeena Nazareth: Geboren in Kollam, Kerala, Indien. 1965 Ankunft in Deutschland. Krankenschwesterausbildung. Verheiratet mit Edward Nazareth. Drei Kinder, alle verheiratet. Zwei Töchter leben mit Familien in Kerala, Indien, und der Sohn mit Familie in Deutschland. Unterricht zu folgen. Allerdings hatte nicht nur ich, sondern auch die deutschen Kollegen die gleichen Probleme. Ich benötigte ungefähr ein halbes Jahr, um mich einzugewöhnen. Allerdings fiel mir die Kommunikation mit den Patienten etwas leichter, da meine offene, einfühlsame, fleißige (und ich würde behaupten typisch südindische) Art gut ankam. Die Schwierigkeiten haben wahrscheinlich auch an dem schwäbischen Dialekt gelegen. Meine Welt: Wie vergleichst du die berufliche Erfahrung damals mit der von späteren Jahren? Wie hat sich der Umgang mit den Patienten im Laufe der Jahre entwickelt? Ciciliamma: Als ich Anfang der 1970er Jahre mit meiner Ausbildung fertig war, stand der Patient im Mittelpunkt. Es galt, ihn zu pflegen und seinen Bedürfnissen gerecht zu werden. Der innige Kontakt mit den Patienten nahm den meisten Raum bei der Arbeit ein, was mir Freude bereitet hat. Es herrschte eine familiäre Stimmung. Mit der Zeit änderten sich langsam, aber kontinuierlich die Bedingungen. Aufgrund von Personalkürzungen und dem erhöhten Dokumentationsaufwand verdoppelte sich die Arbeit für jeden einzelnen, so dass Mercy: Im Oktober 1977 schloss ich meine Ausbildung ab. Es war eine schwierige Zeit, um eine Anstellung zu finden, denn Deutschland hatte einen Anwerbestopp für Krankenschwestern aus Indien verhängt. Die meisten hatten auch Probleme mit dem Visum und viele gingen wieder zurück. Wieder öffnete sich vor mir ein Weg ohne mein Zutun. Der Bruder eines Patienten war Verwaltungsleiter in Schwelm, Herr Birkenhauer. Er fand mich sehr fleißig und freundlich und bot mir ab sofort eine feste Stelle in Schwelm an. Er kümmerte sich auch um eine Verlängerung meines Visums und um alle weiteren Angelegenheiten. Ammini und ich blieben zusammen, wir gingen beide zum Interview nach Schwelm. Es war damals sehr lustig, da wir mehrere Male die Straße vor dem Marienhospital in Schwelm hin und her liefen und das Krankenhaus trotzdem nicht finden konnten. Das kleine Marienhospital war nicht zu vergleichen mit der großen Klinik in Meschede.Aber die Mitarbeiter hier haben uns herzlich aufgenommen. Man rückte hier etwas enger zusammen und es war sehr familiär. Im Laufe der Jahre fühlte ich mich immer wohler, Deutsch beherrschte ich fließend, das medizinische Wissen saß gut, der Umgang mit den Patienten war sicher. Ich war angekommen! Nach nur 6 Monaten wurde ich zweite Stationsschwester und einige Jahre später Stationsschwester. Auch hier habe ich keine schlechten Erfahrungen in Form von Diskriminierung oder Widerstand erfahren. Das Arbeitsklima im Krankenhaus war sehr schön, ich fühlte mich sehr wohl. Die Patienten waren sehr nett und freundlich und hatten keine hohen Ansprüche. Zudem waren sie für die erbrachten Leistungen sehr dankbar und gaben uns öfter kleine Geschenke als Dankeschön. Wir wurden oft gelobt und sehr unterstützt. i Einmal kam sogar ein Zeitungsjournalist zu uns und befragte uns über unsere Arbeit, aber auch über unser Land, die Küche und Kultur, in der Zeitung war am nächsten Tag ein Bild von uns beim Kochen. Ich war begeistert, dass die Deutschen so begeistert von uns waren. 1980 heiratete ich in Indien. Das war wieder eine unerwartete und plötzliche Angelegenheit, aber das Beste, was mir passieren konnte. Mein Ehemann Jolly fühlte sich in seinem Job als Krankenpfleger hier nicht sehr wohl, was verständlich war, denn er hat einen doppelten Masterabschluss und hat in Indien in der Bank gearbeitet. Er wollte sich nun selbstständig machen und sein eigener Chef sein. Er wollte eine Häusliche Krankenpflege leiten. Auch wenn ich mir am Anfang unsicher war, habe ich ihm vertraut und voll und ganz unterstützt. Es war eine Zeit des Umbruchs, denn unsere jüngste Tochter war gerade geboren. Wir beide kündigten unsere Jobs 1993 gleichzeitig und warteten auf den Anruf von Patienten, die sich von uns zu Hause pflegen lassen wollten. Das war sehr riskant, aber die Anrufe kamen, und zwar in Massen. Am Anfang fuhr ich selbst noch raus und pflegte die Patienten, aber bald schon stellten wir mehrere Schwestern ein und ich arbeitete nur noch im Büro. Später bauten wir Wohnanlagen für Behinderte und Senioren mit betreutem Wohnkonzept. Heute haben wir zwei Niederlassungen für die Häusliche Pflege in Schwelm und Hagen. Außerdem noch vier Wohnanlagen mit ca. 200 alten- und behindertengerechten Wohnungen. Wenn ich heute zurück blicke, weiß ich gar nicht mehr, wann aus mir eine Unternehmerin geworden ist. Es war nicht immer leicht, das Familienleben und den Beruf unter ein Dach zu bringen, besonders ohne Begleitung von Eltern. Aber mein Ehemann hat mich sehr unterstützt, auch im Haushalt und der Kindererziehung. Ein einziges Mal in den ganzen Jahren habe ich eine diskriminierende Erfahrung gemacht. Jemand hat angerufen, weil Pflege benötigt wurde. Als ich zur Erstaufnahme in die Wohnung fuhr und vor der Wohnungstür stand, stockte dem Pflegebedürftigen der Atem, denn mit einer farbigen Chefin hat er nicht gerechnet. Er lehnte I n t e rvi e w Ak t u e l l i Elsy Vadakkumchery: Geboren in Angamaly, Kerala, Indien. 1972 Ankunft in Deutschland. Krankenschwesterausbildung. Weiterbildung als Fachschwester für Anästhesie und Intensivpflege. Verheiratet mit Devis Vadakkumchery. Zwei Töchter, nach dem Studium berufstätig. meine Hilfe höhnisch ab. Das hat mich aber nicht gekümmert. Solche Menschen gibt es überall. Es gibt auch Menschen, die einem die Tür zuschlagen, weil einem die Nase nicht gefällt. Darum haben wir also nicht den Kopf hängen lassen. Fredeena: Wenn ich auf die ersten Berufsjahre zurückblicke, habe ich Anlass zu großer Freude und Zufriedenheit. Die Patienten waren auch damals zufriedener als heute. Natürlich gab es damals auch arrogante und sehr anspruchsvolle Patienten, aber wesentlich weniger als heute. Die indischen Krankenschwestern hatten damals einen guten Ruf. Allerdings war die körperliche Belastung für sie sehr groß. Heute ist alles sehr hektisch: wenig Zeit für die Patienten, alles muss schnell wie am laufenden Band gemacht werden. Mehr als körperliche Pflege brauchen Patienten oft Zuwendung und psychische Hilfe, aber leider gibt es heute dafür keine Zeit. Man braucht mehr Zeit für schriftliche Arbeit als für die Pflege der Kranken. Die Krankenschwestern leben heute unter großem Stress, sie haben wenig Freizeit, weniger Lohn als in anderen Berufen. Deshalb gehen sehr viele weg aus diesem Beruf und lassen sich umschulen. Elsy: Direkt nach meiner Krankenpflegeausbildung habe ich in der AnästhesieAbteilung und in der Intensivstation gearbeitet. Nach 2-jähriger Berufserfahrung absolvierte ich eine Zusatzausbildung als Fachschwester für Anästhesie und Intensivpflege. Während dieser Zeit lernte ich meinen Ehemann kennen, heiratete ihn und zog von Saarbrücken nach Köln. Seit über 30 Jahren arbeite ich nun auf der Intensivstation eines Kölner Krankenhauses. Wenn ich die Zeiten von früher und heute vergleiche, fällt mir auf, dass der Einsatz von technischen Geräten sich erhöht hat. Bereits früher wurden auf der Intensivstation mehr Geräte eingesetzt als auf sonstigen Stationen, heutzutage werden diese allerdings ständig erneuert, so dass wir dazu gezwungen sind, unser technisches Wissen immer wieder zu erweitern. Das Verständnis gegenüber den Patienten hat sich bei mir deutlich verbessert im Vergleich zu den Zeiten meines Berufseinstiegs. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich älter geworden bin und mich besser in ihre Lage versetzten kann. Joseph: Die anfänglichen Ängste, etwas falsch zu machen, wichen durch die zunehmende Erfahrung und ständige Begleitung durch erfahrenes Pflegepersonal. Da ich die sprachlichen Barrieren zunehmend abbauen konnte, wurde auch der Umgang mit den Patienten offener und einfacher. Durch den Wechsel meiner Arbeitsstellen konnte ich meine vorhandenen Fähigkeiten und Fachkenntnisse erweitern und gezielt diverse Fachrichtungen ausprobieren. Meine Welt: Hat es sich gelohnt, nach Deutschland zu kommen und hier als Krankenpfleger/Krankenschwester zu arbeiten? Wenn du eine Bilanz ziehst, wo lag der Gewinn, wo die Verluste? Ciciliamma: Meine Ausbildung habe ich in einem kirchlichen Krankenhaus im Sauerland absolviert und auch dort einige Jahre als Krankenschwester gearbeitet. Da mein Mann begann in Hagen zu studieren, zogen wir 1974 dorthin. Zu Beginn war ich im dortigen Krankenhaus normale Schwester, bereits im zweiten Jahr stieg ich zur stellvertretenden Stationsleiterin auf und wurde nach fünf Jahren Stationsleiterin. meine welt 2/2011 43 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d Dies erreichte ich durch einfache Beförderung ohne eine entsprechende Ausbildung. Da der Caritasverband Paderborn aber zu dieser Zeit für die Stationsschwestern von vier Krankenhäusern einen einjährigen Stationsschwesternkurs durchführte und ich an diesem teilnahm, erhielt ich nachträglich ein Zeugnis als gelernte Stationsschwester. Diese Anerkennung war für mich nach den ersten schweren Jahren in Deutschland sehr wichtig. Ich hatte gelernt, richtig, gewissenhafter und schneller zu arbeiten. Für mich war es eine sehr wichtige Erfahrung zu lernen, mich durchzusetzen, da mir dies sehr schwer gefallen war. Aber gerade die Verantwortung der Tätigkeit als Stationsleitung erforderte dieses Durchsetzungsvermögen. Das ist beruflich eine der wichtigsten persönlichen Errungenschaften für mich. Zusammenfassend kann ich sagen, dass es sich sehr für mich gelohnt hat, nach Deutschland zu kommen. Ich habe meinen Mann in Deutschland kennen gelernt. Wir verdienten ausreichend Geld, um unsere Verwandten und Bekannten in Indien zu unterstützen. Bis heute unterstützen wir ein kleines Leprakrankenhaus in Trivandrum. Wir konnten in Deutschland einen Lebensstandard mit einem eigenen Haus und Auto erreichen, wie es sicher in Indien nicht möglich gewesen wäre. In Deutschland haben unsere drei Kinder eine gute Ausbildung bekommen, alle drei haben studiert und gute Stellen gefunden. Unser ältester Sohn ist Diplom-Volkswirt und Diplom-Ingenieur, unser zweiter Sohn ist Arzt geworden und unsere jüngste Tochter arbeitet seit diesem Jahr als Lehrerin. Alle drei sind hier verwurzelt und gründen ihre eigenen Familien. Ich habe mich durch die Krankenschwesterausbildung persönlich wie auch beruflich weiterentwickelt und entfaltet. Ich habe diese Entscheidung, nach Deutschland gekommen zu sein, nie bereut. Unsere Freundschaften mit Deutschen wie auch Indern möchte ich nicht missen. Dafür habe ich aber einen Preis bezahlt, da ich meine Eltern, wie auch Geschwister nicht stets um mich haben konnte. Trotz der regelmäßigen Besuche alle zwei Jahre haben sie und auch das Land Indien mir immer sehr gefehlt. 44 meine welt 2/2011 i Geschwistern sofort auf den Weg, aber der Weg ist lang. Es war um die Weihnachtszeit und wir hatten keinen Flug vorgebucht. Außerdem war aus irgendeinem Grund mal wieder Streik. Wir hatten es schwer, Tickets zu bekommen. Mit Zwischenstopps und langer Warterei hat unsere Reise 3 Tage gedauert, und als wir endlich ankamen, war es zu spät, um meine Mutter noch lebend zu sehen. Nur an der Beerdigung konnte ich noch teilnehmen. In diesen Momenten habe ich es verflucht, dass ich nicht näher dran war. Aber ich bin stolz, eine Inderin zu sein, die in Deutschland lebt, welches zu meiner Heimat geworden ist und aus mir die Person gemacht hat, die ich heute bin. Joseph Kurumundayil: Geboren in Palai, Kerala, Indien. Ankunft in Deutschland 1974. Krankenpflegeausbildung. Ausbildung als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie. Verheiratet. Zwei Kinder. Mercy: Wenn ich heute Bilanz ziehe, kann ich sicherlich sagen, dass sich der Schritt nach Deutschland gelohnt hat, dass ich dennoch einige Verluste hinnehmen musste. Die Vorteile sind nicht nur finanzieller Gewinn, sondern das Geschenk, dass ich ein weltoffenes, freundliches, höfliches und sauberes Land kennen lernen durfte. Die Deutschen habe ich als sehr hilfsbereite, fleißige und pünktliche Menschen wahrgenommen. Des Weiteren konnte ich viele Städte in Europa besuchen, neue Freunde gewinnen und viele neue Hobbies entdecken. All dies hat meinen eigenen kleinen Horizont erweitert und mich von einem naiven Mädchen zu einer selbstsicheren, abenteuerlustigen und zielorientierten Frau gemacht. Da ich aber so weit weg von meiner Familie lebte, musste ich auch Nachteile in Kauf nehmen, so konnte ich an vielen Familienfesten nicht teilnehmen. Aber noch viel schlimmer war, dass ich nicht in den letzten Tagen meiner Eltern an ihrer Seite sein konnte. Als mein Vater 1990 verstarb, konnte man mich erst später erreichen, und ich schaffte es nicht mehr zur Beerdigung nach Hause zu fliegen, was mich sehr entsetzt hat. Als meine Mutter 1992 in lebensbedrohlichem Zustand ins Krankenhaus eingeliefert wurde, konnte ich rechtzeitig informiert werden. Ich machte mich mit meinen hier lebenden Fredeena: Ich bin gerne nach Deutschland gekommen. Meine erste Motivation war, der Familie zu helfen. Als Kind hatte ich gesehen, wie meine Eltern schwer arbeiteten, um uns, die vier Kinder, in die Schule schicken zu können, uns gutes Essen und gute Kleidung zu geben. Damals entschloss ich mich, meinen Eltern dabei zu helfen, ein besseres Leben zu führen. Wenn ich heute eine Bilanz ziehe, habe ich aus meinem Aufenthalt in Deutschland mehr Gewinn als Verlust. Elsy: Die Möglichkeit, nach Deutschland zu kommen, hier eine Ausbildung zu absolvieren und im Anschluss daran arbeiten zu dürfen, empfinde ich als einen Segen für meine Familie und mich. In erster Linie konnte ich meine Familie in Indien unterstützen. Nach Gründung meiner eigenen Familie konnte ich mir eine eigene Existenz aufbauen. Als Frau in Deutschland arbeiten und leben zu können, gibt mir die Möglichkeit, selbstständiger und unabhängiger zu sein. Gleichzeitig vermisse ich die Nähe zu meinen Eltern, Geschwistern und Verwandten in Indien. Joseph: Es hat sich zweifelsohne gelohnt, nach Deutschland zu kommen. Ich habe die Frau meines Lebens hier kennen gelernt und geheiratet. Ich habe mich sowohl persönlich als auch fachlich weiterentwickeln können und auch verschiedene soziale und kulturelle Interessen verfolgen können. Die Sprache, die deutsche Kultur, i die Bildungsmöglichkeiten in Form von Weiterbildungen wie z.B. Stationsleitungslehrgänge und die Fachweiterbildung in der psychiatrischen Pflege, ein Fernstudium in Theologie usw. waren für mich persönliche enorme Gewinne. Dazu kommen noch die persönlichen Kontakte durch die Bekanntschaften mit Menschen vieler unterschiedlicher Nationen, welche für mich die multikulturelle Gesellschaft ausmachen. Auch den Bezug zur katholischen Kirche und den Glaube an Christus konnte ich in Deutschland weiter vertiefen. Meinen Kindern konnte ich eine bessere Bildung ermöglichen und sie können sich nun für ihre Heimat Deutschland einsetzten und sich in die Gesellschaft einbringen. Aber natürlich gab es auch Verluste, z.B. die Distanz zu meinen Eltern, meiner Familie und eine Entfremdung von der alten Heimat. Meine Welt: Wie hat sich nach deiner Meinung, die Krankenpflege in Deutschland über die Jahre verändert? Ist etwas Wahres an in der Kritik, dass der Patient/ die Patientin nicht mehr im Mittelpunkt der Pflege steht? Ciciliamma: Oben bereits beantwortet. Mercy: Die Pflegesituation in Krankenhäusern hat sich in den letzten 40 Jahren sehr verändert. Früher nahm man sich mehr Zeit und Geduld für die Patienten, es wurde liebevoller und herzlicher mit ihnen umgegangen. Heute gibt es mehr Patienten und weniger Personal. An allen Ecken wird gespart. Auch haben sich die Ansprüche der Patienten im Gegensatz zu früher sehr verändert, heutzutage stellen die Patienten viel höhere Forderungen. Vom Wirtschaftswunderland ist nicht mehr viel übrig. Da wir aber selbstständig sind, versuchen wir zumindest, die Patienten mit der nötigen Zeit, Liebe und dem gebührenden Respekt zu behandeln. Die Pflege im Altenheim hat sich auf Grund der dünner gewordenen Personaldecke drastisch verschlechtert. Darum bin ich auch stolz auf unsere altengerechten und barrierefreien Wohnanlagen, in denen die Senioren in ihren eigenen gewohnten vier Wänden bleiben können und trotz Roll- I n t e rvi e w Ak t u e l l i stuhl oder Behinderung die Wohnung verlassen können. Aufgrund des 24 Stunden Betreuungskonzepts müssen sich Angehörige keine Sorgen machen, da täglich Unterstützung angefordert und im Notfall sofort reagiert werden kann. Fredeena: In der Krankenpflege sind mit der Zeit viele Änderungen eingetreten. Eigentlich sollten die Patienten im Mittelpunkt der Pflege stehen. Aber dies ist nicht heute der Fall wegen des Personalmangels und der Schreibarbeit. Nach meiner Meinung muss das Gesetz so geändert werden, dass der Patient wieder im Mittelpunkt steht und das Pflegepersonal die Möglichkeit und die Zeit hat, patientennah zu arbeiten. Joseph: Meiner Meinung nach steht der Patient weiterhin im Mittelpunkt, allerdings zunehmend auf dem Papier zur juristischen Absicherung. Woher diese Entwicklung kommt, ist, denke ich, bekannt. Der zunehmende Kostendruck und die Gesundheitsreformen zwingen die Entscheidungsträger, Kliniken wie Wirtschaftsunternehmen zu führen. Dies führt zu einem Abbau des Krankenhauspersonals und als dessen Konsequenz leidet auch die Qualität der Patientenpflege, vor allem für gesetzlich Versicherte. Dies steht natürlich im Gegensatz zu Wahlleistungspatienten. Alles in allem kann man sagen, dass es eine Zweiklassen-Versorgung gibt. Allerdings ist auch der Anspruch der Patienten, was den Service angeht, gestiegen. Elsy: Im Pflegeberuf ist die Arbeitsintensität in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Dadurch bleibt weniger direkter Kontakt zwischen dem Pflegepersonal und seinen Patienten. Die schriftliche Dokumentation spielt heutzutage eine gehobene Rolle. Der Einsatz von Computern ist – wie in allen Berufszweigen – zur Selbstverständlichkeit geworden. Hinsichtlich medizinischer Gesichtspunkte ist der Patient heutzutage besser betreut als früher. Im Gegensatz dazu hat die persönliche Betreuung leider nachgelassen. Meine Welt: Eine der Motivationen für dich, nach Deutschland zu kommen, war bestimmt, deiner Familie, deinen Verwandten und deinen Freunden zu helfen. Wie stehen sie heute da? Konntest du genug für sie tun, damit sie heute ein besseres Leben führen? Ciciliamma: Ja, das stimmt. Schon während meiner Ausbildung schickte ich oft mehr als die Hälfte meines Gehaltes nach Indien zu meiner Familie. Da ich einen sehr gutherzigen Mann geheiratet habe, der auch viele in Indien unterstützte, konn- Inder/Inderinnen der 2.Generation bei einer internationalen Jugendveranstaltung in Köln, 2000. meine welt 2/2011 45 i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d te die Hilfe nach Indien erfolgreich und intensiver weiterlaufen. Die finanzielle Unterstützung ermöglichte den Verwandten eines oder mehrere ihrer Kinder ins Ausland (USA, Österreich) zuschicken, um dort Fuß zu fassen und zu arbeiten. Diese wiederum schickten ihren Familien Geld, um ihnen einen guten Lebensstandard in Indien zu ermöglichen. Heute geht es den Verwandten und Bekannten, denen wir damals geholfen haben, sehr gut. Ich danke Gott für alles, was er uns ermöglicht hat. Lehrer, und der andere Bruder Jerome lebt noch als einziger in unserer Heimatstadt Mookanoor. Sicherlich sind am Anfang größere Geldgeschenke geflossen, weil ich es mir aus Deutschland besser leisten konnte. Auch konnten Darlehen in Indien schneller abbezahlt werden. Aber alle meine Geschwister und auch die Geschwister meines Mannes, die in Indien geblieben sind, haben eine höhere Qualifikation und eine gute Stellung im Beruf, sodass sie aus eigenen Bemühungen wohlhabend geworden sind. Mercy: Mein Vater war Schuldirektor und meine Mutter Hausfrau und Mutter von neun Kindern. Uns ging es nicht schlecht, aber man weiß, es geht immer noch besser. Vier von neun Geschwistern leben heute mit ihren Familien in Deutschland, meine älteste Schwester Leelamma in Düsseldorf, mein Bruder Jos in Brühl und meine jüngere Schwester Sheela in Frankfurt und ich in Schwelm. Zwei meiner Schwestern, Lissy und Thankamani, sind Ordensschwestern und mittlerweile Schulleiterinnen in Kerala. Meine Schwester Molly, auch Lehrerin, lebte aufgrund der Bankanstellung und Promotion ihres Mannes schon in verschiedenen Orten Indiens, Neu Delhi, Pune oder Angamaly. Ein Bruder Joy lebt auf den Malediven und arbeitet dort als Fredeena: Ich bin auf meinen eigenen Wunsch nach Deutschland gekommen. Meine Angehörige waren alle dagegen. Meine Wille war die eigentliche Motivation. Durch diese Entscheidung konnte ich meinen Eltern, meinen Geschwistern und vielen anderen Angehörigen helfen. Indische Gemeinde beim Pfarrfest 2010 in Köln 46 meine welt 2/2011 Elsy: Die Möglichkeit, als ältestes Kind – von insgesamt neun Geschwistern – in Deutschland zu arbeiten, war nicht nur für mich persönlich, sondern auch für meine Familie ein Segen. Am Anfang konnte ich einiges bewegen. Ich bin sehr zufrieden über das, was ich leisten konnte, und ich bin mir sicher, dass meine Familie heute besser leben kann, als wenn ich in der Heimat geblieben wäre. i Joseph: Natürlich war meine Hauptmotivation dafür, nach Deutschland zu kommen, meiner Familie und meinen Verwandten zu helfen. Meine Familie, besonders meine direkten Verwandten, haben einiges an Hilfe von mir erhalten. Mehrere Verwandte haben die Möglichkeit erhalten, einen Beruf zu erlernen oder eine Existenz zu gründen. Ich habe meinen Verwandten bevorzugt Hilfe für Bildungsmöglichkeiten gegeben, wie ich sie auch selber durch meinen CollegeBesuch erfahren habe. Dabei muss vor allem die Rolle der Institution Kirche herausgehoben werden, die auch weiterhin in Indien ein wichtiger Anlaufpunkt und Förderer ist. Mir ist bewusst geworden, dass wir erst durch den Einsatz von Visionären wie z.B. dem selig gesprochenen Chavara Kuriakos Elias (der Gründer des CMI Ordens) und den nachfolgenden Kirchenvätern und deren Beitrag zur Schaffung des Schulbildungssystems die Möglichkeiten bekommen haben, hierher zu kommen und letztendlich diese Zeilen zu schreiben. Ich danke der katholischen Kirche und Deutschland für die Möglichkeiten, die ich erhalten habe. j i Fotoseite i 50 Jahre indische Krankenschwestern in Deutschland (Bilder aus verschiedenen Quellen) Seminar Teilnehmer 1975 Indische Krankenschwestern unter sich 2001 Treffen in Köln Dezember 1994 Weihnachten 1965 in Bonn-Venusberg Jugendtreffen mit Bischof Trelle, Köln 2000. meine welt 2/2011 47 i M e n sc h e n sc h icks a l i Das einsame Leben und der Tod von Elfriede Maria Schmidt in Kochi, Kerala Die nachfolgende Geschichte über die deutsche Staatsbürgerin Elfriede Maria Schmidt haben wir aus dem Internet entnommen. Auch andere indische Zeitungen haben über die verstorbene Frau berichtet. Im Folgenden erzählen vier verschiedenen Menschen neben der Autorin Shahina über ihre Begegnungserfahrungen mit der Verstorbenen. D ie R edaktion Shahina (Autorin): Elfriede Maria Schmidt betrat mein Leben erst nach ihrem Tod. Sie war im Frühjahr 2002 den ganzen Weg von Deutschland nach Indien gekommen. Sie kehrte nie zurück. Sie hatte seit 2003 in dem Hotel Chandrika Residency in der Nähe von Durbar Hall Ground, Kochi, gewohnt. Diese Frau Schmidt wurde am 14. Juni 2011 bewusstlos in ihrem Bett liegend gefunden. Der Hotel Manager hatte ihre Zimmertür geschlossen gefunden. Ihre Lieblingszeitung lag unabgeholt im Foyer. Der Manager rief die Polizei und die Frau wurde ins Krankenhaus gebracht. Am nächsten Tag starb sie. Es war ein gewöhnlicher Tod wie jeder andere. Eine alte, kranke Frau starb in Stille. Das war es. Seitdem liegt sie im Leichenhaus des General Hospital in Ernakulam. Sie liegt immer noch dort. Der Hotel Manager erinnert sich: Eine weiße Frau/eine hellhäutige Frau/ eine Europäerin kam in unser Hotel und fragte nach einem Zimmer. Als ich fragte, für wie lange, sagte sie, eine Woche, und später korrigierte sie sich auf zwei bis drei Wochen. Nach drei Wochen wurde die Aufenthaltsdauer verlängert, auf ihren Wunsch, versteht sich. Ich war ein wenig skeptisch, stimmte aber zu. Sie hatte alle ihre Papiere bei sich und zahlte die Miete prompt und pünktlich. 48 meine welt 2/2011 Nach einer gewissen Zeit fiel es uns schwer, sie um Zimmerräumung zu bitten, denn sie war alt, siebenundsiebzig. Es war kein lukratives Geschäft für uns. Wir hatten wegen ihrer arroganten Art bereits Kunden/ Gäste verloren. Sie konnte keinen rauchen sehen. Wer in unserem Restaurant rauchte, musste mit einer Abkanzelung rechnen. Sie schaltete das Fernsehgerät im Zimmer nie aus. Es war so, als wäre das Fernsehen ihr einziges Mittel, mit der Außenwelt zu kommunizieren. Das Gerät war immer an, selbst während sie schlief. Sie ließ es nicht ausschalten, selbst wenn das Zimmer geputzt wurde. In den letzten acht Jahren wurde das Gerät nur zwei oder drei Mal leise gestellt. Das war, wenn sie für die Erneuerung ihres Visums in Sri Lanka Kurzbesuche abstattete. Ein Ausländer, dessen Visum für Indien erneuert werden soll, soll ins Ausland fahren und von dort aus den Antrag stellen. Jeden Tag ging sie für einige Stunden aus, schlenderte durch die überfüllte DB Road, ging in den naheliegenden Supermarkt kurz hinein, erledigte einige Bankgeschäfte und kam zurück. Niemand sah sie im Supermarkt irgend etwas kaufen. Aber täglich verbrachte sie dort fast eine Stunde. Sie war ein großer Liebhaber von Katzen. Katzen war eins ihrer Lieblingsthemen, neben Cricket. Als ihre geliebte Katze starb, bewahrte sie die Asche in einer blauen Urne auf. Sie wollte dies zusammen mit ihrem eigenem Körper verbrennen lassen. Ich war ihr einziger Zuhörer in den seltenen Momenten, wenn sie überhaupt sprechen wollte. In einem dieser seltenen Gesprächen sagte sie, sie wollte in Indien eingeäschert werden und die Asche solle im Arabischen Meer verstreut werden. Dies brachte mich in Verlegenheit. Zum ersten Mal begann ich mir um diese alte Frau Sorgen zu machen. Ich rief einige Journalisten und erzählte ihnen ihre Geschichte. Sie wollte die Journalisten nicht ansprechen. Sie hatte kein Inter- esse daran. Die Journalisten fanden sie leidenschaftslos, apathisch. Und ein wenig arrogant auch. Fast acht lange Jahre lebte sie in meinem Hotel. Sie hatte allen Kulturprogrammen auf dem in Hotelnähe liegenden Durbar Hall Ground (einer Wiese) beigewohnt. Das Hotelpersonal und die Hotelgäste hatten sie dort öfters gesehen. Aber sie sprach keinen an. Sabina Iqbal: Es war im Flur des Hotels Chandrika Residency, dass ich Mariabehn zum ersten Mal sah. Dies war im Januar (2011). Ich wohnte im Nebenzimmer und hatte bereits einiges über sie von dem Personal gehört. Ich sah sie täglich. Einmal klopfte sie an meine Tür und fragte, ob ich Wasser im Zimmer hätte. Ich bat sie herein. Ich wollte sie sprechen, denn ich wusste, sie könnte eine Geschichte zu erzählen haben. Als ich sie fragte, woher sie gekommen war, warf sie einen verwirrten Blick auf mich und stellte mir die Gegenfrage, was ich vermute. Ihr britischer Akzent verführte mich, aber sie gab mir noch eine Chance. „Ich schätze, Sie sind Jüdin“, sagte ich. Ich lag mit meiner Vermutung haargenau richtig. Sie war eine Jüdin mit Erinnerungen an den Holocaust. „Die Europäer hassen mich“, fügte sie hinzu. Für Frau Schmidt war Pakistan das einzige Land, wo es keinen Rassismus gab. Sie hatte über drei Jahrzehnte in Pakistan gelebt. Man nannte sie Behenji (Schwester) in Pakistan. Auch ich fing an, sie Behenji zu rufen. Ich wusste, dass sie so gerufen werden wollte, und dies war der alleinige Grund, warum sie anfing, mich zu mögen. Frau Schmidts fehlgeschlagene Versuche, eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung für Pakistan zu besorgen, zwang sie, nach Indien auszuwandern. Indien war ihrer Meinung nach in Bezug auf Geografie und Demografie sehr ähnlich wie Pakistan. Sie hatte eine unruhige Kindheit gehabt. i Sie hatte ihren Vater im Zweiten Weltkrieg verloren, aber sie konnte sich nicht daran erinnern, wann und warum. Sie hatte keine gute Beziehung zu ihrer Mutter. Maria war ursprünglich aus Österreich gekommen, dann wanderte sie aus nach Deutschland und erwarb dort die deutsche Bürgerschaft. Sie wurde bei dem Deutschen Auswärtigen Amt beschäftigt und wurde bei der deutschen Botschaft in Pakistan eingestellt. Hier lernte sie einen pakistanischen Soldaten kennen, heiratete ihn und gebar ihm einen Sohn. Die Beziehung dauerte nicht lange. Sie kam nach Indien, alleine, wanderte viel herum, und schließlich kam sie nach Kochi. Ich sah vor mir das verschwommene Bild eines Kriegsopfers, das freiwillig seiner Heimat den Rücken kehrte, weil es jüdisch war. Die Geschichte kam zu einem abrupten Ende. Ich hatte keine Zeit mehr für sie gehabt. Prabha Menon, eine Anwältin, erinnert sich: Am 18. Juni 2011 las ich einen Zeitungsbericht über die sterblichen Überreste einer weißen Frau, die im General Hospital lagen. Ich wurde neugierig. Ich sah das Bild genau an. Die Person kam mir bekannt vor. Nach und nach musste ich zur Kenntnis nehmen, dass die Frau meine Mandantin war. Ein besonderer Typ, der mich vor neun Jahren aufgesucht hatte. Ich erinnere mich sehr gut an diese Begegnung aus dem Jahre 2002. Sie hatte mir ein wichtiges Dokument ausgehändigt - ihr Testament. Es war ein sehr hektischer und betriebsamer Tag. Sie kam um 7 Uhr morgens in mein Büro und fing an zu reden. Anfangs dachte ich, sie bräuchte Rechtshilfe. Aber sie verlangte von mir keine. Eigentlich wusste ich nicht, wovon sie redete. In Wirklichkeit hatte ich inzwischen aufgehört, ihrem Geschwätz Aufmerksamkeit zu schenken. Aber ich entmutigte sie auch nicht. Sie besuchte mich mehrere Male. Ab und zu sprach sie von Cricket und über die lieblose Welt. Eines Tages kam sie zu mir in ausgeglichener Geistesverfassung und bat mich, bei der Erstellung ihres Testaments behilflich zu sein. Ich erklärte mich einverstanden und bat sie, einen vorläufigen Entwurf zu verfassen. Am nächsten Tag M e n sc h e n sc h icks a l i kam sie wieder wie gewohnt und gab mir ein Stück Papier. Frau Schmidt wollte ihrem Sohn, Captain Julian Asphandiar Fatakia, der in der USA lebte, die Hälfte ihres Vermögens geben. Sie hatte ein Apartment in Vöslau in Österreich und Bankguthaben in Deutschland und Indien. Die andere Hälfte wollte sie den fünf Tigerreservaten Indiens schenken. Sie bat mich auch, ihren Sohn, mit dem sie seit über einem Jahrzehnt keinen Kontakt mehr hatte, ausfindig zu machen. Sie wollte in Indien verbrannt werden und die Asche sollte im Arabischen Meer verstreut werden. Das Testament war von ihr eigenhändig sauber maschinengeschrieben worden. Ich hob es irgendwo unter den Ablagen auf. Seitdem kam sie nie mehr zurück. Seltsamerweise begegnete ich ihr noch mehrmals auf der Straße. Ich wollte sie ansprechen, aber sie ging weiter, als ob sie mich nicht kannte. Einmal wollte eine Kollegin von mir sie ansprechen. Sie sagte kein einziges Wort, lächelte sie auch nicht an, starrte sie wie eine Fremde eine Weile an und ging weiter. Über ihren Tod wurde ich nicht informiert. Ich wusste nicht, wann sie starb. Einige Tage später las ich in der Zeitung von der Leiche. Es war sieben Uhr morgens. Ich eilte ins Büro und suchte überall. Zu meinem Erstaunen stieß ich auf das gelbe Kuvert, das mir Frau Schmidt vor neun Jahren gegeben hatte. In dem Kuvert waren Adresse und email ID von ihrem Sohn Julian, der irgendwo in den USA Pilot sein soll. Jyothish PS: Ich bekam die Adresse Julians von Prabha Menon. Ich hatte diese Adresse nach dem Tod Frau Schmidts dringend gesucht. Ich schrieb Julian, er solle hierher kommen und den Leichnam seiner Mutter abholen. Ich bekam keine Antwort. Einige Tage später bekam ich eine Mail von seiner Frau. Sie bat mich, den Leichnam nach Amerika zu schicken, ein Wunsch, den wir nicht erfüllen konnten. Dann bekam ich eine zweite Mail, in der sie geschrieben hatte die Schwiegermutter solle ihre letzte Ruhe in Indien finden. Sie wollte nicht den ganzen Weg von Amerika hierher kommen, um dem Begräbnis beizuwohnen. Ich hatte Frau Schmidt seit 2008 gekannt. Sie pflegte in mein Büro zu kommen, wenn sie ihr Visum erneut haben wollte. Oft wurde sie für eine arrogante Person gehalten. Einmal wurde sie recht zornig, als einer vor der Visaabteilung seinen Vordermann überspringen wollte. Sie hielt ihn mit dem Griff ihres Regenschirms fest und brachte ihn zu der Ausgangsposition zurück. Sie würde gerne über viele Dinge sprechen, aber ihr Lieblingsthema war Cricket.Wenn jemand das Thema anschnitt, fing sie an ununterbrochen darüber zu reden. Oftmals versuchte ich ihr aus dem Weg zu gehen, denn das Cricket kam mir Spanisch vor. Die dritte Lebensform Immer öfter „Liebe auf Distanz“ Immer mehr Paare in Deutschland leben in getrennten Haushalten. Die „Liebe auf Distanz“ habe sich nach der Ehe und nach Partnerschaften mit gemeinsamer Haushaltsführung als dritte partnerschaftliche Lebensform etabliert, so das Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Nach seinen Angaben führen knapp vier Millionen Menschen und damit 7,3 Prozent der Deutschen eine Partnerschaft, in der beide Partner einen eigenen Haushalt führen. Die immer noch am weitesten verbreitete Lebensform in der Gruppe der 18- bis unter 70-jährigen ist mit einem Anteil von 56,4 Prozent die Ehe. Für die zahlenmäßige Zunahme von Partnerschaften mit getrennter Haushaltsführung gab das Institut mehrere Gründe an: Bei jungen Menschen seien es vor allem berufliche. Auch trügen moderne Kommunikationstechniken dazu bei, Partnerschaften über größere Distanzen aufrechtzuerhalten. Des Weiteren gebe es Partner, die sich trotz räumlicher Nähe ganz bewusst für getrennte Haushalte entschieden, um ein höhere Maß an Unabhängigkeit zu bewahren. Es habe sich gezeigt, dass Partnerschaften mit getrennter Haushaltsführung weniger stabil seien als Paarbeziehungen in einer gemeinsamen Wohnung. Immerhin hielten dennoch etwa 20 Prozent dieser Beziehungen länger als fünf Jahre. KNA (Quelle: Frau und Mutter, 06/2011) meine welt 2/2011 49 i Ich mochte es auch nicht. Was sie da erzählte, konnte ich kaum begreifen. Namen der bekannten Spieler waren mir fremd. Nach ihrem Tod fanden wir in ihrem Zimmer einen Brief. Er war auf Deutsch geschrieben von einer „Elfriede“. Dieser Brief informierte Frau Schmidt über zwei Tode. Einmal über den Tod der Mutter der Absenderin. Mit dem anderen Tod war ihre Katze gemeint. Die Absenderin, eine Krebspatientin, hatte geschrieben, sie würde gerne nach ihrer Behandlung Frau Schmidt besuchen. Auch das email ID von Elfriede war in dem Brief angegeben. Ich schrieb Elfriede eine Mail über den Tod von Frau Schmidt. Ich bat sie hier herzukommen und die sterblichen Überreste der Verstorbenen abzuholen. Nach ein paar Tagen bekam ich eine Antwort von Elfriedes Sohn. Er hatte geschrieben, er bedauere es sehr, den Leichnam von Frau Schmidt nicht abholen zu können. Verzweifelt schrieb ich die deutsche Botschaft in Delhi und das Konsulat in Chennai an. Das Konsulat schrieb mir, ich solle Frau Schmidt in Kochi verbrennen. Das Gesetz erlaubt es uns aber nicht. Eine unbeanspruchte Leiche darf nur begraben werden. Sie darf nicht verbrannt werden. Aber dabei wollte Frau Schmidt, dass ihre Leiche verbrannt und die Asche im Arabischen Meer verstreut wird. Wir sind ja verpflichtet, ihr Testament zu vollstrecken. Sind wir nicht? Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, ob ich sie gegen ihren Wunsch begraben soll oder noch abwarten soll. Ich werde jedenfalls die Behörden bitten, eine Entscheidung zu treffen. Nachwort: Nach 45 Tagen wurde Frau Elfriede Maria Schmidt im PACHALAM FRIEDHOF eingeäschert. Die indische Ausländerbehörde hat diese Entscheidung getroffen, nachdem das Deutsche Konsulat in Chennai es ablehnte, Verantwortung für den Leichnam von Frau Schmidt zu übernehmen. Die Asche wurde dann, wie Frau Schmidt dies verfügt hat, im Arabischen Meer zerstreut. (Times of India) j (Beitrag und aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Thomas Chakkiath) 50 meine welt 2/2011 meinung i Wachstum an sich kann nicht unser ultimatives Ziel sein A mart y a S en Wirtschaftswachstum an sich kann nicht unser ultimatives Ziel sein. Doch es ist ein sehr hilfreiches Mittel, um erstrebenswerte Ziele zu erreichen, etwa einen besseren Lebensstandard. Jetzt, da Indien ein jährliches Wirtschaftswachstum von ungefähr 8 Prozent hat, gibt es viele Spekulationen ob und wann das Land ein Wachstum von über 10 Prozent, wie China, erreichen wird. Dieser Wachstumsfokus ist nicht nur deshalb unsinnig, weil viele Elemente seiner Berechnung willkürlich gewählt sind, sondern auch, weil die Lebenswirklichkeit der Menschen nur teilweise und indirekt von Wachstum beeinflusst wird. Vergleichen wir Indien mit Bangladesch, wo sich die sozialen Indikatoren seit vielen Jahren sehr schnell verbessern, wie von Jean Dreze bereits im Jahr 2004 beschrieben. Das Einkommen in Indien ist aufgrund des schnellen Wirtschaftswachstums kaufkraftbereinigt mehr als doppelt so hoch wie in Bangladesch. Aber wie spiegelt sich Indiens Einkommensvorteil in den Dingen wider, die wirklich wichtig sind? Nicht sehr gut, befürchte ich. Die Lebenserwartung in Bangladesch liegt bei 66,9 Jahren, verglichen mit Indiens 64,4. Der Anteil unterernährter Kinder in Bangladesh (41,3 Prozent) ist etwas niedriger als in Indien (43,5) und die Fruchtbarkeitsrate liegt mit 2,3 Prozent ebenfalls unter derjenigen Indiens (2,7). Die durchschnittliche Anzahl von Schuljahren in Bangladesch beträgt 4,8 Jahre, verglichen mit Indiens 4,4 Jahren.Während Indien bei der Alphabetisierungsrate junger Männer einen Vorsprung hat, ist die Rate bei den Frauen in Bangladesch höher. Interessanterweise ist die Alphabetisierungsrate junger Frauen in Bangladesch höher als die junger Männer, während in Indien immer noch eine starke Benachteiligung junger Frauen festzustellen ist. Es gibt viele Beweise dafür, dass Bangladeschs momentaner Fortschritt auf die wichtige Rolle zurückzuführen ist, die emanzipier- te bangladeschische Frauen zunehmend einnehmen. Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass Wirtschaftswachstum einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung des Lebensstandards leistet, aber die Reichweite der Verbesserungen vor allem davon abhängt, was wir mit den Erträgen dieses Wachstums machen. Sicher, es gibt bereits viele privilegierte Personen, denen Wachstum alleine ausreicht, da sie nicht auf Unterstützung angewiesen sind. Das Wirtschaftswachstum mehrt lediglich ihre ökonomischen und sozialen Chancen. In absoluten Zahlen ist diese Gruppe recht groß geworden. Aber der übertriebene Fokus auf ihre Situation, und dies wird oft auch von den Medien unterstützt, erzeugt ein unvollständiges Bild über den Alltag der Menschen in Indien. Vielleicht noch besorgniserregender ist, dass diese Gruppe Wachstum in sich als das Ziel ansieht, dient es doch ihrem persönlichen Wohlstand. Diese engstirnige Perspektive kann sogar soweit gehen, dass soziale Aktivisten verspottet werden, wenn sie uns an die missliche Lage des Großteils unserer Bevölkerung erinnern. Man kann nicht davon sprechen, dass es Indien hervorragend geht, wenn eine Vielzahl der Menschen kaum Verbesserungen spürt. j (Auszüge aus dem Beitrag „Wachstum und andere Bedenken“ von Amartya Sen, erschienen in NETZ, 2/2011) Zeichnung von Marti Faber, Zülpich i M igr a t i o n i Indische Diaspora in Afrika A . K hali q K aifi Menschen indischer Abstammung sind überall in der Welt zu treffen. Nach Schätzungen leben zwischen 20 und 30 Millionen Menschen indischer Abstammung außerhalb Indien. Die Kolonialherren, insbesondere die Engländer, nahmen viele Inder als Vertragsarbeiter in ihre anderen Kolonien, z. B. in Afrika. Im folgenden Beitrag gibt Dr. Kaifi einen Gesamtüberblick über die Entstehung der sogenannten indischen Diaspora in Afrika und über den heutigen Stand der aus Indien stammenden Minderheiten in verschiedenen Ländern Afrikas. D ie R edaktion Das Wort Diaspora ist griechisch und bedeutet unter anderem „verstreuen“. Damit ist eine Gruppe von Menschen gemeint, die infolge von Not und Verfolgung ihre Heimat verlassen haben und häufig mit Völkern zusammenleben müssen, die sich meistens von ihnen nach Aussehen, Religion und Sprache unterscheiden, wo sie infolgedessen auch nicht immer gerne gesehen werden. Diese Bezeichnung wurde ursprünglich lediglich für die im Ausland lebenden Juden benutzt. Heute wird das Wort Diaspora im weitesten Sinne für alle Emigranten gebraucht. Danach wird die indische Diaspora weltweit auf ca. 20 Millionen geschätzt, nur Chinesen übertreffen sie. Nach der Definition der indischen Regierung teilt man die indische Diaspora in zwei Kategorien ein, nämlich erstens sind es Personen indischer Abstammung bzw. PIO, d. h. Persons of Indian Origin, die nicht mehr in Indien leben und deren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern in Autor: Dr. rer. pol., Dipl. Kfm., Oberbibliotheksrat a. D. der Universitätsbibliothek Bremen und ehemaliger Lehrbeauftragter der Universität Oldenburg. Indien geboren sind. Die PIO werden aus politisch-ökonomischen Gründen vom indischen Staat bevorzugt behandelt. Sie erhalten multiple Einreisevisa bis zu einer Dauer von 20 Jahren und verfügen über sämtliche Rechte mit Ausnahme des Landerwerbs. Zu der zweiten Gruppe zählen Inder, die als indische Staatsbürger im Ausland arbeiten, sie werden als NRI, Non Resident Indians bezeichnet. Die Identifizierung als NRI ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Aufgrund fehlender Arbeitskräfte in den westlichen Ländern wurden zahlreiche Inder, zunächst von anglophonen Ländern wie Großbritannien, Nordamerika, Kanada, Australien nach dem Quotensystem für bestimmte Tätigkeiten angeworben. Seit den sechziger Jahren wurden sie auf der Basis befristeter Verträge für ein bis drei Jahre in die Petro Dollar Staaten im Golf geholt, wo sie mit einer Zahl von über drei Millionen am zahlreichsten vertreten sind. Als NRI arbeiten zur Zeit weltweit über 10 Millionen Inder. In diesem Aufsatz wird aber lediglich über Personen indischer Abstammung, die PIO, in Afrika gesprochen, die vor undenklicher Zeit freiwillig dorthin ausgewandert sind oder gezwungenermaßen während der Kolonialherrschaft nach Afrika gekommen sind. Insgesamt wird die Zahl von PIO in ganz Afrika auf vier Millionen geschätzt, davon leben zwei Millionen in Ost- und Südafrika und auf den Inseln des Indischen Ozeans östlich von Afrika. Seit Jahrhunderten ist die Ostküste Afrikas den Indern als Seefahrer und Händler bekannt gewesen, die Römer, Araber und Europäer berichten reichlich über ihre Geschäftstüchtigkeit. Die Einheimischen nannten sie Muhindi/Wahindi. Vasco da Gama und alle anderen Seefahrer aus den Kolonialländern nahmen ihre Dienste in Daressalam, Mombasa, Sansibar als Lotsen und Wegweiser nach Indien in Anspruch, da sie die kürzesten Fahrtrouten und den vom Monsun her günstigsten Zeitpunkt zum Segeln am besten kannten (Arabisch: Mausam = Windrichtung). In diesem Aufsatz wird zunächst die Ursache der indischen Diaspora in Afrika kurz geschildert. Seit der Zeit der Maurya-Könige (321- 184 v. Chr.) war der indische Herrscher der oberste Herr über Grund und Boden.Auch der Besitz der indischen Fürsten gehörte dem König. Francois Bernier, der sich zwischen 1658 und 1667 als Arzt an den Mogulnhöfen aufhielt, schrieb: „ ... dass die Omrahs (Adligen) von Hindoustan weder Landeigentümer sein können noch über selbständige Einkünfte verfügen, wie es bei den Adligen von Frankreich und christlichen Staaten der Fall ist“.1 Trotz des absoluten Eigentumsrechts des Herrschers an Grund und Boden verfügte die Dorfgemeinde fast ununterbrochen über das Nutzungsrecht des ihr zugewiesenen Landes, das wiederum von einzelnen Bauern und von deren Nachkommen bewirtschaftet wurde. Der Bauer war somit der faktische Besitzer des von ihm bebauten Grund und Bodens, solange er den Steuerverpflichtungen nachkam.2 Der vom einzelnen Bauer erwirtschaftete Überschuss am Ertrag wurde mit den Webern, Schneidern, Schreinern, Schustern Maurern, Barbieren, Hebammen und Totengräbern geteilt. Auf dieser Grundlage der Tauschwirtschaft basierte die existentielle Grundversorgung der Dorfgemeinschaft. Dies alles änderte sich gewaltig während der Herrschaft der Ostindischen Gesellschaft (1764-1857) in Indien. Sie schuf ein Gesetz (Permanent Settlement Act), das die Keimzelle des privaten Besitztums in Indien schuf. Danach wurde zum ersten Mal ein kleiner Kreis von Landeigentümern bzw. Zamindaren geschaffen. Der Glaube daran, dass die Großgrundbesitzer in der Lage waren, die Landwirtschaft zum Zwecke der Industrialisierung zu kom meine welt 2/2011 51 i merzialisieren, spiegelte dabei den Erfolg der kapitalistischen Agrarwirtschaft in Großbritannien wieder. Danach waren die indischen Bauer nicht mehr Eigentümer des Landes, das sie seit Jahrhunderten bebaut hatten. Sie wurden jetzt Pächter und Landknechte des einzelnen Zamin-dars. Die Steuer- und Abgabelasten unterschiedlicher Art, die der Zamindar den Bauern auferlegte, führten dazu, dass der Bauer zu Grunde ging. Am Ende des 18. Jahrhunderts starb fast ein Drittel M igr a t i o n i der Landbevölkerung von Bengalen, das damals auch die heutigen Bundesstaaten Orissa und Bihar umfasste und unter der Verwaltung der Ostindischen Gesellschaft lag. Der damalige Generalgouverneur von Bengalen, Charles Cornwallis (1786-1793), berichtete im englischen Parlament, wie folgt: „Ich möchte versichern, dass ein Drittel des territorialen Besitzes der Gesellschaft in Indien jetzt zu einer Wildnis geworden ist, die nur von wilden Tieren bewohnt wird“.3 Mit dem Ruin der bäuerlichen Gesellschaft einher ging die Vernichtung der Weber (Julaha, eine moslemische Weberkaste) und deren Baumwollproduktion, die Wirtschaftssäule der indischen Wirtschaft. Die Webereien von Bengalen wurden aufgrund der Billigprodukte aus England völlig vernichtet. William Cavendish Bentinck, Indiens Generalgouverneur (1827-1835), äußerte sich dazu folgendermaßen: „Das Elend findet kaum eine Parallele in der Geschichte des Handels. Die Knochen der p o r t ra i t Anshu Jain Der Inder wird 2012 Chef der Deutschen Bank Darf ein Inder die Deutsche Bank führen? Diese Frage wird in diesen Tagen häufig gestellt. Das Problem daran: Die Frage führt in die Irre. Jain wird in Jaipur im Bundesstaat Rajasthan im Norden Indiens geboren. Sei Vater arbeitet im öffentlichen Dienst. Die Eltern sind wohlhabend, aber nicht reich. Als Jain sechs Jahre alt ist, zieht die Familie in die Hauptstadt Neu-Delhi. Dort verbringt er seine Jugend, unterbrochen von einem Aufenthalt in Kabul, als der Vater nach Afghanistan versetzt wird. Jain geht auf die Delhi Public School on Mathura Road, danach studiert er Volkswirtschat am staatlichen Shri Ram College. Er ist gut, aber kein Streber. Zwei Tage vor der Abschluss-prüfung spielt er lieber Cricket, statt für den Test zu lernen, so erzählt es ein Studienfreund, Lokesh Sharma. Jain ist stolz auf sein Heimatland, er baut derzeit ein Haus in Delhi, und als das Topmanagement der Deutschen Bank einmal seine Jahrestagung auf dem Subkontinent abhielt, spielte er mit dem Vorstand in Jaipur eine Runde Elefantenpolo. Und doch sind die Jahre in Indien nur ein Teil seines Lebens. Er gehört einer alten indischen Glaubensrichtung an, doch ein religiöser Mensch ist er nicht. Schon mit 20 Jahren geht er mit seiner Frau Geetika, 52 meine welt 2/2011 die er auf dem College kennen gelernt hat, in die USA. Er studiert Betriebswirtschaft an der University of Massachussetts in Amherst – eine solide Universität, aber keine der Top-Adressen. Schon während des Studiums interessiert er sich für Finanzen. Karrierepläne werden daraus erst, als er von Amherst aus nach New York reist und die Wall Street besucht. Jain geht zu Kidder Peabody, dann zu Merrill Lynch. Es sind heiße Jahre im New Yorker Finanzdistrikt, eine Fusionswelle rollt, das Geschäft mit Anleihen boomt. Es ist jene wilde Ära, die Oliver Stone in seinem Film Wall Street verewigt hat. Die Jahre in den USA und Großbritannien und die Reisen, die er in nunmehr 16 Jahren bei der Deutschen Bank absolviert hat, prägen ihn. Allein 2010 war er rund 140 Tage unterwegs. Anshu Jain ist überall zu Hause – und nirgends. Er sei ein „denationalisierter Mensch“ sagt einer, der mit ihm in Deutschland zu tun hatte. Auch in den Zirkeln der Investmentbanker ist er nie ganz heimisch geworden. Ihre Statussymbole bedeuten ihm wenig: Privatjets, erlesene Kunstsammlungen oder ausschweifende Partys – Jain hat dafür nicht viel übrig. Seine Unterlagen trägt er in einem schwarzen Rucksack umher, einfach weil es praktischer ist. In London fährt er U-Bahn, wenn er so am schnellsten ins Büro kommt – bei den Anschlägen 2005 blieb er in der tube stecken, wie so viele andere auch. Im dritten Stock von Winchester House, der Zentrale der Deutschen Bank in London und Jains Machtzentrum, hat er ein Büro zwischen anderen. Darin Standardmöbel. Sein Haus im Londoner Westend ist schick, aber nicht protzig, es liegt in einer ordentlichen, aber nicht edlen Straße. Im altehrwürdigen Marylebone Cricket Club ist er nur als assoziiertes Mitglied eingetragen. In Gesprächen kommt er ohne lange Vorrede zur Sache und beendet die Konversation ohne große Abschiedsworte. Es geht um den Inhalt, nicht um die Form. Seine Heimat ist seine Familie. Ist an den Märkten wenig los und steht kein Termin mehr an, kommt es vor, dass er um fünf oder sechs Uhr sein Büro verlässt. 24 Stunden erreichbar, aber zu Hause. j (Auszug aus: „Der Inder Anshu Jain wird 2012 Chef der Deutschen Bank. Um ihn ranken sich viele Gerüchte“. Von Mark Schieritz und Arne Storn, DIE ZEIT, 1.9.2011) i Baumwollweber bleichen die Ebenen von Indien“.4 Somit wurde der Ackerbau und das Handwerk völlig zerstört, die bisher die Säule der indischen Gesellschaft gewesen waren. Jawaharlal Nehru schrieb: „Indien entwickelte sich zur Agrarkolonie des industrialisierten England, als Lieferant der Rohstoffe und als Abnehmermarkt der englischen Waren“.5 Infolge des nordamerikanischen Unabhängigkeitskriegs (1776-1783) und der Französischen Revolution (1789), die auf den karibischen Inseln zur Sklavenrevolte gegen die Plantagenbesitzer führte, kam es in den Kolonien zur Verknappung der Arbeitskräfte beim Anbau der bisherigen Exportprodukte wie Zucker, Baumwolle, Indigo usw.. Demzufolge wurde Indien die Funktion als Billiglieferanten von Arbeitskräften als Ersatz für die Sklaven, den sogenannten Kulis (Tamil: Tagelöhner), zugewiesen. Die Engländer bedienten sich des von ihnen verursachten Heers von Arbeitslosen sowohl für den eigenen Bedarf als auch für die anderen Kolonialherren. Während der Kolonialherrschaft wurden über fünf Millionen Inder als Kulis in überseeische Länder verschifft.6 Die ersten Arbeiter kamen aus Bengalen, dem Herrschaftsbereich der Ostindischen Gesellschaft. Sie wurden über den Hafen von Hoogly (Kolkata) nach Ost- Afrika (heute Kenia, Tansania und Uganda) gebracht. Um diese Zeit verschifften auch die Franzosen ihre Arbeitskräfte, zunächst als Sklaven, aus ihren südindischen Besatzungen von Pondicherry (Pudicheri) und Karaikal in Tamil Nadu in ihre Inselkolonien im Indischen Ozean, nach Madagaskar, Mauritius, Réunion und zu den Seychellen. Die Portugiesen taten dieses auch für ihre afrikanischen Kolonien Mosambik und Angola. Vertragsarbeiter Die damaligen Vertragsarbeiter stellten keine homogene Gruppe dar. Dieser Zustand ist bis heute unverändert geblieben. Sie sind Hindus, Moslems, Christen, Sikhs und Parsen. Die Hindus machen insgesamt fast 70% der afrikanischen Diaspora aus. Die Moslems zählen zur zweitstärksten Gruppe von 20%, die Christen und Sikhs M igr a t i o n i liegen bei nicht mehr als 7 bis 8% der dortigen indischen Bevölkerung. Im Gegensatz zu den Vertragsarbeitern sind Geschäftsleute aus Indien mehrheitlich freiwillig und aus eigener Initiativen nach Afrika gekommen. Zu ihnen gehören hauptsächlich Hindus und Moslems. Die Hindus kommen aus der Kaste der Banias, die Moslems aus der Volksgruppe der Bohras, Khojas (Ismailis: Anhänger von Aga Khan) und Memons, sie sind zum größten Teil Schiiten. Sowohl Hindus als auch Moslems kommen hauptsächlich aus dem Bundesstaat Gujarat. Es sind solche, die seit Jahrhunderten ausschließlich Geschäfte betreiben. Die von der indischen Diaspora gesprochenen Sprachen sind Hindustani bzw. Bhojpuri, ein alter Dialekt der Gangesebene, und die südindischen Tamil, Telegu, Malayalam und Konkani Sprachen, die in den ehemaligen französischen und portugiesischen Kolonien gesprochen werden. Die Sprache der Geschäftsleute ist aber weitgehend Gujarati. Am Anfang des 19. Jahrhunderts brachten die Engländer eine kleine Zahl von Indern nach Afrika für den Straßenbau, zur Urbarmachung der Siedlungsgebiete und als Soldaten. Erst am Ende des 19. Jahrhunderts kam eine große Zahl von ihnen nach Ost-Afrika zum Bearbeiten von Zuckerfeldern und für den Eisenbahnbau, der 1896 begann. Der indische Unternehmer Alibhoy Jeevanji erhielt zu diesem Zweck einen Vertrag von den Engländern zum Anheuern von über 30.000 indischen Arbeitern. Der Eisenbahnbau begann 1896 am Hafen von Mombasa (Kenia), erreichte im Jahr 1901 den Viktoriasee und endete 1931 in Kampala (Uganda). Diese Bahn, Uganda- Bahn genannt, ist 930 km lang und verbindet Kenia,Tansania und Uganda miteinander. Entlang dieser Bahnlinien entstanden zahlreiche ostafrikanische Städte wie Nairobi (Hauptstadt von Kenia), Kisumu, Kitale und Jinju, in denen heute noch Inder in großer Zahl leben. Auch die Bahn ermöglichte es ihnen, sich im Inneren des Landes niederzulassen. Die Bauarbeiter waren hauptsächlich Sikhs aus dem Punjab. Von hier aus wurden sie auch zum Baumfällen nach Vancouver (Kanada) und als Landarbeiter nach Nord-Amerika gebracht. Die Parsen fanden in der Uganda-Bahn Beschäftigung als Lokomotivführer und Bahnangestellte. Seit Beginn der Dampfschifffahrt zwischen Mumbai und Sansibar 1872 kamen in großer Zahl Geschäftsleute aus Gujarat und Mumbai nach Afrika. Nach einer Schätzung beläuft sich zur Zeit die Zahl der PIO in Ost-Afrika (Kenia, Tansania und Uganda) auf ca. 205.000, das sind ca. 0,72 % der dortigen Gesamtbevölkerung (s. Tabelle). Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kontrollierten die Inder fast 90% des dortigen Handels, von Afrikanern abfällig Dukawalla (Hindi: Dukan = Geschäftsinhaber) genannt. Um 1960 lag das pro Kopf Einkommen eines Inders in Uganda bei 288 Pfund Sterling, dagegen nur 12 Pfund bei den Einheimischen.7 Auch wegen ihrer Zusammenarbeit mit den Engländern wurden sie zur Zielscheibe massiver Kritik in Ost-Afrika. 1971 gab Idi Amin, der Diktator von Uganda (1971-1979), den 75.000 Indern, die nicht die Staatsangehörigkeit von Uganda besaßen, den Befehl, das Land innerhalb von 90 Tagen zu verlassen. Kein einziger afrikanischer Staatsmann sprach sich gegen eine solche Vertreibungspolitik von Idi Amin aus. In der Tat wanderten 1972 über 72.000 Inder von dort nach Großbritannien aus. Auch in den anderen Staaten von OstAfrika wurden die Stimmen gegen sie sehr laut. Jomo Kenyatta, der erste Präsident von Kenia (1964-1978), sagte den Indern „Pack and Go“. Bis 1975 verließen fast 200.000 Inder Ost-Afrika. Jawaharlal Nehru, Premierminister von Indien (1947-1964), riet den dort lebenden Indern, Afrika als ihr Heimatland zu betrachten, sich kräftig in den dortigen Freiheitsbewegungen zu engagieren und sich in das dortige Volk zu integrieren. In einer seiner Reden ging er sogar so weit zu sagen: „If you cannot be and if you are not friendly to the people of that country, come back to India and do not spoil the fair name of India“.8 Auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurden Inder nach Südafrika gebracht, zunächst nach Natal, Transvaal und in die Cape Colony, und zwar für die gleichen meine welt 2/2011 53 i Tätigkeiten wie Zucker- und Eisenbahnanbau. Indische Händler schlossen sich ihnen an. Fast 90% der südafrikanischen indischen Diaspora lebt noch in diesen drei Gebieten. Heute beläuft sich ihr Bevölkerungsanteil auf 1,2 Millionen und damit machen sie 2,78% der südafrikanischen Bevölkerung aus. Ihr Einkommen ist drei Mal so hoch wie das der Schwarzafrikaner und halb so groß wie das der Weißen. Sie sind aber in die südafrikanische Gesellschaft gut integriert. Sie betreiben nicht nur Geschäfte, sondern sind sie auch vielfach in den akademischen Bereichen, Regierungsämtern sowie in der Politik tätig. Diese Entwicklung geht auf Mahatma Gandhi zurück, der dort 21 Jahre (1893-1914) lebte und zusammen mit den Afrikanern Widerstand gegen die dortige Rassentrennungspolitik leistete. Der Indian National Congress diente Nelson Mandela bei seiner Gründung des African National Congress 1960 als Vorbild. Im Gegensatz zu Ost-Afrika sind die Inder von Südafrika nicht vertrieben worden. Von Ost- und Südafrika ging ein Teil der indischen Diaspora auf der Suche nach Arbeits- und Geschäftsmöglichkeiten nach Botswana, Malawi, Sambia (früher: Nord-Rhodesien) und Simbabwe (SüdRhodesien). Die Engländer gewährten den Indern die Möglichkeit, sich in ihren Kolonien frei zu bewegen und wohnhaft zu werden, um ihren Bedarf an Gütern und Dienstleistungen zu decken. In den genannten Ländern beträgt die Gesamtzahl der PIO 44.000. Ihr Anteil macht insgesamt lediglich 0,72% der Bevölkerung aus, aber sie sind auch in diesen Ländern sehr wohlhabend, was gelegentlich zu Konflikten zwischen ihnen und der dortigen Bevölkerung führt. In der ehemaligen englischen Kolonie Mauritius sind die indischen Emigranten am meisten vertreten.Wie nirgendwo sonst in der Welt bilden sie hier die Mehrheit, mit einer Zahl von 617.000 machen sie fast 60% der dortigen Gesamtbevölkerung aus. Die Insulaner nennen ihr Land „Little India“. Die Franzosen besaßen diese Insel von 1715 bis 1810 und brachten während dieser Zeit die Inder aus ihren besetzten Gebieten Pondicherry und Karaikal (Ta54 meine welt 2/2011 M igr a t i o n i mil Nadu) zunächst als Sklaven auf die Insel. Infolge des Krieges (1803- 1815) zwischen Napoleon und England musste Frankreich 1810 Mauritius an England abtreten. Aber Frankreich ließ in einem Vertrag festschreiben, dass die Engländer die bisherige französische Kultur, Sprache und Tradition weiter beibehalten sollten. Nach der Übernahme der Insel brachten die Engländer eine große Zahl von Indern nach Mauritius. Hierher kamen auch vielfach die Vertragsarbeiter aus dem damaligen Bengalen, weswegen auch hier heute noch das alte Bhojpuri gesprochen wird. Aber auch Morisyen, eine kreolische Sprache, die auf dem Französischen basiert, wird von fast allen Inselbewohnern im Alltag benutzt. Interessant ist es, dabei zu beobachten, dass die PIO trotz ihrer großen Mehrheit und Geschäftstüchtigkeit in Mauritius keine ökonomisch dominante Rolle spielen. Die Kreolen, ehemalige Sklaven aus Afrika, die sich mit Europäern vermischt haben und die lediglich 5% der dortigen Bevölkerung ausmachen, kontrollieren noch wichtige Geschäfte und Ämter in Mauritius. Es kann ohne weiteres gesagt werden, dass die herrschende Oberschicht bis heute französisch geprägt geblieben ist. Assimilierungspolitik Im Gegensatz zur englischen war die französische und portugiesische Politik darauf fixiert, ihre Sklaven und Fremdarbeiter voll an ihre Gesellschaft zu assimilieren. Infolge dieser Politik wurden die PIO in den frankophonen Kolonien wie Madagaskar, Mauritius, den Seychellen und Réunion christianisiert. Dort musste man Französisch oder Kreolisch sprechen, französische Namen und Kleider tragen, um voll und ganz Franzose zu sein. So ist es heute sehr schwer, die PIO in diesen Ländern auszumachen, mit Ausnahme von Mauritius, das von den Engländern übernommen wurde, die eine Politik der Nichteinmischung in kulturell-religiöse Angelegenheiten ihrer Kolonialvölker betrieben. In den lusophonen Staaten von Mosambik und Angola kamen die PIO primär aus den portugiesischen Kolonien Goa, Daman und Diu, die bereits zum Katholizismus konvertiert waren, portugiesisch sprachen und sich voll assimiliert hatten. Ihnen wurde auch erlaubt, in den porugiesischen Kolonien Land zu erwerben, was bei den Engländern und Franzosen lange Zeit nicht möglich war. Menschen aus Goa wurden sogar zu Großgrundbesitzern und Feudalherren in Mosambik, die sogenannten Prazeiros. Bei der Vergabe von Ämtern herrschte offensichtlich keine Diskriminierung wegen Herkunft und Hautfarbe. In den lusophonen Ländern wurden die Kolonialvölker nach der Assimilierung als verlängerter Arm des Mutterlandes bzw. Imperiums betrachtet. Die indische Stadt Velha Goa blieb bis zum Jahre 1530 Sitz des Vize-Königs von Mosambik. Aus diesen Gründen waren sie bereits im 19. Jahrhundert weder in ihrer äußeren Erscheinung noch in ihrer Tradition als indisch zu erkennen. In den dortigen Statistiken findet man lediglich einige indische Geschäftsleute, die sich nicht assimiliert haben, und die neu hinzugekommenen NRI. In der ehemaligen französischen Kolonie Seychellen leben noch ca. 5.000 PIO, sie machen 6,25% der dortigen Bevölkerung aus. Sie sind dort voll assimiliert, sehr wenige von ihnen haben noch indische Namen. Réunion ist seit 1946 ein Teil bzw.ein Départment, es heißt „Outre Mer“, von Frankreich. Die Vertragsarbeiter kamen auch hier aus den ehemaligen französischen Kolonien Tamil Nadu und Malabar. Fast 25% der Gesamtbevölkerung von 800.000 sind indischer Abstammung. Sie gehören zur römisch-katholischen Kirche und haben sich mit der dortigen afrikanischen und französischen Bevölkerung vermischt. Die Einheimischen nannten sie Tamilou. Es sind dort lediglich ca. 8.000 als indische Geschäftsleute übrig geblieben, die noch ihre alten indischen Namen, ihre Religion und Tradition beibehalten haben. In Madagaskar leben 25.000 PIO, das sind 0,17% der dortigen Bevölkerung. Die meisten von ihnen sind Händler und Geschäftsleute aus Gujarat und Mumbai, in der Mehrzahl Bohras und Khojas aus Gujarat. Sie pflegen ihre alte Kultur und Tradition weiter. Sie kontrollieren noch über 50% der dortigen Binnengeschäfte und sind dort nicht gern gesehen. Zum Schluss sei gesagt, dass sich die indischen Händler bis jetzt kaum in die af- i rikanische Gesellschaft integriert haben. Die Händlergruppen sowohl der Hindus als auch der Moslems kommen mehrheitlich aus Gujarat, gelten in religiöser Hinsicht als sehr konservativ, pflegen ihre Landessprache und Tradition und leben noch weitgehend nur mit ihren eigenen Volksgruppen zusammen. Sie bilden in Afrika in kultureller und sprachlicher Sicht eine Einheit, eben die der Vertragsarbeiter, die aus verschiedenen Regionen kamen. Die wirtschaftliche Unabhängigkeit und Besserstellung der Händler brachte sie nicht unter Zwang, ihre Lebensweise und Weltanschauung zu ändern, wie es bei den lohnabhängigen Kulis und Vertragsarbeitern der Fall war. Nachdem Indien begonnen hat, ökonomisch und politisch eine beachtliche Rolle in der Welt zu spielen, fühlt sich die indische Diaspora zu dem ursprünglichen Land ihrer Vorväter hingezogen. Nach der Unabhängigkeit Indiens und der afrikanischen Länder normalisieren sich die Beziehungen zwischen ihnen und ihren Gastländern und diese werden durch die modernen Kommunikationsund Transportmittel noch gefördert. Seit über 20 Jahren arbeitet Indien auf Bundesebene an der Pflege und Intensivierung der Beziehungen zwischen der indischen Diaspora in deren Gastländern. Es sind inzwischen unzählige öffentliche und private Institutionen und Organisationen in Indien entstanden, die zur Wiederbelebung der Kultur, Tradition und Kontakte untereinander beitragen. Die Aufzählung solcher Organe, die sich der Renaissance der Beziehungen widmen, würde den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen. Die Inder im Ausland, sowohl PIO als auch NRI, zählen zu einer der erfolgreichsten Volksgruppen in ihren Aufenthaltsländern. In den USA und Kanada sind sie die Wohlhabendsten unter allen Minoritäten. Dies gibt ihnen das Gefühl der Stärke und Zugehörigkeit zu ihrem Ursprungsland. Zu diesem Zweck sind Netzwerke und internationale Dachorganisationen, wie Global Organization of Persons of Indian Origin (GOPIO) entstanden, die sich als Brückenbauer, Informationsträger und Sprachrohr für die Belange der indischen Diaspora einsetzen und die Gastländer auf M igr a t i o n i PIO und NRI in Ost-und Süd-Afrika9 Land PIO und NRI Bevölke- rungsanteil Südafrika 1.200.000 2,78 % Mauritius 716.000 59,67 % Kenia 103.000 0,33 % Tansania 90.000 0,26 % Madagaskar 25.000 0,17 % Mosambik 21.000 0,12 % Simbabwe 17.000 0,13 % Sambia 13.000 0,12 % Uganda 12.000 0,05 % Botswana 9.000 0,42 % Réunion 8.000 1,00 % Seychellen 5.000 6,25 % Malawi 5.000 0,25 % Gesamt 2.224.000 die Diskriminierung und Benachteiligung dort ansässiger Inder aufmerksam machen und medienwirksame Maßnahmen und politische Schritte ergreifen. Es ist allgemein bekannt, dass die chinesische Diaspora entscheidend zur Entwicklung von China als Großmacht beigetragen hat. Die Chinesen in den Ländern ihrer Diaspora betrieben hauptsächlich Handel und Kommerz, dagegen blieben die Inder in ihren Gastländern weitgehend lohnabhängig.Die Auslandschinesen verfügten fast über eine Monopolstellung für ihre Heimatwaren wie Seide, Porzellan, Schießpulver, Papier, Buchdruckkunst und Tee. Darüber hinaus stiegen sie in die Gastronomiewirtschaft ein. Im Laufe der Zeit kontrollierten sie einen beträchtlichen Teil des Binnengeschäfts von Südost-Asien, von den Philippinen bis Birma. Da sie in Regionen lebten, die ihnen kulturell verwandt waren, hatten sie es leichter, sich dort geschäftlich zu entfalten. Dagegen waren die Geschäftsbedingungen für die Inder in Afrika ungünstig und feindselig. Außerdem hinderte das Vordringen europäischer Seefahrer und Kolonialherren die Inder gewaltig an der Ausbreitung ihrer Geschäfte in überseeischen Ländern wie in Afrika. Darüber hinaus lernten die Chinesen sehr früh von den Europäern in Hongkong, Singapur und Macao das moderne Geldund Bankwesen kennen, die Formalitäten und Wege des internationalen Geschäftes. Es entwickelte sich unter ihnen eine Klasse des Geld- und Handelsadels, Maiban, die ihr Kapital und Können der Volksrepublik China zur Verfügung stellten. Die Chinesen von Chinatown in den USA, Kanada und England beschäftigten sich vornehmlich mit Handel und Geschäften aller Art, anders als die Inder. Die indischen Geschäftsleute konnten im europäischen Raum ihre Tabus nur schwer überwinden, was notwendig gewesen wäre, um heimisch zu werden. Die viel geringere Zahl indischer Geschäftsleute in Europa belegt das. Seit den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts trägt die indische Diaspora zu der Entwicklung Indiens bei, und zwar durch die in Silicon Valley (Kalifornien) arbeitenden NRI, die dort wegen ihrer guten technischen Ausbildung Arbeit fanden. Sie wurden im Laufe der Zeit Mitinhaber und Gründer der namhaften Informationstechnologiefirmen.Von ihnen gingen einige nach Bangalore (Karnataka) und Hyderabad (Andhra Pradesh) und gründeten dort Firmen, die heute zu den größten der Welt zählen. Sie tragen massiv zum Export von Computersoft- und Hardware ins Ausland bei, fast 30% der indischen Auslandsdevisen gehen auf diese Firmen zurück. Devisenüberweisungen Auch die Devisenüberweisung der indischen Diaspora spielt eine sehr große Rolle bei der Entwicklung Indiens. Nach Angaben der Reserve Bank of India wurden 2009 von im Ausland lebenden Indern fast 30 Milliarden US-Dollar nach Indien überwiesen, was 4% des indischen Bruttosozialprodukts darstellt. Bei der Überweisung lag der Anteil der USA mit 44% an erster Stelle. Danach kamen die Golfländer mit 25% und Europa mit 13%. Nach den Schätzungen liegen die Überweisungen von Indern weit höher, da der Großteil des Geldes, insbesondere aus den Petro Dollar Staaten, über Hawala bzw. Vermittlungsmänner und Geschäftsinhaber transferiert wird. Da Inder seit ein paar Jahren verstärkt als IT-Spezialisten und meine welt 2/2011 55 i Fachkräfte weltweit eingestellt werden, nehmen die Geldüberweisungen nach Indien zu. So wird vermutet, dass Indien diesbezüglich bald China überholen wird. Ferner kommen zur Zeit fast sechs Millionen Touristen nach Indien, wovon über 80% aus dem Kreis der PIO und NRI sind. Die Einnahmen werden dadurch auf acht Milliarden geschätzt. Die Mehrzahl der Auslandsinder kommt aus dem Inneren des Landes, und auf diese Weise wird durch ihre Besuche auch die bisher vernachlässigte Infrastruktur des Binnenlandes verbessert und die dortige Kaufkraft gesteigert. Indien hat sich ohne Zweifel als demokratisches Land voll bewährt und dabei weitgehend friedlich entwickelt. Das schafft M igr a t i o n i eine gute Voraussetzung für die Investition. Demzufolge ist erkennbar, dass die indische Diaspora zunehmend in Indien investiert. Ein sehr gutes Beispiel liefert uns das Land Gujarat, das sich, verglichen mit den anderen Bundesländern Indiens, infolge der Investitionen von Gujaratis aus Afrika, Nordamerika und England am besten ökonomisch und industriell entwickelt hat. Die Überweisungen indischer Vertragsarbeiter aus den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE) und Saudi-Arabien nach Kerala und Hyderabad haben entscheidend zum Wohlstand der dortigen Bevölkerung und Gründung zahlreicher kleiner Betriebe beigetragen. j Literatur: 1) Bernier, Francois. Travels in the Mogul Empire A. D. 1656-1668. By Vincent A. Smith. London 1916. S. 224 2) Antonova, K. Alex Sandrovna. A History of India. Book 1. Moscow 1979. S. 88 3) Minute in September 18,1789. In: John Strachey. The End of Empire. London 1959. S. 66 4) Marx, Karl. Das Kapital. Marx-Engels Werke (MEW). Bd. 9 (1960). S. 455 5) Nehru, Jawaharlal. The Discovery of India. Calcutta 1947. S. 247 6) Potts, Lydia. Weltmarkt für Arbeitskräfte. Hamburg. 1988 7) Ramchandani, R. R., Uganda Asians. Bombay 1976. S. 84-87 8) Selected Works of Jawaharlal Nehru. Vol. 9., New Delhi. 1976. S. 619 9) Dubey, Ajay. Indian Diaspora in Africa. New Delhi 2010 Zahlenangaben über Inder in Afrika, s. unterschiedliche internationale Statistiken Die 698 Adivasi-Gemeinschaften besitzen eine eigene Sprache und eine eigenständige Kultur und pflegen umweltschonende Lebensweisen. Doch die Bundesregierung weigert sich, sie als indigene Völker anzuerkennen. Amtlich sind sie als scheduled tribes registriert, aber sie selbst bezeichnen sich in Hindi als adivasi, um ihren Anspruch als erste Bewohner bzw. Ureinwohner zu unterstreichen. Gelegentlich werden sie auch girijans (Kinder der Berge) genannt. Bis zur Zeit der europäischen Eroberung lebten sie zurückgezogen im nahezu undurchdringlichen Dschungel. Aber die kolonialen Forstgesetze sprachen ihnen jegliches Nutzungsrecht an den Wäldern ab. Die Wälder wurden gerodet. In den höheren Bergregionen legten die Briten Teegärten und in den unteren Kaffeeplantagen an. Die adivasi konnten sich nicht mehr autark ernähren, denn Wald und Weiden reichten nach der Rodung nicht mehr für eine Lebensgrundlage für alle Dorfbewohner aus. Als Kulis mussten sie in Teegärten oder auf Kaffeeplantagen ganztägig arbeiten. Vor diesem Leben als Kuli gingen sie einer Arbeit nicht den ganzen Tag nach. Man kann behaupten, Jahrhunderte hatte es ausgereicht, dass sie nur einen halben Tag bis etwa zur Mittagszeit Zeit aufwenden mussten, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Ab der Mittagzeit konnten sie sich in Gruppen zusammenfinden und sich unterhalten, und sie tanzten und sangen gemeinsam. Während dieser freien, erholsamen, fröhlichen Zeitspanne von der Mittagszeit bis zum Abend wurden auch Mythen und Märchen erzählt, die so an die Kinder weitergegeben wurden.Aber nach einer ganztägigen, eintönigen, immer gleichbleibenden Arbeit in Teegärten oder auf Kaffeeplantagen kommt der adivasi müde und abgespannt in sein Dorf zurück und möchte sich nur noch ausruhen, um am nächsten Tag wieder erholt zur Arbeit gehen zu können. Aber nicht nur Männer, sondern auch Frauen arbeiten in Teegärten und auf Kaffeeplantagen. Die gelebten Traditionen und die über Generationen hinweg immer wieder neu erzählten Mythen und Märchen sind auf der Strecke geblieben. Unwiederbringlich gehen hier die Kulturen der Stammesbevölkerung und deren Traditionen und Sprachen verloren, obwohl einige Idealisten und auch der indische Staat versuchen, das Kulturgut der Stammesbevölkerung zu retten, indem Videofilme von der Lebensweise der adivasi gedreht und deren Mythen und Märchen aufgeschrieben werden. buchauszug Wer sind die Adivasi? G erda R ahlfs Nachfolgend drucken wir einen kurzen Auszug aus dem Buch „Frauen und Geschichten aus Indien“ von Gerda Rahlfs, das 2010 erschienen ist. Das Buch ist ein „bewundernswertes Kompendium einer höchst facettenreichen Darstellung des indischen Subkontinents“ (Prof. Dr. Dr. Peter Antes, Leibniz Universität, Hannover) und zugleich eine Liebeserklärung an Indien. Die Erlebnisse und Eindrücke einer Studienreise nach Nordindien im Jahre 2006 prägten und inspirierten Gerda Rahlfs, sich intensiv mit dem Thema Indien auseinanderzusetzen und das vorliegende Buch zu schreiben. Das Buch ist in dreieinhalbjähriger intensiver Arbeit entstanden. Eine im März 2008 erkannte Leukämieerkrankung zwang Frau Rahlfs zu mehrmaligen Krankenhausaufenthalten. Am 2. 4. 2010 verstarb Gerda Rahlfs unerwartet und viel zu früh. D ie R edaktion 56 meine welt 2/2011 i I n t e rvi e w i „Indische Musik bedeutet für mich der Atem des indischen Subkontinents, in welchem meine Seele beheimatet ist.“ D iptesh alias F ichi D iamond Diptesh ist von indischen Eltern in Ratingen (Düsseldorf) geboren und dort aufgewachsen. Früh im Leben entwickelte er eine Leidenschaft für Hip Hop Kultur und Rap Musik, weil, wie er sagt, „Hip Hop alle Rassen und Religionen vereint“. Heute komponiert Fichi Diamond Protestlieder und singt tiefenpoetische Rap und Reggaesongs über die Liebe. Im folgenden Interview erzählt er über sein Leben als Musiker und als Sohn aus Indien eingewanderter Eltern. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil D ie R edaktion Meine Welt: Bist du als Kind indischer Eltern in Deutschland geboren und hier aufgewachsen? Diptesh: Genau. Meine Eltern stammen beide aus dem indischen Bundesstaat Bengalen und ich bin hier in Deutschland mit einem indischen Herkunftshintergrund, welchen ich mit Stolz verkörpern darf, geboren und aufgewachsen. Meine Welt: Du bist ein Musiker. Welche Art von Musik betreibst du? Wie kamst du zu dieser Art von Musik? Diptesh: Ich bringe mich als MC der Hip Hop Kultur in der Rapmusik zum Ausdruck und singe neuerdings auch Reggaesongs. Hip Hop ist eine urbane Subkultur, die aus Mcing (Rap), Djing, B-Boying (Breakdance) und Graffiti-Art besteht, in der New Bronx von Afrika Bambaata aus der Taufe gehoben wurde und in den USA meist von Afroamerikanern und Puerto Ricanern und anderen ethnischen Minderheiten gelebt wird, welche von der gesellschaftlichen Mehrheit unterdrückt werden. So ist der Rapgesang sehr subversiv gehalten und gibt auch mir die Möglichkeit, als Mitglied einer ethnischen Minderheit meine Schaffenskraft in Deutschland frei zu entfalten und meine traurigen Erlebnisse mit Rassismus zu verarbeiten, die ich seit meiner frühesten Kindheit erfahren habe. Mein erstes deutsches Wort, welches ich kennenlernte, war „Neger“. Ich wurde diskriminiert und musste viel kämpfen. Als die Hip Hop Kultur mir dann im Alter von 12 Jahren eine Heimat gab und mich mit Stolz beseelte, mit welchem ich meine indische Herkunft lebe, und ich mit 15 Jahren das erste Mal auf der Bühne stand, war ich nicht mehr der „Neger“, sondern der „Coole schwarze Inder mit dem Mikrophon“. Ich bekam den Respekt, den ich mir erträumte. Außerdem lehrte mich Hip Hop, meinen Geist mit Wissen zu vertiefen und wachsen zu lassen. So habe ich meine Fertigkeiten in der deutschen Sprache immer weiter ausgebaut, habe Germanistik studiert und kenne nun mehr Worte als „Neger“ (lacht.) Mein gesamtes Selbstwertgefühl entstammt der Hip Hop Kultur, in welcher ich kunstvoll meine Rap Reime mit rhythmischen Beatkompositionen lebendig werden lasse, die mal tiefenpoetisch geschrieben sind und mal sehr hart und direkt meine Gefühlsmomente fassbar machen. So verkörpere ich heute als Rap MC authentisch die Hip Hop Kultur. Meine Welt: Welche Beziehung hast du zu indischer Musik? Diptesh: Ich habe einen sehr tiefen Bezug zur indischen Musikvielfalt. Sie bedeutet für mich den Atem des indischen Subkontinents, in welchem meine Seele beheimatet liegt. Der Atem, die Atmosphäre, der Klang meiner indischen Herkunft. Als Kind habe ich mir sehr gerne Hindi-Movies angeschaut, in welchen ja viel gesungen und getanzt wird. Diese dreistündigen Filmerlebnisse prägten mich, und als ich älter wurde, lernte ich in der Tiefe die indische klassische Musik zu lieben und den Facettenreichtum der indischen Musikkultur kennen. Was indische Folklore angeht, spricht mich besonders die Punjabi Bhangra Musik an, die mich zum Tanzen bewegt. Außerdem faszinierte mich die urbane Musik der indischen Diaspora in UK, deren berühmteste Vertreter wohl der Tablaspieler Talvin Singh, Punjabi MC, Juggy D und Jay Sean sein dürften. Sie verbinden Drum&Bass, Hip Hop und Rhythm&Blues mit Klängen aus der indischen Musik. So lasse ich ebenfalls hin und wieder indische Musikkulturvielfalt in meine Rapmusik mit einfließen und unterstreiche auf diese Weise meine indische Herkunft. Meine Welt: Ist Musik die Hauptquelle deines Lebensunterhalts oder ist sie nur ein Hobby? Diptesh: Ich habe vor einiger Zeit die Musikproduktionsfirma „Indertat.com“ ins Leben gerufen und arbeite als Industrietexter, um mein musikalisches Unternehmen zu finanzieren und meinen Lebensunterhalt zu sichern. Darüber hinaus bin ich Berufsmusiker und trage bundesweit meine welt 2/2011 57 i meine musikalische Schaffenskraft auf die Bühne und habe mein erstes Solo-Debüt „Bollywood Ghetto Gentleman“ als CD veröffentlicht. So ist Musik mehr als nur ein Hobby für mich. Meine Welt: Bist du als Musiker in Deutschland akzeptiert? Ist deine Hautfarbe ein Vorteil, um in dieser Branche weiterzukommen? Diptesh: Ich habe eine Menge Fans, die meine Musik sehr schätzen und feiern. Sie sehen mich als „schwarzen Rapper“ und „coolen Reggae-Sänger“. Auf diese Weise wird meine Hautfarbe für den kommerziellen Erfolg ein erheblicher Vorteil, ein Umstand, welcher auch die Musikindustrie erkennt. Jedoch wird erwartet, dass ich als dunkelhäutiger Rapper keine hochwertigen Lyrics zum Ausdruck bringe, sondern meine Songtexte so einfach wie möglich halte. Meist haben nur deutschstämmige MCs die Möglichkeit, Rap als Kunst kommerziell zu verkaufen. Sie kritisieren beispielsweise meinen indischen Akzent in meinem Gesang, welcher jedoch gar nicht vorhanden ist. So diene ich nur als bloße Unterhaltung für die Masse. Neben dem kommerziellen Erfolg, den ich anstrebe, möchte ich natürlich auch als ernstzunehmender Musiker anerkannt werden. Diese Anerkennung ist in Deutschland für einen Dunkelhäutigen sehr schwierig zu erreichen. So muss ich mich also auch im Musikgeschäft mit Rassismus auseinandersetzen. Meine Welt: Hast du wegen deiner Herkunft Diskriminierung in Deutschland erlebt? Wenn ja, bitte erzähle uns dieses Erlebnis. Diptesh: Ich habe seit meiner Kindheit ständig Rassismus und Ausgrenzung erfahren. Da ich als kleiner Bub erst mit der bengalischen Sprachkultur in Berührung kam, weil ich Deutsch ohnehin im sozialen Umfeld deutscher Kinder adaptieren würde, verstand ich im Kindergarten nur die Bedeutung des Wortes „Neger“. Ein Umstand, welcher vollkommen ausreichte, um mich mit Händen und Füßen gegen die Herabwertung meiner Würde zur Wehr zu setzen, da ich mich auf Deutsch nicht mitteilen konnte. So war ich sehr destruktiv, 58 meine welt 2/2011 I n t e rvi e w i bewarf die anderen „bösen“ Kinder mit Spielzeugautos, warf sie von ihren Stühlen und wurde durchgehend getadelt. So weigerte ich mich, den Kindergarten weiterhin zu besuchen. Doch meine Eltern, welche einen hohen Bildungshintergrund haben, motivierten mich, mit deutschen Kindern zu spielen und die deutsche Kultur in der Tiefe kennenzulernen, da ich als ein Teil der deutschen Gesellschaft von ihr anerkannt werden sollte. Letztendlich ist Deutschland ja meine Heimat, und Sprachkultur muss in ihrer Dynamik gelebt werden, ohne das sprachliche und kulturelle Erbe der Eltern zu verleugnen. So bleibt die eigene Persönlichkeit lebendig und mein indischer Geist kann die deutsche Sprache nur bereichern. Also versuchte ich, mich mit den deutschen Kindern anzufreunden, doch blieb diese Heimat für mich eine vertraute Fremde. In der Schulzeit wurde ich von meiner gesamten Klasse als „Neger“ beschimpft und antwortete mit Gewalt, bei welcher mir Freunde vom Schulkindergarten halfen, die ebenfalls mit Migrantenhintergrund in Ratingen West aufwuchsen. In einem Ferienerholungsheim wurde ich von älteren deutschen Kindern durchgehend als „Neger“ beschimpft. Sie wurden sogar handgreiflich. Es war eine sehr harte Zeit und ich verleugnete mich selber, bis ich das Alter von 12 Jahren erreichte und der positive Geist der Hip Hop Kultur mir eine neue Heimat gab, in welcher nicht meine Hautfarbe oder meine Herkunft zählte, sondern meine Leistung im Rap. Ich begann, bewusst und positiv zu denken, Gewalt als Lösung für meine Ein gespaltenes Land Deutschland ist nach der „Sarrazin-Debatte“ ein gespaltenes Land. Aber die Trennlinie verläuft nur oberflächlich zwischen „den Muslimen“ und „dem Rest“ und nur temporär zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und jenen ohne. Die Trennlinie verläuft zwischen den „alten“ und den „neuen“ Deutschen und ihrer jeweiligen Vision von der Zukunft ihres Landes. Es sind zwei unterschiedliche Vorstellungen von Deutschland, die hier aufeinanderprallen. Das neue Deutschland wird sich Probleme abzulehnen und befasste mich in der Tiefe mit meiner indischen Herkunft, brachte diese in meinen Songtexten zum Ausdruck und wurde mit Respekt bedacht. Mit meiner Kunst möchte ich alle perspektivelosen Kids mit ausländischen Wurzeln inspirieren und ihnen als Vorbild dienen. Ich möchte sie dazu bewegen, ihren Migrantenhintergrund als persönliche Bereicherung und als Bereicherung für ein neues Deutschland zu betrachten, um eine langfristige multikulturelle Gesellschaft zu begünstigen. Meine Welt: Welche Zukunftspläne hast du? Willst du in dieser Branche bleiben und dich als Rap/Reggae Musiker profilieren? Diptesh: Ich möchte auf jeden Fall durchgehend in der Unterhaltungsbranche verbleiben und mich in dieser fest etablieren. Nach meinem Solo-Debut- Album „Bollywood Ghetto Gentleman“ ist die Veröffentlichung eines Mixtapes geplant, welches den Titel „Gutes Zeug aus West“ tragen wird. Hinterher folgt dann ein RapAlbum, das mit „Sprechgesang“ betitelt sein wird. Ansonsten arbeite ich nebenher an einem Roman. Meinen Künstlernamen Diptesh MZ habe ich übrigens in Fichi Diamond abgeändert, wobei ich derzeit noch mit beiden Pseudonymen auftrete. Ich bin gespannt, wohin mich die Wege der Kunst führen. So warte ich nun gespannt auf all die neuen Inspirationen, mit welcher Gott meine Kreativität beseelt. Hierbei folge ich meiner inneren Stimme und lasse mich überraschen. j in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft, Genetik und Abstammungsstrukturen definieren können – dies erlaubt schon der demografische Wandel nicht mehr. Es wird sich trotzdem nicht abschaffen – es wird nur ethnisch und kulturell vielfältiger sein. Und Deutschsein gilt dann als Chiffre für die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen Land. N aika F oroutan , H U - B erlin (Auszug aus dem Beitrag „Neue Deutsche, Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer gehört zum neuen Deutschland?“, Aus Politik und Geschichte, 15.11.2010) i Erz ä h l u n g i Ein hilfsbereiter Mensch U da y P rakash Eine Eigenheit meines Vaters bestand darin, den Mitmenschen unentwegt helfen zu wollen. So kam es gelegentlich vor, dass er sich bemühte, jemandem auf die eine oder andere Weise unter die Arme zu greifen, obwohl dieser seine Hilfe gar nicht benötigte. Selbst wenn ihn jemand ohne Hintergedanken besuchte, hatte Vater den Eindruck, sein Gast würde in der Klemme stecken und sich nicht trauen, offen darüber zu sprechen. Also versuchte er ihm sein Geheimnis zu entlocken und herauszufinden, in welchen Schlamassel er geraten war und wie er ihn daraus befreien könnte. Von denjenigen, die keine nennenswerten Schwierigkeiten hatten oder die Fähigkeit besaßen, sich selbst aus der Patsche zu helfen, machten sich auch einige über Vater lustig. Zudem vermochten manche Vaters Möglichkeiten genau einzuschätzen. Sie wussten, bei welchen Angelegenheiten welche Hilfe von ihm zu erwarten war und wann er nicht weiterhelfen konnte. Mit anderen Worten, sie konnten genau beurteilen, welche Möglichkeiten er besaß und wann es sich lohnte, ihn aufzusuchen. Wann immer es ihnen von Vorteil erschien, spannten sie ihn für ihre Zwecke ein, und war einmal keine Hilfe von ihm zu erwarten, teilten sie ihm ihre Probleme erst gar nicht mit. Vater hatte keinen Umgang mit Politikern, Industriellen, Schmugglern oder hohen Beamten und war daher für die einflussreichen Leute aus der Stadt und dem nahegelegen Städtchen von nicht allzu großem Nutzen. Und trotzdem versuchte er auch diesen Menschen zu helfen, wenn er einmal Besuch von ihnen bekam und sie ihre Probleme vor ihm ausbreiteten. Und dann gab es natürlich Unzählige, die auf Vaters Hilfe angewiesen waren und für die er von unschätzbarem Wert war. So half er beispielsweise regelmäßig, wenn jemand zuhause im Bett lag, vom Dorf ins Krankenhaus gebracht werden musste und kein Geld für Ärzte und Medikamente besaß. Mit seinem Traktor fuhr er ihn ins nächste Städtchen, brachte ihn ins Krankenhaus und bezahlte in der Regel sämtliche Rechnungen aus eigener Tasche. Einer von ihnen war der tuberkulosekranke Stammesangehörige Lalu, der mit zwanzig Jahren bereits wie ein Achtzigjähriger ausgesehen hatte, zu einem Skelett abgemagert war und bei seinen Hustenanfällen Blut spuckte. Ihn hatte Vater, nachdem er sein Getreide verkauft hatte, in die Landeshauptstadt Bhopal gebracht. Zwei Jahre später war Lalu kerngesund zurückgekehrt. Keiner hätte für möglich gehalten, dass er bereits zu den Todgeweihten gezählt hatte. Jeden Morgen kam Lalu zu uns. Meistens brachte er Tomaten oder anderes Gemüse mit. Nach seiner Genesung hatte er begonnen es anzubauen. Auf diese Weise brachte er seine Dankbarkeit Vater gegenüber zum Ausdruck. Auch bei dem Vorfall, von dem ich nun berichten möchte, geht es um Vaters Angewohnheit, anderen helfen zu wollen. Es war gerade Regenzeit. Bis auf kleine Unterbrechungen hatte es mehrere Tage geregnet. Sämtliche Gräben und Wasserspeicher hatten sich gefüllt. Der Wald war triefend nass. Auf der Veranda stand Wasser. Der Fluss, der direkt an unserem Haus vorbeiführte, war über die Ufer getreten. Was an der Oberfläche trieb – Schaum, abgebrochene Äste und Müll, von dem keiner wusste, woher er stammte –, wurde von den Wellen immer wieder unter Wasser gespült. Er hatte sich in einen reißenden Strom verwandelt. Sah man ihn oder hörte man seine tosenden Wellen, so jagte er einem Angst und Schrecken ein. Und stellte man sich mit geschlossenen Augen an sein Ufer, hatte man selbst am helllichten Tag den Eindruck, als sei man auf allen Seiten vom Hochwasser umgeben und befinde sich mitten in der Strömung. Als sich der Vorfall ereignete, führte noch keine Brücke über den Fluss. Man wurde von einem Boot übergesetzt. Die Fährleute hatten die Anlegestelle gepachtet. Für ihren Dienst entlohnte man sie mit ein paar Münzen. Die Dorfbewohner, die auf unserer Seite des Flusses lebten, waren fast die gesamte Regenzeit vom nahegelegen Städtchen und von der Stadt abgeschnitten. Doch war der Markt, der mittwochs im Städtchen abgehalten wurde, für sie von enormer Bedeutung. Sie machten sich nicht nur zum Einkaufen auf den Weg dorthin, sie boten auch ihre Waren dort an. Aus diesem Grund bildete sich jeden Mittwoch gleich nach Tagesanbruch eine Menschenschlange, die den Fluss überqueren wollte, was für die Fährmänner bedeutete, dass sie an diesem Tag alle Hände voll zu tun hatten. Der Vorfall, um den es hier geht, ereignete sich ebenfalls an einem Mittwoch. Im Städtchen fand gerade der Wochenmarkt statt. Obwohl der Fluss Hochwasser hatte, trafen die Dorfbewohner in Scharen an der Anlegestelle ein, um zum Markt zu gelangen. Die Fährmänner beförderten ununterbrochen Menschen und Waren über den Fluss, entluden sie am anderen Ufer und kehrten wieder zurück. Selbstverständlich mussten alle, die den Fluss überquert hatten, nach dem Ende des Markts wieder auf die andere Seite zurückkehren. Die Geldbörsen der Fährmänner waren voller Geldstücke, auf denen Georg V. und Königin Victoria abgebildet waren. Allmählich brach die Nacht an. Es war gerade Neumond. Im Dorf brannten hier und da ein paar Kerzen und Laternen. Alles andere lag in tiefer Dunkelheit. Gelegentlich waren neben dem tosenden Fluss auch herumschwirrende Glühwürmchen sowie Kühe und Hühner, Frösche oder Grillen zu hören. Sobald es dunkel wurde, trank Vater gewöhnlich etwas und setzte sich mit ein paar Dorfbewohnern zusammen. Dann sprachen sie über alles Mögliche, meistens jedoch über Politik und Landwirtschaft. Damals kannte man selbst in den Dörfern noch die großen Hindidichter. Vater konnte mehrere Gedichte von Pant, Nirala und Maithilisharan Gupt auswendig. Bachchans ›Trinkstube‹ sang er oft, wenn er etwas getrunken hatte. meine welt 2/2011 59 i Er saß gerade mit ein paar Leuten zusammen und trank seinen Alkohol, als jemand zu ihnen kam und berichtete, dass noch an keinem Tag so viele Menschen vom Markt zurückkehren würden wie an die- Erz ä h l u n g i sem. Selbst wenn das Boot pausenlos im Einsatz wäre, würde es mehrere Stunden dauern, bis alle übergesetzt seien. Die nächtliche Dunkelheit stellte dabei ein großes Problem dar. Selbst mit einer Alokeranjan Dasgupta und Martin Kämpchen gewürdigt von rechts nach links: Nirmalendu Sarkar, Alokeranjan Dasgupta, Martin Kämpchen, Jose Punnamparambil. Während des Tagore-Abends, der im Rahmen des diesjährigen Literaturseminars des Literaturforums Indien im Arbeitnehmerzentrum Königswinter vom 8. 7. bis 10. 7. 2011 stattfand, wurden die zwei bekannten Tagore- Experten im deutschsprachigen Raum, Alokeranjan Dasgupta und Martin Kämpchen, für ihre herausragende Arbeit gewürdigt. Der Vorsitzende und der stellvertretende Vorsitzende des Forums haben die beiden Experten mit dem für die Ehrung vorgesehenen Schultertuch aus Indien umhüllt. Der stellvertretende Vorsitzende des Literaturforums Indien sprach von der bahnbrechende Arbeit, die die beiden Experten geleistet haben, um das Interesse an Tagore und seinen Werken im deutschsprachigen Raum wieder zu beleben. Alokeranjan Dasgupta, selbst ein namhafter Dichter in der bengalischen Sprache, ist ein bekannter TagoreÜbersetzer und Interprete Er hat bereits drei Werke über Tagore veröffentlicht: „Goethe und Tagore“, „Der andere Tagore“ und in 60 meine welt 2/2011 diesem Jahr „Mein Tagore“. Das letzte Werk beinhaltet eine exklusive Auswahl von Tagores Prosa und Gedichten in der Übersetzung des Autors sowie nostalgische Erinnerungstexte des Autors an seine Studentenzeit in Shantiniketan. Martin Kämpchen, der deutsche Autor und Übersetzer, der seit über drei Jahrzehnten in Shantiniketan lebt, hat in den letzten Jahren mindestens 10 Bücher über Tagore herausgegeben. Im laufenden Jahr alleine hat Herr Kämpchen 4 Tagore-Bücher herausgegeben: Rabindranath Tagore – Gedichte und Lieder (Insel), Mein Lieber Meister (Draupadi Verlag), Rabindranath Tagore und Deutschland (Marbacher Magazine Nr.133) und eine Sammlung von Aphorismen aus den Werken von Tagore. Seine Monographie über Tagore (Rowohlt Verlag 2011) und sein Tagore-Band „Das Goldene Boot“ – Lyrik, Prosa, Drama (Verlag Artemis und Winkler 2005) sind als wichtige Standardwerke über Tagore geschätzt. J ose P unnamparambil Laterne war es gefährlich zu rudern, da bis auf einen kleinen Lichtkegel alles im Dunkeln lag. Die Fährmänner scheuten sich weiterzufahren, während die Menschen am anderen Ufer kaum erwarten konnten übergesetzt zu werden. Ohne irgendwelche Vorkehrungen zu treffen, hatten sie ihre Häuser verlassen. Sie mussten zurück. In dieser Dunkelheit war es ausgesprochen riskant, all die Menschen mit dem Boot durch eine so starke Strömung zu fahren. Das Boot konnte mit einem im Wasser treibenden Baumstamm oder anderem Treibgut zusammenstoßen und kentern. Wenn man auf irgendeine Weise für etwas Licht sorgen könnte, würde dies alles erleichtern. Vater hatte bereits einige Gläser getrunken. In seinem Rausch musste sich seine Hilfsbereitschaft noch einmal gesteigert haben. Schließlich fand er eine Lösung. Er startete den Traktor, stellte die Scheinwerfer ein Stück nach oben und fuhr zur Anlegestelle. Am Hang hielt er den Traktor an. Wenn er das Gaspedal betätigte, reichte das Scheinwerferlicht gerade aus, um Anlegestelle und Ufer erkennen und das Boot steuern zu können. Es setzte sich in Bewegung, nahm die Menschen auf der anderen Seite auf und brachte sie über den Fluss. Um Mitternacht erklangen von der Anlegestelle plötzlich die Rufe mehrerer Menschen. Es musste sich um Klageschreie handeln. Vermutlich war das Boot gekentert. Ich war damals noch ein Kind, gerade einmal zehn Jahre alt. Kurz darauf begannen auch in unserem Haus mehrere Menschen zu weinen. Am lautesten weinte Mutter. Sie drohte den Verstand zu verlieren. Meine Tanten und einige andere Frauen aus dem Dorf waren ebenfalls in Tränen ausgebrochen. Alle machten sich mit Laternen auf den Weg zur Anlegestelle. An Mutters Seite lief auch ich dorthin. Das Ufer stand zu zwei Dritteln unter Wasser. Überall war das ohrenbetäubende Tosen des Flusses zu hören. Mehrere Menschen riefen wild durcheinander. Sie rannten mit ihren Laternen hin und her. Dann bemerkte ich es. Der Traktor stand nicht mehr am Hang. Auch das Scheinwer- i ferlicht war nirgendwo zu sehen. Dort war alles dunkel und überflutet. Und Vater …? Es fühlte sich schrecklich an.Als wäre mein Herz mit einem Mal vollkommen leer. Im nächsten Moment begann ich am ganzen Körper zu zittern und brach in Tränen aus. Dann sah ich das entstellte Gesicht meiner Mutter. Sie wälzte sich auf der vom Regen durchweichten Erde und weinte bitterlich. Vermutlich hatte sich die Bremse des Traktors gelöst, als er am Hang über der Anlegestelle stand und sich im Leerlauf befand. Vater hatte auf dem Fahrersitz gesessen. Einige andere saßen auf einem seitlich befestigten Brett und konnten gerade noch abspringen, bevor der Traktor mit Vater in die Fluten gefahren war. Jemand sprach davon, dass er betrunken auf dem Traktor gesessen und gesungen hatte. Ich weiß, um welches Tagore-Lied es sich gehandelt haben dürfte: „Wenn keiner deinem Rufe folgt, dann gehe alleine voran! Dann gehe alleine voran! Dann gehe alleine voran!“ Zum Glück waren die Räder des Traktors in der Sandbank, die sich vor der Anlegestelle befand, eingesunken. Der Traktor war stecken geblieben und der Motor ausgegangen. Vermutlich hatte sich der Auspuff mit Wasser gefüllt. Im schwachen Laternenlicht sah ich ihn. Ein paar Meter vor der Anlegestelle ragte Vaters Kopf aus der braunen Strömung des schäumenden Flusses. Er schaute von uns weg, zum anderen Ufer hin. Der Traktor war in den Fluten versunken. Vater saß auf dem Fahrersitz und befand sich bis zum Hals unter Wasser. Er drehte sich nicht zu uns um. Vermutlich war er vor lauter Angst erstarrt. Der furchteinflößende Lärm des Hochwassers musste in seinen Ohren dröhnen. In der Dunkelheit konnte er sicher nichts als das endlose Wasser des brodelnden Flusses sehen. Keiner konnte ihm helfen. Vater hatte einen ausgesprochen schweren Körper. Wie sollte man ihn da ans Ufer bringen? Das Boot befand sich gerade auf der anderen Seite. Vermutlich war Vater noch immer betrunken. Sein Kopf ragte nur aus den Wellen, weil er auf dem hohen Sitz des Erz ä h l u n g i Traktors saß. Hätte er versucht auszusteigen, wäre er in den Fluten ertrunken. Er konnte nicht einmal schwimmen. Dieser Anblick in jener Nacht hat sich wie ein Bild, das einem keine Ruhe lässt, für immer in mein Gedächtnis eingebrannt. Eine Neumondnacht, tagelanger Dauerregen und das tosende Wasser des über die Ufer getretenen Flusses. Und in einiger Entfernung irgendwo in den Fluten befand sich der Kopf meines vor Angst erstarrten, vollkommen bewegungslosen Vaters. Wäre am Traktor ein Gang eingelegt gewesen und der Motor nicht ausgegangen, wäre er noch eine Weile im Fluss weitergefahren. Dann wäre nicht einmal Vaters Kopf zu sehen gewesen. Vielleicht begriff ich damals, dass wir bei den wirklichen Problemen unserer Mitmenschen nichts ausrichten können. Schließlich befand Vater sich an jenem Tag mitten in den Fluten, und sie alle konnten nur mit ihren Laternen am Ufer hin und her rennen. Und selbst Mutter, die wie verrückt weinte, war nichts als eine Zu- schauerin. Sie schnappte verzweifelt nach Luft und war doch durch dieses endlose Hochwasser von Vater getrennt. Obwohl sich mein Herz vollkommen leer anfühlte und ich eine schreckliche Erfahrung durchlebte, hatte auch ich nur eine Zuschauerrolle inne. Vermutlich wusste dies auch Vater und blickte daher nicht zur Anlegestelle zurück. Er schaute unentwegt dorthin, wo der Tod auf ihn lauerte. Dann packte mich Manohar und lief mit mir davon. Vermutlich hatte ihm jemand zu verstehen gegeben, dass man mich fortschaffen müsse. Während ich mich nach Leibeskräften wehrte, brachte er mich nach Hause. Als wir dort ankamen, weinte ich noch immer. Immer wieder sah ich den regungslosen Kopf meines Vaters mitten in den Fluten. Sehr viel später näherten sich mehrere Laternen unserem Haus und menschliche Stimmen erklangen. Manohar gab mir zu verstehen, dass ich ruhig sein müsse. Vater würde kommen. (Aus dem Hindi von André Penz) Fronleichnam in Köln-Mülheim Die Mitglieder der indischen Gemeinde bereichern die Mülheimer Tradition schon seit langem. Seit den 60er-Jahren ist die Stadt Köln ein Anziehungspunkt für in Deutschland lebende indische Christen. Auf Einladung der deutschen Bischöfe kamen damals junge Inderinnen nach Deutschland, um als Krankenschwestern zu arbeiten. Der Kölner Kardinal Josef Frings stellte ihnen einen Seelsorger zur Seite. So entstand die syromalabarische Gemeinde. (Quelle: Frau und Mutter 06/2011) meine welt 2/2011 61 i aktuelles i Prof. Dr. Shiva Prakash ist neuer Direktor des Tagore Centers in Berlin Dr. H. S. Shiva Prakash ist ein bekannter indischer Dichter, Dramatiker und Literaturwissenschaftler aus dem Bundesland Karnataka. Er schreibt in Kannada, einer der modernen indischen Sprachen. 1954 wurde Shiva Prakash in Bangalore (Karnataka) geboren. Nach dem Schulabschluss studierte er Englische Literatur an der Universität Bangalore und schloss das Studium mit M.A und Promotion ab. Seit 2001 ist er Professor für Ästhetik an der Jawaharlal Nehru Universität, Neu Delhi. Am Anfang dieses Jahres wurde er zum Direktor des „Indian Cultural Centre“ (Tagore Centre) der indischen Botschaft in Berlin berufen. Sein künstlerisch kreatives Werk umfasst neun Gedichtbände und 13 Theaterstücke. Von ihm wurde eine Anthologie von Kannada Gedichten in englischer Übersetzung herausgegeben. Seine Theaterstücke fanden große Beachtung und führten zum Teil zur kritischen Auseinandersetzung z. B. über das Stück Mahachaitra. Die Stücke wurden neben Englisch in viele andere indische Sprachen übersetzt und erfolgreich aufgeführt. Durch zahlreiche Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Literatur und der Theaterwissenschaft ist Shiva Prakash anerkannt. Zu seinen Spezialgebieten zählen Ästhetik, Vergleichende Literaturwissenschaft, Bhakti-Literaturstudien, modernes indisches Theater und literarische Übersetzung. Er trat hervor durch seine intensive und extensive Forschung auf dem Gebiet der indischen Mediävistik und insbesondere der Kannada Vacana Lyrik. Dr. Shiva Prakash war für lange Jahre Herausgeber der Literaturzeitschrift „Indian Literature“, die von der Central Sahitya Akademi, New Delhi, veröffentlicht wird. Er ist auch ein Kolumnist in bekannten indischen Zeitungen wie Indian Express, The Hindu, Pioneer und seit kurzem auch in Kannada Prabha. Zahlreiche Auszeichnungen erhielt Dr. Shiva Prakash, z.B. den Sangeet Natak Akademi Preis, Ministry of Human Resources Development Fellowship für Kan- Gisela Bonn-Preis für Achim Rodewald von rechts nach links: Prof. Shiva Prakash, Herr Achim Rodewald und Herr HansJoachim Kiderlen In einer Festveranstaltung am 24.09.2011 im Kulturrathaus Dresden wurde der diesjährige Gisela Bonn- Preis an den Wirtschaftsjournalist Achim Rodewald verliehen. Der Direktor des Tagore Centers Berlin und der Botschaftsrat für Kultur 62 meine welt 2/2011 bei der Indischen Botschaft in Berlin Prof. Dr. Shiva Prakash hat Herrn Rodewald den Preis persönlich überreicht. Der Preis würdigt das herausragende journalistische Engagement Achim Rodewalds, der mit seiner Arbeit in den letzten Jah- nada Literatur, Kannada Sahitya Akademi Preis, Honorary Fellow of the School of Letters, University of Iowa (seit 2000). Am 12. Sept. 2011 haben die DeutschIndische Gesellschaft, Bonn, und das Literatur-Forum Indien in Deutschland für den neuen Direktor des Indian Cultural Centre, Berlin, Prof. Dr. Shiva Prakash, einen Begegnungsabend im Uni Club Bonn mit einem Vortrag veranstaltet. Er sprach über das Thema: Cultural Dialogue between Germany and India in Changing Times. Es gab eine rege Diskussion. Die Veranstaltung wurde gut besucht und bereichert durch die Anwesenheit von Prof. Dr. Huber, dem ehemaliger Rektor der Universität Bonn. A nnakutt y V aliamangalam K . F indeis ren die Berichterstattung über die wirtschaftlichen Aspekte Indiens maßgeblich mitgeprägt hat. Neben seiner journalistischen Arbeit für die Deutsch-Indische Handelskammer (Mumbai) in der Zeit von 2003 bis 2010 war Herr Rodewald auch als Autor und Co-Autor zahlreicher Publikationen im Bereich der deutsch-indischen Wirtschaftbeziehungen, aber auch als Reisejournalist tätig. Als Beispiel seien sein Reise-Ratgeber Business Know How Indien (2007), der in kompakter Form interkulturelles und wirtschaftliches Know How verknüpft, oder auch der inzwischen vergriffene Band „Indien“ mit einem Vorwort des FAZKorrespondenten Christoph Hein genannt. JP i G e dic h t e i Die Megacity mit vielen Stimmen Gedichte aus Mumbai Gönne mir nur einen kleinen Gefallen: Unsere elektrischen Züge mögen pünktlich kommen. Lass uns genießen diese am baumelnden Handgriff hängende Reise...” EUNICE D’SOUZA Goanesin – lebt in Mumbai und schreibt auf Englisch P U T H I YA M A D H AV I Tamilin – lebt in Mumbai und schreibt auf Tamil Landschaft 1. Sicherheitsschutzgott Die Krähen werden es niemals lernen, dass es genügend Müll für alle gibt: Die Schnäbel der Jungen sind wundrot, lautlos. Der Fischreiher landet auf dem höchsten Ast. Nicht einmal ein Blatt ist gestört. Auf allen Seiten das Meer. Vier Gesichter, acht Hände, schrecklich tödliche Waffen, die die Asuras vernichtet haben. Die Festungen und die Fahnen, all das hast Du. Warum denn mein Gott hast Du noch gefragt nach einem Sondereinsatzkommando? Bevor ich meine Worte beendete, verschwand unser Gott. 2. Bitte um Wunscherfüllung Sagen Gott ist erschienen in meinem Morgentraum mich aufweckend mit seinem Korb voller Sorgen: In einem Brief lässt sich alles sagen. Am Telefon nur halbe Stimme, wenn tete-a-tete, unmöglich zu reden. (Übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche von Annakutty Valiamangalam K. Findeis) ANU MENON Keralesin – lebt in Mumbai und Deutschland, schreibt auf Deutsch und Malayalam Ladies’ Compartment Frauen... Auf der Heimreise von der Großstadt von Mumbai zum Dorf. „Mahanagari” trug sie alle großzügig zur heiligen Stadt Varanasi. Frauen und Frauen dunkle Nacht, Geschrei, Gerede, Geplapper – wie Krähenversammlung. Frauen, Frauen und Frauen produktiv, Frucht tragend, dicke Busen, größer als des Kindes Kopf. Frauen, Frauen, Frauen und Frauen je mit unendlich vielen Kindern, ein Geschrei - sinnlose Rederei, die Emanzen ohne Männer, nur als Schutzpolizisten Söhnen war erlaubt mitzufahren... Sonntag war es und zehn Uhr. Sie bedauerten sich ohne Ramayana-Schau die Sitas im Mahanagari Express Ladies’ Compartment. „Willst du einen Gunsterweis, um dein Gedicht zu schreiben?” „Nein, mein Herr, der Frühling des Dichtens ist noch nicht verwelkt!” „Wünschst du dir einen Bungalow in Mumbai?“ „Nein, mein Herr, ich würde lieber wohnen mit ehrlichen Menschen.” „Wünschst du dir Nachkommen, die deinen Namen in die Geschichte eintragen werden?” „Oh nein, mein Herr, meine zwei Kinder werden es sicherlich tun.” „Oh meine Liebe, sag mir dann, was du dir überhaupt wünschst. Wie soll ich es sonst wissen?” „Der Gott, der alles weiß, fragt mich so was?” Sein trauriges Gesicht erblickend, habe ich mich entschieden, eine kleine Bitte um Wunscherfüllung zu stellen. (Übersetzt aus dem Tamil ins Deutsche von Annakutty Valiamangalam K. Findeis im Gespräch mit der Dichterin) HRISHIKESHAN Keralese – lebt in Mumbai und schreibt auf Malayalam Doch mit den Vögeln, den Bäumen, dem Himmel, den Flüssen zu kommunizieren, keine Blockade. Aber mit den Blumen rede man in ihrer Sprache, auch mit den Würmern... das Reden ähnlich In vielen solchen Sprachen zu sprechen sehne ich mich, das stumme Ich. (Übersetzt aus dem Malayalam von Annakutty Valiamangalam K. Findeis) „Gott, Du weisst doch alles. Du kennst unsere Nöte, Du kennst unsere Gier. Ich werde Dich nicht in Verlegenheit bringen mit meiner Bitte um ewiges Leben. Du Adishankara... Mahashaktis Kraft, keine große Bitte. meine welt 2/2011 63 i K . S atchidanandan Die letzte Sonne g e dic h t e i Nachfolgend drucken wir ein Gedicht von Dr. Shiva Prakash ab, das er über den Einsturz des World Trade Centre New York verfasst hat. Das Gedicht wurde für MEINE WELT von Annakutty Valiamangalam K. Findeis ins Deutsche übersetzt. D ie R edaktion Eine meiner Adern ist noch nicht vertrocknet, erzählte das Blatt seinem Ast. Da ist ein Blatt, das noch nicht gefallen ist, erzählte der Ast dem Wind. Da steht noch ein Ast im Wind, ohne zu wackeln, erzählte der Baum dem Vogel. Es gibt bestimmt noch einen Baum irgendwo in einer Ecke, erzählte der Wald der Erde. Auf der Erde ist noch ein Wald übrig, erzählte der Berg seiner Sonne, und ich sagte der hereinbrechenden Nacht: Da ist noch eine Sonne, die nicht verloschen ist. (Aus dem Malayalam von Jose und Asok Punnamparambil) S hiva P rakash Lieber Freund Joe Eingestürzt: Das gewaltige Gebäude Dein schwarzer Finger zeigte drauf An dem New Yorker Morgen Weiß leuchtete Das Symbol des Sieges Der weißen Kapitalisten Gebaut auf den Ruinen Unserer Ahnen Land Mit den gebrochenen Gliedern Unserer Götter und Göttinnen (Wie können unsere unschuldigen Götter und Göttinnen austricksen die Geschicklichkeit und die Gerissenheit der Geschäftsleute?) Aber, lieber Freund Joe, Was riss es herunter War es nicht der Wirbelwind der Wende Wovon wir träumten; Sogar nach dem Sturz Sind sie nicht zurückgekehrt Unsere Götter und Göttinnen Zu ihren Tempeln Auch unsere Kinder Kehrten nicht heim Siehe da! Die beflügelten ungeheuren Sanddünen Der letzten Dämmerung Verhüllend das Gesicht der untergehenden Sonne Hinter den Ruinen Jenes Baus 64 meine welt 2/2011 Warum nicht das Gute, Wie du, Hoch und runter kletternd die Treppen Der schmutzstrotzenden Wohnung Deines Harlem-Hauses Lahmgeprügelt Von den Bastarden der Zivilisation? Inzwischen Verkrüppelte Wesen geboren aus Furcht Ihre Hände und Beine verdreht Ihre Augen und Nasen verkehrt, Betrunken, Bestehlen und töten einander Während ein stumpfes Messer oder eine Pistole Auf sie im Düsteren lauert. Lieber Freund Joe, Hat dein hinfälliges Haus überlebt Mit seinen Erinnerungen gebrochener Ehen? Hat die Angst vor plötzlichen Angriffen Von unbekannter Hand Noch überlebt? Solche Dinge überleben, ich weiß Ob Weltreiche steigen oder fallen Die Hütten der Armen bleiben bestehen für immer Schreie Noch einmal Verstümmelte Leichen Noch einmal Doch Dein Gandhi Unser Luther, beide sind tot Sag mir, lieber Freund Joe, Warum ist nur Sünde die Lösung Für die Sünden unserer Welt? Wenn Götter und Göttinnen verschwinden, Braucht die Erde Insekten, um weiterhin zu bemuttern i S e mi n a rb e ric h t i Indische Literatur als gesellschaftliche Kraft C hristina K amp „Zu allen Zeiten und in allen Ländern gab es Menschen, die man gerne zum Schweigen gebracht hätte. Doch allen Versuchen zum Trotz hat die Literatur das letzte Wort“, so Nirmal Sarkar zur Eröffnung des Seminars „Die Macht der indischen Literatur bei der Gestaltung der Gesellschaft in Indien“, das vom 8. bis 10. Juli 2011 in Kooperation mit dem Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter bei Bonn stattfand. Der 2006 gegründete Verein Literaturforum Indien richtete das Seminar nun bereits zum 5. Mal aus – mit großem Erfolg. Rund 45 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen sich ein Wochenende Zeit, darüber zu diskutieren, wie Schriftsteller und ihre Werke Gesellschaften verändern können. ONV Kurup: Das Salz Keralas ONV Kurup ist ein Dichter des sozialen Engagements und des grenzenlosen Humanismus, der in Malayalam schreibt, der Sprache des südindischen Bundesstaates Kerala. Annakutty Findeis stellte ihn als einen der bedeutendsten revolutionären Schriftsteller vor, der als „das Salz Keralas“ gilt. Bekannt ist er für seine Gedichte wie Bhumikkoru Charamagitam (Ein Requiem für die Erde) und Suryagitam (Sonnengesang), aber auch für seine Filmlyrik, die mehr als 1.500 Lieder umfasst und für die er mehrere Preise erhielt. In der ÖkoBewegung in Kerala spielten und spielen Dichterinnen und Dichter eine führende Rolle. ONV Kurup engagierte sich zum Beispiel im Widerstand gegen das Silent Valley Staudamm-Projekt. Er sagte: „Ein Gedicht ist wie eine Widerstand leistende Pflanze.“ Paul Zacharia Mit Paul Zacharia war einer der bekanntesten Schriftsteller Keralas auf dem Se- minar anwesend. Er schreibt in Malayalam Kurzgeschichten und kurze Romane, Martin Kämpchen und Paul Zacharia im Gespräch von denen einigesellschaftlichen Wandel bestimmen, ge auch ins Deutsche übersetzt wurden sind die Parteien, die Religionen und die („Bhaskara Pattelar und andere GeschichMedien. Doch die wollten eher den Status ten”, Horlemann Verlag). Malayalam, so quo statt Veränderungen. Doch dass die Zacharia, sei eine junge Sprache. Als Stimmen der Schriftsteller unter mächtiSprache der Literatur habe sie erst Ende geren untergehen, solle nicht heißen, dass des 19. / Anfang des 20.Jahrhunderts an Schriftsteller sich nicht zu Wort melden Bedeutung gewonnen. Der Schriftsteller sollten. beschrieb verschiedene Einflüsse auf die Literatur und die Möglichkeiten indischer Schriftsteller, auf die Gesellschaft und die Ausgewählte Schriftsteller Politik in Indien einzuwirken. Der britisch-indische Autor Ruskin Bond Der Kolonialismus sei in vieler Hinsicht ist außerhalb Indiens noch wenig bekannt. eine negative Kraft gewesen, so Zacharia. Reinhold Schein stellte den Autor und Doch in der Literatur habe sie als Katalysein Werk „Ein Schwarm Tauben” vor, sator gewirkt, denn britische Missionare das einen Rückblick auf die Kolonialzeit brachten Bildung für die Massen, auch für nimmt. „Ein Schwarm Tauben” erschien Frauen und niedrigere Kasten. Mit dem auf Deutsch 2010 im Draupadi-Verlag. Der westlichen Gedankengut entwickelte sich Roman ist ein sehr persönliches Werk mit ein neues Bewusstsein. Ab den 1930er Jahautobiographischen Zügen, das weder die ren drückte die Malayalam-Literatur dann Kolonialherren rechtfertigt noch Aufständie Ideen der Freiheitsbewegung aus. dische glorifiziert. Der nächste Katalysator in Kerala war Die Übersetzerin Ingrid von Heiseler der Kommunismus. Auch der kam durch stellte die gesellschaftliche Wirkung von das Englische und war damit ebenfalls Literatur am Beispiel der Tamil-Autorin ein von außen kommender „kolonialer Salma vor. In ihrem Roman „Die Stunde Input”. Es ging darum, das feudale Sysnach Mitternacht” stellt Salma die Wirktem zu verändern. Die Literatur setzte lichkeit in einem Teil der indischen Gesellsich für die Unterprivilegierten ein und schaft realistisch dar. In der Hoffnung auf wurde zum Flagschiff der progressiven Veränderungen beschreibt sie Missstände Bewegung. Der Kommunismus kam als wie die starke Diskriminierung von Frauprogressive kulturelle Kraft nach Kerala, en, die sie selbst erlebt hat. André Penz quasi durch die Vordertür. Die Medien portraitierte den indischen Dichter Sachgewannen an Bedeutung und die Literachidananda Vatsyayan, der dieses Jahr 100 tur erreichte durch die Medien ein breites Jahre alt geworden wäre. Barbara Bomhoff Publikum. Romane wurden zum Beispiel zeigte die Gesellschaftskritik im Werk des als Serien in Zeitungen und Zeitschriften Schriftstellers Bhisham Sahni auf, dessen veröffentlicht. Romane über die Teilung Indiens und über Die Kräfte, die laut Zacharia heute den Slumräumung auch verfilmt wurden. meine welt 2/2011 65 i Begegnungen mit Tagore Das Jahr 2011 steht ganz im Zeichen von Rabindranath Tagore, dessen Geburtstag sich in diesem Jahr zum 150. Mal jährt. Zwei ausgewiesene Tagore-Experten stellten den berühmten Meister vor, der 1913 den Nobelpreis erhielt. Sowohl der in Deutschland lebende bengalische Schriftsteller Alokeranjan Dasgupta als auch der in West-Bengalen lebende Deutsche Martin Kämpchen haben Tagore aus dem bengalischen Original ins Deutsche übersetzt („Rabindranath Tagore. Gedichte und Lieder“. Von Martin Kämpchen, Insel Verlag, 2011; „Mein Tagore. Eine Annäherung an den indischen Dichter Rabindranath Tagore“. Von Alokeranjan Dasgupta, Draupadi Verlag, 2011). Sie setzen sich für eine Tagore-Renaissance in Deutschland ein. Denn die Reaktion auf Tagore nach der Niederlage im 1. Weltkrieg war ganz und gar zeitbestimmt. Deutschland habe nach kulturellen Figuren gesucht, die helfen könnten, das Volk wieder aufzurichten. Tagore wurde als eine Art Messias angesehen. Das Image Tagores habe sich darauf hin „fossiliert“ und konnte sich nicht weiterentwickeln. Deshalb sei es heute schwierig, eine neue Wirkung hervorzurufen. Doch ein Weg seien neue Übersetzungen aus dem Bengalischen. Es gehe nicht nur darum, Prosa anzubieten, sondern darum, bengalische Gedichte in kongeniale deutsche Gedichte zu übersetzen. Rückblick auf die Buchmesse 2006 2006 war Indien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse – als einziges Land sogar schon zum zweiten Mal. Mehr als die Hälfte der indischen Autorinnen und Autoren, die auf der Buchmesse vertreten waren, schreiben in Regionalsprachen. Dennoch läuft Indien auf der Webseite der Frankfurter Buchmesse als „anglophone Nation”, stellte Eva Massingue von Litprom fest. Außergewöhnliches wie indische Literatur an den deutschen Leser zu bringen sei nicht einfach, so ihre Einschätzung. Anlässlich der Buchmesse habe es damals Gelder für Übersetzungen gegeben. „Vieles wäre nicht passiert, wenn es den Gastland-Auftritt nicht gegeben hätte“, so Massingue. j 66 meine welt 2/2011 N e u e B üc h e r i N e u e B ü ch e r Mrs Sengupta will hoch hinaus A mit C haudhuri Roman, aus dem Englischen von Barbara Heller, Blessing Verlag, 2011 Amit Chaudhuri erzählt in seinem neuen Roman sehr melodisch von einer Gesellschaft im Umbruch. Mallika Sengupta, Ehefrau eines aufstrebenden Geschäftsmannes, träumt von einer Karriere als Sängerin. Ihr Gesangslehrer Shyamji kämpft indes mit dem gewichtigen Erbe, das ihm sein Vater, ein viel gerühmter Sänger und geschätzter Guru, aufgebürdet hat. Und Mrs. Senguptas Sohn Nirmalya hat Probleme mit dem Erwachsenwerden. „Der Grundkonflikt dieses Romans besteht im Widerstreit von Kunst und Materialismus. Dies rechtfertigt den ehrenvollen Vergleich mit Thomas Manns Buddenbrooks.“ (The Times) Indian Dreams R oswitha J oshi Roman, Englisch, UBS Publishers’ Distributors Pvt. Ltd., New Delhi, 2010 Roswitha Joshi, die in Indien lebende deutsche Autorin, beschreibt in dem Roman die Liebesgeschichte zwischen der Deutschen Norma und dem Inder Akash mit viel Humor, Herzlichkeit und IndienKentnissen. Gopinath Bardoloi, The Assam Problem and Nehru’s Centre N irodh K . B arooah Sachbuch, Englisch, Bhabani Print & Publications, Guwahati (Assam) 2010 Ein gut recherchiertes historisches Werk über den großen Politiker des indischen Bundesstaates Assam Gopinath Badoloi (1920 bis 1950), der auch eine führende Figur der gandhianischen Bewegung für indische Unabhängigkeit war. Der Autor Nirode Barooah ist ein promovierter Historiker (Londoner Universität und Universität Bonn) und lebt seit Mitte der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts in Deutschland. Misery of Leadership A Holistic Approach to Good Leadership I rmel V . M arla und K amal T aori Sachbuch, Englisch, Authorpress,Q2A Hauz Khas Enclave, New Delhi, 2011 Das Buch analysiert die große Schwäche der politischen Führung im heutigen Indien und zeigt Wege aus der herrschenden Misere. Die Geschichte der Goldenen Frauen J abber M d . A bdul Geschichte, Eigenverlag, 2011 (E-Mail: [email protected]) Das Buch handelt von den vier Protagonistinnen Eva, Kali, Bishakha und Mary, die den vier Hauptreligionen des indischen Subkontinentes angehören. Sie werden als Ärmste der Armen geschildert, die mit aller Art von Diskriminierung in der patriarchalischen Gesellschaft leben müssen. Der Autor stammt aus Bangladesch und lebt in Deutschland seit 2005. Fehler der Industrienationen Die Industrieländer haben Jahrzehnte gebraucht, bis sie Nachhaltigkeit für sich entdeckten. Die Schwellenländer wissen um die Fehler der Industrienationen und um die Gefahr, sie zu wiederholen – immerhin ist heute China der größte Produzent von Treibhausgasen. Zunehmend versuchen die Schwellenländer jedoch – unterstützt von der internationalen Zusammenarbeit –, Fehlentwicklungen zu vermeiden.„Wir können der Praxis der Industrieländer nicht folgen. Wir haben unsere eigene Kultur und müssen unsere eigenen Lösungen finden“, erklärt zum Beispiel die Initiative „Green Economy India“. (Quelle: „Das große Umdenken“, Akzente 02/2011) i B uc h b e spr e c h u n g i Chili, Chai, Chapati mit einem lauten Krachen irgendwo eine Haustür auf. Wir erschraken. Beide. Zitterten wie Espenlaub. Waren in gleichem Maße alarmiert. Voller Angst schauten wir uns um, ich dorthin, er hierher. Die Pupillen unserer Augen wanderten umher, tickten wie Zeiger einer Uhr von einem Augenblick zum nächsten. In diesem Moment schauten wir einander ohne zu zwinkern an, zerrissen die Dunkelheit. Es war einer jener Momente, die für immer bleiben. Solche Momente vergehen nie. Über solche Momente wird niemals gesprochen.“ Chili, Chai, Chapati. Geschichten aus Indien. Herausgegeben von Friederike Grenner, Jürgen Neuß und Anna Petersdorf. Kitab, Klagenfurt 2011. Welche indischen Autoren kennen Sie? Welche davon schreiben nicht auf Englisch, sondern in ihren Muttersprachen? Hindi ist die offizielle Bundessprache des Vielvölkerstaates Indien. Die Übersetzer der Hindi-Kurzgeschichten schließen mit ihrer nun vorliegenden Auswahl endlich eine Bildungslücke, indem sie den deutschsprachigen Lesern direkten Zugang zu einer der produktivsten literarischen Szenen der Welt ermöglichen. Bilder von der treu ergebenen Ehefrau, wie in der ergreifenden Kurzgeschichte „Das Mittagessen“ von Mohan Rakesh (1957) lassen sich ebenso finden wie gänzlich andere, keineswegs immer stereotype Bilder von Männern, Frauen und Kindern. Keine exotisch-blumige Sprache, sondern fast ausnahmslos steht der Mensch im Zentrum – im Hier und Jetzt, überall. „In diesem Moment fiel Candar auf, dass eine Ewigkeit vergangen war, seit er sich das letzte Mal selbst begegnet war, Zeit gefunden hatte für einen inneren Dialog. Er hatte sich nie gefragt: ‚Wie ist deine Situation und ist es eigentlich das, was du willst?’ Ein schwaches Lächeln umspielte seine Lippen und er machte eine Notiz hinter jeden Freitag: ‚Mich selbst treffen. Von sieben bis neun Uhr abends.’ Und heute war ja Freitag! Das Treffen sollte also heute stattfinden. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr – es war sieben Uhr. Aber der Gauner in ihm gewann die Oberhand. Warum nicht zuerst eine Tasse Tee im Teehaus trinken gehen?“ Diese Leseprobe stammt aus Kamleshvars Meistererzählung „Fremd“ (1963), die unter den frühen Hindi-Kurzgeschichten der Nayi-Kahani-Bewegung („Neue Erzählung“) heraussticht. Darin konfrontiert der Protagonist sich und die Leser mit bohrenden Fragen, die jeden betreffen und etwas angehen. Kamleshvar prägte seine Geschichte durch eine gleichzeitig präzise wie laxe Sprache, die an italienische Neorealismo-Filme erinnert. Mühelos gleichsam zum Film werden auch die Sprachbilder in Priyamvadas souverän erzählter Geschichte „Echos“ (1972), die einen ähnlich existentialistischen Inhalt vermittelt. Darin versucht die Protagonistin ihrer Sehnsucht nach Selbsterfahrung gegen alles Pflichtgefühl Raum zu geben und den Kontakt zu ihrer Familie im Konflikt mit den damit drohenden Familienzwängen dennoch zu halten. Ein ungleicher Balanceakt, der seinen Tribut fordert. Besondere Erwähnung verdient schließlich noch „In diesen Tagen“ von Geetanjali Shree (2008) über Courage, den Mob und wechselseitiges Versagen von Opfer und Täter: „Ich schaute ihm hinterher und er wusste, dass ich ihm nachspähte. Er lief geradeaus soweit die Straße führte. Nein, ich trat nicht hinaus auf die Straße. Wenn ich bis jetzt nicht hinausgetreten war, warum hätte ich es jetzt noch tun sollen? Man könnte auch fragen: Wenn ich es bis jetzt nicht getan hatte, wie hätte ich ihn nun stellen können? Man könnte auch sagen: Es war genau richtig so, denn wer weiß in diesen Tagen schon, wer alles eine Waffe bei sich trägt? Dort, wo die Straße die Kurve macht, bog er ab. Ich wandte mich ab. Doch da flog urplötzlich Leser sind in Chili, Chai, Chapati gut aufgehoben, denn die Herausgeber liefern eine äußerst informative Einführung und Literaturhinweise zu anderen, vor allem deutschen Übersetzungen indischer Autoren mit. Während bisher vor allem Romane und neueste Erzählungen auf den deutschen Buchmarkt fanden, stellt Chili, Chai, Chapati eine Anthologie des vitalsten literarischen Genres vor: die Kurzgeschichte. Dabei gingen die Herausgeber chronologisch vor und decken nahezu den gesamten Zeitraum seit der Gründung der Indischen Republik ab, die ja mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zusammen fällt. Die Anthologie hebt sich von bisherigen Sammlungen auch dadurch ab, dass der Anteil der Schriftstellerinnen etwas höher liegt als jener der Schriftsteller. Gegenüber den von Indern auf Englisch geschriebenen Short-Stories zeichnen sich die in der Muttersprache Hindi verfassten Kurzgeschichten durch größere Ernsthaftigkeit aus. Nicht die schreiendgrellbunte Welt Bollywoods und Kollywoods, sondern eine stille Welt dichter Atmosphäre, unausgesprochener Gedanken und brodelnder Gefühle kann in Chili, Chai, Chapati entdeckt werden. J osua W albrodt Josua Walbrodt studierte Filmwissenschaft, Kunstgeschichte und Klassische Archäologie. Er arbeitet derzeit an seiner Dissertation in Kunstgeschichte. meine welt 2/2011 67 i B uc h b e spr e c h u n g i Die magische Kraft alter Überlieferungen Der Geschichtenerzähler O mair A hmad Aus dem Englischen von Anne Breubeck. Draupadi Verlag, Heidelberg 2011, 144 S. (gebunden) Einem Mann wurde sein Haus zerstört. Es stand im Delhi des 18. Jahrhunderts, eine grausame und kriegerische Zeit der Verwüstung, der Zerstörung, der Vertreibung, der Willkür der Mächtigen. Der Mann zieht seitdem umher, durch das, was er selbst erlebt hat, kennt er die Menschen. Selbstbewusst beugt er sein Haupt nur, wenn es die Höflichkeit verlangt. Als Geschichtenerzähler bezaubert und bestürzt er. Eines Abends gelangt er vor das Schloss einer mächtigen Fürstin. Eine spannungsvolle Begegnung zweier sozial höchst unterschiedlicher, geistig aber sehr ähnlicher Menschen. Damit lässt sich das Ausgangsszenario des „Geschichtenerzählers“ beschreiben, einer Novelle von Omair Ahmad. Aber wer nun ist Omair Ahmad? Ein Mann aus Nordindien, Jahrgang 1974, der einige Zeit in Saudi Arabien lebte und in New York Politik studierte, ein engagierter Journalist, vor allem aber ein Schriftsteller, von dem man in Asien spricht und bald nicht mehr nur dort. So nährt sich sein „Geschichtenerzähler“ aus der magischen Kraft alter mündlicher Überlieferungen und Märchen, die Omair Ahmad mit Motiven aus der Bibel oder dem Koran durchsetzt hat. Das Erzählen selbst wird bei ihm zu einem Gespräch, Rede und Gegenrede zwischen Gast und Gastgeber, dem Geschichtenerzähler und der Fürstin, bei der er verweilt, nur um wieder aufzubrechen. Die Geschichten selbst handeln von der Freundschaft zwischen Ungleichen, dem Kind im Wald und dem jungen Wolf, den Knaben, die gemeinsam aufwachsen, obwohl sie verschiedener Herkunft sind und der eine als Königssohn ins Gefängnis gesteckt wird, der andere zum großen, aber innerlich leeren Krieger sich wandelt. Freundschaft, die immer tragisch endet, sich in ihrer Sehnsucht für einander als letztlich unmöglich erweist. Wie auch der Geschichtenerzähler zum Umherziehen verurteilt sich gezwungen fühlt, fern von aller Gemeinschaft. Anne Breubeck hat mit ihrer ersten größeren Übersetzungsarbeit im Deutschen eine Erzählung erstehen lassen, die sich orientalisch-blumigem Kitsch enthält und stattdessen klare Bilder findet, die sich geschmeidig aneinander reihen. Dadurch zeigt sich Omair Ahmads unauffällige Raffinesse im Umgang mit literarischer Tradition und Formen modernen Erzählens. Ein schöner Beweis seines Könnens, dem bald sein schon jetzt in Indien gefeierter Kult-Roman „Jimmy the Terrorist“ in deutscher Übersetzung folgen wird. F ranz S chneider Dr. Franz Schneider ist Journalist. Er lebt in Heidelberg. Fast ohne Worte – aber voller Geschichten Das machen wir. Ein Bilderbuch aus Indien. R amesh H engadi / S hantaram D hadpe / G ita W olf . Statt auf die Lehmwände ihrer Häuser, wie es bei den Warli sonst üblich ist, haben die beiden Künstler Ramesh Hengadi (*1974) und Shantaram Dhadpe (*1965) auf Anregung der indischen Verlegerin Gita Wolf, Alltagsdarstellungen aus dem Leben der Warli zu Papier gebracht. Der Tradition des Tara-Verlages von Gita Wolf gemäß wurde dazu in Siebdruck per Hand bedrucktes Papier in der Farbe der Hauswände verwendet, natürlich fair trade, der Umschlag besteht aus handgeschöpftem Papier. Diese komplett in Handarbeit hergestellte bibliophile Kostbarkeit ist das zweite Buch, das der Verlag Baobab Books herausgegeben hat, obwohl Baobab Books 68 meine welt 2/2011 unter dem Namen Kinderbuchfonds Baobab schon seit mehr als 20 Jahren Bücher publiziert. Dieser Widerspruch ist schnell aufgeklärt: Nach mehr als 50 Büchern, die in verschiedenen Verlagskooperationen herausgegeben wurden, hat sich Baobab Books 2010 entschieden, den Schritt in die Eigenständigkeit zu wagen. Der Titel „Das machen wir” ist somit auch Programm für Baobab Books. Bis zur Kolonialisierung lebten die Warli als Jäger und Sammler naturnah in den Wäldern Maharashtras, zur Sesshaftigkeit gezwungen, blieben sie jedoch auch weiterhin in enger Verbindung zur Natur und lebten nach eigenen Bräuchen und Vorstellungen. Früher dienten die mit Reispaste und Bambuspinsel auf die Hauswände gemalten Bilder in erster Linie dazu, Göttinnen und Götter zu Festen einzuladen, besonders zu Hochzeiten. Meistens malten die Frauen, heute üben auch Männer die traditionelle Malkunst aus, auch auf Papier und gegebenenfalls sogar in Farbe, um so dringend benötigtes Geld zu verdienen. Die beiden Künstler dieses Bilderbuches haben die Malerei zu ihrem Beruf gemacht. E va M assingue (Quelle: „Literatur Nachrichten, Sommer 2011) i Indorama i Neuer Bundesvorstand der Deutsch-Indischen Gesellschaft Deutsch-Indisches Sozialversicherungsabkommen unterzeichnet Bei der Jahresversammlung der DeutschIndischen Gesellschaft e.V. vom 23.09. bis 24.09.2011 im Kulturrathaus Dresden wurde ein neuer Bundesvorstand gewählt. Mitglieder des neuen Vorstandes sind: Herr Hans-Joachim Kiderlen . (Vositzender) Frau Dr. Lydia Icke-Schwalbe. (1. Stellv. Vorsitzende) Prof. Dr. Anand Srivastav . (2. Stellv. Vorsitzender) Frau. Dr. Sabine Lutz (Schatzmeisterin) Herr Manfred Krause (Mitglied) Herr Herbert Lang (Mitglied) Prof. Dr. Michael Mann (Mitglied) Herr Sven Andreßen (Vorsitzender des Beirates) Ehrenvorsitzender der Deutsch-Indischen Gesellschaft e.V. Dr. Hans-Georg Wieck (Vorsitzender des Vorstandes der Indien-Stiftung) Dipl. Kaufm. Helmut Nanz Verbesserungen für Arbeitnehmer und Rentner Bundessozialministerin Ursula von der Leyen hat am 12. Oktober 2011 in Berlin gemeinsam mit dem indischen Minister für die Angelegenheiten der Auslandsinder Vayalar Ravi das deutsch-indische Sozialversicherungsabkommen unterzeichnet. Durch das Abkommen wird der soziale Schutz der Staatsangehörigen beider Länder im Bereich der jeweiligen Rentenversicherungssysteme insbesondere für den Fall, dass sie sich im jeweils anderen Vertragsstaat aufhalten, sichergestellt und koordiniert. Bewusster feiern Die kirchlichen Feste der Pfarrgemeinden im indischen Bundesstaat Kerala sind in den letzten Jahren immer extravaganter geworden. Die Pfarreien überbieten sich gegenseitig mit zunehmend aufwendiger Beleuchtung, Feuerwerk, Musikkapellen und Umzügen. Diese Überschwänglichkeit und Verschwendung, so der Bischofsrat, schmälere die spirituelle Dimension der Veranstaltungen, die Ausdruck von Glaubenstradition und liturgischem Erbe seien. Deshalb riefen die Bischöfe der 30 Diözesen Keralas jetzt mit einer zwölf Punkte umfassenden Richtlinie zum ernsteren, spirituelleren und umweltbewussteren Feiern auf. Der stetig wachsenden Kommerzialisierung religiöser Feste will man auf diese Weise entgegenwirken, nutzen doch immer mehr Firmen die Veranstaltungen zu Werbezwecken. Auch Umweltverschmutzung durch Feuerwerk, Plastikbanner und Verkehrsstaus anlässlich großer Prozessionen soll künftig vermieden werden. Umweltaktivisten begrüßten die Initiative und beschrieben sie als „lange überfällig.“ kna / mw JP Bundesverdienstkreuz für Dr. Nirmalendu Sarkar In Anerkennung seiner besonderen Verdienste, insbesondere als Gründungsmitglied und Vorsitzender des „Literatur Forum e.V.“ Düsseldorf and Vorstandsmitglied der Finanzen des „Eine Welt Forum Düsseldorf e.V“, wurde Herrn Dr.Nirmalendu Sarkar das Verdienstkreuz am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Die Auszeichnung wurde Herrn Sarkar am 26.09.2011 im Düsseldorfer Rathaus von dem Bürgermeister überreicht. Als Gründungsmitglied und Vorsitzender des im Jahr 2006 gegründeten „Literatur Forum Indien e.V.“, engagiert sich Herr Sarkar zur Förderung und Verbreitung von Literatur aus Indien und Südasien in Deutschland. Im Rahmen des literarischen Austausches zwischen Indien und Deutschland versucht er mit beherzter Unterstützung der deutschen und indischen Schriftsteller, Indologen, Verleger und Zeitschriften wie z.B. „Meine Welt“, die Förderung der Kultur und Verständigung zweier Völker zu ermöglichen. Anerkennenswert ist auch Herrn Sarkars außerordentlich beeindruckendes ehrenamtliches Engagement bezüglich der Fortentwicklung und Ausbau der Einen Welt Arbeit in Düsseldorf. Neben seiner langjährigen beruflichen Verpflichtung als Oberstudienrat an einem Berufskolleg, wofür er von der Landesregierung NRW bereits ausgezeichnet wurde, nahm er sich Zeit, sich für die „Kommunale Nord-Süd- Arbeit“ und die inzwischen bundesweit angesehenen „Düsseldorfer Eine Welt Tage“ zu engagieren. Herr Sarkar arbeitete auch ehrenamtlich 24 Jahre lang als ordentliches Mitglied im Prüfungsausschuss der Industrie- und Handelskammer für den Groß- und Außenhandel. Auch bei der Deutschen Kalkutta Gruppe, die mehrere soziale Hilfsprojekte in Kolkata und Umgebung durchführt, war er lange Jahre ein aktives Mitglied. MEINE WELT gratuliert Herrn Dr. Sarkar für die große Auszeichnung und wünscht ihm viel Kraft, seine Arbeit, die die Völkerverständigung fördert, fortzusetzen. JP meine welt 2/2011 69 i indorama i Neues Verfahren zur Bean tragung von Visa für Indien Kluge Karte für Patienten Rund 400 Millionen Menschen arbeiten in Indien im informellen Sektor. Damit auch sie Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten, entwickelte das indische Ministerium für Arbeit und Beschäftigung 2007 ein staatliches Sozialversicherungsmodell. Heute hat das Soziale Sicherungsprogramm mehr als 60 Mil- lionen Mitglieder, die über eine digitale Versichertenkarte in Krankenhäusern landesweit kostenfrei behandelt werden. Die GIZ beteiligte sich im Auftrag des BMZ an der Entwicklung des Modells. Inzwischen stößt es in anderen Ländern auf Interesse. Die GIZ etabliert Süd- SüdKooperationen zu diesem Thema. Die indische Regierung hat das Verfahren zur Beantragung eines Visums für Indien mit sofortiger Wirkung geändert. Das Antragsformular kann ab sofort nur noch online (https://indianvisaonline.gov. in/visa/) ausgefüllt werden. Es muss anschließend ausgedruckt und mit dem Reisepass und gegebenenfalls weiteren notwendigen Dokumenten (Empfehlungsschreiben etc.) bei der zuständigen Visaagentur eingereicht werden. Zusätzlich sind zwei farbige biometrische Fotos (Format 5 x 5 cm, vor hellem Hintergrund) lose beizufügen. Fragen zur Beantragung von Visa beantwortet Ihnen das für Ihr Bundesland zuständige Konsulat bzw. die indische Botschaft. (Quelle: Akzente 01/2011) Kontaktdaten unter http://www.indian embassy.de/templateg.php?mnid=801&. inclpage=visaservices.htm. Seit 9 Jahren lebt Frau Medha Bhatt in Thiruvananthapuram, Kerala, mit Mann Ganguly und seit 4 Jahren mit dem Sohn Ishaan. Aus Textilabfällen, Altpapier etc. produziert die gelernte Designerin in Handarbeit ästhetisch ansprechende Objekte wie Wandbehänge, Rucksäcke, Buchumschläge, Tagesdecken etc. – alles nach der traditionellen Technik der „Kutch patchwork applique” der Frauen aus dem Rann of Kutch, Gujarat. Durch ihre Arbeit will Frau Medha Bhatt die Lebensdauer von Abfall nachhaltig verlängern, der Verschwendung von knappen Ressourcen entgegenwirken und den Planet Erde von der Last des Mülls ein wenig befreien. Kontakt: [email protected] The Forest Floor Innovative Abfallverwertung für nachhaltige Designer-Kunst „The Forest Floor” ist der Brandname eines Designer Produkts, das die aus dem Bundesstaat Gujarat stammende Frau Medha Bhatt Ganguly entwickelt hat. Sie produziert Kunst und Gebrauchsgegenstände aus Textil- und Papierabfällen. Die Inspiration hierfür bekam sie während ihrer Recherchen unter den Dorfbewohnern ihres Heimatortes Ran of Kutch in Gujarat. Diese Recherchen führte sie im Rahmen ihres Studiums an dem renommierten National Institute of Design in Ahmedabad, Gujarat, durch. Nach dem Studium entschied sich Frau Medha Bhatt keinen lukrativen Job in der Industrie als Modedesigner anzunehmen, sondern der Umwelt zu liebe eine eigene Initiative namens „The Forest Floor” (Der Waldboden) zu gründen. 70 meine welt 2/2011 i Fotoseite i Deutsch-Indische Begegnungen Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde im Mai dieses Jahres mit dem hochgeschätzten Jawaharlal Nehru Award für Internationale Verständigung ausgezeichnet. Im Bild nimmt Frau Merkel den Preis von der Präsidentin der indischen Republik Frau Pratibha Patel entgegen. In der Mitte ist Dr. Karan Singh, der Präsident des ICCR (Indian Council for Cultural Relations) (Quelle für alle Bilder: India German in Focus 2011, Indische Botschaft, Berlin) Indischer Minister für Bildung, Kommunikation und Informationstechnologie und die Bundesministerin für Bildung und Forschung Frau Dr. Annette Schavan bei der Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung über Zusammenarbeit zwischen der Universität Hyderabad und der Westfälischen Wilhelms-Universität am 31. Mai 211 in Neu Delhi, Indien. Um das 60-jährige Bestehen der diplomatischen Beziehung zwischen Deutschland und Indien zu feiern, hat in Indien ein 15-monatiges Programm mit dem Titel „Germany and India 2011-2012: Infinite Opportunities” begonnen. Das Programm wurde am 31. Mai 2011 von Kanzlerin Merkel und Frau Meira Kumar, Präsidentin des indischen Parlaments (Lokh Sabha) eingeweiht. Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr und Stadtentwicklung besuchte im April dieses Jahres Herrn Vayalar Ravi, indischer Minister für Auslandsinder und Luftverkehr, in Neu Delhi, Indien. Indiens Verteidigungsminister Herr A. K. Antony hatte eine Begegnung mit dem deutschen Verteidigungsminister Herrn Thomas de Maiziére im Mai dieses Jahres in Neu Delhi. meine welt 2/2011 71