Link zum Heft - Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln eV

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Link zum Heft - Diözesan-Caritasverband für das Erzbistum Köln eV
Heft 2
Jahrgang 28
Herbst 2011
Zeitschrift des Deutsch-Indischen Dialogs
50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland · Indien als Idee gerät in
Schwierigkeiten · Mission und Evangelisierung · Indische Diaspora in Afrika · Tempelschätze von Thiruvananthapuram · Interview · Gedichte · Erzählungen · Rezensionen
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I n h a lt
i
Editorial........................................................................................................................................ 3
Herausgeber
Diözesan-Caritasverband
für das Erzbistum Köln e.V.
Abteilung Integration und Migration
Georgstr. 7, 50676 Köln
Tel. 0221/2010-287
www.caritasnet.de
Vertreter des Herausgebers:
Dipl.-Soz. paed. Heinz Müller, Journalist DJV
E-Mail: [email protected]
Redaktion:
Jose Punnamparambil (verantwortlich),
Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren,
Tel. 02224 / 7 53 17
E-Mail: [email protected]
Thomas Chakkiath,
Novalisstr. 45, 51147 Köln,
Tel. 02203 / 2 26 54;
E-Mail: [email protected]
Eine Nation, die vom Staat zerfressen wird ............................................................................ 4
Ramachandra Guha
Mein Leben ist meine Botschaft ............................................................................................. 13
Jose Punnamparambil
Indische Erfahrung ist wichtiger als die Sprache, .
in der das literarische Werk geschrieben wird ...................................................................... 15
Kannan Sundaram
Die Chancen aus den Krisen ................................................................................................... 17
Dr. George Arickal
Tempel-Schätze von Thiruvananthapuram . .......................................................................... 19
König Marthanda Varma
Mission und Evangelisierung .................................................................................................. 20
Prof. Dr. Joseph Pathrapankal
Mahatma Gandhi war ganz bestimmt ein holistischer Denker, .
auch wenn das zu seiner Zeit kein Modewort war. .............................................................. 24
Irmel Marla
50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland
Nisa Punnamparambil,
Grüner Weg 23, 53572 Unkel-Scheuren
Tel. 02224/9897690;
E-Mail: [email protected]
Wie war es am Anfang ............................................................................................................. 28
Redaktionelle Mitarbeit:
Walter Meister, Öhringen
Ein Tag aus dem Leben von Schwester Deenamma ............................................................ 35
Unterstützung und Beratung:
Pater Ignatius Chalissery, Köln; Dr. Urmila
Goel, Bonn; Dr. Martin Kämpchen, Santiniketan,
Indien; Dr. Ajit Lokhande, Jülich; Walter
Meister, Öhringen; Pfarrer Darius Glowacki,
Königswinter; Dr. Claudia Warning, Lohmar
Die Inderinnen suchten Gesellschaft und waren immer zuvorkommender .
und fröhlicher . .......................................................................................................................... 37
Gestaltung und Satz:
Alexander Schmid
Das einsame Leben und der Tod von Elfriede Maria Schmidt ........................................... 48
Jose Punnamparambil
Das Unternehmen „Auszug aus Indien, Aufenthalt in Deutschland“ ............................... 30
Sunitha Vithayathil
Edward Nazareth
Schw. Ute Nedden
50 Jahre indische Krankenpflegekräfte in Deutschland ...................................................... 39
Ciciliamma Thundiyil, Mercy Thadathhil, Fredeena Nazareth,
Elsy Vadakkumchery, Joseph Kurumundayil
Wachstum an sich kann nicht unser ultimatives Ziel sein ................................................... 50
Layout:
Jose Punnamparambil; Jose Ukken
Amartya Sen
Herstellung und Vertrieb:
Jose Ukken,
Im Rheingarten 21, 53639 Königswinter,
Tel. 02223 / 49 49;
E-Mail: [email protected]
A. Khaliq Kaifi
Druck:
Siebengebirgs-Druck,
Karlstraße 30, 53604 Bad Honnef
Uday Prakash
Erscheinungsweise: dreimal jährlich
Eine Spende von mindest. 13 Euro wird von
den Lesern erwartet.
Konto-Nr. 106 3205,
Bank für Sozialwirtschaft (BLZ 370 205 00),
Diözesan-Caritasverband, Köln
Indische Diaspora in Afrika .................................................................................................... 51
Indische Musik bedeutet für mich der Atem des indischen Subkontinents, .
in welchem meine Seele beheimatet ist. ................................................................................ 57
Diptesh alias Fichi Diamond
Ein hilfsbereiter Mensch ......................................................................................................... 59
Prof. Dr. Shiva Prakash ist neuer Direktor des Tagore Centers in Berlin ......................... 62
Annakutty Valiamangalam K. Findeis
Die Megacity mit vielen Stimmen (Gedichte) ...................................................................... 63
Annakutty Valiamangalam K. Findeis
Gedichte:.................................................................................................................................... 64
K. Satchidanandan, Shiva Prakash
Indische Literatur als gesellschaftliche Kraft . ...................................................................... 65
Christina Kamp
Titelbild
Ohne Titel von Gurdeep Singh, Neu Delhi
(Ausschnitt)
Rückseite
„Dawn” von Medha Bhatt, Patchworkkunst
aus Textilabfall (siehe Seite 70)
Neue Bücher ............................................................................................................................. 66
Chili, Chai, Chapati .................................................................................................................. 67
Josua Walbrodt
Die magische Kraft alter Überlieferungen . .......................................................................... 68
Franz Schneider
Indorama ................................................................................................................................... 69
2 meine welt 2/2011
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e di t o ri a l
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Eine Erfolgsgeschichte
Die Einwanderung indischer Krankenpflegekräfte nach Deutschland ist
ohne Zweifel eine Erfolgsgeschichte.
Sie kamen Anfang der 60er Jahre des
letzten Jahrhunderts ohne Vertrag
durch private, meist kirchliche Kanäle.
In den Spitzenzeiten – Anfang der 70er
Jahre – zählten sie ca. 5.000 Personen.
Die meisten kamen als junge Mädchen
aus christlichen Mittelschichtfamilien
im südindischen Bundesstaat Kerala. Einige wenige hatten schon eine
Ausbildung als Krankenschwester in
Indien und wollten hier eine Arbeitstätigkeit aufnehmen.
Es war nicht leicht für diese jungen
Mädchen, in Deutschland Fuß zu
fassen. Allergrößtes Problem war die
Sprache, aber auch die Essgewohnheiten, die Verhaltensweisen, das kalte
Wetter etc. bereiteten ihnen große
Anpassungsschwierigkeiten. Hinzu
kam später die große Unsicherheit in
Bezug auf Arbeits- und Aufenthaltsgenehmigung. Auch die Fremdheit der
hoch urbanisierten Lebenskultur im
deutschen Alltag machte den jungen,
meist aus ländlicher Umgebung stammenden Mädchen zu schaffen.
Es gab aber auch verbindende und
rettende Faktoren, die den jungen Inderinnen Abhilfe schafften. Menschen
aus fremden Kulturen waren damals
in Deutschland keine alltägliche Wirklichkeit wie heute. Gegenüber ihnen
waren die meisten Deutschen besonders offen und zuvorkommend. Dies
gilt insbesondere für Inder und Inderinnen, da sie aus einem in Deutschland hochgeschätzten Kulturland
kamen. Auch die Zugehörigkeit zu der
christlichen Kirche half den Mädchen,
Freundschaften und Bindungen mit
den Deutschen zu knüpfen.
Nachdem die Probleme in Bezug auf
Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis
gelöst worden waren, heirateten die
Mädchen, meist indische Männer aus
der Heimat, und gründeten Familien.
Dann kamen die Kinder und damit
auch die Schwierigkeit, Familie und
Beruf zu vereinbaren. Da die meisten
Krankenschwestern Schichtdienst
oder Nachtdienst machten, konnten
sich nicht richtig um die Kindern
kümmern. Viele indische Ehepaare
erinnern sich heute mit Dankbarkeit
daran, wie ihre deutschen Freunde
ihnen bei der Überwindung dieser
schwierigen Situation kräftig geholfen
haben.
Die indischen Krankenschwestern und
deren Ehepartner legten großen Wert
auf gute Bildung und Ausbildung für
ihre Kinder. Dafür waren sie bereit,
eigene Bequemlichkeiten zurückzustecken. Mit großer Opferbereitschaft
und mit beispielhaftem Einsatz
wurden die Kinder in guten Schulen
untergebracht und ihnen später ein
Hochschulstudium ermöglicht. So sind
heute viele dieser Kinder Ärzte, Ingenieure, Betriebswirte, Forscher, Hochschullehrer, Journalisten.
Deutschland verhängte 1973 einen
Anwerbestopp für nichteuropäische
Arbeitskräfte. Danach kamen nur
sehr wenige zur Ausbildung als Krankenpfleger/ Krankenpflegerin nach
Deutschland. Heute befindet sich die
große Mehrzahl der Inderinnen, die
in den 1960er und 1970er Jahren nach
Deutschland kamen, im Ruhestand.
Viele ihrer Kinder haben bereits geheiratet und Familien gegründet. Die
Ankunft der Enkelkinder verändert
das Leben der 1. Generation der Krankenschwestern radikal. Viele sprechen
nicht mehr von Heimweh nach Indien,
sondern von einem Leben mit den
eigenen Kindern und Enkelkindern in
Deutschland. Es wird doch genug sein,
einmal im Jahr Indien und die Verwandten/ Freunde dort zu besuchen!
So ist die Geschichte einer einmaligen Einwanderung aus Indien nach
Deutschland fast abgeschlossen. In
einigen Jahren werden Erinnerungen
an diese Einwanderung nur noch als
ein gelegentliches scharfes Essen, als
ein komischer Name, als schöne dunkle Hautfarbe bei einigen und als ein
Hauch mehr Spannkraft und Offenheit in der Gesellschaft zurückbleiben.
So war es auch bei den deutschen Soldaten, die Vasco Da Gama 1498 und
noch zweimal danach nach Calicut
und Cochin mitnahm, um die Herrscher von Calicut zu besiegen. Diese
Soldaten entschieden sich nach Beendigung der Mission in Cochin, Kerala,
zu bleiben, dort zu heiraten und Familien zu gründen. Was merken wir von
diesen Deutschen heute bei einer Reise
nach Kerala?
Die Einwanderung der indischen
Krankenschwestern nach Deutschland
ist das Schwerpunktthema dieses Heftes. Wir haben viele Interviews, Stellungnahmen etc. über dieses Thema
abgedruckt. Wir hoffen, dass dies auf
Ihr Interesse stößt. Ansonsten haben
wir viele andere interessante Beiträge
in diesem Heft untergebracht. Wir
empfehlen insbesondere den Beitrag
von Ramachandra Guha, eine schonungslose Analyse des Zustands des
heutigen Indien.
Herzlichst Ihr
J ose P unnamparambil
Meine Welt
Die Zeitschrift „Meine Welt” er­scheint drei Mal
im Jahr. Eine Spen­de von mindestens 13,00
Euro wird von den Lesern erwartet. Alle Rechte
bleiben dem Herausgeber vorbehal­ten. Für
unverlangt eingesandte Manuskripte übernimmt die Redakti­on keine Haftung. Die in den
Beiträgen vertretenen An­sichten decken sich
nicht immer mit der Auffassung der Redaktion.
Die Redaktion behält sich redaktionelle Änderungen vor. Alle Zuschriften sind an die Redak­
tion zu richten.
meine welt 2/2011 3
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I d e e v o n I n di e n
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Eine Nation, die vom Staat zerfressen wird
Eine Unzahl von zerstörenden Faktoren – eingeschlossen
der indische Staat – nagen an der Idee von Indien.
Das ist nicht die Republik, die wir werden wollten.
R amachandra G uha
Ramachandra Guha ist einer der
profiliertesten Historiker und Sachbuchautor im heutigen Indien. Seine
international bekannten Bücher sind
„The Unquiet Woods” 1989 ( Die unruhigen Wälder), ein Pionierwerk über
die bedrohliche Entwicklung unserer
Umwelt, und „India after Gandhi” 2007,
die Geschichte Indiens nach dem Tod
von Gandhi. Ramachandra Guha hat an
der Yale und der Stanford Universität
gelehrt, hat bereits einen Lehrstuhl an
der Oslo Universität gehabt und war
„Visiting Professor” an der California
Universität in Berkeley. Vor kurzem
war er als Inhaber des „Philippe Roman Chair in History and International
Affairs” bei der London School of Economics für das akademische Jahr 20112012 berufen worden.
Im folgenden Beitrag, der bereits in
der indischen Zeitschrift „Outlook”
erschienen ist, gibt er eine schonungslose, aber konstruktive Analyse des
Zustandes des heutigen Indien als eine
Nation, als eine „Idee”, als die größte
Demokratie der Welt. Den
Beitrag, den Anna Martin aus dem Englischen ins Deutsche übertragen hat,
drucken wir leicht verkürzt mit freundlicher Genehmigung des Autors.
D ie R edaktion
4 meine welt 2/2011
Der Dichter Wallace Stegner bemerkte
einmal: „Ideen zu verfolgen ist ein Ratespiel. Man kann nicht mit Sicherheit
sagen, wer eine Idee zuerst hatte – man
kann höchstens sagen, wer eine Idee zuerst
verwendet hat, zuerst in irgendeiner Form,
in einem Gedicht, einer Gleichung oder
einem Bild formuliert hat, über das andere
stolpern und schockiert feststellen, dass
sie ähnliches auch schon gedacht haben.“
So verhält es sich auch mit der Idee von
Indien. Rabindranath Tagore schrieb in
einem Brief an einen Freund im Jahre 1921,
„dass die Idee von Indien dem Bewusstsein
der Getrenntheit des eigenen Volkes von
anderen entgegensteht und unausweichlich
zu endlosen Konflikten führen muss.“ Es
mag andere gegeben haben, die sich vor
ihm bereits in der Form geäußert hatten,
aber erst im Jahr 1997, als Sunil Khilnais
wundervolles Buch erschien, stellten seine
Landsleute mit Entsetzen fest, was die Idee
von Indien bedeutete.
Der aufkommende Nationalismus im Europa des 19. Jahrhunderts, der Bürger im
Namen einer einzigen Religion und einer
einzigen Sprache gegen einen gemeinsamen Feind vereinte, lieferte das Modell für
viele spätere nationalistische Bewegungen
(die Israels und Pakistans eingeschlossen).
Anderseits schließt die Idee von Indien,
wie sie schon von Tagore und Gandhi
formuliert wurde und auch in der indischen Verfassung festgeschrieben ist, in
ihren weitläufigen Grenzen mehr soziale
Vielfalt ein als jede andere Nation: Keine
bestimmte Religion wird einer anderen
vorgezogen, keine gemeinsame Sprache
wird durchgesetzt und Patriotismus wird
nicht durch ein gemeinsames äußeres oder
inneres Feindbild geschürt. Wir als indische Staatsbürger benutzen ständig eine
stereotype Erscheinungsform des Wun-
ders Indien, nämlich unsere Banknoten,
die auf der einen Seite ein Porträt Gandhis ziert und ein Bild des Parlaments. Auf
der anderen Seite ist der Nennwert in 17
Sprachen und tatsächlich 17 unterschiedlichen Schriften angeführt, von denen jede
einzelne eine eigene, anspruchsvolle, alte
und ehrwürdige Literaturtradition repräsentiert. Da Geldscheine ein Produkt des
täglichen Lebens sind, nehmen wir deren
Bedeutung nicht mehr wahr.
Drei Feinde
Die pluralistische, inklusive Idee von Indiens hat drei Feinde: der bekannteste ist
der Gedanke eines Hindu Rashtra, wie er
auf eine unberechenbare Weise von der
Bharatiya Janata Party und auf eine entschlossene (oder eher bigotte) Weise von
der Rashtriya Svayamsevak Sangh, dem
Vishwa Hindu Parishad, Bajrang Dal und
anderen ähnlichen Vereinigungen vertreten wird. Als Khilnai im Jahr 1997 sein
Buch veröffentlichte, schien die Idee des
Hindutva die größte Herausforderung für
die Idee von Indien zu sein. Der Sangh
Parivar, so schrieb er, biete eine Alternative zu der „theoretisch unsauberen,
improvisierten, pluralistischen Herangehensweise“, wie sie von Gandhi und Nehru
geboten wurde, nämlich die Alternative
einer „im kulturellen wie ethnischen Sinne
gesäuberten, homogenen Gemeinschaft
mit einer indischen Staatsangehörigkeit,
die von einem Staat verteidigt wird, der
sowohl Gott als auch nukleare Sprengköpfe auf seiner Seite hat.“
Diese Herausforderung erfuhr ich, als ich
im Zeitraum zwischen 1988 und 1994 in
Nordindien lebte, direkt und indirekt – als
ich mitbekam, wie meine muslimischen
Freunde unter Hindu- Namen Fahrkarten
reservierten, als ich nach den Krawallen,
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die von Lal Krishna Advanis rath yatra
ausgelöst worden waren, nach Bhagalpur
fuhr, als ich beobachtete, wie die öffentliche Meinung sich allgemein an den religiösen Fronten erhärtete. Die giftigen
Überbleibsel dieser Jahre blieben auch
im nächsten Jahrzehnt erhalten, wie die
Pogrome gegen Muslime im Gujarat des
Jahres 2002 zeigen. Die Bedrohung Indiens durch Hindutva-Fanatismus erreichte
ihren Höhepunkt in der Zeit von 1989 bis
etwa 2004. Diese Bedrohung scheint allgemein abgenommen zu haben, obwohl die
kürzlich aufgedeckten terroristischen Aktivitäten durch Sundry Sadhvis und Swamis
keinen Grund für eine Entwarnung geben.
Wie auch immer, der religiöse Fundamentalismus der Rechten wird inzwischen
sowohl was die Macht als auch was den
Einfluss betrifft, von der Linken eingeholt, die in Gestalt der Kommunistischen
(Maoistischen) Partei Indiens ebenfalls
eine Herausforderung für die Idee Indiens
darstellt. Der Aufstieg der Maoisten ist
untrennbar mit der Enteignung der Stammesbevölkerung Zentralund Ostindiens
verbunden. Diese Stammesvölker leben
in den dichten Wäldern Indiens, an ihren schnell fließenden Flüssen – und auf
einem Boden, der die reichsten Adern
an Eisenerz und Bauxit enthält. Mit der
Industrialisierung des Landes haben sie
ihr Zuhause und ihre Existenzgrundlage
im Zuge von Abholzungskampagnen,
Dammbauten und Bergbau verloren, die
von mächtigeren, davon profitierenden gesellschaftlichen Kräften geleitet werden.
Selbst wenn sie nicht enteignet werden,
werden die Stammesvölker aktiv diskriminiert. Sie leben in wenigen Bergregionen, sie stellen kein Stimmenpotential
dar, deren Stimmen wenigstens symbolisch
von den Politikern vernommen werden
können. Es gibt hier einen Kontrast zu den
Dalits (wie auch zu den Muslimen), die
gleichmäßiger über das Land verteilt sind
und demzufolge einen weiter reichenden
Einfluss auf die Folgen der Wahlen haben.
Die Stammesbevölkerung jedoch, die unter
den höheren Beamten kaum vertreten ist
und sowieso über keine politische Stimme
verfügt, ist Missachtung und Geringschätzung seitens der Forstbehörden, der Polizei,
des Finanzamtes und der Gesundheitsäm-
I d e e v o n I n di e n
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Slumbewohner in Mumbai ter ausgesetzt, die offiziell den Adivasi zur
Verfügung stehen sollten, sie de facto aber
schikanieren und ausbeuten.
Die Maoisten
Alles in allem kann man sagen, dass die
Stammesbevölkerung in den letzten 63
Jahren der Demokratie und Entwicklung
in Indien nur verloren hat. Ich will damit nicht sagen, dass Dalits und Muslime
nicht diskriminiert worden sind. Deren
Anliegen haben aber durch demokratisch
gewählte Parteien und Politiker ein mächtiges Sprachrohr gefunden, während die
Stammesbevölkerung noch nicht einmal
diesen Trost für sich verbuchen kann.
Dieses Vakuum haben die Maoisten mit
steigendem Erfolg zu füllen versucht – und
dabei kommt ihnen eine wachsende Sympathie der indischen Intelligentsia entgegen. Weltläufige Intellektuelle hatten seit
jeher eine Faszination für linke Rebellen:
von Mao über Che Guevara und dem Subcomandante Marcos bis zum Genossen
Kishenji: Guerillagruppen in den Wäldern
oder Bergen galt der bewundernde Blick
von Dichtern und Schriftstellern, die selbst
in Städten lebten. Dieser Kontrast erklärt
die Stärke ihres Engagements. Weil diese
Intellektuellen selbst einen gutbürgerlichen Lebensstil pflegen in einem Land,
in dem es so viel Armut gibt, sublimieren
diese Autoren ihre Schuldgefühle mit einer
überschwänglichen Anerkennung bewaffneter Rebellen, die für sich in Anspruch
nehmen, für die Armen und Entrechteten
zu sprechen.
(Rainer Hörig. Quelle: Indien Verstehen 2010)
Im Sommer des Jahres 2006 reiste ich
durch den Distrikt Dantewada im Bundesstaat Chhattisgarh als Angehöriger
einer Gruppe unabhängiger Bürger, die
Übergriffe einer Bürgerwehr untersuchen
sollte, die von der Landesregierung gefördert worden war. Wir fanden heraus,
dass diese Bürgerwehr die Gesellschaft
der Adivasi polarisiert hatte, zahlreiche
Morde angeheizt und mindestens 60.000
Menschen aus ihrer Heimat vertrieben
hatte. Empörung und Abscheu gegenüber der Politik der Regierung ließ uns
aber nicht die Augen vor den Fehlern der
anderen Seite verschließen: Die Maoisten
hatten eine Spirale der Gewalt ins Laufen
gebracht, indem sie vermeintliche Spitzel
köpften, Dorfvorsteher ermordeten und
Landminen einsetzten, denen sowohl
Polizisten als auch Zivilisten zum Opfer
fielen. Sie hatten auch Schulen in die Luft
gesprengt, Hochspannungsleitungen gekappt, Schienen gesprengt und Sanitäter
daran gehindert, in Dörfern zum Einsatz
zu kommen, die unter der Kontrolle der
Maoisten waren.
Mir war klar, dass die Maoisten keine
Gandhianer waren, aber es brauchte
eine Unterhaltung mit einem Muria, um
die Maoisten in einem klareren Licht zu
sehen. Mein Gesprächspartner gehörte
zur ersten Generation der Stammesangehörigen mit einem Schulabschluss und
war ein ehemaliger Lehrer, der durch den
Bürgerkrieg heimatlos geworden war. Er
erklärte mir, dass hinter dem Macho-Bild
des bewaffneten Revolutionärs ein Mann
meine welt 2/2011 5
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stand, dem jegliche Zivilcourage fehlte. Ich
kann immer noch seine Worte hören - er
sagte auf Hindi: „Naxaliyon ko himmat
nahin ki woh hathiyaaron ko gaon ke bahar
chhod ke hamare beech mein aake behas
karein“ (die Naxaliten haben nicht den
Mut, ihre Waffen außerhalb unseres Dorfes
abzulegen und dann zu kommen und mit
uns zu diskutieren). Das war eine faszinierende Bemerkung, die tiefe Einsicht und
ein tiefes Verständnis von der wirklichen
Bedeutung der Demokratie verriet, Trotz
des zur Schau getragenen Machismo und
der vermeintlichen Sicherheit fürchtet sich
der Maoist in Wirklichkeit vor sich selbst,
dass er es nicht wagt, an einer demokratischen Debatte teilzunehmen – nicht einmal
mit armen, unbewaffneten Dorfbewohnern. Wenn er seinen eigenen Überzeugungen trauen würde, warum sollte er
zuerst versuchen, sie mit Waffengewalt
zu untermauern?
Die Bemerkung des Muria-Lehrers führte
mir auch vor Augen, dass die Gewalt der
Maoisten nicht willkürlich oder anarchisch
ist, sondern äußerst gezielt. Schulen wurden angegriffen, weil die Revolutionäre
nicht wollten, dass die Kinder einer anderen Pädagogik ausgesetzt sind als ihrer eigenen. Die Maoisten ermordeten
regelmäßig Mitglieder und Führer des
Panchayats (darunter auch Frauen), weil
für sie die Wahldemokratie sogar – oder
vielleicht insbesonders – auf dem Niveau
einer Dorfgemeinschaft, eine Gefahr für
die maoistische Vision eines Ein-Parteienstaates darstellte.
Kurzfristig unterstützen die Maoisten die
Dorfgemeinschaften vielleicht manchmal
gegen die Forderungen von Forstschützern
und Geldverleihern, mittel- und längerfristig bieten sie jedoch keine wirkliche
Lösung. Sie betrachten die Stammesvölker
im Wesentlichen als Kanonenfutter, als ein
Sprungbrett im größeren Krieg gegen den
indischen Staat, der nach ihrer Ideologie
damit enden wird, dass die rote Fahne in
dreißig oder vierzig Jahren von der Spitze
des Roten Forts flattern wird. Indem sie
diese Fantasie verfolgen, wird die Gewalt
immer mehr eskalieren und die Adivasi
werden immer mehr Leid und Unzufriedenheit ausgesetzt sein.
6 meine welt 2/2011
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Ein Flickwerk?
Die dritte Herausforderung der Idee Indiens geht ebenfalls zurück bis in die Zeit
der Staatsgründung. Es ist die Idee, dass
die Indische Union nichts weiter ist als ein
Flickwerk aus konkurrierenden Nationen,
das früher oder später in seine Einzelteile
zerfallen wird. Im Sommer des Jahres 1946
gab eine Splittergruppe der Nagas bekannt,
dass sie nach Abzug der Briten einen eigenen Staat bilden würden. Im Sommer
1947 wurden ähnliche Ansprüche unter
anderem vom Dewan von Travancore, dem
Maharaja von Kaschmir und dem Nizam
von Hyderabad geäußert. Der 15. August
1947 wurde für den Dravida Kazhagam,
einer einflussreichen Tamilischen Partei,
die ebenso eine unabhängige Nation ausrufen wollte, zum Tag der Trauer. Die Sikhs
waren über die Trennung zwischen Indien
und Pakistan aufgebracht, da sie gehofft
hatten, ein dritter Staat namens Khalistan
würde ebenfalls ins Leben gerufen werden.
Viele britische Imperialisten glaubten,
dass ein unabhängiges und vereintes Indien nicht überleben würde. Zu diesen
Skeptikern gehörte auch der ehemalige
Premierminister Winston Churchill, aber
auch einige Beamte, die zur Zeit der
Machtübertragung im Dienst der britischen Regierung angestellt waren. Die
Mizo-Berge, damals als Lushai-Berge bekannt, wurden von einem Mann namens
A.R.H. MacDonald regiert. Dieser MacDonald schrieb im März 1947 an seinen
unmittelbaren Nachfolger, dass sein „Rat
an die Lushais seit dem Ende des Krieges
bis jetzt immer gewesen sei, sich um die
zukünftigen Beziehungen zum Rest Indiens keine Sorgen zu machen, da niemand
vorhersagen kann, wie die Lage Indiens in
zwei Jahren sein wird oder ob es dann überhaupt noch ein einheitliches politisches
Gebilde Indien geben wird. Ich würde
meine kleine Tochter nicht ermutigen, ein
lebenslanges Gelübde der Jungfernschaft
abzulegen, aber ich würde es als ein noch
schlimmeres Verbrechen ansehen, sie im
Kindesalter mit einem Jungen zu verloben,
der selbst noch unentwickelt ist.“
In den darauffolgenden Jahren entwickelte
das Kind sich ausreichend, um seine unwilligen Partner zu überzeugen oder regelrecht zu nötigen, mit ihm eine Bindung
einzugehen. Aber es brauchte Zeit und
Geld, und viel Blut wurde dabei vergossen.
Zwischen den Jahren 1947 und 1950 wurden über fünfhundert Fürstenstaaten in die
Indische Union eingegliedert. 1963 gaben
die dravidischen Parteien den Anspruch
auf einen eigenen Staat schließlich auf. Die
Mizos rebellierten 1965, zwei Jahrzehnte
später legten deren Anführer die Waffen
nieder und beteiligten sich am demokratischen Prozess. In die 80er Jahre fiel die
separatistische Bewegung der Sikhs im
Punjab, die schließlich befriedet wurde,
wobei allerdings viele ihr Leben lassen
mussten. In den 80ern und 90ern brach eine
weitere Welle der Gewalt los, die von der
Vereinigten Front zur Befreiung Assams
(ULF) initiiert wurde - auch diese ebbte
schließlich ab und die große Mehrheit der
Assamesen sucht ihr Glück innerhalb der
Indischen Union anstatt nach einem unabhängigen Staat Assam zu streben.
Im Jahr 2011 gibt es drei separatistische
Bewegungen, die ihren Einfluss und ihre
Bedeutung bewahren: in Nagaland, Manipur und Kaschmir. Die erste dieser Bewegungen wurde über drei Jahrzehnte lang
von einem Thangkul Naga namens T. Muivah angeführt. In den späten Achtzigerjahren war der Niederländische Autor Bertil
Lintner entlang der indisch-burmesischen
Grenze unterwegs, um den Naga-Anführer
in seinem Versteck im Dschungel zu treffen. Muivah erzählte ihm, dass „die einzige
Hoffnung, die die Naga hätten, wie sie ihre
Unabhängigkeit erreichen könnten, sei,
dass der Staat Indien zusammenbreche.“
Die Naga hatten Kontakte zu Sikh- und
kaschmirischen Separatisten geknüpft und
Muivah „hegte die inbrünstige Hoffnung,
dass eine ähnliche Bewegung unter den
Tamilen in Südindien entstünde, da dies
das Land in die Anarchie stürzen würde,
die er sich erhoffte.“
Die Tamilen bleiben relativ zufrieden mit
der Indischen Union und die Sikh- Separatisten sind nicht länger aktiv oder einflussreich (wenn man von den BhindranwalePlakaten absieht). Aber das Kaschmirtal
bleibt ein brodelnder Krisenherd; Manipur
beherbergt Dutzende bewaffneter Separatistengruppen, und 13 Jahren Waffenstillstand zum Trotz ist zwischen der indischen
Regierung und den Anhängern Muivahs
i
keine Einigung erreicht. Das Unbehagen in
diesen drei Staaten hat vier Hauptgründe:
erstens sind sie zu weit entfernt vom Landesinneren der Indischen Union, und zwar
sowohl geographisch als auch kulturell.
Zweitens ist die Idee der Unabhängigkeit
unter den jungen Männern der genannten
Staaten enorm attraktiv, drittens wächst
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die Wut über die Immunität vor Inhaftierung und Strafverfolgung der Soldaten der
indischen Armee, deren Vorgehen gegen
Zivilisten nur zu mehr Unruhe führt. Der
vierte Grund, der für Unbehagen sorgt,
ist die Unterstützung manipulativer und
korrupter Politiker seitens der indischen
Zentralregierung. Die Aufständischen
verüben ihrerseits eigene Verbrechen, wie
zum Beispiel die Vertreibung von Pandits
im Fall von Kaschmir und die ständige
Erpressung von Zivilisten durch Rebellen
aus Manipur und Nagaland zeigt.
Oft kommt die finanzielle Unterstützung
für diese Gruppen aus dem Ausland.
Hauptgrund des Konfliktes bleibt aber das
Tagore-Kulturpreis 2011
für Prof. Dr. Dietmar Rothermund und Günther Paust
sondern vor allem auch durch
heute auf 52 Konzerttourneen mit über
die Medien. Als Experte für
1850 Gastspielen europaweit und in Indien
den südasiatischen Raum ist er
zurückblicken.
in zahlreichen Rundfunk-, FernDie Preisverleihung fand am 24.09.11
seh- und Zeitungsreportagen
im Rahmen einer Festveranstaltung im
ein gefragter Ansprechpartner.
Kulturrathaus Dresden statt. Die beiden
Seine Sachund Fachkompetenz,
Preisträger erhielten den Preis von Herrn
die nicht nur in Europa, sondern
Hans-Joachim Kiderlen, dem Vorsitzenden
weltweit hohe Anerkennung erder Deutsch-Indischen Gesellschaft e.V.
fährt, stellt er zahllosen OrganiAnwesend war Prof. Dr. Shiva Prakash,
sationen und Institutionen zur
Direktor des Tagore Centers Berlin und
Verfügung. So konnte auch die
Botschaftsrat (Kultur) bei der Indischen
Deutsch-Indische Gesellschaft
Botschaft in Berlin.
Der Preisträger Prof. Rothermund mit Herrn Kiderlen
lange Jahre von seinem Wirken
Der Rabindranath Tagore-Preis wurde bei
im Bundesvorstand und Beirat
seiner Errichtung im Jahre 1986 als ein
der Gesellschaft profitieren.
Prof. Rothermund wurde der Preis vor
„Literaturpreis“ begründet und erst im
Günther Paust wurde mit dem Tagore
allem für die außergewöhnliche BreiJahre 2002 zu einem „Kulturpreis“ erweiKultur-Preis ausgezeichnet für seinen seit
tenwirkung seiner Arbeit verliehen. Sein
tert. Der mit insgesamt Euro 5000 dotierte
Jahrzehnten andauernden unermüdlichen
Interesse an Indien erstreckt sich neben
Preis wird alle drei Jahre verliehen. JP
Einsatz als Kulturbotschafter und
historischen, wirtschaftlichen und landesKulturschaffender, fokussiert auf
kundlichen Aspekten auch auf den künstIndien.
lerischen bzw. literarischen Bereich. Ein
Er widmet sich nun seit über 30
Beispiel hierfür ist der kürzlich erschieJahren mit hohem Engagement
nene Beitrag zum Band „Rabindranath
und harter Arbeit der VermittTagore and Germany. The History and its
lung klassischer indischer Musik
Relevance for Today“ (New Delhi 2011).
und klassischen indischen Tanzes
Prof. Dr. Dietmar Rothermund, geb. 1933
in Deutschland und Europa, auch
in Kassel, Historiker und emeritierter
in beispielhafter Zusammenarbeit
Professor für die Geschichte Südasiens
mit anderen Kulturkreisen. Die
an der Universität Heidelberg, prägte
zunehmende Popularität seines
über Jahrzehnte hinweg das Indien-Bild
Ensembles weit über die Grenin Deutschland. Als herausragender Mittzen Deutschlands hinaus spiegelt
ler zwischen beiden Nationen legte Rosich in zahlreichen Einladungen
thermund einen besonderen Schwerpunkt
zu Festivals in Rumänien, Italiauf die Verbreitung von indienkundlichem
en, Teneriffa, Österreich und der
Wissen in Deutschland, nicht nur durch
Schweiz wider. So kann er bis Der Preisträger Günther Paust mit Herrn Kiderlen
seine Publikationen und Vorlesungen,
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starke Engagement der Rebellen auf der
einen Seite und der übermäßige Einsatz
von Gewalt auf Seiten des Staates. Einige werden einwenden, dass es für Länder
wie Spanien und England Jahrhunderte
gedauert hat, die ethnischen Minderheiten, die an den Grenzgebieten leben, unter
Kontrolle zu bringen. Man könnte auch das
Beispiel des amerikanischen Bürgerkriegs
anführen und Chinas Vorgehen in Tibet
und Xinjiang. Der Prozess der Staatwerdung ist oft von Qualen, Verbitterung und
Brutalität begleitet. Indien beansprucht
den Status einer modernen Demokratie.
Die Maßstäbe, die Indien selbst dabei setzt,
müssen sich von denjenigen eines aristokratischen Regimes des 19. Jahrhunderts
oder denen eines totalitären Staates der
Gegenwart unterscheiden. Die Kaschmiris,
Manipuris und Nagas lassen sich nicht mit
Nötigung oder Bestechung für die Idee
Indiens gewinnen.
Das Beharren auf Unterdrückung seitens
des Staates und das Bestehen auf dem Streben nach nationaler Souveränität seitens
der Rebellen hat laut Tagore zu „endlosen
Konflikten“ geführt. Wenn die Gewalt enden soll, muss die indische Regierung weit
mehr unternehmen, um die Bevölkerung
in Kaschmir, Nagaland und Manipur zu
erreichen. Das Sonderermächtigungsgesetz für die Streitkräfte (Armed Forces
Special Powers Act) muss aufgehoben
werden. Polizisten und Soldaten, die sich
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der Verletzung von Menschenrechten
schuldig gemacht haben, müssen bestraft
werden. Die ständige Beeinflussbarkeit
der Arbeitsweise demokratisch gewählter Regierungen einzelner Staaten muss
aufhören. Gleichzeitig sollte man kleine
Nationalismen nicht verklären, da sie ein
hässliches Gesicht haben. Die Intoleranz
der Naga-Aktivisten zeigte sich deutlich
im Sommer 2010, als sie das Imphal-Tal
über zwei Monate lang versperrten und so
Zivilisten den Zugang zu Lebensmitteln,
Benzin und Medikamenten verwehrten.
Die Engstirnigkeit (vielleicht auch die Paranoia) von Meitei Aufständischen zeigt
sich darin, dass sie DVDs von Hindi-Filmen
sogar für den privaten Gebrauch verbieten.
Es gibt auch die Frage der Durchführbarkeit. Die kleinen, bergigen, abgeschiedenen
unabhängigen Binnenstaaten, von denen
die Radikalen träumen, würden im wirtschaftlichen und politischen Sinn nicht
überleben können. (Und ein unabhängiges
Kaschmir würde höchstwahrscheinlich zu
einem Sammelbecken für Al-Qaida werden). Wenn Tamilen und Mizos innerhalb
der Indischen Union leben können, gibt
es keinen Grund, warum die Meiteis
und Nagas es nicht können sollten. Diesen Gemeinschaften, die gut ausgebildet
sind, Englisch sprechen und sich durch ein
hohes Maß an Geschlechtergerechtigkeit
auszeichnen, stehen die besten Arbeitsstellen in ganz Indien offen (die tatsächlich
Erscheinungsbild krasser Ungleichheiten. Auf einer Baustelle für einen Softwarepark in Pune bewegen
Tagelöhnerinnen in Handarbeit schwere Steine. (Foto: Rainer Hörig. Quelle: Indien Verstehen 2010)
8 meine welt 2/2011
schon einige von ihnen innehaben). Warum sollten sie sich also auf eine kleine
abgegrenzte Region beschränken?
Diese drei konzeptuellen und ideologischen Herausforderungen (Hindu-Fundamentalismus, kommunistische Diktatur und enthnischer Seperatismus) gehen
allesamt in die Tage der Staatsgründung
zurück. Zu diesen sind in jüngster Zeit
drei eher weltliche und materialistische
Herausforderungen hinzugekommen: Ungleichheit, Korruption und Umweltzerstörung. Im heutigen Indien gibt es enorme
Ungleichheiten in Bezug auf Einkommen,
Reichtum, Konsum, Besitz, Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung und
in Bezug auf Arbeitsverhältnisse. Diese
verschiedenen Miss­verhältnisse laufen
entlang verschiedener sozialer Grenzen
wie Kaste, Religionszugehörigkeit, Ethnie,
Region und Geschlecht. Höhere Kasten
(insbesondere die Brahmanen und Banias)
besuchen bessere Schulen und Krankenhäuser und sind massiv überrepräsentiert
unter den Unternehmern und Fachkräften.
Sowohl wirtschaftlich als auch sozial betrachtet, sind Hindus, Sikhs und Christen
besser dran als Muslime. Die Stammesvölker Zentralindiens sind, wie wir gesehen
haben, sogar noch schlechter dran als die
Muslime. Diejenigen, die im Westen und
Süden des Landes leben, haben bessere
Einkommensverhältnisse als diejenigen,
die im Norden oder Osten leben. In ganz
Indien ist das Pro- Kopf-Einkommen in
Städten viel höher als auf dem Land.
Schließlich bleibt noch zu erwähnen, dass
in jeder sozialen Schicht Männer einen
besseren Zugang zu Bildung, medizinischer
Versorgung und Erwerbstätigkeit haben
als Frauen.
Ich bin kein Sozialist und noch weniger
ein Marxist. Die Geschichte des Kommunismus zeigt, dass die Versuche, eine
Mustergesellschaft zu schaffen, in der alle
Menschen gleich sind, nur in verschärfter
Unterdrückung der Bürger und in der Entstehung einer neuer Klasse mündet, die
mehr Privilegien und größere Immunität
vor Strafverfolgung genießt als sie mittelalterlichen Herrschern zu eigen waren. Der
Staat Nordkorea ist ein geeignetes Beispiel
dafür, wie schwachsinnig und barbarisch
die Suche nach der absoluten Gleichheit
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Kinderarbeit werden kann.Wie unser kluger Landsmann
Andre Beteille immer betont, ist es nicht
die absolute Gleichheit, die erstrebenswert
ist, sondern die Chancengleichheit. Diese
haben wir schlichtweg nicht erreicht, daher
die oben genannten Ungleichheiten. Die
Chancen eines Dalit sind weiterhin weit
von denen eines Brahmanen entfernt, die
eines Muslim von denen eines Hindu. Einem Stammesangehörigen werden nicht
die gleichen Chancen gewährt wie einem
Hindu oder Muslim, ein Dorfbewohner
liegt hinsichtlich der Chancengleichheit
weit hinter einem Städter. Bürger des
Staates Orissa oder Jharkhand können
mit denen Maharashtras oder Tamil Nadus nicht mithalten.
Korruption
Diese Ungleichheiten werden durch Korruption noch verstärkt. Öffentliche Gelder,
die dazu bestimmt sind, Arbeitsplätze oder
soziale Einrichtungen zu schaffen, fließen
in die Taschen von Politikern und Bürokraten. In einem Roman aus den 50er Jahren
bemerkte Verrier Elwin, wie handgesponnene Baumwolle (khadi), einst „ein Symbol des Aufbegehrens gegen die britische
Kolonialherrschaft“, inzwischen fast schon
zu einer offiziellen Uniform, einem Zeichen von Macht und Autorität geworden
ist. Einstige Rebellen sind nun an der Regierung beteiligt, trotzdem assoziierte man
lange noch handgesponnene Baumwolle
mit Anstand und Ehrenhaftigkeit. Ich bin
alt genug, um mich noch an eine Zeit erin-
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(Quelle: Länderreport Indien 2008, DGB)
nern zu können, in der indische Politiker
noch nicht allesamt selbstherrlich, engstirnig und bestechlich waren. Lal Bahadur
Shastri regierte zwischen 1964 und 1966 mit
einem Kabinett von ehrenhaften Männern
und Frauen. Sein Kollege, Gulzaril Nanda,
verbrachte seinen Lebensabend in einer
schäbigen, dunklen Wohnung in Ahmedabad, ohne Auto, Kühlschrank etc. Die
Politiker der Rechten und Linken waren
meist so integer wie diejenigen der Mitte.
Als in den 1980er Jahren ein Einbrecher
in das Haus von E.M.S. Namboodiripad
einbrach, der für drei Legislaturperioden
der Ministerpräsident des Staates Kerala
war, fand er nur achthundert Rupien und
einen Gold- Sovereign [Anmerkung: alte
britische Münze].
Man könnte von drei sich überlappenden
Phasen in der Entwicklung der politischen
Korruption in Indien sprechen. Die erste
Etappe war die Zulassungserlaubnis für
Stücklizenzen der Britischen Herrschaft
in Indien (Raj) der 50er und 60er Jahre.
Bestimmten Personen oder Betrieben
wurde einen Gefallen getan und sie erhielten eine Gegenleistung. In der zweiten Etappe, die in den 70ern begann, war
die regierende Partei involviert, die von
Rüstungsaufträgen größere Beträge zum
eigenen Nutzen abzweigte. Die dritte Etappe, die zur selben Zeit begann, sich aber
in den 90ern verstärkte, besteht immer
noch: der Missbrauch staatlicher Macht bei
der Zuweisung von Land und natürlichen
Ressourcen an Freunde und Handlanger.
Am Ende des letzten Jahrhunderts war
Bangalore ein Vorzeigeprojekt für die
Vorteile der Liberalisierung. Der Zugang
zu den weltweiten Märkten hatte den ausgebildeten Arbeitskräften der Stadt die
Möglichkeit geschaffen, ein Ausmaß an
Wohlstand zu erreichen, in dessen Folge
eine neue Welle der Menschfreundlichkeit
in Indien aufkam. Zu Beginn des gegenwärtigen Jahrzehnts war mein Heimatland
Karnataka ein sprichwörtlich gewordenes
Beispiel für die dunklere Seite der Globalisierung. Die Ausbeutung von Mineralien
und deren Export nach China hat Umweltschäden im großen Ausmaß verursacht
und das politische System durch Kaufen
und Verkaufen durch den Gesetzgeber ruiniert. Der enorme Profit durch Bergbau
entsteht teils aufgrund der hohen Preise
auf dem internationalen Markt, aber zu
einem größeren Teil entsteht er, da der
Staat eine sehr geringe Förderabgabe auf
Eisenerz erhebt, viele Lieferungen ohne
jegliche Abgaben die Häfen erreichen und
keinerlei Einhaltung umwelttechnischer
Auflagen oder Arbeitsstandards von den
Bergwerksbetreibern verlangt werden.
Im Oktober des Jahres 2010 versuchte die
Opposition in Karnataka, die Regierung
ihres Amtes zu entheben. Medienberichten
zufolge wurden einigen MLAs bis zu 500
Mio Rupien (Rs 50 crore) angeboten, um
ihre Meinung zu ändern. Da die meisten
sich nicht kaufen ließen, kann man davon
ausgehen, dass ihre eigene Partei mehr
bot, um sie auf ihrer Seite zu halten. Mehrere Milliarden Rupien werden in dieser
Angelegenheit den Besitzer gewechselt
haben. Das sind grobe Schätzungen, aber
es ist sicher, dass mit illegalem Bergbau in
Karnataka ein Milliardengeschäft gemacht
wird. In anderen Bundesstaaten wie Goa
und Orissa wird der Profit aus illegalem
Bergbau noch schlimmere Auswirkungen
auf die Demokratie haben.
Maharashtra scheint der nächste Staat auf
der Liste zu sein. Letzten Monat verbrachte ich in Puna einige Stunden mit dem
Umweltschutzexperten Madhav Gadgil.
Gadgil war gerade von einer Reise zurückgekehrt, die ihn an die Westküste geführt
hatte Dort hatte er einst eine gedeihende
Landwirtschaft vorgefunden, die auf dem
Anbau von Früchten und Gewürzen und
meine welt 2/2011 9
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auf Fischfang basiert. Inzwischen ist dort
eine massive Aneignung von Land im
Gange. Bergwerkbetreiber, Betreiber von
Luxushotels und Kraftwerken versuchen
zusammen mit Juristen und Ministern die
lokale Bevölkerung zu vertreiben und Wälder und Mündungsgebiete zu zerstören.
Supermacht Indien
Der Bergbau- und Kraftwerksboom ist
zum Teil mit dem Wahn zu erklären, dass
man unbedingt die Wachstumsrate von 9
Prozent erreichen will, die, wie manche
Kreise in Neu Delhi behaupten, notwendig
sei, damit Indien den Status einer Supermacht erreicht. Dieses Ziel wird vor allem
von bestimmten Ministern, Großunternehmern und Zeitungsverlegern verfolgt, die
alle von einem tiefen Minderwertigkeitskomplex befallen sind: Sie wollen um jeden
Preis im internationalen Vergleich mit den
Politikern, Billionären und Herausgebern
des Westens auf einer Stufe stehen.
Dieses zwanghafte Streben nach dem Status einer Supermacht ist ebenso ein männliches Machogehabe wie der Naxalismus
oder der Hindu Fundamentalismus. Es ist
genauso eine Fantasie und eine genauso
gefährliche obendrein. Viele Konflikte sind
bereits dadurch entstanden. Mit der Politik,
die mit großer Mehrheit das Bestreben
befürwortet, ein Wachstum von neun Prozent zu erreichen, haben wir Agrarflächen
und Lebensraum der Stammesbevölkerung überaus zerstörerischen Formen von
Industrie und Bergbau überlassen. Indem
die Zentralregierung die neun Prozent zur
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Priorität erklärt hat, zum sine qua non, hat
sie die Regierungen der Bundesstaaten
ermutigt, Korruption, Kriminalität und
möglicherweise nicht wieder gut zu machende Umweltzerstörung voranzutreiben.
Natürlich muss die indische Wirtschaft
stetig wachsen, um unser Volk aus der
Armut zu hieven. Es ist jedoch unbedingt
notwendig, sich die Einzelheiten dieses
Wachstums genauer anzuschauen, aus
dem das Erbe für spätere Generationen
gemacht wird. Unternehmen und Projekte
müssen nach der Art der Arbeitsplätze, die
sie schaffen, und nach deren jeweiligen
Folgen für die Umwelt bewertet werden.
Wir müssen sicherstellen, dass jegliche
Form der Aneignung von Land fair, gerecht und transparent von statten geht.
Die Kosten für eine engstirnige Fokussierung auf das Wachstum des BIP und
die Fetischisierung einer bestimmten Zahl
– acht Prozent, neun Prozent, zehn Prozent – können verheerend sein. Denn im
BIP ist nicht der Verlust eingerechnet, der
durch Tagebau entsteht: Wasserknappheit,
Umweltverschmutzung und -zerstörung.
Der Markt kann Effizienz und Produktivität fördern, aber nicht Nachhaltigkeit oder
soziale Gerechtigkeit. Der Markt legt keinen Wert auf die Bedürfnisse der Armen,
auf die Zukunft und auch nicht auf das
Recht auf Leben anderer Spezies. Es liegt
also im Interesse der Bergwerkbetreiber
und Industriellen, die Kosten der Schädigung der Umwelt nicht offen zu legen (die
Gesetze, die solche Schädigung verhindern
könnten, existieren zwar auf dem Papier,
Bauern protestieren gegen ihre Vertreibung durch eine Serie von Großstaudämmen am Narmada-Fluss.
(Foto: Rainer Hörig. Quelle: Indien Verstehen 2010)
10 meine welt 2/2011
werden aber bis auf einige Ausnahmen
nicht angewendet). Das heutige Indien ist
ein hoffnungsloser Fall, was die Umwelt
betrifft: Absinken des Grundwasserspiegels, enorm hohe Luftverschmutzung und
Bodenerosion, die Entsorgung von Giftmüll, die keinerlei Regelungen unterliegt,
Abholzung der Wälder und Dezimierung
der Artenvielfalt sind verheerend. Dies
wird durch Korruption und Ungleichheit
begünstigt. Sowohl die Politiker der Zentralregierung als auch die Regierungen der
einzelnen Bundesstaaten, die nur im Interesse der Reichen agieren, überlassen die
Kosten der Umweltzerstörung den Armen
und zukünftigen Generationen.
Am 4. November 1948 brachte B.R. Ambedkar einen Verfassungsentwurf in die
verfassungsgebende Versammlung ein.
Dieser Entwurf sollte, mit einigen Änderungen, die Indische Verfassung werden. Ambedkar äußerte sich über das
Dokument, das er betreut hatte, dass es
„brauchbar, flexibel und geeignet genug
sei, das Land in Kriegs- wie Friedenszeiten zusammen zu halten. Wenn etwas mit
der neuen Verfassung tatsächlich schief
läuft, liegt es nicht daran – wenn ich mir
erlauben darf, das zu sagen –, dass die
Verfassung schlecht ist, sondern an der
schlechten Natur des Menschen.“ 62 Jahre später können wir hinsichtlich unseres
Versagens, die Ideale der Verfassung wie
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu
erfüllen, schlussfolgern, dass bestimmte
Menschen besonders versagt haben: diejenigen, die eben diese Ideale von Berufs
wegen fördern und durchsetzen müssten.
Das Ausmaß und die Allgegenwärtigkeit
der Korruption in der Politik bedeutet, dass
möglicherweise der mächtigste Feind der
Idee von Indien inzwischen der indische
Staat selbst ist.
Die Kongresspartei hat hierbei eine wichtige Rolle gespielt. Als die Partei der Unabhängigkeitsbewegung hat sie geholfen,
die Idee von Indien zu definieren. Als die
Partei, die nach der Unabhängigkeit für
Einheit und Demokratie warb, hat sie der
Idee von Indien Tiefe verliehen. In den
letzten Jahrzehnten jedoch haben die Partei und ihre Führer hauptsächlich an der
Zerstörung der Idee von Indien gearbeitet.
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Familiengeführte Unternehmen
Man kann ebenso gut Namen nennen:
Unter Indira Gandhi, selbst ein Kind des
Freiheitskampfes, in der Tradition Gandhis
und Nehrus geschult, wandelte sich die
Partei von einer dezentralisierten, demokratischen Partei mit starken Bezirksausschüssen und Landesausschüssen in ein
familiengeführtes Unternehmen, das die
Autonomie und die Integrität des gehobenen Dienstes zerstörte, indem sie Loyalität
zur Parteispitze zum Hauptkriterium für
den Aufstieg machte. Rajiv Gandhi, ein
modern gesinnter Mann, der Indien ins
21. Jahrhundert führen wollte, öffnete
die Tore an der Moschee von Ayodhya
und anschließend annullierte er, um den
Bigotten auf der anderen Seite zu gefallen, die Entscheidung des Höchsten Gerichtshofs im Shah Bano-Fall. Dies führte
zu zwei Jahrzehnte währender religiöser
Feindschaft und zu religiös motivierten
Krawallen mit tausenden Toten und noch
mehr Obdachlosen (und bahnte nebenbei Hindutva den Weg vom politischen
Rand auf die politische Bühne). Manmohan Singh, der selbst ein integerer Mann
ist, regiert mit einem Kabinett, das vor
Korruption nur so stinkt, sieht dabei zu,
wie mehrere Milliarden von Rupien als
Vergütung für die Sanktionierung spezieller Wirtschaftszonen, Energieprojekte
und andere Dinge illegal von einer Hand
in die andere wechseln.
Was persönliche Integrität und Aufrichtigkeit betrifft, scheinen die Kommunisten
im Parlament die am wenigsten verhassten
unter den indischen Politikern zu sein. Sie
unterhalten z.B. keine Schweizer Bankkonten und sind nur äußerst selten in FünfSterne-Restaurants anzutreffen. Viele von
ihnen haben ein tiefes Mitgefühl mit den
Armen und Ausgeschlossenen. Sie haben
jedoch, wo sie an der Macht waren, Parteigenossen energisch in der Verwaltung,
der Polizei und, was am schlimmsten ist,
an den Universitäten gefördert. An der
Universität von Kalkutta, einst eine ausgezeichnete akademische Adresse, sank
das Niveau der Lehre erheblich dadurch,
dass Professorenstellen zuerst mit Parteiideologen besetzt wurden.
Es ist eine erstaunlich archaische Ideologie, der diese Kommunisten anhängen.
Protest gegen staatliche Untätigkeit: Demonstration von BJP-Anhängern gegen Straßenbau in Delhi.
(Quelle: Länderreport Indien 2008 DGB)
Baburam Bhattarai, der Ideologe der nepalesischen Maoisten, äußerte, seine Partei
„möchte ein neues Modell ausprobieren,
welches sich auf die Ideen Gandhis, Lohias, Marx’ und Lenins bezieht und dabei
eine Synthese von allen darstellt”. Sein
Führer, Genosse Prachanda, spricht oft
mit Bewunderung vom Buddha. Die indischen Genossen lassen sich von weiter
entfernten Persönlichkeiten inspirieren.
Auf den jährlichen Versammlungen der
CPI(M) sind immer vier Porträts auf dem
Podium zu sehen: Marx, Engels, Lenin und
Stalin – also zwei deutsche Denker des 19.
Jahrhunderts und zwei russische Diktatoren des 20. Jahrhunderts. Ich hoffe, dass ich
es noch erleben darf, bei Versammlungen
der CPI(M) dereinst Porträts von repräsentativen indischen Demokraten wie z.B.
Gandhi und Ambedkar zu sehen.
Um einigermaßen gut zu funktionieren,
braucht eine Demokratie drei Bereiche,
die mitziehen müssen: den Staat, die Privatwirtschaft/ Privatwirtschaftliche Unternehmen und die Zivilgesellschaft. In
den 50ern und 60ern, als die Unternehmer
zaghaft und nicht besonders risikofreudig
waren und eine Zivilgesellschaft noch nicht
existierte, gab der Staat sich größte Mühe.
Heute schreiben wir das Jahr 2011 und es
scheint, als wäre es jetzt die Zivilgesellschaft, die sich größte Mühe gibt. Hunderte
von selbstlosen sozialen Aktivisten schuften in den Bereichen Bildung, Gesundheit,
Umwelt, Frauenrechte, und Verbraucherschutz, um nur einige zu nennen.
In der Privatwirtschaft gibt es Visionäre
ebenso wie diejenigen, die sich nur bereichern wollen. Vor zehn Jahren waren
es die Philanthropen, die die Trends vorgaben, jetzt sind es die Gauner und ihre
Handlanger, die immer mehr an Macht
und Einfluss gewinnen.
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Um den Glauben an die Idee von Indien
wieder herzustellen, brauchen wir eine fähigere ehrliche Klasse von Politikern. Bis
es soweit ist, können wir uns auf die massive Unterstützung der Bürger verlassen,
die trotz der Provokationen durch Extremisten Demokratie und Vielfalt kontinuierlich hochhalten. Außerhalb von Gujarat
wurden die Hindutva-Hardliner von den
Wählern wiederholt energisch abgewiesen (wie unlängst in Bihar bewiesen, wo
die NDA (National Democratic Alliance)
einen spektakulären Sieg bei den Wahlen
auf Landesebene verbuchen konnte, indem
sie Narendra Modi von ihrer Kampagne
ausschloss). Den islamistischen Terrorakten in Bombay, Delhi und anderswo sind
keine Krawalle oder religiösen Racheakte
gefolgt.
Das Gespür der Bürger zeigte sich auch, als
die Kampagne gegen Sonia Gandhi, die vor
den Wahlen im Jahr 2004 gestartet wurde
und sie als eine Fremde darstellen sollte,
zurückgewiesen wurde. Die Fremdenfeindlichen hofften, die niederen Gefühle der
Inder im Allgemeinen und der Hindus
im Besonderen anzuregen, indem sie die
Gefahren, die ein möglicher ‚Rome Raj’
auslösen könnte, herauf beschworen. Außerhalb der Kreise der Hindu-Fundamentalisten stieß diese Kampagne allerdings
auf keinerlei Resonanz. Der Wähler stellte
klar, dass sie Mrs. Gandhi anhand von anderen Kriterien beurteilen würden. Ihre
italienische Herkunft und die katholische
Erziehung waren nicht relevant. Sie hatte
sich das Recht, eine Inderin zu sein, durch
vier Jahrzehnte Aufenthalt auf indischem
Boden erworben. Zwar gibt es viele Inder,
die mit dem Familienkult unzufrieden sind,
der in der Kongresspartei gepflegt wird,
und viele andere, die mit der Wirtschaftsund Sozialpolitik der Partei nicht glücklich
sind. Aber das europäische Erbe Sonia
Gandhis spielt dabei keine Rolle.
Die Idee von Indien, die auf Werten wie
Dialog- und Kompromissbereitschaft,
Gegenseitigkeit und Anpassung aufbaut,
ist nichts für diejenigen, die schnelle und
endgültige Lösungen für Probleme suchen.
Diese Idee scheint deshalb Ideologen der
Rechten oder der Linken ebenso wenig
zu gefallen wie Populisten.
Lassen Sie mich diesen Skeptikern eine
12 meine welt 2/2011
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letzte Randbemerkung anbieten: Am Unabhängigkeitstag fuhr ich einmal von Bangalore nach Melkote, eine Tempelstadt im
südlichen Karnataka, wo es zufällig auch
einen berühmten Gandhi- Ashram gibt.
Der erste Teil der Fahrt, der uns durch das
ständig wachsende Ballungsgebiet Bangalores führte, war eintönig. Dann fuhren wir
auf die Autobahn Richtung Mysore und die
Landschaft wurde vielseitiger. Irgendwo
zwischen Mandya und Melkote fuhren wir
an einem Ochsenkarren vorbei, auf dem
drei Jungen saßen. Einer von ihnen trug
einen Anzug und eine Brille, der zweite
eine Bandgala mit einem typischen Mysorer Peta-Hut auf seinem Köpfchen und
der dritte war in ein schlichtes Tuch gehüllt.
Diese Jungen waren offensichtlich gerade
von einer Schulveranstaltung zurückgekehrt, bei der sie jeweils als B.R. Ambedkar, M. Visvesvaraya und M.K. Gandhi
aufgetreten waren. Das Bemerkenswerte
war, dass keiner ihrer Helden, die sie verkörperten, ein Kannada-Muttersprachler
war. Jedoch betraf die Botschaft, für die
diese drei historischen Figuren standen,
die gegenwärtige und zukünftige Lebensrealität dieser jungen Kannada-Sprecher.
Die Jungen kannten Ambedkar als denjenigen, der den Unterdrückten Würde
und Hoffnung gegeben hatte, Visvesvaraya
kannten sie als denjenigen, der moderne
Technologie für soziale Zwecke eingesetzt
hatte, wie z.B. bei den Kanälen des Kaveri,
die die Felder ihrer Väter bewässern, und
Gandhi kannten sie als denjenigen, der
sich für ein Miteinander der Religionen
ausgesprochen hatte und gewaltlos den
Freiheitskampf des Landes angeführt
hatte.
Die Vision der Jungen war umfassend.
Ideologen mögen einwenden, dass Ambedkars und Gandhis Ideen nicht miteinander
vereinbar seien; Historiker werden wissen,
dass Gandhi und Visvesvaraya sich bezüglich der Wichtigkeit der Industrialisierung
und des Wirtschaftswachstums nicht einig waren. Die Jungen verstanden aber,
was Parteianhänger und Wissenschaftler
nicht verstehen: dass unser Land dieser
Tage alle drei braucht, da alle diese drei
Persönlichkeiten Inder waren, die mit
ehrlichen und rechtschaffenen Mitteln
versucht haben, das menschliche Leiden
zu lindern, da alle drei ein Vermächtnis
verkörpern, das es verdient, auch heutzutage gepflegt zu werden. Was ich an jenem Tag sah, war ein großartiges Bild der
Idee von Indien. Diese Idee vollständig
wiederaufzunehmen, würde unter anderem bedeuten, den Pluralismus, den jene
Schuljungen verständlich machten, an die
Vorstellung von Demokratie anzupassen,
die jener erwähnte Muria-Lehrer in Dantewada so klar verteidigt hatte. 
Wachstum und Nachhaltigkeit
Wachstum und Nachhaltigkeit gehen
zusammen. Gerade in den Regionen, wo
es wenig Fortschritt und Wachstum gibt,
haben wir den gravierendsten Verlust an
Biodiversität. Denn es sind gerade die Menschen in den wirtschaftlichen schwächsten
Regionen, die zu unzeitgemäßen, destruktiven Methoden gezwungen werden,
um ihr Leben zu sichern. Das Abholzen
von Bäumen zu Heizzwecken oder die
Zerstörung von Mangrovenwäldern durch
Dynamitfischerei im Meer sind Beispiele
hierfür. Ein intelligentes Fortschrittsmodell
ist Voraussetzung für Nachhaltigkeit. Im
Übrigen: Was immer wir in Deutschland
auch tun, Länder wie China, Indien oder
Brasilien wollen und werden wachsen. Sie
verweisen zu Recht darauf, dass der Wohlstand des Westens über einen Industrialisierungspfad erreicht wurde, der zu den
Problemen wie dem Klimawandel geführt
hat. Und dieser Wohlstand solle ihnen nun
verwehrt werden? Deshalb müssen die
entwickelten Industriestaaten zeigen, dass
Wachstum und Nachhaltigkeit vereinbar
sind. So werden die Schwellenländer statt
zu Konkurrenten um die knapper werdenden Ressourcen zu unseren Partnern.
M athias M aching
(Quelle: „Grünes Wachstum ist drin“. DIE
ZEIT; 4.11.2010)
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Begegnung
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Mein Leben ist meine Botschaft
Über das Leben und Wirken einer bemerkenswerten Sozialaktivistin Indiens
J ose P unnamparambil
Sie heißt Dayabai, auf Deutsch „barmherzige Schwester“. Seit 30 Jahren lebt
sie in einem Adivasi-Dorf im Chindwada
Bezirk, Madhya Pradesh, unter den Gonds.
Wie eine von ihnen. Obwohl sie aus einer
wohlhabenden traditionellen Familie in
Kerala abstammt, entschied sie sich sehr
früh im Leben, ihre ganze Kraft, Energie
und Kreativität in den Dienst der Armen
und Entrechteten zu stellen. So verließ
sie ihr Haus nach der Schulausbildung im
Alter von 17 und ging nach dem Tausende Kilometer entfernten Hazaribag im
Bundesstaat Bihar. Dort wollte sie Nonne
werden, um in den Missionsgebieten zu
arbeiten. Das war der Beginn eines abenteuerlichen und risikoreichen Leben für
Dayabai.
Ein Dokumentarfilm über ihr Leben
„Ottayal“ (Die Einzelgängerin) wurde
neulich mit dem indischen Nationalpreis
ausgezeichnet. Im September war sie in
Europa, um ihre Freunde und Bekannte zu besuchen. Erst kam sie nach Paris,
dann nach Basel, Mokau, Frankfurt und
schließlich nach Unkel, zu uns. Ich habe
Dayabai
sie vom Kölner Bahnhof abgeholt. Sie sah
aus wie eine Adivasi Frau aus Nordindien,
im einfachen Sari und mit einem kleinen
Koffer und ein paar überfüllten Taschen.
Unterwegs nach Unkel erzählte sie mir
aus ihrem Leben:
Dayabai beim Teetrinken mit einem
Mädchen aus dem Dorf
Im Kloster in Hazaribag, Bihar, unterbrach
sie die Nonnenausbildung ein Jahr vor dem
endgültigen Gelübde. Es folgte einige Zeit
als Lehrerin in einem Adivasi- Dorf, dann
ging sie zurück nach Kerala, um als Krankenschwester ausgebildet zu werden. 1971
ging sie für ein Jahr nach Kalkutta und
Bangla Desh, um den Kriegsverletzten zu
dienen und bei ihrer Rehabilitation mitzuwirken. Dann ging ihr Weg nach Bombay,
um dort im Nirmala Niketan ein Studium
als Sozialarbeiterin zu beginnen. Dort arbeitete sie in den Slums und lebte alleine
wie eine von den Slumbewohnern. 1979
beendete sie ihr Sozialarbeitstudium und
ging nach Chindwada in Madhya Pradesh,
um ein an das Studium angeschlossenes
Praktikum zu machen. Seit 1980 lebt sie
mit den Gonds wie eine von ihnen. 1995
baute sie ein Haus in dem Dorf Barul in
Chindwada mit dem Geld, das sie von ihrem Vater geerbt hat. Dort lebt sie alleine
mit einem Hund und einer Katze.
Dayabai hat keine große Organisation
gegründet, keine große Schule errichtet
und kein Krankenhaus gebaut. Überall, wo
sie gewesen ist, hat sie sich für die Rechte
der einfachen Menschen eingesetzt, hat
sie sich darum bemüht, diese Menschen
zu befähigen, selbst um ihre Rechte zu
kämpfen, selbst für die Verbesserung ihrer
Lebensbedingung zu arbeiten. Und sie lebte genau so, wie diese einfachen Menschen.
Was Gandhi über sein eigenes Leben sagte, kann man auch über ihr Leben sagen:
„Mein Leben ist meine Botschaft“.
Dayabai verbrachte einen Tag in unserem
Haus, bevor sie nach Frankfurt zurückging
und von dort nach Indien. Während ihres
Aufenthaltes bei mir hatte ich die Möglichkeit, mit ihr über ihr Leben, ihre Arbeit
und ihr Engagement für die Adivasi ein
Gespräch zu führen. Ich fragte sie:
Warum haben Sie sich für so ein Leben
entschieden?
Nichts war zufällig in meinem Leben.
Ich war immer eine Außenseiterin. Die
meine welt 2/2011 13
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Begegnung
i
Welche Art von Entwicklung wollen Sie
unterstützen?
Das Wort „Entwicklung“ höre ich nicht
gerne. Jetzige „Entwicklung“ ist zerstörerisch, sie fördert die Entstehung großer
Ungleichheit zwischen den Menschen und
zwischen den Völkern. Für ganz wenige
entsteht großer Reichtum und für viele
katastrophale Armut. Und es entstehen
irreparable Schäden für die Umwelt. Was
wir brauchen, ist Fortschritt, der gerecht
ist; die Möglichkeit, die Grundbedürfnisse
jedes Menschen zu befriedigen.
oder ein Leben integriert in die moderne
Gesellschaft?
Es ist fast unmöglich, Adivasi abzuschirmen von dem Einfluss von Fortschritt und
Zivilisation. Dies ist auch nicht erforderlich. Aber sie müssen die Möglichkeit
haben, viele Elemente ihrer Lebenspraxis beizubehalten, zum Beispiel wie man
Landwirtschaft betreibt. Sie besitzen enorme Kenntnisse und Erfahrung beim nachhaltigen Anbau von Getreide und Gemüse.
Sie achten auf Biodiversität und Schutz
von Umwelt. Sie haben unschätzbare
Kenntnisse über Heilpflanzen und Heilmethoden wie „Pranik-Heilung“ (Heilung
durch Atmungstechnik), die wirksam für
die Gesundheit eingesetzt werden können.
Vor allem haben sie eine Ernährungspraxis, die ausgeglichen ist. Ich selbst fühle
mich sehr angezogen von ihrem einfachen
Leben und von ihrer engen Bindung aneinander und an die Natur. Leider hat die
Berührung mit der Außenwelt ihr Leben
radikal verändert, nicht immer zum Guten!
Welche Art von Leben stellen Sie sich für
die Adivasi vor? Ein Leben für sich alleine, abgeschlossen von der Außenwelt,
Warum haben Sie für sich ein Leben wie
das der Adivasi gewählt?
Ihr einfaches Leben, ihr Leben in Harmo-
große Disparität zwischen denjenigen,
die „haben“, und denjenigen, die „nichthaben“, hat mich empört. Diesbezüglich
stellte ich den herrschenden Zustand der
Gesellschaft in Frage. Vielleicht hat das
Leben von Jesus Christus und Mahatma
Gandhi mich in jungen Jahren sehr beeinflusst. Nachdem ich das Kloster verlassen
habe, zog mich das einfache Leben der
Adivasi sehr an.
Fotos aus: „The Lady with Fire“von Mercy Mathew and Annie Drese
Dayabai bereitet die Jugendlichen im Dorf für Straßentheater vor.
14 meine welt 2/2011
nie mit der Natur und ohne Klassenund
Kastenunterschiede, auch ihr Lebensstil
war für mich sehr ansprechend.
Was wollen Sie im Leben erreichen?
Ich habe mir nie über das Erreichen bestimmter Ziele im Leben Gedanken gemacht. Weil ich auf Besitz keinen Wert
lege, bin ich frei. Ich brauche mich vor
niemandem zu fürchten, da ich nichts zu
verlieren habe. Ich kann dann handeln
wie ich will und mich unbekümmert für
die Verbesserung der Lebensbedingungen
einfacher Menschen einsetzen. Zur Zeit
bin ich sehr besorgt über die zerstörerische
Wirkung der sich verändernden Lebensstile in Indien auf die Umwelt und auf
das soziale Klima. In meinem Dorf, insbesondere auf meinem kleinen Grundstück,
versuche ich konsequent, biologischen
Anbau zu betreiben und zusammen mit
den Dorfbewohnern Verfügbarkeit von
Grundwasser zu sichern. Indien kann es
sich nicht leisten, nach europäischer Art
und Weise zu wirtschaften und den verschwenderischen Lebensstil von dort zu
übernehmen. j
i
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
Indische Erfahrung ist wichtiger als die Sprache,
in der das literarische Werk geschrieben wird
K annan S undaram
Kannan Sundaram ist der Sohn des
bekannten tamilischen Schriftstellers
Sundara Ramaswamy. Er ist Redakteur
der angesehenen Tamil-Literaturzeitschrift „Kalachuvadu“ sowie der
Geschäftsführer des gleichnamigen
Verlags. Seit Jahren versucht Herr
Sundaram durch regelmäßigen Besuch
der Frankfurter Buchmesse und Kontakte mit den deutschen Verlegern die
moderne tamilische Literatur hierzulande bekannter und zugänglicher zu
machen. Im folgenden Interview haben
wir ihn über die modernen Trends in
der Tamil- Literatur, über die Akzeptanz der Literatur in indischen Sprachen hierzulande etc. gefragt. Seine
Antworten in englischer Sprache, übersetzt von Thomas Chakkiath, drucken
wir unverkürzt nachfolgend ab. Die
Fragen stellte Jose Punnamparambil.
D ie R edaktion
Meine Welt: Herr Kannan Sundaram, Sie
sind der Redakteur des populären Magazins „Kalachuvadu“, das von Ihrem Vater
Sundara Ramaswamy, dem bekannten tamilischen Schriftsteller, gegründet wurde.
Sie sind auch eng mit dem gleichnamigen
(Kalachuvadu) Verlag verbunden. Wie
würden Sie die Trends und Strömungen
in der zeitgenössischen tamilischen Literatur beschreiben?
Kannan Sundaram: Ich bin wohl der Redakteur des Magazins „Kalachuvadu“.
Aber der Verlag „Kalachuvadu“ ist heute
ein Privatunternehmen, also eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung. Ich bin
der Geschäftsführer dieses Unternehmens.
Zwei wichtige Trends, die die Richtung
der tamilischen Literatur in den letzten
zwei Jahrzenten änderten, sind Dalit- Literatur und Frauenliteratur. In den späten
achtziger Jahren gab es kaum Dalitoder
Frauenautoren. Man kann jetzt mit Gewissheit behaupten, dass das ganze soziale
Gefüge der tamilischen Gesellschaft mit
all ihren immensen Komplexitäten in der
tamilischen Literatur widergespiegelt wird.
Meine Welt: Tamil ist eine der ältesten
und reichsten südindischen Sprachen und
hat große Dichter und Erzähler hervorgebracht. Wer sind heute die führenden
tamilischen Autoren? Warum?
Kannan Sundaram: Ich bin kein Literaturkritiker, der solch eine Liste aufstellen
kann. Stattdessen werde ich Ihnen eine
Liste der lebenden Autoren aufstellen/
erstellen, die die Leser und Verleger interessant und lesenswert finden.
Ashokamitran, Ambai, Thoppil Mohammed Meeran und Ki. Rajanarayanan gehören zu den älteren und ranghohen Autoren.
Jayamohan, Salma, Joe D’Cruz, Bama,
Imayam und Perumal Murugan gehören
zur nächsten Generation. Diese Autoren
repräsentieren sehr unterschiedliche Facetten der tamilischen Literatur, und das
Lesen ihrer Werke wird die westlichen
Autoren nicht nur bereichern, sondern
ihnen auch tiefgründige Einblicke in das
heutige tamilische Leben ermöglichen.
Meine Welt: Sie sind ein
ständiger Gast auf der Frankfurter Buchmesse.Welches Interesse zeigen die deutschen
Verleger an zeitgenössischer
indischer Literatur in Regionalsprachen? Warum glauben
Sie, dass die führenden deutschen Verleger weniger Interesse an Werken zeigen, die in
indischen Sprachen erscheinen und nicht auf Englisch?
Kannan Sundaram: Autoren, die in indischen Sprachen und nicht in Englisch
schreiben, werden von den indischen
Autoren, die auf Englisch schreiben, von
den indischen Zeitungen, die auf Englisch
erscheinen, und von den westlichen Medien nicht anerkannt. Es ist daher nicht
erstaunlich, dass weder deutsche Leser
noch Verleger sich deren bewusst sind. Die
deutschen Verleger sollten es schätzend zur
Kenntnis nehmen, dass, wenn einmal ein
indisches literarisches Werk auf Deutsch
erscheint, es dem Leser nichts aus macht,
ob die Ausgangssprache Englisch, Marathi, Tamil oder irgendeine von den über
zwanzig aktiven literarischen Sprachen ist.
Es ist die indische Erfahrung, die wichtig
ist. In Anbetracht des sozialen Umfeldes
der Englisch-sprechenden Klasse Indiens
wird die Darstellung verschiedener Schattierungen des Lebens wahrscheinlich in
indischen Sprachen authentischer sein
als das indische Schreiben auf Englisch.
Meine Welt: Sie sind der Verleger des Romans The Hour Past Midnight von Salma,
dessen deutsche Übersetzung der Draupadi
Verlag mit dem Titel Die Stunde nach Mitternacht herausgebracht hat. Nach seinem
Ersterscheinen (2004) in Tamil wurde dieser Roman in Indien sehr viel diskutiert.
Später wurde er ins Englische und in viele
andere indische Sprachen übersetzt. Was ist
meine welt 2/2011 15
i
bahnbrechend und kontrovers an diesem
Roman? Wie wurde der Roman in Tamil
Nadu und in den anderen Unionsstaaten
aufgenommen?
Kannan Sundaram: Irandaam Jaamangalin
Kathai ist wahrscheinlich der erste von
einer muslimischen Frau geschriebene Roman in Tamil. Salmas Roman legte eine
Welt von muslimischen Frauen in einem
Dorf in Tamil Nadu offen. Dieses Thema
ist in tamilischer Literatur bis jetzt noch
nie aufgegriffen worden. Der Roman war
kontrovers wegen seiner kritischen Darstellung der muslimischen Männer und
der offenen Stellungnahme zum Thema
weibliche Sexualität. Ein Kapitel, das von
dem außerehelichen Verhältnis einer Muslimin mit einem hinduistischen Mann aus
der Nachbarschaft handelt, verärgerte die
religiösen Fundamentalisten. Es ist interessant, dass diese Fundamentalisten sich
kaum über einen anderen bedeutenden
Charakter des Romans, Kareem, einen
Muslim, aufregen, wenn er eine HinduDalitfrau, Mariyayi, als Konkubine hält.
Deshalb ist es in Wirklichkeit weder die
Sexualität noch das sexuelle Vergehen das
Problem, sondern die Politik der Sexualität
und des religiösen Verstoßes. Männer dürfen alle Normen missachten, Frauen aber
nicht. Salma wurde Verrat an der Gesellschaft zur Last gelegt, eine Anschuldigung,
gegen die sie sich in aller Öffentlichkeit
noch wehrt. Vor einigen Monaten brachte
ein islamisches Magazin eine Titelgeschichte über sie heraus, worin ihr vorgeworfen
wurde, dass sie nach eigenen Angaben im
Facebook Status eine Rationalistin ist.
Meine Welt: Welche Maßnahmen sind,
glauben Sie, erforderlich für einen Durchbruch bezüglich der Förderung von zeitgenössischer indischer Literatur in Deutschland?
Kannan Sundaran: Autoren von indischen
Sprachen und ihren reichen Literaturen
sollen den deutschen Lesern und Verlegern
bekannt gemacht werden. Ein effizientes
und großzügiges Subventionierungsprogramm seitens der indischen Regierung
wird dabei mit Sicherheit eine große Hilfe
sein.
j
16 meine welt 2/2011
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
Diktatur der Mittelklasse
A rundhati R o y
Frage: Wie sehen Sie den Western, zehn
Jahre nach 9/11?
Roy: Demokratie und freie Markwirtschaft
sind zu einem einzigen Raubtier verschmolzen, dessen Fantasie ausschließlich
um sein Futter, die Profitsteigerung, kreist.
Es wird ja behauptet, dass die westliche
Welt die Kriege in Afghanistan und im
Irak führt, um den westlichen Lebensstil
zu verteidigen. Dieser Lebensstil, der dort
mit Waffen verteidigt wird, ist es aber, der
den Untergang des westlichen Imperiums
herbeiführt.
Wenn es etwas gibt, worauf der Westen zu
Recht stolz ist, dann ist es sein Lebensstil,
seine Kultur der Freiheit und des Individualismus.
Roy: Natürlich gibt es westliche Werte,
die es wert sind, verteidigt zu werden. Die
Frage ist, zu welchem Preis. Der Westen
denkt nicht in Zusammenhängen. Er denkt
in getrennten Ressorts. Der Krieg gegen
den Terror ist ein Ressort. Die Wirtschaft
ein anderes. Die Demokratie ein drittes.
Aber man muss das alles zusammen sehen.
Wir erledigen alle brav unsere Ressortarbeiten und stellen dann erstaunt fest, dass
wir ohne Bienen, die Blüten befruchten,
nicht überleben können.
Was ist Ihre Prognose, hat der Kapitalismus
eine Zukunft?
Die Zukunft? Das werden Kriege der
Eliten gegen die Armen sein. Das ist der
wahre Konflikt, um den es heute geht. Wir
haben eine weltweite Elite, die kulturell
und wirtschaftlich sehr gut vernetzt ist und
der es nur noch um ihr eigenes Überleben
geht.
Wer ist diese Elite?
In Europa, in Amerika, in China, in Indien
gibt es eine Elite, die nur noch nach unten
kämpft. Ihr geht es um Herrschaft, um Re-
alpolitik, um Energie. Woher nimmt China
seine Rohstoffe, um seine Wachstumsmaschine immer weiter zu füttern? Es wird
Kriege dafür führen müssen. Woher nimmt
Indien seine Rohstoffe? Im Augenblick
von seinen Ärmsten in den Wäldern. Das
alte Argument, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen geschehe zum
Wohle des Landes und mehre am Ende
den Wohlstand aller, hat abgewirtschaftet. All das sind nur noch Floskeln der
herrschenden Mittelklasse, der weltweit
bestens verlinkten Elite.
Leben wir in einer Diktatur der Mittelklasse?
Ja. Es gibt einen Mittelklasse- Totalitarismus. Das lässt sich an vielen Indizien
zeigen. Die kulturellen und ökonomischen Codes in Indien haben sich in den
letzten zwanzig Jahren völlig verändert.
Ein Beispiel ist der Bollywood- Film. Im
Bollywood-Film sieht man keine amen
Menschen mehr. In den siebziger und
achtziger Jahren spielte Amitab Batchchan,
der große Bollywoodstar, die Slumkönige,
die Kulis, den kleinen Mann, der gegen
das System kämpft. In den Neunzigern
sieht man denselben Mann nur noch in
Villas wohnen und in Hubschraubern
herumfliegen.
(Quelle: Auszug aus dem Interview „Die Diktatur der Mittelklasse“ von Iris Radisch mit
Arundhati Roy in DIE ZEIT vom 8.9.2011)
i
Meinung
i
Die Chancen aus den Krisen
D r . G eorge A rickal
Dr. George Arickal hat in Deutschland studiert und war lange Jahre im
entwicklungspolitischen Bereich in
leitender Position tätig. Zuletzt war
er Vorstandsmitglied der Karl Kübel
Stiftung für Kind und Familie, bevor
er vor 10 Jahren nach Kerala, Indien,
übersiedelte. Als interessierter und
kenntnisreicher Beobachter der deutschen und indischen Szene haben wir
ihn gebeten, einen Beitrag über seine
Wahrnehmung der heutigen Situation
Indiens für MEINE WELT zu schreiben.
Nachfolgend sind seine Beobachtungen.
D ie R edaktion
Es war in einer Mitternacht im Monat Juli
2011. Draußen tobte der Monsun. Im Haus
aber war es ganz still und dunkel, eigentlich
die beste Voraussetzung für einen guten,
tiefen Schlaf. Eine hartnäckige Erkältung
mit immer wiederkehrendem Hustenanfall ließ mich jedoch nicht zur Ruhe kommen. Ich wünschte mir, dass diese endlos
scheinende Nacht möglichst schnell dem
ersten Sonnenstrahl, dem morgendlichen
Vogelzwitschern und den Gebetgesängen
aus der nahegelegenen Kirche, der Moschee und dem Tempel weichen würde.
Die Nacht hatte jedoch keine Eile und
kein Erbarmen mit mir und zog sich, ihrem üblichen Rhythmus folgend, dahin.
Der Wecker blieb stumm und ich hatte
keine Alternative als mir zu überlegen, wie
ich diese Nacht irgendwie nutzbringend
vertreiben könnte.
Ganz spontan fiel mir ein, dass es an der
Zeit war, mit einem bereits zugesagten Beitrag für „Meine Welt” anzufangen. Nutze
die Chance der Stunde, sagte ich mir und
begann erst einmal damit, meine Gedanken zielgerichtet fließen zu lassen. Nach
einigen interessanten Einfällen schlief ich
schließlich doch irgendwann ein. Als der
Wecker klingelte und sich die von mir
zuvor heiß ersehnten Signale der Morgendämmerung meldeten, war ich zwar
nicht gerade erfreut, gleichzeitig jedoch
dankbar, dass der Titel meines Beitrags
während dieser Stunden entstanden war.
Ähnliche, manchmal ganz kleine, aber oft
auch signifikantere Erlebnisse im Leben
scheinen zu bestätigen, dass manche Krisensituationen neue Chancen eröffnen.
Wenn es so ist, dann sollten wir doch
erst recht versuchen, die mit den größeren Herausforderungen der Gegenwart
verbundenen positiven Veränderungsmöglichkeiten zu entdecken. Gerade in
diesen krisengeschüttelten Zeiten sind die
Warnungen sehr ernst zu nehmen und wir
sollten bestrebt sein, neue Perspektiven
zu identifizieren.
Wir sind inzwischen an viele Krisenherde
in der Welt gewöhnt. Der verheerende Vietnamkrieg gehört längst zur Geschichte,
obwohl viele Opfer auch heute noch leiden.
Die Lehre daraus wäre gewesen, auf neue
abenteuerliche militärische Interventionen
zu verzichten. Weitere Lernfelder wie Afghanistan und Irak folgten. Sie befinden
sich im Abwicklungsprozess. Der Rückzug
der Truppen hat bereits begonnen, ohne
dass jedoch eine klare Aussage dazu möglich ist, wozu sie dort waren, was sie angerichtet haben und welchen Frieden sie dort
letztendlich hinterlassen. An unzähligen
Ecken dieser Welt brennt es, und niemand
will das Feuer löschen. Machtgierige Nationen und Gruppierungen brauchen die
Flammen, um Öl ins Feuer zu gießen, sobald es ihnen opportun erscheint. So ist es
beispielsweise im Nahen Osten, im Kosovo,
in Serbien, Tschetschenien oder anderswo
in der Welt. Für die Weltöffentlichkeit sind
dies nur kleine Krisenherde. „Arabischer
Frühling“ klingt zwar schön, doch er vernichtet unzählige unschuldige Menschen
– ihre Zahl wird immer unübersichtlicher.
Lieber ein Ende mit Schrecken als ein
Schrecken ohne Ende. In diesem Spruch
mögen die Sympathisanten der dortigen
Widerstandsbewegungen Trost finden.
Selbst die andauernde Hungerkatastrophe
in Afrika, insbesondere in Somalia, machen
keine weltweiten Schlagzeilen mehr. All
dies wird als Routine bagatellisiert und den
karitativen Fachorganisationen überlassen.
Auffallend ist dagegen die weltweite Aufgeregtheit bei neuen Arten von Katastrophen, die insbesondere in den Industrienationen unerwartet auftauchen. Diese
Krisen offenbaren das wahre Gesicht der
Globalisierung. Der Slogan, dass Seveso
und Tschernobyl überall sein können,
klingt noch in unserem Ohr, doch wir
haben daraus kaum etwas gelernt. Mit
vehementeren katastrophalen Folgen
sendet Fukushima nun neue eindeutige
Signale und Warnungen an die Völker
dieser Erde. Die sich ständig ausweitende Eurokrise mit Überschuldungen von
Griechenland, Irland, Italien, Portugal,
Spanien oder anderswo hat fatale Konsequenzen nicht nur für die Weltwirtschaft,
sondern für alle Dimensionen des Lebens.
Die drohende Zahlungsunfähigkeit der
größten Wirtschaftsmacht USA wurde
zwar abgewendet, doch sie wurde lediglich aufgeschoben, nicht aufgehoben. Es
ist kaum vorstellbar, was passieren wird,
wenn die Galgenfrist verstreicht.
Diese Krisen bedrohen insbesondere das
Leben der Menschen in den Industriena meine welt 2/2011 17
i
tionen. Anders als je zuvor prägen und
bestimmen daher diese Entwicklungen
die Schlagzeilen in den weltweiten Massenmedien. Die heißen Debatten in den
Parlamenten, die diversen Planungsund
Strategieüberlegungen in den Chefetagen
sowie die diversen Spekulationen und
Dispositionen an den Finanzmetropolen
sind eindeutige Zeichen für den Ernst der
Lage. Die beängstigenden Berichte und
Analysen aus den Börsen und gleichzeitig
die verführerischen Anlageangebote der
Berater und Finanzexperten, die aufgeregten Diskussionen an den Theken und
in den Teestuben sowie das Konsum- und
Sparverhalten der einzelnen Haushalte
bezeugen, dass alle Schichten der Gesellschaft von diesen Krisenentwicklungen betroffen sind. Wir sind Zeugen davon, wie
die weltweite Globalisierung die Völker
dieser Welt zu einer Schicksalsgemeinschaft verwebt und wie eng die Maschen,
d.h. die Menschen mit den positiven und
negativen Folgen dieser Entwicklungen
verflochten sind.
Ohnmachtsgefühl
Die Verfolgung der mit den Krisen verbundenen Auseinandersetzungen in den Medien führen zu einem Ohnmachtsgefühl.
Viele Entscheidungsträger aus der Politik
und den Finanzzentralen sind selbst als
Verursacher in diese Krisen verstrickt. Sie
sind selbst Teil des Problems und können
daher nicht Teil der Lösung sein. Andere
Entscheidungsträger sind trotz guten Willens machtlos. Traditionelle Rezepte zur
Krisenbewältigung greifen nicht mehr. Es
sind mehr Akteure als gewöhnlich im Spiel.
Manche sind transparent und greifbar, andere wiederum ziehen ihre Fäden hinter
der Kulisse. Spekulanten haben Hochsaison. Viele von ihnen verspekulieren sich
und ziehen damit ihr Klientel in die Pleite
mit hinein. Niemand sieht momentan einen
Ausweg, Verantwortung wird hin und her
geschoben. Rating-Agenturen und Spekulanten interpretieren jede Aussage der
Entscheidungsträger in ihrer Weise und
lassen das Kapital in ihre Richtung vagabundieren.
Durch manche mehr oder weniger hektisch
entwickelte Mechanismen wird versucht,
Zeit zu gewinnen, d.h. die Zuspitzung der
18 meine welt 2/2011
Meinung
i
Krisen aufzuschieben. Sicherlich liegt der
Lösungsansatz im Abbau der Überschuldung. Die zeitweilige Aufschiebung der
Staatspleite in den USA wurde durch
versprochene billionenschwere Einsparungen erkauft. Die Frage dabei ist jedoch, wessen Gürtel dabei noch enger
geschnallt werden müssen. Werden die
Reichen zur Kasse gebeten? Sind nicht
die Rüstungsausgaben reduzierbar? Wird
der Luxus stärker besteuert? Können die
Mitverursacher und Mitgewinner dieser
Krise bei der Bewältigung derselben nicht
zur Verantwortung gezogen werden? Die
diesbezüglichen Erfahrungen aus der Vergangenheit lassen wenig Raum für Optimismus. Am Trend der Sozialisierung der
Verluste und der Individualisierung der
Gewinne wird festgehalten. Der Zeitpunkt
für neues Wertebewusstsein, Umdenken,
Neuorientierung und neue Prioritätensetzung kommt erst dann, wenn sich jeder
dessen bewusst geworden ist, dass diese
Krise keine Bevorzugung der Reichen oder
der Armen kennt. Alle sitzen im gleichen
Boot und keiner wird verschont. Ein solches Bewusstsein kann die Tür für neue
Chancen öffnen.
Zum Glück gibt es auch ermutigende
Beispiele, wie aus manchen Krisen auch
Chancen genutzt werden. Dafür gebe in
dieser Zeitschrift des Deutsch-Indischen
Dialogs je ein Beispiel aus Deutschland
und Indien: Die Entscheidung Deutschlands zum Ausstieg aus der Atomindustrie
und zur verstärkten Förderung alternativer
Energien ist eine Folge von Fukushima.
Dieser Entschluss mag als opportunistisch
oder wahltaktisch angesehen werden, er
ist trotzdem richtig - erst recht, da die Entscheidungsträger davon ausgehen mussten,
dass das Wahlvolk für diese Richtung optiert. Was will man mehr? Die Chance der
Krise wurde entdeckt und die Schienen für
eine bessere Zukunft gelegt. Ich bin mir
sicher, dass viele Nationen diesem mutigen
Beispiel folgen und die Chancen sowie
die Akzeptanz für erneuerbare Energien
signifikant gestärkt werden.
Schwerste Korruptionskrise
Indien befindet sich gegenwärtig in der
schwersten Korruptionskrise. Common
Wealth Games 2010, Adarsh Building,
2G Spektrum, „Note for Vote” etc. sind
inzwischen Synonyme für massivste Korruption, Anhäufung von illegalem Reichtum und Bestechung geworden. Die von
der Kongresspartei geführte Zentralregierung steht im Ruf, diese Korruption
und Bestechungen durch Bundesminister,
hochrangige Beamte, Parlamentarier und
Parteianhänger geduldet zu haben. Auch
die Oppositionspartei wie die BJP ist in
Bestechungsund Korruptionsskandale
verwickelt. Manche Beschuldigte sitzen
inzwischen zwar im Gefängnis, doch die
Glaubwürdigkeit der indischen Demokratie steht auf dem Spiel. Die Menschen vertrauen kaum darauf, dass die
legislativen, exekutiven und juristischen
Organe Indiens gewillt oder in der Lage
sind, der unsagbaren Korruption Einhalt
zu gebieten. So waren die Massen bereit,
einem Hungerstreik des Sozialaktivisten
und Gandhianers Anna Hazare zu folgen.
Mitte April dieses Jahres entstand damit
eine breit unterstützte außerparlamentarische Bewegung gegen die Korruption.
Gemäß ihrer Forderung wird ein neues,
von den Regierungen unabhängiges Organ unter dem Namen „Lokpal” geschaffen. Lokpal soll in einer OmbudsmannFunktion berechtigte Klagen der Bürger
gegen Parlamentarier, Minister und hohe
Regierungsbeamte untersuchen und erforderlichenfalls der Verurteilung zuführen.
Der heiß umstrittene Gesetzentwurf zum
Lokpal liegt seit August zur Verabschiedung im indischen Bundestag. Durch diese
Initiative wird meines Erachtens offenbart,
dass an der Basis jeder Gesellschaft Selbstreinigungskräfte wie die Funken in der
Asche glühen. Sie sind mobilisierbar als
die wahren Solidaritätspartner in der Zeit
der Krisen und im Kampf für Demokratie
und mehr soziale Gerechtigkeit. Hierin
liegen die Chance und die Hoffnung, dass
auch in ausweglos erscheinenden Krisensituationen befreiende Handlungsperspektiven sichtbar werden. Es kommt auf jeden
einzelnen von uns an, ob und wie wir sie
nutzen.
j
i
i n t e rvi e w
i
Tempel-Schätze von Thiruvananthapuram
Auszüge aus einem Interview mit dem ehemaligen König Marthanda Varma
Die Entdeckung von Schätzen im Wert
von ca.7,7 Milliarden Euro (einige
Schätzungen zufolge ca.20 Milliarden
Euro) im Padmanabhaswamy Tempel,
Thiruvananthapuram, Kerala, Indien,
hat über das Land hinaus zu heftigen
Diskussionen über das Eigentungsrecht und die Verwendung dieses
Vermögens geführt. In aller Wahrscheinlichkeit stammen die Schätze
von der Königsfamilie des ehemaligen
Königsreichs Thiruvananthapuram. Es
folgen Auszüge aus einem längeren
Interview, das die Journalistin Padma
Rao Sundarji (PRS) mit Uthradam Thirunal Marthanda Varma, dem ehemaligen König von Thiruvananthapuram,
führte. Das Interview erschien in voller
Länge in der indischen Zeitung Hindustan Times. Aus dem Englischen
ins Deutsche übertragen von Thomas
Chakkiath.
D ie R edaktion
PRS: Was verbindet Sie mit dem Padmanabhaswamy Tempel?
VARMA: Wir sind die Cheras, eine der
vier früheren Königsfamilien von Südindien und haben einen langen dynastischen
Stammbaum. Um das Jahr 1750 war der
Königreich/Staat Travancore reich und
groß geworden. So leistete mein Ahn,
der damalige König, einen einzigartigen
spirituellen und historischen Beitrag. Er
entschloss sich, all seinen Reichtum dem
Tempel zu übergeben. Padmanabhaswamy
ist auch die Hauptgottheit/Schutzgottheit
unserer Familie. Er sagte, unsere Familie
würde das Vermögen, den Tempel und das
Königreich immer gut behüten.
So erklärte er unsere Familie für Padmanabhas „dasas“, Padmanabhas Anhänger.
Ein Diener kann seinen Job kündigen,
ein dasa, ein Anhänger, kann dies nur
tun, wenn er stirbt. (Ein Anhänger ist
Anhänger bis zum Tode.)
Padmanabhaswamy Tempel
PRS: Sie sind eine der reichsten Familien
Indiens, und dennoch führen Sie im Gegensatz zu vielen ex-royals ein spartanisches
Leben. Warum?
VARMA: Um diese Frage beantworten
zu können, muss ich mal etwas zurückblicken. Alle denken, wir Inder machten den
Aufstand gegen die britische Kolonialherrschaft erst im Jahr 1857. Falsch. 1741 war
Travancore die einzige asiatische Macht,
die im Stande war, die Niederländer zu
schlagen/besiegen/überwältigen. Nach der
Schlacht knieten sämtliche niederländischen Soldaten vor meinen Ahnen nieder.
Ein Holländer, Benedictus Eustachius, trat
sogar unserem Militär bei. Wir nannten
ihn den Großen Kapitän. Später, als der
Enkel Franklin Roosvelts hierher kam, um
die historischen Rekorde zu untersuchen,
erfuhr ich, dass der Große Kapitän der
Ahne des amerikanischen Präsidenten war.
Dann 1839, fast zwei Jahrzehnte vor dem
ersten indischen Aufstand von 1857, erhoben wir uns gegen die Engländer. Die
Strafe, die wir bekamen, war schwer. Sie
lösten unsere Polizei und Armee von
50.000 Mann auf, verlegten unsere Hauptstadt nach Kollam (Quilon) und bürdeten
uns zwei britische Regimenter auf, die wir
unterhalten mussten. Thomas Munroe
ernannte sich zum Diwan of Travancore
(etwa Ministerpräsident von Travancore).
Als unser Kampfgeist nicht nachließ, holten sie Missionare hierher. Wir ließen uns
nicht von westlichen Gedanken verschlingen. Wir gehen gelegentlich ins Ausland.
Aber dies hat unseren einfachen Lebensstil weder beeinträchtigt noch verändert.
Warum erzähle ich Ihnen all dies? Damit
Sie etwas Ahnung davon haben können,
wie viel unser Leben, trotz vielen äußeren
Einflüssen in die Gegenrichtung, sich um
den Gottesglauben gedreht hat.
PRS: Die Kellerräume werden aufgeschlossen, über den künftigen Verbleib Ihrer
Schenkungen / Stiftungen wird überall in
der Welt diskutiert. Es gibt Kritik und Furore. Was, glauben Sie, spielt sich gerade
um den Tempel herum ab?
VARMA: Tut mir leid. Ich kann darüber
keinen Kommentar abgeben. Die Sache
meine welt 2/2011 19
i
ist sub judice, wird also gerade von einem
Gericht untersucht. Aber so viel möchte
ich sagen. Ich habe keine Probleme mit
der Bestandsaufnahme und den zusätzlichen Sicherheitskräften, die der Staat
zum Schutz des Tempels gewährt hat. Aber
bitte entfernen Sie nicht die Gegenstände
(Schätze) von dem Tempel.
Sie gehören niemandem, mit Sicherheit
auch nicht unserer Familie. Sie gehören
Gott, und unsere Gesetze erlauben es. All
diese Debatten um die Tempelschätze sind
unerfreulich. Dies ist alles, was ich momentan dazu sagen kann. Ich muss auf
meinen Arzt, Anwalt und Auditor hören.
Seit Jahrhunderten hat unsere Familie
dem Tempel viele Sachen geschenkt. Als
Schirmherr/ Schutzherr des Tempels besuche ich den Tempel täglich. Wenn ich einen
Tag verpasse, wird mir eine Geldstrafe in
Höhe von 16635 Rupien auferlegt. Eine
alte Tradition von Travancore.
R e l igi o n
i
Mission und Evangelisierung
Neue Einsichten und neue Herausforderungen
P rof . D r . J oseph P athrapankal
Prof. Dr. Joseph Pathrapankal
PRS: Aber Sie können es nicht leugnen,
dass solche Schätze für die Armen besser
gebraucht werden könnten, oder?
VARMA: Wir Inder sind heute mehr
gebildet. Aber diese Reaktion auf die
Geschenke der königlichen Familie ist
alles andere als progressiv. Wir verlieren
langsam unsere indische Identität. Geld ist
alles geworden. Aber ich bin nicht überrascht. Ich werde hier eher etwas philosophischer als enttäuscht, weil ich die Welt
nicht ändern kann.
Papst Benedikt XVI. hat die europäischen Bischöfe aufgerufen, nach neuen
Wegen der Evangelisierung zu suchen.
Hierzu wird er eine Synode im Oktober
2012 einberufen. Im folgenden Beitrag
versucht Prof. Dr. Joseph Pathrapankal,
ein bekannter katholischer Theologe
aus Indien, einige Gedanken über das
Thema „Evangelisierung in der modernen Zeit“ zu entwickeln.
PRS: Es ist auch das Argument der Rationalisten, dass alles sich um Aberglauben
dreht. Was halten Sie davon?
VARMA: Es ist schwierig, unseren Glauben der heutigen modernen Welt zu erklären, wenn die Leute keinen mehr haben.
Wenn Selbstsucht wächst, scheint alles, was
Sie tun, richtig und alles, was die anderen
tun, falsch zu sein.
Es geht alles darum, was man von einer
Sache abbekommen kann, nicht um das,
was ich eigentlich tue. Ich erinnere mich
gerne an den Besuch eines Wildreservats
in Südafrika. Nachdem ich die Wildtiere angesehen hatte, fragte ich den Reiseführer, welches Tier das raubgierigste
und furchterregendste wäre. Er zeigte mir
einen Spiegel. j Es scheint, dass in der langen Geschichte der Kirche keine anderen christlichen
theologischen Begriffe solche radikalen
Veränderungen durchlaufen haben wie
die Begriffe Mission und Evangelisierung.
Alle scheinen ein klares Verständnis dieser
Begriffe zu haben. Doch es ist Tatsache,
dass, geht man in die Einzelheiten dieser
Begriffe, man soviel Verschwommenheit
antrifft und in einem Maß, dass einige sogar dazu neigen, diese beiden Begriffe als
gleichbedeutend zu identifizieren. Daher
ist in unserer Zeit eine eingehende Analyse
des inneren Gehalts dieser Begriffe notwendig. Jetzt, da die Kirche ernstlich über
die Notwendigkeit einer Neuevangelisierung nachdenkt und eine Bischofssynode
für Oktober 2012 in Rom geplant wird, ist
20 meine welt 2/2011
D ie R edaktion
es wichtig, dass wir über diese theologischen Begriffe etwas mehr Klarheit und
Präzision haben. In der Tat, sollen diese
Begriffe Hunderten und Tausenden von
Missionaren in der ganzen Welt einen neuen Impetus für ihre künftige missionarische
Arbeit und die Evangelisierung geben.
Mission und Evangelisierung sind grundsätzlich biblische Begriffe. Während „Mission“ als solche sowohl eine säkulare als
auch religiöse Bedeutung haben kann,
ist „Evangelisierung“ grundsätzlich ein
religiöser Begriff. Jede Kategorie von
Aussendung eines Menschen oder einer
Gruppe von Menschen kann eine Mission
genannt werden, wie eine religiöse Mission,
eine politische Mission, eine Rettungsmission, eine medizinische Mission oder eine
Weltraummission. Bei jeder Mission ist
es wichtig, dass jene, die eine solche Sendung empfangen, sich voll bewusst sein
müssen über die Natur, den Zweck und
die Ziele der ihnen anvertrauten Sendung.
Sie müssen innerhalb des Rahmens ihrer
Sendung bleiben. Es könnte sein, dass zuweilen eine Mission einen zu beanstandenden Zweck hat, wie eine militärische
Mission; Beispiele davon haben wir in den
geschichtlichen Aufzeichnungen und den
Erinnerungen der Menschen. Nun, da wir
diese allgemeine Bedeutung von Mission
festgestellt haben, wenden wir uns dem Begriff von Evangelisierung zu. Es muss klar
festgehalten werden, dass dieser Begriff
eine spezifisch religiöse und theologische
Bedeutung, hat. So hat auch in unserer
gegenwärtigen Studie Mission eine religiöse und theologische Bedeutung insofern
sie der erste Schritt auf eine Evangelisierung hin ist. In diesem spezifischen Sinn
beschäftigen wir uns in der vorliegenden
Studie mit diesen zwei Begriffen.
Evangelisierung ist ein wesentlich christlicher Begriff. Ihre Terminologie und ihr
Inhalt stammen aus der Bibel. Das Wort
kommt von dem griechischen Wort euaggelion, das ins Lateinische als Evan-
i
R e l igi o n
i
Anhäufung von Reichtum aus den KoloEuropa, was mit den geografischen Entgelium übersetzt wurde. Im Neuen Tesnialländern, zu dem hinzukam eine reiche
deckungen des 16. und 17. Jahrhunderts
tament treffen wir diesen Ausdruck sehr
Skala missionarischen Expansionswirkens
begann. Die westlichen Mächte gingen
häufig; die vier Evangelien sind im Grunde
zur Bekehrung der Völker zu verschiedebezüglich Politik, Wirtschaft, Religion
um diesen Begriff herum entwickelt. In
nen Kirchen mit einem gewissen Beitrag
und Soziologie verschieden vor. Das
christlicher Theologie bezieht sich die
von Konkurrenzdenken.
gründete auf der wirtschaftlichen, misubstantivische Form Evangelisierung
In ihren Anstrengungen, das Christentum
litärischen und weitgehend kulturellen
und die verbale Form evangelisieren auf
und die Kirche aufzurichten als einzigÜberlegenheit Europas, verbunden mit
die Tätigkeit derer, die ausgesandt sind,
artig und über allen anderen Religionen
einer gewissen Arroganz, übernommen
einen Menschen oder eine Situation durch
stehend, wurden verschiedene Stellen aus
von der griechisch-römischen und imperidie Kraft des Evangeliums umzuformen.
dem Alten und Neuen Testament
Spontan erhebt sich die Frage: Was
angeführt, was eine negative Halist dann das Evangelium? Was ist
tung anderen Religionen gegendie Frohe Botschaft? Die synoptiüber förderte. Andere Religionen
schen Evangelien machen es sehr
wurden gesehen als dem Götzenklar, dass es der elementaren Frohe
dienst, dem Polytheismus und der
Botschaft um die Nähe des Reiches
Unmoral verfallen. Der von den
Gottes geht, ein technischer BeJuden geübte Hass anderen Religriff, der aus dem Alten Testament
gionen gegenüber half diesen Kostammt. Obschon dieser Begriff in
lonialmächten, die gleiche Haltung
der langen Geschichte des Volkes
anderen Religionen gegenüber
Israel größeren Entwicklungen unweiter einzuehmen, einschließlich
terworfen war, bezeichnet er im
dem Judentum. Theologisch erhob
Neuen Testament eine Situation,
sich auch ein falsches Verständnis
in der Gott offenbart wird als der
der Notwendigkeit der Mission und
abba der ganzen Schöpfung, in
Evangelisierung nach dem verländer die gesamte Menschheit die
gerten Schluss des MarkusevangeGemeinschaft der Kinder Gottes
liums, der auf der Notwendigkeit
ist und alle unter sich Brüder und
von Glaube und Taufe als heilsSchwestern sind. Folglich bedeunotwendig besteht (Mk 16,16). So
tet Evangelisierung die Tätigkeit
wurde auch das große Gebot bei
jener, die den Aufbau und das
Matthäus 28, 16-20 interpretiert als
Wachstum dieser Situation verBevollmächtigung und Gebot an
wirklichen möchten durch ihre
die Kirche, die Völker zu Jüngern
verschiedenen Aktivitäten, denen
zu machen und ihnen die Lehre
sie sich verschrieben haben. FolgJesu als zum Heil notwendig aufzulich sollten alle Christen, soweit sie
zwingen. Mission wurde verstanden
gesandt sind, einen Sinn für Hin- Ankunft von St. Francis Xavier in Indien (Goa, 1542).
Ein Gemälde von S. Genevieve.
als eine spirituelle Eroberung und
gabe und Einsatz für die Sache des
Quelle: The St. Thomas Christian Encyclopaedia of India, George
war ausschließlich auf Bekehrung
Reiches Gottes und seiner Werte Menachery, 1973.
ausgerichtet. Darüber hinaus lag
haben. Diese Werte müssen um
der Hauptakzent von Mission auf der
jeden Preis durchgetragen und aufrecht
alen Zivilisation. Diese Mächte waren von
Ausbreitung und der Einpflanzung der
erhalten werden.
ihrer von Gott stammenden Herrschaft
Kirche in den neu entdeckten Ländern.
über die gesamte Menschheit überzeugt,
koloniale und missionarische Propaganda
Von Klarheit zu Verwirrung
gingen Hand in Hand. Mission wurde verWenngleich diese biblischen Begriffe MisNeues Bewusstwerden in der
standen als Ausbreitung des vom Westen
sion und Evangelisierung in sich klar sind,
universalen Kirche
kommenden
Christentums.
Das
Christenhaben diese nämlichen Begriffe im Auf
In unserer Zeit gibt es einen beträchtlichen
tum nahm eine Haltung ein, die annahm,
und Ab der Geschichte viele drastische
Wandel in der Haltung der Kirche und der
dass es nichts gab, was darüber hinaus ging,
Änderungen erfahren, wodurch ein sehr
Christen hinsichtlich des Verständnisses
dass es alles beherrschen konnte, dass es
verschiedener und entstellter Begriff beivon Mission und Evangelisierung. Viele
der
Richter
aller
Probleme
der
Welt
sein
der Konzepte entstand. Alles begann mit
Faktoren haben zu diesem Wandel der
konnte. Dieses Phänomen ging weitgeder kolonialen Ausbreitung und Besetzung
Perspektive beigetragen. Vor allem behend hervor aus der Identifizierung mit
von außereuropäischen Territorien durch
steht ein neues Bewusstsein von religiöden westlichen Kolonialmächten und der
die so genannten „Kolonialmächte“ von
sem Pluralismus als einem bestehenden
meine welt 2/2011 21
i
Faktum menschlicher Geschichte. Die
römisch-katholische Kirche und der Weltbund der Kirchen haben kühne Schritte
unternommen in ihrem Verständnis und
ihrer Wertschätzung anderer Weltreligionen. Im Weltbund der Kirchen wurde
das erste interreligiöse Treffen 1970 in
Ajaltoun, Libanon, gehalten, und später,
1971, wurde eine getrennte Untereinheit
für „Dialog mit Menschen lebendigen
Glaubens und lebendiger Ideologien“
errichtet. 1965 erzielte die römisch-katholische Kirche mit der Erklärung über
das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen des Zweiten Vatikanischern Konzils, bekannt unter Nostra
aetate, einen größeren Durchbruch. Wie
Augustin Bea sagte, sollte diese Erklärung
die Christen zu wirksamem Tun führen.
Ihre Grundsätze und ihr Geist sollte das
Leben aller Christen und aller Menschen
inspirieren, so dass der durch dieses Dokument begonnene Dialog Frucht tragen
möge. So setzte Papst Johannes Paul II.
1986 einen Tag des Gebetes in Assisi ein,
zu dem er 50 christliche und 50 Führer
nichtchristlicher Religionen einlud – ein
Akt des Dialoges höchsten Maßes. Die
Auswirkungen dieses Ereignisses reichten
weit über das Ereignis selbst hinaus. Es
verlieh eine theologische Legitimität, Notwendigkeit und ein theologisches Gebot
für den interreligiösen Dialog, nicht allein,
um verschiedene Religionen zusammen zu
bringen und sich mit ihnen auszutauschen,
sondern auch dazu, dass die Religionen
sich ihrer Aufgabe bewusst werden, Frieden zu schaffen auf allen Ebenen unserer
zeitgenössischen Gesellschaft. Die Bedeutung des vor 25 Jahren statt gefundenen
R e l igi o n
i
Treffens in Assisi wird aufs Neue erlebt und
hervorgehoben im Jahr 2011, wenn christliche Führer und Anhänger der anderen Religionen sich wiederum im Oktober 2011
in Assisi treffen als „Pilger der Wahrheit
und des Friedens“. Papst Benedikt XVI.
will damit ausdrücken, dass dieser Gipfel
„die Anstrengungen jener Gläubigen aller
Religionen sichtbar macht, ihren Glauben
als einen Dienst für den Frieden zu leben“.
Das ist das neue Klima für Mission und
Evangelisierung.
Die Begriffe Mission und Evangelisierung
haben auch durch die tiefgehende Studie
dieser beiden Begriffe durch Theologen
und Bibelexegeten eine realistischere Aufmerksamkeit und Wertschätzung erfahren. Wie ihre Studien zeigten, ist Mission
ein Grundbegriff der Bibel, wo wir eine
Reihe von Missionen antreffen von der
Erschaffung des ersten Menschenpaares
bis zur Berufung und Sendung Abrahams
und der andere Patriarchen. Mose hatte
eine einzigartige Mission, die Befreiung
Israels aus Ägypten und die Hinführung
zum Berg Sinai, wo Gott mit ihnen einen Bund schloss. Als mit Gott im Bund
stehend, hatte Israel selbst eine Sendung,
„ein Reich von Priestern und ein heiliges
Volk“ (Ex 19,6) zu werden, wie ebenso
Zeugnis zu geben als Volk inmitten der
umgebenden Nationen (Deut 4,6-8). Gott
wählte im Lauf der Geschichte verschiedene Führer aus, wie die Richter und die
Könige. Alle hatten eine eigene spezifische
Mission. Unter diesen Erwählten bildete
die Mission der Propheten eine wichtige
Stufe in Israels Geschichte. Eine einzigartige Gestalt in der prophetischen Literatur
ist der Knecht des Herrn, dessen Mission
Was Deutsche und Migranten glauben
So viel Prozent der Befragten glauben an ….
Deutsche Gott 51% die Vergebung 50% die Evolutionstheorie nach Darwin 49%
die göttliche Schöpfung 39% den Himmel 38% die Sünde 36% die Wiedergeburt 25% die Hölle 15% 22 meine welt 2/2011
Migranten in Deutschland
75%
72%
Jeder dritte deutschstämmige Deutsche
39%
und jeder zweite Migrant bezeichnet sich
67%
nach der Liljeberg-Studie als relativ oder
62%
sogar streng religiös. Der Glaube an Gott
64%
und die Vergebung verbindet die Gruppen.
43%
(Quelle: Kontinente November/Dezember 2010)
43%
es war, durch sein hingebendes und aufopferndes Leiden der Welt die Erlösung
zu bringen. Alles was diese Menschen zur
Verwirklichung ihrer Mission taten, war,
eine neue Situation göttlichen Segens und
menschlichen Friedens und Wohlergehens
in der Welt zu schaffen.
An der Schwelle zum Neuen Bund finden
wir die Sendung Johannes des Täufers,
der kam, um den Weg für den Herrn zu
bereiten, der zu seiner Zeit kam, um die
Frohe Botschaft des Gottesreiches einzusetzen. Als der vom Vater Gesandte hatte
Jesus von Nazaret eine klare Vision und
Mission der Verkündigung des euaggelion
Gottes an alle Menschen. Als Johannes
eingekerkert war, kam Jesus von GaIiläa
und verkündete die Frohe Botschaft von
Gott: „ Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das
Evangelium“ (Mk 1, 14-15). Diese Frohe
Botschaft vom Reich ist ein Geschenk
Gottes. Das Reich Gottes ist grundsätzlich eine Situation interpersonaler Beziehung auf vertikaler und horizontaler
Ebene. Auf vertikaler Ebene bedeutet es,
dass Gott offenbart ist als der abba der
Menschheit. Alle Menschen sind damit zu
Kindern Gottes erklärt. Auf horizontaler
Ebene bedeutet es, dass alle unter sich
Schwestern und Brüder sind, jenseits der
Ausgrenzungen von Kaste, Hautfarbe und
Glaubensbekenntnis.
Nach Markus 3, 13-14 wählte Jesus aus
seinen vielen Jüngern 12 aus und gab ihnen eine besondere Mission, bei ihm zu
sein und ausgesandt zu werden, die Frohe
Botschaft vom Reich Gottes zu verkünden
und die Vollmacht zu haben, die Teufel
auszutreiben, die dieser grundsätzlichen
Frohen Botschaft im Wege standen. Diese
Wahl und Sendung der Zwölf steht als
Muster für alle Christen unserer Zeit für
ihre eigene Sendung in der Kirche und in
der Welt, wo immer sie sind und was immer
sie tun. Nach den synoptischen Evangelien
haben wir vier Beschreibungen darüber,
wie Jesus seine unmittelbaren Jünger für
ihre Mission in der Welt aussandte. Während Matthäus (10, 1-15), Markus (3, 14
-19) und Lukas (9, 1- 6) sich auf eine Sendung der 12 Apostel unter die Juden als ein
Muster für ihre weitere Mission bezieht,
bezieht sich Lukas auf eine Sendung von
i
70 in jede Stadt und jeden Ort, wohin Jesus
selbst kommen wollte. Dabei hatte er die
kommende Mission der zukünftigen Generation der Jünger Jesu in die weitere Welt
im Sinn (10, 1-12). Was sie während ihrer
Mission zu tun hatten, war, all das zu tun,
was sie befähigen würde, den Segen des
Reiches Gottes im Leben der Menschen,
unter denen sie wirkten, aufzubauen. Und
das war ihre evangelisierende Mission. Da
ging es nicht um ihre Bekehrung und um
die Mitgliedschaft einer neuen Religion.
Die Jünger Jesu sollten ihnen allen zur
Verfügung stehen. Sie sollten die Gemeinden durch die Werte des Gottesreiches
umwandeln. Lukas seinerseits hat auf
Grund seiner allumfassenden Sorge um
das ganze römische Reich einen universalen Rahmen für diese Mission gegeben.
Lukas hat auch einen wichtigen Beitrag
beizusteuern zum Verständnis von Mission
und Evangelisierung, als er den Dienst Jesu
als in der Synagoge von Nazaret beginnend
einführt. Nach der Lesung des Abschnittes aus dem Propheten Jesaja über die
Sendung des Gesalbten, wendet er diesen
auf sich selbst an und sagt, dass er gekommen ist, den Armen eine gute Nachricht
zu bringen, den Gefangenen die Entlassung, den Blinden das Augenlicht und die
Zerschlagenen in Freiheit zu setzen (Lk 4,
16-30). Dadurch macht Lukas klar, dass es
bei Evangelisierung um Humanisierung
geht, um Umwandlung der menschlichen
Gesellschaft, gegründet auf die Werte des
Reiches Gottes
Herausforderung und Dimensionen
von Mission und Evangelisierung in
unserer Zeit
Diese neuen Einsichten, die aus der Bibel wieder entdeckt wurden, sollten alle
Diskussionen und Überlegungen über
Mission und Evangelisierung in unsrer
Zeit inspirieren und leiten. Die pastorale
Konstitution über die Kirche in der Welt
von heute, Gaudium et Spes, hat die Kirche
und ihre Mitglieder befähigt, die Bedeutung von Mission und Evangelisierung zu
verstehen aus einer neuen Perspektive von
Einbeziehung und Transzendenz, von Einsatz auf eine Umwandlung der gesamten
menschlichen Gesellschaft und des Kosmos hin. Was immer die Jünger Jesu tun,
R e l igi o n
i
wo immer sie sind, hat ihr hingebungsvolles Wirken für die Verwirklichung der
Werte des Gottesreiches eine Perspektive
von Evangelisierung, handelt es sich nun
um die Belehrung der Analphabeten, die
Sorge um die Kranken und Leidenden in
einem Krankenhaus oder einem Altersheim, oder die Arbeit in einer Pfarrei oder
den Einsatz an Zeit und Energie für jene,
die im aktiven Apostolat stehen. Das trifft
vor allem zu, wenn wir sehen, dass Menschen, als Teil eines Migrationsprozesses,
von einem Kontinent zu einem anderen
wechseln, einbezogen in pastorale und
humanitäre Arbeit. Wichtig ist hierbei,
dass sie auf eine Weise ständig auf dem
Laufenden gehalten werden über ihr Missionsbewusstsein, dass sie nicht von einem
Gefühl der Vereinsamung und Entfremdung überwältigt werden.
Wir alle sind Bürger eines globalen Dorfes.
Während die multinationalen und ökonomischen Mächte sich nach Kräften bemühen, aus dieser Situation Vorteil zu ziehen
für ihre eigenen selbstischen Zwecke, müssen die Kirche und ihre Mitglieder neue
Strategien entwickeln, um über diesen
kommerziellen Angelegenheiten zu stehen
und Werte und Prinzipien einzubringen,
die aus der Lehre Jesu Christi, wie sie in
den Evangelien dargelegt sind, genommen werden. Anstrengungen müssen auch
gemacht werden, um den zunehmenden
Einfluss der Kommerzialisierung in das
administrative System in den Diözesen
und Pfarreien zu kontrollieren. Gleich
wichtig ist die Notwendigkeit, den billigen
Pentecostalismus, der unter dem Vorwand
einer neuen Evangelisierung sich in die
Kirche einschleicht, unter Kontrolle zu
halten. Jetzt, da wir vom kolonialen Verständnis von Mission und Evangelisierung
als spirituelle Eroberung für die Kirche
und ihrer maßgeblichen Kreise befreit
sind, müssen wir alle auf eigenen Füßen
stehen und unsere Einsichten in klaren
Begriffen artikulieren. Die Ankündigung
der Bischofssynode im Oktober 2012 unter
dem Thema von Neuevangelisierung ist
eine günstige Zeit für die Kirche, um der
Welt ein für alle Mal klar zu machen, dass
die Kirche die Dienerin des Gottesreiches
in der Welt ist und sie eine Menge Freude
(gaudium) und Hoffnung (spes) bezüglich
der Welt hat. Wie das vatikanische Dokument feststellt, ist die Anstrengung der
Kirche nach „Neuevangelisierung“ kein
Versuch, das Evangelium den Menschen,
die es beim ersten Mal nicht verstanden
haben, erneut vorzustellen, sondern das
Evangelium auf eine Weise darzustellen,
dass es modernen Männern und Frauen verständlich ist und ihnen Hoffnung
gibt. Der Entwurf der Synode definiert
„Neuevangelisierung“ als „den Mut, neuen Wegen Bahn zu brechen entsprechend
den sich wandelnden Umständen und Bedingungen, denen sich die Kirche in ihrer
Berufung, das Evangelium zu verkünden
und zu leben, heute gegenüber gestellt
sieht“. Das Dokument stellt weiter fest,
dass es unmöglich ist, die Menschen zurück zu Christus zu bringen, wenn nicht
Anstrengungen gemacht werden, säkulare
Kulturen zunehmend zu evangelisieren,
verschiedene Gesellschaftsschichten immer mehr zu evangelisieren, die Medien,
die Ökonomie, Politik, Wissenschaft und
die Kirche selbst. Das Dokument hält fest,
dass eine Frucht der Evangelisierung „der
Mut ist, aufzustehen gegen Untreue und
Skandal in christlichen Gemeinschaften
als ein Zeichen und eine Konsequenz von
Momenten der Müdigkeit und des Überdrusses in der Verkündigung.“ Wenn der
Entwurf der Synode sagt, dass Christen
immer so handeln müssen, dass sie Zeugnis ablegen für den Glauben und keine
Angst haben dürfen, zu anderen über
Christus zu sprechen, sagt er auch, dass
Dialog mit Mitgliedern anderer Religionen Christen helfen kann, mehr über das
geteilte menschliche Sehnen nach Gott
und nach Sinn und Bedeutung zu lernen.
Je mehr Christen den sehnlichen Wunsch
des menschlichen Herzens verstehen und
wie er sich heute äußert, desto leichter
können sie den Herausforderungen in ihrer persönlichen und sozialen Beziehung
entsprechen. Die wichtigste Lektion, die
wir heute über Mission und Evangelisierung zu lernen haben ist, dass alle Christen
verantwortungsbewusste Mitglieder der
Kirche werden müssen, die sich ihrer Mission in dieser Welt sicher sind und auch
ausgerüstet mit den nötigen Qualitäten, die
notwendig sind, um die Welt umzuwandeln
in das Reich Gottes. j
meine welt 2/2011 23
i
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
„Mahatma Gandhi war ganz bestimmt ein holistischer Denker,
auch wenn das zu seiner Zeit kein Modewort war.
Seine Konzepte zur Dezentralisierung und ‚self-reliance‘ der
Dörfer sind auch heute noch aktuell“
I rmel M arla
Frau Irmel V. Marla hat Soziologie und
Anthropologie an der Heidelberger
Universität studiert und war 28 Jahre
Leiterin der Personalabteilung einer
privaten Versicherungsgesellschaft in
Deutschland. Durch die Forschungsprojekte ihres verstorbenen indischen
Mannes Dr. V. Sarma Marla ist sie mit
den Verhältnissen im ländlichen Indien sehr vertraut. Seit 7 Jahren lebt sie
permanent in Indien. Sie ist Vorsitzende der Dr. V. Sarma Marla Foundation
sowie des Internation Institute for
Holistic Research & Voluntary Action.
Ihr neuestes Buch „Misery of Leadership“ (Frühjahr 2011), das sie zusammen mit Herrn Kamal Taori herausgab,
analysiert die Schwäche und einseitige
Orientierung der politischen Führung
Indiens. Wir drucken nachfolgend ihre
Antworten auf unsere Fragen ab, die
Jose Punnamparambil stellte.
D ie R edaktion
Meine Welt: Sie haben vor kurzem zusammen mit dem indischen Autor Kamal
Taori ein Buch mit dem Titel: „Misery of
Leadership” veröffentlicht. Das Buch bezieht sich vornehmlich auf die Qualität der
Führungselite Indiens. Was hat Sie dazu
bewegt, so ein Buch zu schreiben?
Frau Irmel Marla: Am Rande unserer
Arbeit im ländlichen Indien, in vielen
Diskussionen mit Menschen aus allen
Bevölkerungsschichten und in der Presse wurden wir in den letzten Jahren sehr
häufig damit konfrontiert, dass der Ruf
nach einem „Leader” als Allheilmittel für
alle Probleme im Lande sehr deutlich erhoben wurde. Es hat uns besorgt gemacht,
weil wir das für eine schlichte Ausrede
24 meine welt 2/2011
Frau Marla im Gespräch mit Anna Hazare
halten, nichts selbst zu tun. Die Tatsache,
dass „Hitler” und andere furchtbare Gestalten als „Leader” dargestellt wurden, die
alles regeln würden, was schlecht ist, Mahatma Gandhi aber nicht, hat schließlich
das Fass unserer Verständnisbereitschaft
zum Überlaufen gebracht. Wir fühlten uns
einfach gezwungen, das Buch zu schreiben.
In unseren Vorlesungen und Workshops,
die wir regelmäßig in Universitäten und
Colleges halten, ist dieses Thema wichtiger
Bestandteil. Es geht uns vor allem darum
zu definieren, was „Good Leadership” bedeutet und aufzuzeigen, dass der Schrei
nach einem „Hero” für ein demokratisches
Land sehr gefährlich ist. Die Resonanz
bei der jüngeren Generation ist teilweise
recht ermutigend.
Meine Welt: Was bedeutet „holistischer
Ansatz” zu guter Führung in einem demokratischen Land wie Indien?
Frau Marla: ¸Holistisch’ bedeutet ¸allumfassend’. Mahatma Gandhi war ganz bestimmt ein holistischer Denker, auch wenn
das zu seiner Zeit noch kein Modewort
war. Seine Konzepte zur Dezentralisierung und self-reliance der Dörfer sind
auch heute noch aktuell. Wir folgen, in
aktualisiertem Sinn, seinen Ideen, die er
vor allem in „Hind Swaraj” beschrieben
hat. (Sarma hat das Buch in den 80ern
ins Deutsche übersetzt und kommentiert, allerdings ist es vergriffen, wie ich
hörte.) Es wäre der einzige Weg, Indiens
ländliche Regionen endlich nachhaltig
zu entwickeln. Wir erarbeiten zusammen
mit der ¸Grassroot’-Bevölkerung „Village Action Plans”, in denen alle materiellen und immateriellen Ressourcen in
den Dörfern identifiziert, analysiert und
bewertet werden. Daraus ergeben sich
konkrete Schritte zum koordinierten
Aufbau einer dörflichen Infrastruktur,
i
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
Rebellion gegen Korruption
Anna Hazare und seine Bewegung
Die Bewegung wäre ohne ihre überraschende Führungsfigur undenkbar. Der
Mann ist ein typisch indisches Unikum.
Er stammt aus der tiefsten Provinz, brach
als Zwölfjähriger die Dorfschule ab, um
den Rest seiner Jugend ohne feste Unterkunft in den Straßen Bombays Blumen
und Girlanden zu verkaufen. Dann ging
er zur Armee und überlebte mit viel Glück
den indisch-pakistanischen Krieg von 1971.
Sein Glück brachte ihn auf neue Gedanken: Er wollte es zurückzahlen, las Gandhi und den hinduistischen Philosophen
Swami Vivekananda. Wie sie wollte er nun
in Selbstlosigkeit den Menschen dienen.
Er ging zurück in seine ländliche Heimat,
verzichtete auf Familie und richtete sich
vor 36 Jahren in einem der ärmsten Dörfer
seiner Gegen in einem Tempel ein. Dort
predigte er den Dorfbewohnern Wasserbau und Enthaltsamkeit und schuf, nicht
ohne autoritäre Strenge, ein Modelldorf.
Sein leuchtend buntes rosa-grün-gelbes
Gotteshaus gleicht heute einem Wallfahrtsort. Dort lebt der Alte an normalen Tagen
in einem kleinen, kahlen Zimmer. Darin
steht nur ein winziges grünes Stahlbett,
das für westliche Augen einem Kinder-
bett gleicht, eine rosa Kommode und ein
Stuhl. Die ganze Garderobe liegt in einem
kleinen Haufen gestapelt auf dem Bett.
„Es ist Harazes Geheimnis, nie geheiratet und niemals private Dienste für sich
in Anspruch genommen zu haben. Sonst
wäre er wie alle bestechlich“, verrät der
ehemalige Schuldirektor des Dorfes, Thakaram Raut.
Es ist diese Dorfgeschichte, die Hazare
jetzt für viele Inder so glaubwürdig machte. Jeder kennt hier die Geschichte von
der korrupten Kolonialgesellschaft, vor
der sich Gandhi in Abscheu aufs Land
zurückzog. Daran knüpft Hazare heue
an. Er achtet als Hindu wie Gandhi darauf, Muslime und Unberührbare direkt
anzusprechen. Er predigt wie Gandhi die
gewaltlose Aktion als Protestmittel – und
tatsächlich geschah in den letzten zwei Wochen, als ihn die Massen in den Straßen
hochleben ließen, keinem Menschen etwas.
Das war eine neue Erfahrung für das Land.
Zu oft endeten Massenaufläufe in der Vergangenheit mit blutigen Ausschreitungen
gegen Minderheiten. „Ich bin zu jung, um
Gandhi zu kennen. Aber jetzt habe ich
das Gefühl, ihn anzuschauen“, sagte der
die kleine Unternehmen befördert (selfemployment) und dafür sorgt, dass soziale
Ungerechtigkeiten und Perspektivelosigkeit abgebaut, besser: abgeschafft, werden.
Wir legen großen Wert darauf, die lokalen
gewählten Autoritäten (village Sarpanch,
Panchayat, Block Development Officers,
District Collectors), auch die Banken (zu
Mikrofinanzierungsprojekten, Start-Up
ventures) einzubeziehen. Der holistische
Ansatz zwingt dazu, umweltfreundliche
Technologien zu fördern, was auch dem
Erwecken von Umweltbewusstsein dient.
Gesundheitsfragen (Müttersterblichkeit, female foeticides, Ernährung) und
sportliche Aktivitäten für die Jugend,
insbesondere für Mädchen und Frauen,
Bildung und Ausbildung, auch Erwach-
senenbildung und berufliche Ausbildung,
angepasste Informationstechnologie für
Bauern, Bio-Anbau (die Fertilizer Industry
ist sehr mächtig, sie hat die Regierung fest
im Griff, während monatlich Hunderte von
Kleinbauern Selbsttötung begehen) und
nachhaltige Wasserkonservierung sind die
wichtigsten Bestandteile unseres village
action plan. Die Arbeit an einem solchen
Plan hat außerdem weitere wichtige Vorteile: sie erweckt das Bewusstsein, dass die
Dörfler ihr Geschick selbst in die Hand
nehmen können, was wiederum zu einer
Stärkung des Selbstbewusstseins führt; sie
werden über ihre Rechte aufgeklärt und
beanspruchen sie; die ländliche Jugend
beginnt, über den Trend zur Flucht in die
Städte zumindest nachzudenken; Gelder,
Kleinunternehmer Tiwari, als er Hazare
in Delhi zum ersten Mal sah.
Sind im Hazare-Fieber Indiens demokratische Institutionen, beschädigt worden?
Schließlich ist dies bei allen Mängeln kein
autoritärer Staat wie Mubaraks Ägypten.
Mit einem kollektiven Kniefall befriedete
das indische Parlament erst am vergangenen Samstagabend den Streit im Land.
Aus der Sorge, dass die friedlichen Massen
bei den ersten Krankheitsanzeichen des
fastenden Hazares Amok laufen könnten,
erfüllten die Parlamentarier auf Regierungsgeheiß alle Bedingungen der Protestbewegung. Sie setzten die Eckpfeiler
einer Gesetzgebung fest, mit der eine neue,
starke, unabhängige Behörde zur Korruptionsbekämpfung geschaffen werden soll.
Vielleicht wird dies nun tatsächlich geschehen, wenn das Parlament das endgültige
Gesetz wie geplant bis Jahresende verabschiedet. Ist damit ein antidemokratischer
Präzedenzfall geschaffen? Beschließt die
Straße die Gesetze statt des Parlaments?
„Die Bewegung demonstrierte mit ihrem
großen Fluss auch ihre Fähigkeit, über die
Ufer der Verfassung zu treten. Waren das
Schatten der Anarchie?“ fragte Outlook.
(Quelle: „Die weiße Rebellion“ von Georg
Blume, DIE ZEIT vom 1.9.2011)
die bisher von den staaltichen Autoritäten entweder nicht ausbezahlt, falsch verwendet oder dreist unterschlagen werden,
kommen dem Dorf zugute; Korruption
wird aktiv bekämpft – um die wichtigsten
Punkte zu nennen. Wir versuchen auch,
Studierende in Universitäten und Colleges
dazu zu bewegen, sich konstruktiv als Teil
ihres Studiums mit Projekten zum holistischen Aufbau einer nachhaltigen dörflichen Entwicklung zu beschäftigen. Die
meisten Studierenden haben sich noch nie
in einem Dorf aufgehalten.
Meine Welt: Frau Marla, Sie leben seit einigen Jahren abwechselnd in Indien und
Deutschland. Wie bewerten Sie den raschen
Fortschritt Indiens in den letzten Jahren?
meine welt 2/2011 25
i
I n t e rvi e w Ak t u e l l
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Jahr wurde von der Zentralregierung mit
Wird Indien von der jetzigen Regierung
position kann nicht viel dazu sagen, ist sie
großem Getöse ein Gesetz verabschiedet,
gut geführt?
doch selbst in solche Skandale verwickelt
das
jedem
indischen
Kind
das
„Recht
zur
–
Frau Marla: Ich komme seit fast 40 Jahren
(Karnataka). Indien wird von der jetzigen
schulischen – Ausbildung” garantiert. Mir
nach Indien und hatte das Glück, meinen
Regierung überhaupt nicht geführt, von
ist nicht bekannt, dass sich inzwischen im
verstorbenen Mann. Dr. V. Sarma Marla,
„gut” ist nicht zu reden.
ländlichen Indien irgendetwas geändert
in den Pilotphasen seiner ForschungsWas mich etwas optimistisch stimmt, ist
hat:
Es
gibt
keine
neuen
Schulen,
es
ist
projekte begleiten zu können. Auf diese
das Wählerverhalten in der letzten Zeit,
nach wie vor festzustellen, dass in vielen
Weise wurde ich mit den Verhältnissen
allen voran in Bihar, das bis vor einigen
ländlichen Schulen bezahlte Lehrer seit
im ländlichen Indien sehr vertraut, vor
Jahren als das Armenhaus Indiens galt.
Jahren überhaupt nicht auftauchen, mit
allem in den südindischen Ländern. Seit
Der Ministerpräsident Nitish Kumar hat
Wissen der lokalen und übergeordneten
fast 7 Jahren lebe ich permanent in Indiin seiner ersten Amtszeit bereits große
staatlichen Stellen! Es gibt, mit Ausnahme
en und habe mit meinem „International
positive Veränderungen bewirkt und hat
einiger NGOs, keine Anstrengungen, verInstitute for Holistic Research and Vodafür bei den letzten Wahlen einen unerstärkt Mädchen zur Schule zu schicken, es
luntary Action” meinen Aktionskreis auf
wartet großen Erfolg erzielt, obwohl die
gibt nach wie vor Kinderheiraten (speziell
nordindische Gebiete ausgeweitet, wo die
Oppositionsparteien mit der üblichen Einin Rajasthan), wo minderjährige Witwen
Lebensverhältnisse auf dem Lande sehr
schüchterung und „cash for vote”- Takproduziert werden, deren Lebenspersviel schlechter sind als im Süden. Das geht
tiken alle Anstrengungen unternommen
pektiven vernichtet sind, bevor ihr Leben
natürlich nur mit der Hilfe eines Freunhaben. Die Anit-Korruptionsbewegung hat
überhaupt begonnen hat.
deskreises gleichgesinnter Aktivisten, die
sich inzwischen auf das ganze urbane Indimich ungemein unterstützen.
en ausgeweitet und beginnt, auch
Der „rasche Fortschritt Indiens“
Vom Fortschritt profitieren lediglich im ländlichen Indien Wirkung zu
ist eine sehr trügerische Angelezeigen. Es steht zu erwarten, dass
genheit: Vom Fortschritt profitie- die indischen Mittelklassen, und das
eine Stärkung der „Civil Society”
ren lediglich die indischen Mittelkünftigen Regierungen und den
stetig steigende Bruttosozialprodukt es
klassen, und das stetig steigende
industriellen pressure groups sehr
Bruttosozialprodukt sagt nichts aus sagt nichts aus darüber, dass die
schwer machen wird, ihre Politik
darüber, dass die Schere zwischen
der ländlichen Ausbeutung fortzuSchere zwischen Armen und Reichen führen. Die Diktate von Weltbank
Armen und Reichen mit großer
Geschwindigkeit immer weiter mit großer Geschwindigkeit immer
und IMF und auch Millionenproauseinander geht. Das ländliche
jekte der UN führen fast alle zur
weiter auseinander geht.
Indien hat nichts davon. Im Gegenweiteren Verelendung der ländteil, die großen Industrien beuten
lichen Bevölkerung. Wir werden
Die indische Regierung scheint nicht bedie ländlichen Ressourcen immer stärker
auch darüber schreiben, z.B. in unserem
reit, in großem Stil in das ländliche Indiaus, z.B. wird durch mächtige Bergbauunkommenden Buch „Development Aid –
en investieren zu wollen. Wir haben vor
ternehmen (legal und illegal) der lokalen
For Whom?“ j
einigen Jahren (!) einen „Open Letter to
Stammesbevölkerung die LebensgrundlaPlanning Commission” geschrieben, in
ge entzogen (West Bengal, Orissa, MahaL e s e rbr i e f
dem wir die Problem der verfehlten zenrashtra, Chhattisgarh, Karnataka, um nur
tralen Planung aufgezeigt und Wege aus
die schlimmsten Brennpunkte zu nennen);
Lieber Jose,
dem Elend beschrieben haben, aber wir
industrielle Anlagen vernichten oder verdas Exemplar von „Meine Welt“ gefällt
haben keine Resonanz erhalten. Das Proschmutzen die Wasservorräte irreparabel,
uns sehr. Die Auswahl ist hervorragend,
blem der maoistischen Outfits in großen
so dass die Bauern ihre Existenz verliedas Ganze ist sehr informativ; „erschreTeilen Indiens ist auf die Vernachlässigung
ren; der indische Agarminister verkünckend“ informativ vor allem der Beitrag
der ländlichen Regionen zurückzuführen,
det noch heute, dass Endolsulfan völlig
über female feticide oder auch der Reiseaber die Regierung will es mit Waffengeungefährlich sei, obwohl die Chemikalie
bericht von 1700. Die Zusammenfassung
des Buches von Martin Kämpchen „Lewalt lösen. Das ist, wie klar zu erkennen,
in fast allen Ländern verboten ist, aber
ben ohne Armut” spiegelt genau unsere
der falsche Weg.
Indien produziert das Gift in großem Stil,
Erfahrung wider. Das Interview zur
Die jetzige Regierung befindet sich an70% der Weltproduktion (ich frage mich
Modellschule Orissa bestärkt uns, mit
scheinend in einem komatösen Zustand:
allerdings, wohin das Gift exportiert wird,
unserem Projekt (website „wecankimh.
durch die Anti-Korruptionskampagne, die
wenn es angeblich nicht verwendet werden
jimdo.com”) weiterzumachen.
von Anna Hazare angestoßen wurde, ist
darf). Es sind nur einige Beispiele. Das
sie in große Bedrängnis geraten, sind doch
alles geschieht mit Wissen und UnterViele Grüße
die meisten Minister in mehrere Korruptistützung der Regierungen in Delhi und
Erika und Raju (Rajendra) Pathak
onsskandale (scams) verwickelt. Die Opin den Bundesländern. Im vergangenen
26 meine welt 2/2011
i
thema
i
50 Jahre indische Krankenpflegekräfte
in Deutschland
Einwanderung ... Anpassung ... Eingliederung ... Integration
c Gespräche
c Interviews
c Kurzgeschichte
c Bilder
Prozession der indischen Gemeinde beim Pfarrfest Köln 2010 Foto: Devis Vadakkumchery
meine welt 2/2011 27
i
5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
i
Wie war es am Anfang?
Ein Gespräch mit Pater Jerome Cherussery und Frau Anni Jülich über die
Anwerbung und das Einleben indischer Krankenschwestern in Deutschland
J ose P unnamparambil
Pater Jerome Cherussery ist indischer
Priester der Karmeliter Ordensgemeinschaft. Er kam 1966 nach Deutschland
zum Studium an der Kölner Universität.
Schon damals befanden sich einige indische Mädchen in der Krankenpflegeausbildung in Köln, Bonn, Heidelberg etc. Im
Laufe der Zeit erkannte die katholische
Kirche Deutschlands die Notwendigkeit
der Seelsorge für die wachsende indische
Gemeinschaft. Pater Jerome wurde dann
1969 offiziell als Seelsorger für Inder eingestellt mit Sitz in Köln. Auf dem Papier war
er für Inder/Inderinnen in den Diözesen
Köln, Aachen und Essen zuständig, aber
in der Praxis erstreckte sich seine Tätigkeit
auf ganz Deutschland. Pater Jerome diente
als Seelsorger für fast 17 Jahre, bevor er
1986 endgültig nach Indien zurückging.
Frau Anni Jülich ist deutsche Sozialarbeiterin, die beim Deutschen Caritasverband
für die Stadt Köln in den 1960er Jahren und
danach für fremdsprachliche Katholiken
zuständig war. Zusammen mit dem damaligen Direktor des Caritasverbandes für die
Stadt Köln Prälat Dr. Josef Koenen entwickelte sie ein Konzept für soziale Beratung
und Betreuung der indischen Katholiken,
insbesondere der indischen Krankenpflegekräfte in den Diözesen Köln, Essen und
Aachen. Ende der 1960er Jahre wurde ein
Sozialdienst für Inder in Köln eingerichtet
und ein in Deutschland ausgebildeter Sozialarbeiter, Herr Varghese Podur, wurde
als Vollzeitkraft eingestellt. Mit großem
Einsatz setzen sich Frau Jülich und Prälat Dr. Josef Koenen für die Verbesserung
der Arbeits- und Lebensbedingungen der
indischen Krankenpflegekräfte ein, nicht
nur in den obengenannten drei Diözesen,
sondern auch in ganz Deutschland.
Anfang September dieses Jahres traf ich
mit Pater Jerome und Frau Anni Jülich
in einem Restaurant in Köln zusammen.
Pater Jerome war aus Indien auf Besuch
nach Deutschland gekommen. Frau Jülich lud uns zu diesem Treffen ein und wir
führten ein Erinnerungsgespräch an die
alten Zeiten:
Ohne Vertrag
Während die Krankenschwestern aus
Südkorea und den Philippinen auf der
Grundlage eines Vertrages zwischen der
Bundesregierung und den anderen jeweiligen Regierungen kamen, kamen die indischen Krankenpflegekräfte durch kirchliche Kanäle. Frau Jülich sagte, dass die
Regierungsstellen auf der indischen Seite
damals nicht interessiert waren, Krankenschwestern aus Indien auf Vertragsbasis
nach Deutschland zu schicken. Deshalb
waren die Vermittler vornehmlich indische
Bischöfe/Priester und deutsche Priester/
Anni Jülich
Ordensgemeinschaften etc.. Die sprachliche und interkulturelle Vorbereitung der
indischen Pflegekräfte war sehr dürftig. Da
die meisten dieser Schwestern aus ländlichen Umgebungen mit einfachen Lebensgewohnheiten kamen, war das Einleben in
eine total fremde Kultur mit Normen und
Verhaltensweisen einer urbanisierten Gesellschaft äußerst schwierig. Sie fanden oft
Zuflucht in kirchlichen Veranstaltungen,
die der indische Seelsorger organisierte,
und in Heimatveranstaltungen in eigener
Sprache, die von dem Sozialdienst für Inder organisiert wurde. Der Seelsorger und
der Sozialarbeiter arbeiteten damals eng
zusammen und organisierten Seminare,
Reisen, Gemeinschaftsaktivitäten, kirchliche Feste, Kulturveranstaltungen etc. Frau
Jülich und Prälat Dr. Koenen förderten
diese Aktivitäten uneingeschränkt.
Zurück nach Indien
Pater Jerome bei einem Schulbesuch in
Deutschland 2011
28 meine welt 2/2011
In der Spitzenzeit – Mitte der 70er Jahre
– gab es ca. 5000 ausgebildete und auszubildende indische Krankenschwestern
in Deutschland. 1973 verhängte die Bundesregierung einen allgemeinen Anwerbestopp für nichteuropäische Arbeitskräfte.
Damit war die Frage aktuell geworden,
was mit den ausgebildeten indischen Krankenschwestern geschehen soll. Einerseits
i
herrschte großer Bedarf für Krankenpflegekräfte in deutschen Krankenhäusern und
Altenheimen, andererseits verbot die geltende Regel, Studenten und Auszubildende aus nichteuropäischen Ländern nach
Beendigung des Studiums/der Ausbildung
in Deutschland weiter zu beschäftigen. So
kursierte die Nachricht, dass alle ausgebildeten indischen Krankenschwestern bald
nach Hause geschickt werden sollen. Dies
wäre für viele der Betroffenen aus zweierlei Gründen katastrophal: Zum einen war
die deutsche Krankenpflegeausbildung in
Indien überhaupt nicht anerkannt und zum
Anderen, hatten die Inderinnen während
der Ausbildungszeit nur wenig verdient
und hatten daher keine große Möglichkeit, ihre Familien in Indien substantiell
zu unterstützen, was eigentlich der Grund
war, warum sie das Risiko auf sich genommen hatten, in ein so fremdes Land
wie Deutschland zu kommen. Große Unsicherheit breitete sich aus, Trauer mischte
sich mit Wut, die in Versammlungen und
Zeitungsinterviews etc. mündeten.
Der Sozialdienst für Inder begegnete der
Situation zweigleisig: einerseits bemühte
man sich mit Unterstützung des Caritasverbands und anderer kirchlichen Stellen,
die Zurückschickung der ausgebildeten
Krankenschwestern nach Indien zu verhindern/verschieben, andererseits wurde mit
betreffenden Stellen in Indien verhandelt,
um die deutsche Krankenpflegeausbildung
dort anerkannt zu bekommen. Frau Jülich
und Prälat Dr. Koenen sowie viele andere
Verantwortliche in der katholischen Kirche
Indische und deutsche
Kinder bei einer Kommunionfeier 1990
der anfang
i
Deutschlands haben sich dafür eingesetzt,
die existierenden Regeln zu Gunsten der
indischen Krankenpflegekräfte zu ändern.
Schließlich lenkte die Regierung ein, die
indischen Krankenschwestern konnten
bleiben. Sie bekamen eine entsprechende
Aufenthaltsund Arbeitserlaubnis.
Familienzusammenführung
Dann folgte die Phase der Eheschließung
und Familiengründung. Einige wenige
heirateten deutsche Partner, aber die
große Mehrheit der Krankenschwestern
ging nach Hause und heiratete Männer
anderer Berufe. Die Familienzusammenführung bereitete aber große Probleme.
Die deutsche Regierung verordnete, dass
die Ehemänner, die im Rahmen der Familienzusammenführung nach Deutschland
kommen, vier Jahre lang nicht arbeiten
dürfen, sie bekamen keine Arbeitserlaubnis. Das war ein großer Hammer für die
indischen Ehemänner, die mit dem Rollenverständnis aufwuchsen, der Mann
habe Alleinverdiener zu sein, mit entsprechender Machtbefugnis über das verdiente Geld. Dieser radikale Rollenwechsel
in der Familie führte zu Verzweifelung,
Gewalt, Bindungsstörungen bei einigen
Familien. Frau Jülich und Dr. Koenen
versuchten durch Einschaltung kirchlicher
Stellen, eine Änderung der Regelung zu
Gunsten der indischen Ehemänner zu
erreichen, aber ohne Erfolg. Der Dienst
der Seelsorger war in dieser Phase stark
gefragt. Glaube und die Glaubenspraxis
boten vielen Trost und Halt.
Das Mitarbeiterteam, das Anfang der 1970er
Jahre im Rahmen des „Indischen Sozialdienst,
Köln“ tätig war. Von rechts nach links: (stehend)
Pater Jerome Cherussery (Seelsorger), Jose
Punnamparambil (Redakteur der MalayalamZeitschrift „Ente Lokham“), Abraham Oommen (Sozialberater), (sitzend) Frau Sunitha
Vithayathil (Sozialberaterin) und T. A. Jose
(Mitarbeiter der Zeitschrift „Ente Lokham“ in
Indien, auf Besuch in Deutschland)
Nachdem die Ehemänner eine Arbeitserlaubnis bekommen hatten und die Gesetze
so geändert wurden, dass diejenigen Ausländer, die 8 Jahre ohne Unterbrechung
in Deutschland gelebt haben, eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis bekommen
können, hatte sich die Situation total entspannt. Die große Mehrheit der indischen
Krankenschwestern und deren Ehemänner
entschieden sich, vorläufig in Deutschland
zu bleiben und hier eine Familie zu gründen.
Zwischen Deutschland und Indien
Im Rückblick meinten Pater Jerome und
Frau Jülich, dass trotz anfänglicher Probleme und Schwierigkeiten die Einwanderung indischer Krankenschwestern nach
Deutschland eine Erfolgsgeschichte ist.
Die meisten dieser Krankenschwestern
und deren Familie leben heute mit einem
Lebensstandard, der nach deutschem Maßstab als überdurchschnittlich bezeichnet
werden kann. Die Mehrzahl ihrer Kinder
befindet sich im Studium oder üben nach
dem Studium gehobene Berufe wie Ärzte,
Ingenieure, Wissenschaftler, Betriebswirte
aus. Da viele dieser Kinder hier geheiratet
und eine Familie schon gegründet haben,
ist eine oft geträumte endgültige Rückkehr
für die Eltern in die Heimat nicht mehr
vorstellbar. Sie werden, bis es nicht mehr
geht, zwischen Deutschland und Indien
pendeln. j
meine welt 2/2011 29
i
5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
i
Das Unternehmen „ Auszug aus Indien,
Aufenthalt in Deutschland“
Indische Krankenschwestern haben die Möglichkeit bekommen, sich positiv zu entfalten, ihre
Fähigkeiten zu entwickeln, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sowohl im Beruf wie auch im
Alltag selbstständig zu leben und zu handeln.
S unitha V itha y athil
Frau Sunitha Vithayathil war Sozialarbeiterin beim indischen Sozialdienst
des Caritasverbandes der Stadt Köln
von 1973 bis 1976, der Spitzenzeit der
Einwanderung indischer Krankenpflegekräfte nach Deutschland. In dem folgenden Interview haben wir sie nach
ihren Erinnerungen an die damalige
Zeit sowie nach ihrer Meinung zu der
Wirkung dieser einmaligen Einwanderung auf die Betroffenen gefragt. Wir
drucken ihre Antworten unverkürzt
ab. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil
D ie R edaktion
Meine Welt: Die meisten der indischen
Krankenschwestern kamen in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nach Deutschland. Sie waren damals Sozialarbeiterin
beim Caritasverband für die Stadt Köln,
zuständig für die Inder/Inderinnen in den
Erzdiözesen Köln, Aachen und Essen. Welche Erinnerungen haben Sie aus dieser Zeit
an die Berufs- und Lebenssituation der indischen Krankenschwestern/ Krankenpfleger
in Ihrem Zuständigkeitsbereich? Welche
waren die größten Probleme dieser Personengruppe, mit denen Sie oft konfrontiert
wurden, und welche die Lösungsansätze
des Caritasverbandes?
Frau Vithayathil: Es fällt mir nicht leicht,
über die Berufs- und Lebenssituation der
indischen Krankenschwestern in den 70iger Jahren in Deutschland zu berichten.
Denn ich war nur relativ kurze Zeit – von
Juni 1973 bis April 1976 – beim Caritasverband für die Stadt Köln als Sozialarbeiterin für die Inder/Inderinnen in der
Erzdiözese Köln und in den Diözesen
30 meine welt 2/2011
Aachen, Essen, Münster und Paderborn
tätig. Es gibt Kollegen und Kolleginnen,
die vor, mit und nach mir konstant und
kontinuierlich mit dieser Arbeit beauftragt
waren und somit länger und intensiver die
Entwicklungen beobachtet und begleitet
haben. Ihre Berichte und Stellungnahmen
wären von weitaus größerer Aussagekraft.
Als ich die Arbeit beim Caritasverband
anfing, waren Einreise nach Deutschland
und Eingewöhnungsphase der Krankenpflegeschülerinnen und Krankenschwestern größtenteils abgeschlossen. Ich würde
sagen, ich habe die Phase der Eingliederung in das Berufsleben sowie in die
Gesellschaft begleitet. Die Anfänge der
Familiengründungen und damit entstehende neue Lebenssituationen und Probleme
konnte ich intensiver beobachten.
Gleich nach meinem Dienstantritt habe
ich ein bereits von meinen Vorgängern
vorbereitetes Studienseminar für Inder
und Inderinnen in Hamburg begleitet.
Solche Studienseminare fanden jährlich
mit mehrtägigem Aufenthalt und Besichtigung einer bundesdeutschen Großstadt
statt. Veranstaltet wurden sie in Zusammenarbeit mit der Landeszentrale für
politische Bildung vom Land NRW. Den
Ausländern sollten politische, wirtschaftliche, geschichtliche und gesellschaftliche
Vorgänge, Zusammenhänge und Hintergründe in Deutschland vermittelt werden
und somit deren Loyalität gefördert und
Integration erleichtert werden, Die Teilnehmer/ Teilnehmerinnen nutzten diese
Angebote unter anderem auch, um sich
untereinander kennen zu lernen, Kontakte
zu pflegen und neue Kontakte zu knüpfen.
Weil diese Maßnahmen vom Land NRW
angemessen bezuschusst wurden, konnten
die Teilnehmer / Teilnehmerinnen diese
Aufenthalte finanziell gut verkraften.
Der Bedarf an Geselligkeit und Kontaktpflege mit Landsleuten war in der ersten
Zeit sehr ausgeprägt. Durch Tagungen,
Seminare und Fahrten sowie kulturelle
und religiöse Feste, die vom Sozialdienst
auf den Weg gebracht und mit organisiert
wurden, konnte diesen Wünschen Rechnung getragen werden.
Die größten Probleme der indischen
Krankenpflegeschülerinnen und Krankenschwestern, die in der genannten Zeit an
mich herangetragen wurden, lagen im arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Bereich.
Für gleiche Arbeit bekamen sie nicht
überall den gleichen Lohn. Es wurde nicht
durchgehend nach den geltenden Tarifverträgen bezahlt. Manche Einrichtungen
waren nicht bereit, die Arbeitsverträge zu
verlängern, weil die Arbeitnehmerinnen
nach ihrer Meinung aus Mangel an Sprachund Fachkenntnissen nicht die erwarteten
Leistungen erbrachten.
i
Es gab auch Ausländerämter, die trotz
vorhandener Arbeitsverträge die Aufenthaltserlaubnis verweigerten. Mitte der
Siebziger Jahre war die Arbeitsmarktlage
angespannt. Obwohl im Pflegebereich Personalbedarf bestand, wurde bei der Gewährung von Arbeits- und Aufenthaltserlaubnissen sehr repressiv vorgegangen.
Hilfestellung bei der Lösung dieser Probleme basierte von Seiten des Caritasverbandes überwiegend auf Vermittlungsgesprächen und Werben und Bitten um
Rücksichtsnahme und Verständnis. Diese Versuche auf Dialogebene waren bei
kirchlichen Arbeitgebern öfter erfolgreich.
Einige Ausländerämter in NRW waren dafür bekannt, dass sie nur die „harte Linie“
verfolgen wollten, um so wenig Ausländer
wie möglich in ihrem Einzugsbereich zu
halten. Verglichen mit den heutigen Integrationsbemühungen kann man kaum
glauben, dass es in den Siebziger Jahren
Regierungsbezirke gab, die den Zuzug von
Ausländern gesperrt hatten, um den Ausländeranteil prozentual unter Kontrolle
zu halten. Bei solchen Konstellationen
konnte man nur die Betroffenen aus den
jeweiligen Zuständigkeitsbereichen herausholen und versuchen, anderswo zum
Ziel zu führen.
In manchen Fällen waren es gesundheitliche Probleme, die die Betroffenen gezwungen haben, ihre Arbeitsstelle aufzugeben und eine neue Existenzmöglichkeit
zu suchen.
An einem Beispiel kann ich vielleicht die
Komplexität der Problematik, der manche Krankenschwestern ausgesetzt waren,
und die Lösungsversuche von Seiten des
Sozialdienstes verdeutlichen. Eines Tages
rief mich eine Krankenschwester an und
sagte mir, sie stünde ohne Arbeitsstelle da.
Die alte Stelle hätte sie selbst gekündigt,
der neue Arbeitgeber wolle seine Zusage
nicht einhalten, da sie jetzt schwanger sei.
Wir sollten ihr nun zu einer neuen Stelle
verhelfen.
Nach der Kündigung bei ihrem alten Arbeitgeber hatte die Krankenschwester sich
zunächst einmal für mehrere Monate in
Indien aufgehalten, dies mit der Sicherheit,
nach ihrer Rückkehr nach Deutschland
eine neue Stelle antreten zu können. Eine
entsprechende Zusage hatte sie. Sie hatte
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
in Indien geheiratet und wurde kurze Zeit
später schwanger. Als sie nach Deutschland zurückkehrte, wollte der neue Arbeitgeber auf Grund der Schwangerschaft
keinen Arbeitsvertrag mit ihr abschließen,
und der alte Arbeitgeber wollte sie nicht
wieder beschäftigen.
Durch unseren Einsatz konnten wir ihr
in Zusammenarbeit mit einer kirchlichen
Schwangerschaftsberatungsstelle in einem
Krankenhaus in Trägerschaft von Ordensschwestern eine neue Arbeitsstelle
vermitteln.
Sie hat als Schwangere im Schwesternwohnheim ein Zimmer bezogen. Ihr Mann
konnte noch nicht einreisen, weil er in Indien im öffentlichen Dienst tätig war und
in Deutschland keine Aussicht auf Arbeit
bestand.
Das Kind wurde geboren, und sie konnte
es während ihres Dienstes in der betriebseigenen Kinderkrippe unterbringen. Fast
ein Jahr hat sie alleine versucht, dem Kind
und ihrem Beruf gerecht zu werden. Sie
musste aber feststellen, dass Früh- und
Spätdienst im Wechsel sehr viel Stress und
auch Überforderung bedeutete sowohl für
sie als auch für das Kind. Früh morgens
musste das Kind aus dem Schlaf gerissen
werden, um es in die Kinderkrippe zu
bringen. Hatte sie Spätdienst, wurde es
wieder in seinem Schlaf gestört. Auf die
Dauer war das Wohnheim kein ideales
Umfeld für Entwicklung und Aufenthalt
eines Kleinkindes.
Die Mutter stand vor der Alternative, das
Kind einer Tagesmutter anzuvertrauen
oder es nach Indien zum Vater zu geben.
Die Unterbringung des Kindes in einer anerkannten Tagespflegestelle war einerseits
mit Kosten verbunden und zum anderen
hatte sie Angst, dass das Kind ihr fremd
würde und sie seine Erziehung nicht wie
gewünscht beeinflussen könnte. Ihr Mann
wollte seine sichere Arbeitsstelle in Indien nicht aufgeben und zu Frau und Kind
nach Deutschland einreisen, um nur eine
„Hausmanntätigkeit“ auszuüben.
Sie selbst konnte zu dem Zeitpunkt ihre
Arbeit nicht aufgeben, um mit dem Kind
nach Indien zurückzukehren, weil sie unerledigte finanzielle Verpflichtungen hatte
und zu der gemeinsamen Existenzgründung noch beitragen musste (wollte). So
sah sie sich gezwungen, sich vorerst von
ihrem Kind zu trennen, um es in die Obhut
des Vaters und seiner Verwandten nach
Indien zu geben.
Bei diesem Beispiel will ich noch kurz
verweilen, weil es nicht untypisch ist für
die Phase der Familiengründung.
Nach Abschluss der Ausbildung zu Pflegefachkräften sind die Krankenschwestern, abgesehen von einigen wenigen
Ausnahmen, nach Indien geflogen und
heirateten dort während ihres Urlaubes
nach indischer Tradition einen Partner
nach ihrer und ihrer Familie Wahl. Die
Ehepartner durften im Rahmen des Familiennachzugs nach Deutschland einreisen. Abgesehen von wenigen Ausnahmen
bekamen sie ohne Schwierigkeiten eine
Aufenthaltserlaubnis. Wie wir alle wissen,
durften sie aber für mehrere Jahre kei-
Das alljährliche Seminar für indische Krankenschwestern in Freiburg (1970-1980)
meine welt 2/2011 31
i
5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
ne berufliche Tätigkeit ausüben. Es war
oft eine krisenreiche und leidgeprüfte
Zeit für viele Partnerschaften. Männer
mit akademischer oder sonstiger beruflicher Qualifikation sind eingereist, waren
aber aus ausländerund arbeitsrechtlichen
Gründen „verdonnert“, die besten Jahre
ihres Lebens nur den eigenen Haushalt zu
führen und Säuglinge und Kleinstkinder
zu versorgen.
Die umgekehrte Rolle in Familie und
Gesellschaft einzunehmen, das kannten
sie weder aus ihren Herkunftsfamilien
noch erfuhr dies eine gesellschaftliche
Wertschätzung. Wegen fehlender Sprachkenntnisse war die Kommunikation mit der
Außenwelt schwierig, und sie konnten im
Gegensatz zu ihren Frauen am gesellschaftlichen Leben nicht teilnehmen. Zum Teil
fehlten Wille und Motivation, die deutsche
Sprache zu erlernen, da der „Focus“ auf
baldige Rückkehr nach Indien gerichtet
war. Intensivsprachkurse oder andere be-
rufliche Aufbaukurse konnten die meisten mit einem Gehalt nicht finanzieren.
Öffentliche Förderung durch Arbeitsamt
oder Bildungsträger bekamen sie nicht,
weil sie durch Erwerbstätigkeit keine Beiträge zur Arbeitslosenversicherung geleistet hatten und so keine Rechtsansprüche
begründet hatten. Frust, Unzufriedenheit,
Ratlosigkeit, Isolation, Vertrauensverlust,
Eifersucht, Misstrauen, Depression usw.
machten in manchen Familien die Runde.
Es herrschte eine sehr ausgeprägte Überzeugung, dass Probleme zwischen Eheleuten keinen Fremden etwas angehen und
die Lösung in den eigenen vier Wänden
gefunden werden muss. So haben sie niemandem ihre Probleme anvertraut oder
professionelle Hilfe gesucht. Die Probleme drangen zwar nicht nach außen, aber
Gewalt in der Ehe, Gewalt gegen Kinder
usw. waren häufig die Folgeerscheinungen.
Spektakuläre Fälle gingen durch die Tagespresse: Ermordung von Ehefrau und
I n d i sch e k ü ch e
Mango Chutney
Zutaten
1 kg rohe Mangos
1 kg Zucker
2 Teelöffel Ingwer (lang und dünn geschnitten)
50 Gramm Salz
6 Kardamom (nur Kerne)
4 Zimtstangen
4 Lorbeerblätter
3 Teelöffel rotes Chilipulver
¼ Tasse Rosinen
2 Teelöffel Pfefferkörner (gemahlen)
¼ Tasse getrocknete Kokosnuss (dünn
geschnitten)
¼ Tasse Cashewnüsse
¼ Tasse Mandeln
2 Teelöffel Melonenkerne
150 Gramm Essig
2 Teelöffel Kümmel (geröstet und gemahlen)
Zubereitung Rösten Sie die Melonenkerne
in einer öligen Pfanne bis sie aufgehen.
Nehmen Sie die Pfanne vom Herd und stel-
32 meine welt 2/2011
len Sie diese daneben. Rösten Sie die Mandeln und Cashew Kerne, bis diese leicht
gebräunt sind. Schälen und schneiden sie
die Mangos. Legen Sie die Mangos in eine
Pfanne mit dickem Boden, und geben Sie
Zucker und Salz dazu. Kochen Sie das Ganze, bis der Zucker sich auflöst, und geben
dann Ingwer, Kardamom, Zimt, Lorbeerblätter, rotes Chilipulver und Pfefferkörner
dazu und kochen es, bis es zu einer dicken,
breiigen Sauce wird. Geben Sie Essig hinzu
und kochen das Ganze für fünf Minuten.
Geben Sie dann die Nüsse, die Rosinen, die
Kokosnuss und das Kümmelpulver dazu.
Verrühren Sie das Ganze und testen dann
dessen Geschmack. Falls gewünscht, geben
Sie mehr Essig hinzu.
(Quelle: Perspektiven Indien, Mai 2011)
i
Kindern, Selbsttötung usw. Die Verzweiflung und Ratlosigkeit in der relativ kleinen
indischen Gruppe wurde deutlich.
Die jungen Familien waren zusätzlich finanziell mehrfach belastet. Bis zur Heirat haben die Frauen fast ihren ganzen
Lohn ihren Herkunftsfamilien für deren
Lebenssicherung und Existenzaufbau
überlassen. Nach der Familiengründung
mussten sie, oft nur von einem Gehalt, die
eigene Lebensgrundlage in Deutschland
aufbauen, aber auch die Erwartung auf
weitere Unterstützung der Herkunftsfamilien befriedigen. Zum Teil sollten sie auch
noch der Familie des Ehemanns finanziell
zur Seite stehen. Der Versuch, all diesen
Wünschen zu entsprechen, verstärkte die
Spannungen in der Partnerschaft.
Manche Ehepaare entschieden sich, sich
von ihren Kindern zu trennen und sie zeitweilig fremd unterzubringen, was ungeahnt
weit reichende Folgen für die familiären
Beziehungen bis zum heutigen Tag hat.
Die individuellen Entscheidungen sahen
sehr unterschiedlich aus.
Manche Frauen sind zur Entbindung nach
Indien geflogen, haben nach der Geburt
ihre Kinder dort ihren Verwandten anvertraut und sind allein an ihren Arbeitsplatz
zurückgekehrt.
Andere haben nach der Niederkunft in
Deutschland die Säuglinge nach Indien
gebracht, damit die Kinder dort besser
versorgt werden.
Es gab auch Ehepaare, die sich dazu entschlossen haben, dass der Vater mit nach
Indien zurückging und die Mutter nach
wenigen Jahren folgen sollte.
Es gab wiederum Eltern, die ihre Kinder
bei guten deutschen Freunden in Obhut
gegeben haben und später Mühe hatten,
ihre Position als Eltern zu behaupten. Alle
diese Eltern hatten triftige Gründe für
ihr Handeln und niemand von ihnen hat
leichtfertig eine Entscheidung getroffen.
Dennoch blieben auf die Dauer Folgen wie
Entfremdung der Kinder, fehlende ElternKind-Beziehung, Bindungsstörungen und
Bindungsängste usw. nicht aus. Aus der
heutigen Sicht der Kinder können sie nicht
verstehen und nachvollziehen, warum sie
nicht bei den Eltern bleiben konnten und
durften. Aus ihrer Sicht wiederum haben
die Eltern alles getan, damit es ihren Kin-
i
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
dern gut geht. Bei vielen Kindern ist in
solchen Fällen eine emotionale Störung
im Eltern-Kind-Verhältnis als Folge zurückgeblieben.
Meine Welt: Wie hat sich die Lebenssituation der indischen Krankenpflegekräfte in
Deutschland weiter entwickelt? Konnten
sie sich in Deutschland gut integrieren und
hier ein gutes Leben führen? Welche Bilanz
ziehen Sie heute? Hat das Unternehmen
sich gelohnt, für die Personen selbst, für
das Herkunftsland und für Deutschland?
Frau Vithayathil: Wie man heute feststellen kann, ist der überwiegende Teil der
damaligen Schülerinnen und Schwestern
mittlerweile mit ihren Familien in Deutschland „alt“ geworden.
Manche von ihnen haben ihren Traum
„Reintegration“ in Indien ausgetestet.
Nach einigen Berufsjahren in Deutschland
sind sie mit vielen Träumen, Vorsätzen und
Erwartungen nach Indien zurückgekehrt,
mussten aber feststellen, dass sich das Land
rapide fortentwickelt hat und schnelllebig
geworden ist.
Der Schutz und die Fürsorge der Großfamilien und die Tugenden des Füreinanderund Miteinander Einstehens in den Familien sind vielfach verloren gegangen. Die
Rückkehrer haben das Land noch aus der
Zeit ihres Wegganges in Erinnerung. Unterstützung, Verständnis oder Rücksichtsnahme auf die Zurückgekommenen findet
man aber im Land kaum. Kaum jemand
hat Zeit und ein Ohr für die Anderen.
Die „Hast du was, bist du was“-Mentalität
ist inzwischen sehr ausgeprägt im Lande.
Bei dem Streben nach Erfolg und Wohlstand konnten manche Rückkehrer nicht
mithalten. Ihre Ersparnisse aus Deutschland waren im Laufe der Zeit aufgebraucht
und neue Ressourcen mussten erschlossen
werden.
Andere wiederum sahen keine Zukunftsperspektiven für sich und ihre Kinder in
Indien. Manche mussten feststellen, dass
sie von der Verwandtschaft und anderen
Vertrauenspersonen bei der Verwaltung
ihres in Deutschland schwer verdienten
Vermögens betrogen worden sind, und
entschieden sich, alles in Indien hinter
sich zu lassen.
So unterschiedlich waren die Gründe, die
Reise nach Rom
die Reintegrationswilligen dazu bewogen
haben, wieder zurück nach Deutschland
zu kommen.
Ich möchte aber hier trotz aller Schwierigkeiten nicht den Eindruck entstehen
lassen, dass kein Rückkehrer sich in Indien
nicht wieder eingelebt hätte. Es gibt erfolgreiche Unternehmer, glückliche Landwirte
und andere unter den Rückkehrern, die in
der dortigen Gesellschaft und Öffentlichkeit wichtige Positionen bekleiden, Ruhm
und Ansehen genießen.
Spätestens Mitte der Neunziger Jahre ist
die Focussierung auf eine Rückkehr nach
Indien dem Wunsch nach Integration in
Deutschland gewichen. Eigene Erfahrungen in Indien, Berichte von Rückkehrern,
Integration der Kinder durch Schulen und
deutsche Freunde, berufliche Integration
und Zufriedenheit der Ehepartner, gesellschaftliche Anerkennung der Familien und
vor allem die Beherrschung der deutschen
Sprache und Kommunikationspflege mit
der hiesigen Gesellschaft haben sicherlich
zum Umdenken beigetragen und die Entscheidungen beeinflusst. Etliche Familien
haben Mitte der Neunziger Jahre Eigentum in Deutschland erworben und viele
haben die deutsche Staatsangehörigkeit
angenommen. Sie haben sich entschieden,
sich als Teil dieser Gesellschaft zu integrieren und nicht als Subkultur in dieser
Gesellschaft zu leben.
Das „Unternehmen Auszug aus Indien,
Aufenthalt in Deutschland“ hat viele positive, aber auch negative Bilanzen hervorgebracht. Positiv ist, besonders für die
Frauen, dass sie mehr Möglichkeiten bekommen haben, ohne in Verruf zu geraten
sich positiv zu entfalten, ihre Fähigkeiten
zu entwickeln, ein selbstbestimmtes Leben
zu führen und sowohl im Beruf wie auch
im Alltag selbständig zu leben und zu handeln. Sie haben ihr Vorhaben, nämlich für
ihre Familien in Indien finanziell zu sorgen
und deren Existenzgrundlage zu sichern,
erfolgreich durchgeführt. Ohne die Eltern
zu belasten, konnten sie ihre eigenen Familien und Haushalte gründen. Durch den
Aufenthalt in Deutschland bekamen sie
die Gelegenheit, in andere europäische
Länder zu reisen und unterschiedliche
Kulturen kennen zu lernen. Ihre Kinder
konnten nach ihren Begabungen, Fähigkeiten und Wünschen Schulen, Hochschulen
und andere Bildungseinrichtungen besuchen und von der Chancengleichheit im
Bildungssektor profitieren. Aus finanzieller
meine welt 2/2011 33
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Sicht war der Aufenthalt in Deutschland
ein Gewinn, der ihnen ermöglichte, ihr
Leben komfortabler zu gestalten.
Es gibt aber auch einige negative Bilanzen,
die nicht unerwähnt bleiben dürfen. In
vielen Familien bleibt eine große Trauer,
dass die Kinder und Enkelkinder sich nicht
mit Indien identifizieren und sie das Land
nur als Heimat ihrer Eltern und Vorfahren
akzeptieren.
Bei längerem Aufenthalt in Indien fühlen
sich viele von der „Elterngeneration“ nicht
wohl; sie fühlen sich einsam, der Alltag
gestaltet sich umständlich und kompliziert,
und sie wollen dann so schnell wie möglich
wieder aus Indien weg. In Deutschland
lässt sich das Alltagsleben zwar leichter
gestalten, aber viele Ältere erleben ihren
Alltag dennoch auch hier als still und
einsam. Es bieten sich allerdings mehr
Möglichkeiten in Deutschland durch Eigeninitiative den Tagesablauf kreativer zu
gestalten. Trotzdem bleibt die „Sehnsucht“
nach Sonne und Wärme übrig.
Kurz gesagt, viele von der ersten Generation der Inder fühlen sich nirgends
i
ganz zugehörig – weder zu Indien noch
zu Deutschland, obwohl viele nach dem
Personalausweis Deutsche sind. Diese
„Heimatlosigkeit“ ist ein Verlust von
elementarer Bedeutung.
Im Alter versuchen einige zwischen den
Kontinenten zu pendeln. Viele besitzen
„Alterssitz“ oder „Ferienwohnungen“ in
Indien und fliegen hin und her zwischen
Deutschland und Indien. Die Auseinandersetzung mit der Frage, wie man leben wird,
wenn man nicht mehr reisefähig ist, wird
noch erfolgreich verdrängt. Viele Familien
haben Hab´ und Gut in Indien und manche
investieren immer noch weiter dort. Die
Frage bleibt auch hier offen, was mit diesen Besitztümern nach der Zeit der Eltern
geschehen soll. Können in Deutschland
aufgewachsene Kinder mit dem Besitz
ihrer Eltern in Indien etwas Sinnvolles
anfangen? Sind sie dieser Aufgabe gewachsen? Kommen sie mit den geschriebenen
und ungeschriebenen Gesetzen und der
Bürokratie, mit der Mentalität und evtl. mit
den Besitzansprüchen der Verwandtschaft
in Indien zurecht? Fragen über Fragen, auf
die niemand abschließend antworten kann.
Dennoch können viele von uns erhobenen
Hauptes versichern, dass wir uns gebotene
Chancen aufgegriffen und genützt haben
und unser Mögliches getan haben für uns
selbst, für unsere Kinder, indem wir ihnen
eine sicherere und sorgenfreiere Zukunft
ermöglichen, aber auch unser Mögliches
getan haben für unsere Familien in Indien
und dadurch dem Land genutzt haben.
Abschließend sei bemerkt, dass durch die
Globalisierung manche deutsche Firmen
vorzugsweise Mitarbeiter mit indischem
Migrationshintergrund nach Indien schicken, um dort die Märkte für sie zu erobern. Einige dieser Fachkräfte aus der
zweiten Generation haben mit ihren Familien in den gehobeneren Stadtteilen der
Industriemetropolen Wohnungen bezogen.
Es ist nur zu hoffen, dass dieser Trend anhalten wird und die Generation unserer
Kinder es schaffen wird – was uns nicht
gelungen ist –, nämlich Brücken zwischen
Europa und Indien zu bauen und frei zu
wählen, wo sie leben und arbeiten will. j
haben keine Schule oder nur eine Grundschule. Die Jugendlichen in den Dörfern
haben deshalb wenige Möglichkeiten für
Weiterbildung. Nach dem Besuch der
Grundschule müssen sie leider mit dem
Lernen aufhören.
Für die Jugendlichen und Erwachsenen
unterhält Chest Abendschulen und Alphabetisierungszentren in den Dörfern.
Für die Jungen wird Berufsausbildung als
Techniker, Elektriker, Schweißer etc. und
für die Mädchen als Krankenschwester,
Grundschullehrerin etc. angeboten.
Chest unterhält auch Internate für die
Schüler/Schülerinnen und Auszubildende. Zur Zeit existieren zwei Häuser für
die Jungen (Martinushaus und Chavara
Nivas) und zwei Häuser für die Mädchen
(Ursulaheim und Franziskushaus). Insgesamt wohnen dort 180 Kinder. Die Finanzierung des Projekts erfolgt vornehmlich
durch Spenden.
Projekt
Kinder-Erziehung für
soziale Veränderung
Pater Jerome Cherussery CMI, der langjährige Seelsorger für Inder in Deutschland, kehrte vor fast 25 Jahren nach Kerala,
Indien, zurück. Er übernahm dann viele
verantwortliche Aufgaben im Rahmen des
Engagements seines Ordens im Bildungsund Sozialbereich und führte sie erfolgreich durch. Seit ein paar Jahren arbeitet
er in einem Missionsgebiet namens Dhule
im Bundesstaat Maharashtra. Dort ist er
tätig im Rahmen eines Projektes namens
C H E S T (Child Education for Social
Transformation, „Kinder-Erziehung zur
sozialen Veränderung“).
Chest ist ein eingetragener Verein. Der
Verein ist auf die Alphabetisierung der
Dorfbevölkerung und die Abschaffung
von Kinderarbeit fokussiert. Viele Dörfer
34 meine welt 2/2011
Kontaktadresse: Pater Jerome Cherussery CMI,
CMI Ashram, New Station Road, 424001 Dhule,
Maharashtra, India oder Pater Pauly Perepaden
CMI, Burg-str.45, 53177 Bonn, Tel:0228-3867409
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Erz ä h l u n g
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Ein Tag aus dem Leben von Schw. Deenamma
E dward N azareth
Ein Vogelkonzert weckte Deenamma aus
dem Schlaf. Sie blieb eine Weile im Bett
sitzen, dann ging sie zum Fenster, zog die
Gardinen zur Seite und schaute in den
Garten draußen. Der Kirschbaum stand
da mit seinen herrlichen Blüten, gebadet
in der Sonne. Für einige Minuten stand sie
da wie fixiert, ihre Augen konnte sie nicht
wegnehmen. Als sie dann zum Bett zurückging mit der Absicht, noch ein bisschen
zu schlafen, sah sie den Wecker auf dem
Nachttisch. „Mein Gott, ist es so spät?“
sagte sie, „warum hat Mathachan mich
nicht geweckt? Normalerweise weckt er
mich, wenn er um halb Fünf zur Arbeit
geht!“ Sie eilte zum Badezimmer für die
Morgentoilette.
Dabei fühlte sie sich schwindelig, vielleicht
weil sie schnell ging. Sie lehnte sich an
die Badezimmertür und atmete tief ein
und aus. Nach einigen Sekunden fühlte
sie sich besser. Das Schwindelgefühl war
verschwunden. Zu sich selbst sprechend
brachte sie das Toilettenritual schnell hinter sich. „Wieder habe ich Schwindel. Es
wird bald sechs Uhr“, sagte sie zu sich,
„und um 6.30 Uhr muss ich anfangen zu
arbeiten!“.
Zurück im Zimmer, öffnete sie den
Schrank und suchte nach der Arbeitskleidung. Sie fand sie nicht. „Ich sehe die
Uniform nicht“, klagte sie „Wer hat sie
weggenommen? Lass Mathachan nach der
Arbeit zurückkommen. Ich hatte ihm wiederholt gesagt, dass er seine Finger nicht
auf meine Kleider legen soll.“
Nach langem Suchen im Schrank fand sie
endlich ihre Schwesterntracht. Blitzschnell
zog sie sie an. Dann schaute sie auf die Uhr.
„Keine Zeit mehr, um zu frühstücken. Es
ist besser, dass ich sofort gehe.“
Deenamma zog eine Strickjacke über
die Uniform und ging schnell zum Krankenhaus. Sie wohnte nicht weit entfernt
vom Krankenhaus in ihrem eigenen Haus.
In 10 Minuten war sie da. In schnellem
Tempo ging sie zur Station. Dort fand sie
Edward Nazareth lebt seit fast 40
Jahren in Deutschland und arbeitet
im pflegerischen Bereich. Als Hobby
schreibt er Erzählungen, basiert auf Erfahrungen als Migrant in Deutschland,
in seiner Muttersprache Malayalam.
Er hat bereits zwei Erzählsammlungen
veröffentlicht. Ein paar seiner Erzählungen sind schon in deutscher Übersetzung in MEINE WELT erschienen. Die
vorliegende Erzählung ist vom Autor
mit Unterstützung von Jose Punnamparambil ins Deutsche übertragen.
zu ihrem Erstaunen ihre Arbeitskollegen
und Kolleginnen beim Kaffeetrinken und
miteinander Reden.
„Was ist hier los?“, sagte sie etwas irritiert.
„Wisst ihr nicht, wie spät es ist? So lange
ich hier die Verantwortung als Stationsschwester trage, geht so was nicht. Bitte
steht sofort auf und fangt an zu arbeiten.“
Daraufhin lachten alle laut im Chor.
Deenamma konnte ihren Ohren nicht
glauben. Sie schaute die Kollegen und
Kolleginnen genau an. Kein Gesicht kam
ihr bekannt vor. Sie strengte sich an. Ist sie
auf der falschen Station? Nein, das kann
nicht sein. Endlich konnte sie ein Gesicht
erkennen, das von Ruth!
Schw. Ruth stand auf, kam zu ihr und sagte
freundlich. „Hallo Schwester Deenamma,
guten Morgen! Bist du wieder da? Warum? Du bist schon im Ruhestand. Warum
musst du noch arbeiten? Du kannst dich
jetzt ausruhen.“
Deenamma wurde es wieder schwindelig.
Schwankend setzte sie sich auf einen Stuhl.
Sie konnte aber genau hören, was Schw.
Ruth den anderen erzählte: „Letztes Mal,
als Deenamma wie heute kam, hatte ich
ihre Tochter angerufen und ihr gesagt, dass
sie im Fall ihrer Mutter bald eine Entscheidung treffen muss. Seit 5 Jahren ist
sie schon Rentnerin. Der Mann ist bereits
vor einem Jahr an einem Herzinfarkt gestorben. Danach hat sich alles bei ihr verschlimmert. Ihr Verhalten zeigt Anfänge
von Demenz, und sie wohnt ganz alleine.
Einen Sohn und eine Tochter hat sie, aber
sie leben in Großstädten weit entfernt von
ihr. Beide brauchen mindesten 2 Stunden,
um hierher zu reisen. Sie sollten endlich zu
der Entscheidung kommt, Schw. Deenamma in einem Altenheim unterzubringen.
In der letzten Zeit kommt sie häufiger
früh morgens hierher, um zu arbeiten. 30
Jahre hat sie hier gearbeitet, davon die
letzten 10 Jahre als Stationsschwester. Sie
hat hart gearbeitet, mit Leib und Seele
war sie dabei. Und seht, welches Schicksal
ihr jetzt droht! Auf jeden Fall wird sie uns
langsam ein Problem. Passt auf sie auf, ich
versuche jetzt, ihre Tochter anzurufen.“
Deenamma saß da, stillschweigend. Ihr
flossen die Tränen. Noch einmal was falsch
gemacht! Konnte sich nicht erinnern, dass
sie schon im Ruhestand ist. Das letzte Mal
kam die Tochter und schimpfte sie reichlich aus. Sie wollte Deenamma sofort in
ein Altenheim einliefern. Der Sohn aber
war dagegen. Sie soll noch eine Weile zu
Hause bleiben, hatte er damals gesagt.
Und nun, was wird passieren, wenn die
Tochter kommt?
Weinend ging Deenamma zurück nach
Hause. Sie machte die Tür auf und setzte
sich auf den Sessel im Wohnzimmer. Sie
betrachtete das Foto von Mathachan im
meine welt 2/2011 35
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5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
Regal. Es war ein Farbfoto, aufgenommen
zwei Jahre nach ihrer Hochzeit. Daneben
war noch ein Foto mit zwei Kindern acht
Jahre nach ihrer Hochzeit. Am Ende der
Reihe war ein Porträt-Foto von Mathachan. Bitterlich weinend fing sie an zu
klagen:
„Mein Mathachan, warum hast du mich
alleine gelassen und bist weggegangen?
Schau mal her, ich bin jetzt eine Verrückte! Du hattest immer gesagt, dass ich
niemals in ein Altenheim komme. Und
dann hast du mich alleine gelassen und
bist weggegangen. Im Ruhestand werden
wir das Leben richtig genießen, hattest du
mir versprochen. Und dann hast du mich
verlassen! Du liebt mich nicht, deshalb
bist du fort.“
In der letzten Zeit saß sie öfter im Sessel
und sprach alle ihre Sorgen vor dem Bild
von Mathachan aus. Nachdem sie alles ausgesprochen hatte, fühlte sie sich erleichtert
und schlief danach ein. In der letzten Zeit
kam sie viele Nächte nicht zum Schlafen.
Auch kümmerte sie sich wenig um das
Essen. Den Tod ihres geliebten Mathachan
konnte sie nicht verkraften. Dauerschwin-
del und starke Rückenschmerzen machen
ihr zu schaffen. Die meiste Zeit verbrachte
sie liegend im Wohnzimmersessel.
Als die Tochter kam und nach ihr rief, öffnete sie die Augen. Die Tochter fing sofort
an zu schimpfen : „Mama, du bist wieder
ins Krankenhaus, nicht wahr? Was kann
man machen, wenn du wiederholt so was
machst. Ich und mein Bruder wollen dich
nicht ins Altenheim bringen. Aber wenn
du so weitermachst, welche Alternative
haben wir dann noch? Wir beide können
unsere Jobs nicht aufgeben und bei dir
wohnen, um uns um dich zu kümmern. Du
schaffst es alleine nicht mehr. Du vergisst
auch viel. Isst auch nicht regelmäßig. Es
gibt nur einen Ausweg: Du musst in ein
Altenheim. Ich habe schon einen Platz in
einem guten Altenheim in meiner Nähe
reserviert. Dort kann ich dich öfter besuchen und mich um dich kümmern. Was
sagst du dazu, Mama?“
Deenamma hörte aufmerksam zu, sagte
aber nichts. Sie wusste schon, dass es nichts
nutzt, dagegen zu sein, wenn die Tochter
schon die Entscheidung getroffen hat. Sie
hat ein unheimlich starkes Durchsetzungs-
ak t u e l l
Indiens Atomkraftwerk
gegen die Bevölkerung
Die Akteure und das Projekt
Der französische Kernkraft-Konzert AREVA, mit 9,5 Milliarden Euro Jahresumsatz
der größte Atomkonzern der Welt, baut
im Auftrag der staatlichen Nuclear Power Corporation India im Dorf Maban,
nahe Jaitapur, Bundesstaat Maharashtra,
einen Druckwasserreaktor (RPR). Jaitapur liegt etwa 300 Kilometer südlich der
Millionenstadt Mumbai an der Arabischen
See. Indien will zur ökonomischen Großmacht aufsteigen, benötigt dafür aber entsprechend viel Energie. Bis 2032 soll die
Kernkraftwerkleistung von derzeit knapp
fünf auf rund 64 Gigawatt steigen. Derzeit
betreibt Indien landesweit 20 Reaktoren
und gehört damit schon jetzt zu den sechs
größten Atomenergie-Nationen.
36 meine welt 2/2011
Der Widerstand der Bevölkerung
Die Menschen der Region sind davon
überzeugt, dass das AKW nichts mit ihren Bedürfnissen zu tun hat und überdies
ein nicht vertretbares Risiko darstellt. Sie
befürchten, dass die Gefahr von radioaktiven Emissionen bereits im Normalbetrieb
besteht und ein katastrophaler Atomunfall
wie in Fukushima nicht auszuschließen ist.
Mehr als 95 Prozent der Bevölkerung lehnt
die Entschädigungsangebote der Regierung für ihr Land ab, obwohl die Summe
inzwischen auf umgerechnet 40.000 Euro
pro Hektar versiebenfacht wurde. Am 18.
April 2011 wurde ein Fischer während einer Demonstration von Polizeikräften erschossen, acht weitere Menschen verletzt.
Ende April meldete sich Erzbischof Alwyn
Barreto von Sindhudurg zu Wort: „Wir
wollen nicht, dass in Indien ein Desaster
wie in Tschernobyl geschieht oder sich
eine Krise wie in Fukushima ereignet.“
(Quelle: Kontinente, Juli-August 2011)
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vermögen! Der Sohn ist anders. Er liebt
Mama sehr und kann nicht zusehen, wenn
Mama traurig wird. Aber es ist ziemlich
sicher, dass die Beiden sich beraten und die
Entscheidung zusammen getroffen haben.
Vielleicht haben sie auch recht. In diesem
Land haben die Kinder keine Zeit, sich
um die alt werdenden Eltern zu kümmern.
Wenn die Eltern nicht in der Lage sind,
sich selbst zu versorgen, gehören sie in
ein Altenheim! Ich werde den Rest des
Lebens in einem Heim verbringen.
Deenamma weiß schon, wie der Alltag in
einem Altenheim sein wird. Eine Bekannte, die in einem Heim wohnt, hatte ihr
das alles erzählt. Man kann nicht so lange
schlafen oder so spät aufstehen, wie man
will. Da kommen Pflegekräfte in weißer
Uniform früh morgens und machen das
Licht an. Man wird einfach geweckt. Die
warme Decke wird weggenommen und das
Nachthemd ausgezogen. Ein lauwarmer
Waschlappen wandert vom Gesicht zum
Fuß und dann wird schnell abgetrocknet.
Dabei schaut die Schwester oder der Pfleger ständig auf die Uhr. Schnell wird man
mit dem, was zur Hand ist, angezogen.
Dann wird man in das Zimmer gebracht,
in dem die anderen Alten sitzen. „Guten
Morgen“, werden einige mechanisch sagen,
einige sitzen still und gucken geradeaus
und einige dösen friedlich. Um 8.30 Uhr ist
Frühstück, um 12.00 Uhr Mittagessen und
um 18.30 Uhr das Abendbrot. Um 19.30
Uhr geht man dann ins Bett. Deenamma
war trostlos traurig, als sie sich so ein Leben
vorstellte. Die Einengung des ganzen Lebens auf das Schlafzimmer und den Speisesaal! Und das ewige Schauen durch das
Fenster voll Sehnscht nach den Kindern,
Verwandten oder Freunden!! Lieber Gott,
lass mich dort nicht lange bleiben, betete
Deenamma heimlich. Lass mich schnell
dorthin bringen, wo Mathachan verweilt.
Sie schaute wieder das Foto von Mathachan an und klagte: Du Räuber, du hast
dich rechtzeitig gerettet. Eigentlich hast
du mich reingelegt, indem du in meiner
Anwesenheit den Kindern nahegelegt
hattest, mich niemals in ein Altenheim zu
bringen. Jetzt wartet die Tochter auf mich,
um mich in das Altenheim zu fahren. Also
fahre ich halt mit, habe ich eine andere
Wahl? j
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I n t e rvi e w Ak t u e l l
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„Die Inderinnen suchten Gesellschaft und waren
immer zuvorkommender und fröhlicher“
S chw . U te N edden
Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts kamen ca. 60 junge Mädchen
aus dem südindischen Bundesstaat
Kerala nach Bonn, um in den Universitätskliniken als Krankenschwester
ausgebildet zu werden. Sie kamen im
Rahmen einer Vereinbarung zwischen
Pfarrer Hubert Debatin von Baden
und Herrn Schäfermeier, Verwaltungsdirektor der Uni-Kliniken in BonnVenusberg. Pfarrer Debatin hatte mit
Erzbischof Mar Gregorius der Syromalankararitus der katholischen Kirche
in Kerala ein Projekt konzipiert, bei
dem junge Mädchen aus christilichen
Familien zur Ausbildung im krankenpflegerischen Bereich nach Deutschland gebracht werden. Diese Mädchen
bekommen eine 3-jährige Ausbildung
in verschiedenen Krankenhäusern/Kliniken in Deutschland. Später sollten sie
alle in eine Schwesterngemeinschaft
namens „Nirmala Schwestern“ eingebunden werden. Nach der Ausbildung
werden sie nach Indien zurückkehren
oder hier bleiben, wie die Einzelne dies
entscheidet oder die Situation dies
erlaubt. Die Idee war, dem wachsenden
Mangel an Pflegekräften in deutschen
Krankenhäusern auf diese Weise konstruktiv zu begegnen und den indischen
Mädchen die Chancen einer Berufsausbildung anzubieten, was eventuell zur
Verbesserung der Lebensbedingungen
ihrer Familien und Verwandten in Indien führen wird.
In dem mit dem Deutschen Roten
Kreuz vereinbarten Vertrag stand,
dass die Inderinnen für 5 Jahre nach
Deutschland kommen, davon wurde
ein Jahr als Vorschulzeit betrachtet,
drei Jahre für die Ausbildung und ein
Schw. Ute Nedden im Gespräch mit indischen Krankenpflegeschülerinnen 1966-1967.
Jahr für die Tätigkeit als ausgebildete
Krankenschwester. Eine andere Vertragsbedingung war, dass die Mädchen
in Gruppen zusammenbleiben und
eine Schwester zur Betreuung erhalten. Die Rote Kreuz- Schwester Ute
Nedden übernahm damals die Verantwortung für die Betreuung der Inderinnen. Nach der Ausbildung blieben die
meisten dieser Inderinnen viele Jahre
als Krankenschwester in den Kliniken,
und während dieser Zeit war Schw. Ute
Nedden als Oberschwester ihre beliebte Bezugperson. Heute lebt Schw.
Nedden im Ruhestand in Bonn. Ich traf
sie Anfang August in ihrer Wohnung im
Roten Kreuz Komplex, Bonn, und führte das folgende Gespräch.
J ose P unnamparambil
Meine Welt: Die meisten der indischen
Krankenpflegeschülerinnen kamen nach
Deutschland in den 60er und Anfang der
70er Jahren des letzten Jahrhunderts. In den
Universitätskliniken auf dem Venusberg,
Bonn, gab es damals eine große Gruppe
von fast 60 indischen Schülerinnen. Als
Rote Kreuz Schwester waren Sie damals die
Betreuerin dieser Personengruppe. Welche
Erinnerungen haben Sie aus dieser Zeit?
Wie verlief das Einleben indischer Schülerinnen in einer total fremden deutschen
Umgebung?
Schw. Nedden: Das war eine Zeit, in der
kaum Ausländer da waren. Für die Deutschen machten die andersartigen indischen
Mädchen ein faszinierendes Bild. Mit ihrer
enormen Ausstrahlung gewannen sie die
Herzen aller sehr schnell. Für die Mädchen war alles total fremd. Vieles verstanden sie nicht, vieles passte nicht zu ihrer
Einstellung. Dass sie in der Vorschulzeit
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i 5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
Eine Schülerin im Dienst.
nur putzen und ähnliche manuelle Arbeit
leisten müssen, war für sie sehr schwer zu
verstehen. Sie konnten nicht glauben, dass
der hochangesehene Verwaltungsdirektor
der Kliniken zusammen mit seiner Frau im
Garten arbeitet! Die Kommunikation mit
den Deutschen war auch schwierig wegen
fehlender Sprachkenntnisse. Es war mir
auffällig, dass sie grelle Farben liebten und
alle Sachen sammelten, die für mich Kitsch
waren. Sie fühlten sich wohl in Gruppen
und vermieden, alleine zu sein. Die koreanischen Schülerinnen waren etwas anders:
Sie waren ehrgeiziger und individualistischer. Die Inderinnen suchten Gesellschaft
und waren immer zuvorkommender und
fröhlicher. Der Chefarzt der Psychiatrie
sagte immer: Schicken Sie die Inderinnen zu den Patienten in der Psychiatrie,
sie werden schnell ruhiger. Ich war sehr
beeindruckt von ihrer Gastfreundschaft.
Bischöfe und Priester kamen aus Indien
auf Besuch und wurden von ihnen herzlich
empfangen und bewirtet. Ich kann Ihnen
sagen, dass ich von den indischen Mädchen
sehr viel gelernt habe.
Meine Welt: Später heirateten viele dieser Schülerinnen in ihrer Heimat Kerala
und brachten ihre Ehemänner mit nach
Deutschland. Welche Probleme hatte dieser Personenkreis bei der Gründung einer
Familie in Deutschland?
38 meine welt 2/2011
Schw. Nedden: Ja, die
meisten dieser Schülerinnen sind nach der
Ausbildung in Deutschland geblieben. Einige
gingen zurück nach
Indien, einige wenige
heirateten Deutsche.
Aber die meisten gingen nach Kerala und
heirateten dort Männer, die bereits einen
Beruf hatten. Als
die Ehemänner nach
Deutschland kamen,
mussten sie zu Hause
bleiben, da sie für vier
Jahre keine Arbeitserlaubnis bekamen. Die
meisten dieser Ehemänner waren nicht
geneigt, eine Krankenpflegeausbildung
zu machen. Sie kümmerten sich aber um
die Kinder und den Haushalt. Die Mütter
haben das Geld verdient. Einige Familien brachten die Kinder nach Indien und
haben sie dort eingeschult. In solchen
Fällen wuchsen die Kinder meist im Internat auf. Ich war erstaunt darüber, mit
wie viel Einsatz die indischen Eltern sich
darum bemüht haben, den Kindern eine
gute Schulbildung und später ein akademisches Studium zu ermöglichen. So sind
viele Kinder der damaligen Krankenpflegeschülerinnen heute Ärzte, Ingenieure,
Betriebswirte etc. etc.
Meine Welt: Waren nach Ihrer Meinung
die Inderinnen ausreichend vorbereitet, um
eine pflegerische Tätigkeit in Deutschland
zu übernehmen?
Schw. Nedden: Für die Mädchen war alles
total fremd in Deutschland. Ihre Deutschkenntnis war auch sehr dürftig. Sie hatten
eigentlich keine Vorbereitung in Indien auf
diesen Einsatz in Deutschland bekommen.
Die Situation war fast katastrophal. Dann
übernahmen die deutschen Rote Kreuz
Schwestern die Verantwortung für ihre
Betreuung.
Meine Welt: Warum zögern die Krankenhäuser in Deutschland, trotz großen
Bedarfs an Pflegekräften, indische Kran-
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kenschwestern hierher zu holen?
Schw. Nedden: Die Universitätskliniken
in Bonn haben großen Bedarf an Pflegekräften, und sie würden gerne indische
Krankenschwestern einstellen, da ihre Erfahrungen mit ihnen sehr positiv waren.
Leider haben wir seit 1973 einen Anwerbestopp und dieser besteht immer noch.
Meine Welt: Welche Bilanz ziehen Sie heute
über den Einsatz indischer Krankenpflegekräfte in Deutschland?
Schw. Nedden: Die Inderinnen haben gute
Dienste geleistet. Ihre Art und Weise, mit
Patienten umzugehen, war hoch geschätzt.
Sie waren nicht sehr geneigt, höhere Tätigkeiten wie Stationsschwester etc. zu
übernehmen. Die Zeit damals war eine
total andere. Ausländer waren sehr selten
in den Kliniken und ihrer Umgebung. Wir
haben mit den indischen Schwestern keine negativen Erfahrungen gemacht. Die
Deutschen haben von ihrer Anwesenheit
sehr profitiert. Heute sind sie alle hier total
integriert. Fast alle ihre Kinder haben eine
akademische Laufbahn. Mit Kindern, Enkelkindern und Kirchengemeinden führen
sie heute ein Leben im Ruhestand. j
Essensmüll –
unfassbar!
Während eine Milliarde Menschen hungern, landen in den entwickelten Ländern
Lebensmittel, die noch genießbar sind,
in großem Maßstab im Abfall. Vom Essensmüll der USA und Europas könnten
die Hungernden der Erde siebenmal satt
werden.
Die 80 Kilogramm, die der durchschnittliche Deutsche jährlich wegwirft, haben
einen Wert von über 300 Euro. 30 Prozent
der verpackten Lebensmittel werden gar
nicht erst geöffnet. Die meisten Verbraucher missverstehen auch das Mindesthaltbarkeitsdatum auf der Packung: Anders als
das Verbrauchsdatum etwa auf Fleischprodukten sagt es nichts darüber aus, ob das
Lebensmittel noch genießbar ist.
(Quelle: DIE ZEIT, 15.9.2011)
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I n t e rvi e w Ak t u e l l
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50 Jahre indische Krankenpflegekräfte
in Deutschland
Migrationshintergründe – Anfangsschwierigkeiten –
Familiengründung und Integration ...
eine Bilanz
Die ersten Pflegeschülerinnen und bereits ausgebildeten Krankenschwestern kamen Anfang der 60er Jahre des letzten Jahrhunderts aus Indien nach Deutschland.
Nachdem die Bundesregierung 1973 einen Anwerbestopp für Pflegekräfte aus asiatischen Ländern verhängte, kamen nur noch wenige aus Indien, um hier als Pfleger oder Pflegerin ausgebildet zu werden. Die meisten der indischen Pflegekräfte
sind heute bereits im Ruhestand oder am Ende ihres Berufslebens. Es ist deshalb
Zeit, auf die vergangenen Jahre zurückzublicken und Bilanz zu ziehen.
Aus diesem Anlass haben wir einige der hier lebenden indischen Krankenschwestern/Krankenpfleger über ihre Anfangs- und Eingliederungserfahrungen, über ihr
Berufs- und Familienleben und über das, was sie in den Jahren des Migrantendaseins in Deutschland erreicht haben, gefragt. Ihre Antworten drucken wir nachfolgend unverkürzt ab. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil.
D ie R edaktion
Meine Welt: Unter welchen Umständen
kamst du nach Deutschland, um hier als
Krankenpfleger/Krankenpflegerin zu arbeiten oder eine Krankenpflegeausbildung zu
absolvieren? Beschreibe deine Beweggründe. Welche Erinnerungen hast du heute an
die Anfangszeit?
Ciciliamma Thundiyil: Mein Vater war ein
erfolgreicher Geschäftsmann in Kallara,
einem Dorf nicht weit von Kottayam in
Kerala. Wir waren sieben Kinder, sechs
Mädchen und ein Junge. Ich war das
jüngste Kind und hatte dadurch anders
als meine Schwestern, die früh heirateten,
die Möglichkeit, eine umfassende Schulausbildung zu erhalten. Als mein Vater
sich aus dem Geschäftsleben zurückzog
und die Verantwortung an den einzigen
Sohn weitergab, entwickelte sich das Geschäft schlecht. Als ich am Ende meiner
Collegeausbildung in Indien stand, hatte
sich die finanzielle Situation der Familie
extrem verschlechtert und auch die Möglichkeiten, mit meiner Ausbildung genügend Geld in Indien zu verdienen, waren
schlecht. Daher riet mir mein Onkel, der
als katholischer Priester in Deutschland
lebte, ihm nach meinem Collegeabschluss
zu folgen. In Deutschland würde ich die
Möglichkeit erhalten, eine Ausbildung als
Krankenschwester zu machen und auch
einige weitere Jahre in Deutschland zu
arbeiten. Sowohl der Wunsch, selber Geld
zu verdienen und meine Familie in Indien
finanziell unterstützen zu können, als auch
der Ruf Deutschlands als Land der klugen
Köpfe ließen in mir den Entschluss reifen,
dem Rat meines Onkels zu folgen, ohne
genau zu überlegen, was es bedeutet, die
Familie und Heimat zu verlassen und in
ein anderes Land mit einer sehr anderen
Kultur auszuwandern.
Mercy Thadathil: Ich war ein naives und
schüchternes Mädchen, das behütet in
Kerala aufgewachsen ist und nicht mal
im Geringsten daran gedacht hat, irgendwann alleine in ein ganz fremdes Land zu
ziehen, das später meine neue Heimat wird.
Aber es kam in meinem Leben immer
alles anders, als ich es mir vorgestellt habe,
und immer wendete es sich zum Guten!
Ich bin in Mookanoor (Angamaly) als
viertes von neun Kindern geboren und
dort zur Schule gegangen. Ich habe Geschichte und Englisch am Sree Sankara
College Kalady studiert. 1972, nach meiner
letzten Klausur, habe ich direkt eine Stelle
als Referendarin an einer High School in
Thripunithara bekommen. Lehrerin zu sein
war mein Traumberuf, und ich freute mich
über das unerwartet schnelle Angebot sehr.
Hier verstand ich schon, dass Gott immer
was für mich bereit hielt. So fing ich mit
20 Jahren zu unterrichten an und mochte
die neue Stadt sehr. Jeden Tag wurde ich
von den schönen Gebetschören aus den
hinduistischen Tempeln geweckt. Als das
Schuljahr beendet war, holte mich mein
Vater ab und er fragte mich am selben
Abend, ob ich nicht nach Deutschland
wolle. Meine älteste Schwester Leelamma
lebte schon in Deutschland, meine jüngere
Schwester Sheela sollte ihr folgen. Mein
Vater arrangierte ein Visum für sie, erst da
erfuhr er, dass man mindestens 18 Jahre
sein muss, um eine Ausbildung in Deutschland anzufangen, und Sheela war erst 15.
Da mein Vater schon alle Vorbereitungen
getroffen hatte und auch schon das Geld
für den Flug etc. zusammen hatte, wollte
er gern eine andere Tochter nach Deutschland schicken. Meine anderen beiden älteren Schwestern waren Ordensschwestern
und lebten in Klöstern, also kam nur noch
ich in Frage. Naja, ich wollte erst nicht so
recht, denn ich war mit meinem Leben
hier zufrieden. Deutschland kannte ich von
den Geschichtsbüchern als Land, welches
die Weltkriege begonnen hat und in dem
Hitleranhänger lebten. Aber Leelamma
hatte uns auch Bilder geschickt, auf denen
ein anderes Deutschland zu sehen war. Im
Sommer stand sie vor einem paradiesisch
schönen Blumenteppich und im Winter
in einer traumhaften Schneelandschaft.
Zwar sah sie in meinen Augen lustig verkleidet wie ein Astronaut aus, aber die
Bilder faszinierten mich. (Später stellt sich
heraus, dass das Astronautenkostüm ein
meine welt 2/2011 39
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5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
Schneeanzug ist, den ich später bei dem
Schnee im Sauerland noch oft benutzt
habe.) Da dachte ich: Gut, nutze ich die
Chance, um ein neues Land und die Kultur
dort kennen zu lernen. Es soll ja auch ein
Wirtschaftswunderland sein.
So landete ich im November 1973 auf
deutschem Boden. Zuerst zog ich zu
meiner Schwester nach Meschede, aber
wir konnten nur zwei Monat zusammen
bleiben, danach bekam sie eine Anstellung
in Düsseldorf und zog weg. Sie hat mich
aber gut vorbereitet und mich mit allem
vertraut gemacht. Sie hatte mir auch ein
Buch geschenkt „German made simple“, das wurde zu meiner Bibel, mit der
ich Deutsch lernte. Ich blieb auch nicht
lange allein. Es kamen noch drei weitere
Krankenschwesterschülerinnen, Ammini,
Molly und Baby aus Kerala in meine Ausbildungsschule in Meschede. Wir lebten
zusammen und machten alles gemeinsam:
lernen, arbeiten, kochen, feiern, einfach
alles. Ich erinnere mich mit Freuden an
die Zeiten zurück. Es war eine sehr schöne und aufregende Zeit mit vielen neuen
Freunden, neuen Herausforderungen und
kleinen Touren in Europa. Immer waren
wir eine große Truppe Mädels aus Kerala
in unseren Saris, weit und breit war keine Spur von Ausländerfeindlichkeit und
Missachtung uns gegenüber zu spüren. Im
Gegenteil, alle waren sehr freundlich und
zuvorkommend.
Fredeena Nazareth: Ich bin Fredeena
Nazareth (geb. Janappan) und kam nach
Deutschland im Jahr 1965. Meine Eltern
Janappan and Grace hatten vier Kinder
und ich war das zweite Kind. Ich hatte zwei
Schwestern und einen Bruder. Als ich mein
11. Schuljahr abgeschlossen hatte, hörte
ich, dass der Bischof von Kollam, Kerala,
einige junge Mädchen zur Ausbildung als
Krankenschwester nach Deutschland schicken möchte. So habe ich mich dafür beworben. Er hatte bereits drei solche Gruppen nach Deutschland geschickt. Ich wurde
in die 4. Gruppe aufgenommen. Wir waren
in der Gruppe 10 Mädchen und bekamen
vor der Abreise 10 Monate lang Deuschunterricht. Die Priester P. Thekkevila und
P. Kayavil haben uns deutsche Grammatik
und 5.000 deutsche Wörter beigebracht.
40 meine welt 2/2011
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dazu noch sehr strenge Nonnen! Eine
einzige Person im Speisesaal war sehr
nett zu uns, sie war wie eine Mutter. Sie
hieß Frau Jembusch. Als sie gesehen hat,
dass wir das Essen auf dem Tisch nicht
essen konnten, hat sie heimlich für uns
Bratkartoffeln und Rührei gemacht. Dafür
waren wir ihr sehr dankbar. Von dieser Zeit
haben wir nur schlechte Erinnerungen.
Die zuständigen Ordenschwestern waren
generell sehr streng, aber zwischenzeitlich,
je nach ihrer Laune, sehr nett und lieb.
Uns war nicht erlaubt, ohne Begleitung
der zuständigen Nonnen alleine auf die
Straße zu gehen.
Ciciliamma Thundiyil: Geboren in Kallara,
Kerala, Indien. Nach Ausbildung als Grund­
schul­lehrerin in Indien kam sie 1968 nach
Deutschland. Ausbildung zur Krankenschwester.
Weiterbildung als Stationsleiterin. Verheiratet mit
James Thundiyil. Drei Kinder.
Damit konnten wir uns einigermaßen auf
Deutsch verständigen.Trotzdem war es uns
nicht leicht, die Sprache in Deutschland
weiter zu vervollkommen.
Das erste halbe Jahr waren wir Vorschülerinnen, gleichzeitig lernten wir auch die
deutsche Sprache. Er war nicht leicht für
uns, während der Vorschülerinnenzeit alles
mitzumachen. Normalerweise heißt Vorschule Vorbereitung für die Ausbildung,
aber in unserem Fall war es nicht so. Wir
hatten die schwerste und niedrigste Arbeit
zu erledigen. Wir mussten den ganzen Tag
die Toilette sauber mache, den Flur putzen etc. Die Anordnungen kamen von den
Nonnen, die für uns zuständig waren. Nach
der Arbeit saßen wir irgendwo zusammen
und haben uns ausgeweint, eine hat die
andere getröstet. Die Nonnen waren sehr
streng mit uns. Alles Essen auf dem Tisch
mussten wir aufessen, sonst gab es Ärger
und Strafe. Der Käse und die Wurst auf
dem Tisch verbreiteten einen Gestank, den
wir nicht ertragen konnten. Zum ersten
Mal im Leben waren wir in einem fremden
Land, in einer fremden Umgebung mit
fremden Menschen und mussten Dinge
essen, die uns total fremd waren. Und
Elsy Vadakkunchary: Im Jahre 1969 habe
ich meinen Schulabschluss namens S.S.L.C.
gemacht, und dann erhob sich die Frage:
Was mache ich weiter? Zu der Zeit arbeitete meine Tante – eine Ordensschwester
– in Deutschland als Krankenschwester.
Ich dachte, dass die Krankenpflege auch
gut für mich sei. Als meine Tante dies hörte, schlug sie vor, dass sie für mich einen
Ausbildungsplatz in Deutschland besorgt.
Zunächst war mein Vater gegen diese Idee.
Er hatte zwei Gründe dagegen. Erstens
war Deutschland weit weg von der Heimat und er wollte mich nicht so weit weg
schicken. Zweitens hatte der Beruf der
Krankenpflege zur damaligen Zeit keinen
besonders guten Ruf.
Meine Tante hat ihn überredet, und zum
Schluss war er auch einverstanden. Den
Ausbildungsplatz in der Krankenpflege
habe ich in Saarbrücken erhalten.Anreisen
konnte ich jedoch noch nicht, weil ich keine
18 Jahre alt war. Die Wartezeit habe ich
mit einem Deutschkurs in einem Kloster
in Aluva (Kerala) überbrückt. Dort war
eine Ordensschwester, die einige Jahre in
Deutschland gearbeitet hatte und dann
nach Indien zurückgekehrt war. Sie brachte
mir die Grundkenntnisse der Sprache und
allgemeine Verhaltensregeln für Deutschland bei.
Endlich war es soweit, ich konnte nach
Deutschland reisen. Am 11. Januar 1972
flog ich in Richtung Frankfurt. Ich war
ganz allein auf der Reise. Morgens um 8
Uhr sollte der Flug in Deutschland landen.
Die Schwester Oberin und zwei weitere
Mädchen aus Kerala warteten am Frank-
i
furter Flughafen auf mich. Wegen starken
Schneefalls konnte das Flugzeug nicht in
Frankfurt landen und wurde eine Stunde später nach London umgeleitet. Der
Anschlussflug von Großbritannien nach
Deutschland startete erst um 20 Uhr. Ich
konnte niemanden anrufen, Handys gab es
auch nicht zu dieser Zeit.Als ich um 22 Uhr
in Frankfurt landete, waren die Schwester
Oberin und die zwei Mädchen noch da.
Mit dem Auto sind wir nach Saarbrücken
gefahren. Unterwegs haben die Mädchen
erzählt, dass sie von morgens um 8 Uhr
bis abends um 22 Uhr am Flughafen gewartet hatten. Als ich abends noch nicht
angekommen war, wollte die Schwester
Oberin ein Telegramm nach Indien senden
mit dem Text „Elsy nicht angekommen“.
Als wir in der späten Nacht in Saarbrücken
ankamen, aßen wir Reis mit indischem
Curry. Das hat mich sehr gefreut. Dort
waren auch einige indische Ordensschwestern und die beiden indischen Mädchen.
Alle waren sehr nett zu mir.
Am nächsten Morgen fuhr die Schwester
Oberin mit mir in die Stadt und besorgte
westliche Kleidung. Sie kümmerte sich um
jede Kleinigkeit, war mir wie eine Mutter.
Zwei Tage später habe ich angefangen, in
der Volkshochschule einen Deutschkurs
zu besuchen. Der Unterricht fand abends
statt. Die Schwester Oberin brachte mich
immer hin und holte mich anschließend ab.
Nach einigen Wochen habe ich ihr gesagt,
dass ich alleine mit dem Bus fahren könne.
Darauf sagte die Oberin: „In Indien laufen
die Mädchen abends draußen auch nicht
alleine herum.“
Bereits nach einer Woche fing ich an, als
Vorschülerin im Krankenhaus zu arbeiten.
Die dortige Stationsschwester war eine
indische Ordensschwester. Meine Sprachkenntnisse waren sehr gering. Trotzdem
waren die Stationsschwester und die
anderen Arbeitskollegen sehr nett und
geduldig mit mir.
Inzwischen lebe und arbeite ich seit knapp
40 Jahren in Deutschland. Die ersten Tage
verbinde ich mit großer Dankbarkeit in
meiner Erinnerung.
Joseph Kurumundayil: Ende der sechziger Jahre habe ich meinen High SchoolAbschluss absolviert.
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
Mercy Thadathil: Geboren in Mookannoor,
Kerala, Indien. Bachelorstudium für Lehramt in
Kerala. Ankunft in Deutschland 1973.
Anschließend habe ich mich für ein College Studium in Palai eingeschrieben. Zu
der damaligen Zeit hatten die Kinder aus
Bauernfamilien es schwer, ein College Studium zu finanzieren und später einen gut
bezahlten Job zu bekommen, da entweder
eine große Summe als Kaution (Donation)
oder einflussreiche Personen nötig waren.
Beides war in meinem Fall nicht vorhanden. Jedoch war die katholische Pfarrgemeinde für mich wegweisend. Meine Großtante, die als Ordensschwester tätig war,
hatte mich aus unserer Verwandtschaft
für eine Krankenpflege- Ausbildung in
Deutschland ausgewählt, damit ich dann
auch meine Verwandten bei ihren Bildungswünschen unterstützen kann. Mit
dieser Aussicht habe ich alles auf eine
Karte gesetzt und belegte Deutsch als
Zweitsprache während meines Studiums,
welches damals am St. Thomas College,
Palai, angeboten wurde. Nach zweieinhalb
Jahren Bangen und Warten habe ich die
Zulassung für die Krankenpflegeausbildung in Deutschland erhalten und mein
Visum wurde genehmigt.
Meine Anfangszeit in Deutschland war
vor allem geprägt durch Heimweh, berechtigte Unsicherheit, Verständigungsprobleme, Hilflosigkeit, Klimaumstellung
und Probleme mit den Essgewohnheiten.
Meine Welt: War die Krankenpflegeausbildung damals für dich schwer? Waren deine
Sprachkenntnisse gut genug, um Lerninhalte zu verstehen und mit den Patienten
zu kommunizieren?
Ciciliamma: Für mich begann die Zeit in
Deutschland mit einem sechsmonatigen
Pflegepraktikum, welches ich vor der eigentlichen Ausbildung absolvieren musste.
Ich hatte große Schwierigkeiten aufgrund
meiner nicht vorhandenen Deutschkenntnisse. Aber sowohl ein Sprachkurs als auch
die Kontakte zu Patienten und Kollegen
haben mir die deutsche Sprache näher
gebracht. 1969 fing ich mit der richtigen
Ausbildung zur Krankenschwester an.
Dank des vorangegangenen Praktikums
fiel es mir nicht sonderlich schwer, den
komplexen medizinischen Lehrinhalten zu
folgen. Befreundete deutsche Schwesternschülerinnen unterstützen uns mit völliger
Selbstverständlichkeit beim Lernen. Und
auch die ausbildenden Ärzte und Schulschwestern hatten viel Geduld und nahmen
auf unsere lückenhaften Deutschkenntnisse Rücksicht.
Mercy: Eigentlich war ich nicht an einer
Krankenpflegeausbildung interessiert.
Mein Vater hatte mir auch Mut gemacht,
Medizin zu studieren. Die Oberin, die ich
hier kennen lernte, riet mir, erst eine Ausbildung zu machen und später zu studieren. Da ich nun viele neue Freunde fand,
die alle die Ausbildung anfingen, ging ich
einfach mit dem Rudel. Ich erinnere mich
auch gerne an die lieben und hilfsbereiten
Menschen in Meschede zurück, ob es beim
Einkaufen war oder bei der Bahnfahrt,
überall wurde mir geholfen. Es war zwar
ungewohnt kalt im Sauerland, aber die
Menschen waren warm und freundlich. Ich
denke auch immer noch gern mit Dankbarkeit an unsere Leiterin Schwester Renate
zurück. Als die erste Prüfung anstand, kam
sie heimlich zu uns und hat uns die Fragen
schon durchgegeben. Sie meinte, wir sollten bloß nicht an der Sprache scheitern und
die Antworten so gut es geht vorbereiten.
Diese Prüfung bestanden als einzig mit der
Note „1+“ die vier indischen Schülerinnen.
Da wusste Schwester Renate, dass eine so
große Hilfe für uns nicht mehr nötig war.
Die restlichen Prüfungen bestand ich zwar
meine welt 2/2011 41
i
5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
nicht mehr mit 1+, aber ohne Vorsagen
mit gutem Abschluss.
Ich erinnere mich noch an eine besondere Betriebsfeier. Bei der Damenwahl
suchte der Chefarzt unter allen Damen
mich aus. Ich fühlte mich wie Cinderella
geehrt und akzeptiert. Dass der Chefarzt
ausgerechnet eine ausländische Schwesternschülerin zum Tanz aufforderte, fand
ich eine tolle Auszeichnung, und es war
eine zauberhafte Feier.
Ammini und ich waren ganz begeistert
von dem Tanzabend und wollten mehr von
der deutschen Kultur erfahren. Deshalb
nahmen wir Tanzunterricht, welches uns
sehr Spaß gemacht hat. Später als mein
Mann kam, nahmen wir weiter Tanzunterricht als Paar, sogar in Rock’n’Roll. Die
deutschen Tänze und Lieder haben mir
immer riesigen Spaß gemacht.
Fredeena: Wegen fehlender Sprachkenntnisse war die Krankenpflegeausbildung
damals sehr schwer. Es war in der ersten
Zeit nicht leicht, die Lerninhalte zu verstehen. Zum Glück bestanden wir alle 10
die Zwischenprüfung. Groß war unsere
Freude! Da das schwierigste Jahr vorbei
war, haben wir uns entschlossen, fleißig zu
lernen, um unser Ziel zu erreichen.
Unsere deutschen Kolleginnen waren sehr
nett zu uns und haben uns sehr viel geholfen. Mit den Patienten zu kommunizieren
war nicht so schwer, da wir dazu die Hände
und Füße reichlich benutzt haben.
Elsy: Nach acht Monaten in Deutschland,
in denen ich als Vorschülerin arbeitete
und die Sprachschule besuchte, fing ich
die Krankenpflegeausbildung an. Die
Sprache fiel mir weiterhin sehr schwer.
Ich konnte dem Unterricht kaum folgen.
Die Wiederholung des ersten Schuljahrs
war unvermeidlich. Im zweiten Jahre fiel
mir das erste Jahr etwas leichter. Auch
die Kommunikation mit den Patienten
hat sich gebessert.
Joseph: Obwohl ich zwei Jahre in Indien
Deutsch gelernt hatte und zwei Jahre als
Praktikant im Krankenhaus gearbeitet
habe (als Essensträger in der Verteilerküche), war es aufgrund der Sprachbarrieren schwierig, in der Anfangszeit dem
42 meine welt 2/2011
i
auch der innige Kontakt zu den Patienten auf der Strecke blieb. Dennoch habe
ich mich weiter um einen engen Kontakt
zu den Patienten bemüht. Aber ich habe
auch den Eindruck, dass sich die Patienten
verändert haben. Die Menschen begegneten mir früher familiärer, neugieriger
und offener als in der letzten Zeit meiner
beruflichen Karriere.
Fredeena Nazareth: Geboren in Kollam, Kerala,
Indien. 1965 Ankunft in Deutschland. Krankenschwesterausbildung. Verheiratet mit Edward
Nazareth. Drei Kinder, alle verheiratet. Zwei
Töchter leben mit Familien in Kerala, Indien,
und der Sohn mit Familie in Deutschland.
Unterricht zu folgen. Allerdings hatte nicht
nur ich, sondern auch die deutschen Kollegen die gleichen Probleme. Ich benötigte ungefähr ein halbes Jahr, um mich
einzugewöhnen.
Allerdings fiel mir die Kommunikation
mit den Patienten etwas leichter, da meine offene, einfühlsame, fleißige (und ich
würde behaupten typisch südindische) Art
gut ankam. Die Schwierigkeiten haben
wahrscheinlich auch an dem schwäbischen
Dialekt gelegen.
Meine Welt: Wie vergleichst du die berufliche Erfahrung damals mit der von späteren
Jahren? Wie hat sich der Umgang mit den
Patienten im Laufe der Jahre entwickelt?
Ciciliamma: Als ich Anfang der 1970er
Jahre mit meiner Ausbildung fertig war,
stand der Patient im Mittelpunkt. Es galt,
ihn zu pflegen und seinen Bedürfnissen
gerecht zu werden. Der innige Kontakt mit
den Patienten nahm den meisten Raum
bei der Arbeit ein, was mir Freude bereitet
hat. Es herrschte eine familiäre Stimmung.
Mit der Zeit änderten sich langsam, aber
kontinuierlich die Bedingungen. Aufgrund
von Personalkürzungen und dem erhöhten Dokumentationsaufwand verdoppelte
sich die Arbeit für jeden einzelnen, so dass
Mercy: Im Oktober 1977 schloss ich meine Ausbildung ab. Es war eine schwierige
Zeit, um eine Anstellung zu finden, denn
Deutschland hatte einen Anwerbestopp für
Krankenschwestern aus Indien verhängt.
Die meisten hatten auch Probleme mit dem
Visum und viele gingen wieder zurück.
Wieder öffnete sich vor mir ein Weg ohne
mein Zutun. Der Bruder eines Patienten
war Verwaltungsleiter in Schwelm, Herr
Birkenhauer. Er fand mich sehr fleißig und
freundlich und bot mir ab sofort eine feste
Stelle in Schwelm an. Er kümmerte sich
auch um eine Verlängerung meines Visums
und um alle weiteren Angelegenheiten.
Ammini und ich blieben zusammen, wir
gingen beide zum Interview nach Schwelm.
Es war damals sehr lustig, da wir mehrere
Male die Straße vor dem Marienhospital
in Schwelm hin und her liefen und das
Krankenhaus trotzdem nicht finden konnten. Das kleine Marienhospital war nicht
zu vergleichen mit der großen Klinik in
Meschede.Aber die Mitarbeiter hier haben
uns herzlich aufgenommen. Man rückte
hier etwas enger zusammen und es war
sehr familiär. Im Laufe der Jahre fühlte ich
mich immer wohler, Deutsch beherrschte
ich fließend, das medizinische Wissen saß
gut, der Umgang mit den Patienten war
sicher. Ich war angekommen!
Nach nur 6 Monaten wurde ich zweite
Stationsschwester und einige Jahre später Stationsschwester. Auch hier habe ich
keine schlechten Erfahrungen in Form von
Diskriminierung oder Widerstand erfahren. Das Arbeitsklima im Krankenhaus
war sehr schön, ich fühlte mich sehr wohl.
Die Patienten waren sehr nett und freundlich und hatten keine hohen Ansprüche.
Zudem waren sie für die erbrachten Leistungen sehr dankbar und gaben uns öfter
kleine Geschenke als Dankeschön.
Wir wurden oft gelobt und sehr unterstützt.
i
Einmal kam sogar ein Zeitungsjournalist
zu uns und befragte uns über unsere Arbeit, aber auch über unser Land, die Küche
und Kultur, in der Zeitung war am nächsten
Tag ein Bild von uns beim Kochen. Ich war
begeistert, dass die Deutschen so begeistert
von uns waren.
1980 heiratete ich in Indien. Das war
wieder eine unerwartete und plötzliche
Angelegenheit, aber das Beste, was mir
passieren konnte. Mein Ehemann Jolly
fühlte sich in seinem Job als Krankenpfleger hier nicht sehr wohl, was verständlich
war, denn er hat einen doppelten Masterabschluss und hat in Indien in der Bank
gearbeitet. Er wollte sich nun selbstständig machen und sein eigener Chef sein.
Er wollte eine Häusliche Krankenpflege
leiten. Auch wenn ich mir am Anfang unsicher war, habe ich ihm vertraut und voll
und ganz unterstützt. Es war eine Zeit des
Umbruchs, denn unsere jüngste Tochter
war gerade geboren. Wir beide kündigten
unsere Jobs 1993 gleichzeitig und warteten
auf den Anruf von Patienten, die sich von
uns zu Hause pflegen lassen wollten. Das
war sehr riskant, aber die Anrufe kamen,
und zwar in Massen. Am Anfang fuhr ich
selbst noch raus und pflegte die Patienten, aber bald schon stellten wir mehrere
Schwestern ein und ich arbeitete nur noch
im Büro. Später bauten wir Wohnanlagen
für Behinderte und Senioren mit betreutem Wohnkonzept. Heute haben wir zwei
Niederlassungen für die Häusliche Pflege
in Schwelm und Hagen. Außerdem noch
vier Wohnanlagen mit ca. 200 alten- und
behindertengerechten Wohnungen. Wenn
ich heute zurück blicke, weiß ich gar nicht
mehr, wann aus mir eine Unternehmerin
geworden ist. Es war nicht immer leicht,
das Familienleben und den Beruf unter ein
Dach zu bringen, besonders ohne Begleitung von Eltern. Aber mein Ehemann hat
mich sehr unterstützt, auch im Haushalt
und der Kindererziehung.
Ein einziges Mal in den ganzen Jahren habe
ich eine diskriminierende Erfahrung gemacht. Jemand hat angerufen, weil Pflege
benötigt wurde. Als ich zur Erstaufnahme
in die Wohnung fuhr und vor der Wohnungstür stand, stockte dem Pflegebedürftigen der Atem, denn mit einer farbigen
Chefin hat er nicht gerechnet. Er lehnte
I n t e rvi e w Ak t u e l l
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Elsy Vadakkumchery: Geboren in Angamaly,
Kerala, Indien. 1972 Ankunft in Deutschland.
Krankenschwesterausbildung. Weiterbildung
als Fachschwester für Anästhesie und Intensivpflege. Verheiratet mit Devis Vadakkumchery.
Zwei Töchter, nach dem Studium berufstätig.
meine Hilfe höhnisch ab. Das hat mich
aber nicht gekümmert. Solche Menschen
gibt es überall. Es gibt auch Menschen, die
einem die Tür zuschlagen, weil einem die
Nase nicht gefällt. Darum haben wir also
nicht den Kopf hängen lassen.
Fredeena: Wenn ich auf die ersten Berufsjahre zurückblicke, habe ich Anlass
zu großer Freude und Zufriedenheit. Die
Patienten waren auch damals zufriedener
als heute. Natürlich gab es damals auch
arrogante und sehr anspruchsvolle Patienten, aber wesentlich weniger als heute.
Die indischen Krankenschwestern hatten
damals einen guten Ruf. Allerdings war die
körperliche Belastung für sie sehr groß.
Heute ist alles sehr hektisch: wenig Zeit
für die Patienten, alles muss schnell wie
am laufenden Band gemacht werden. Mehr
als körperliche Pflege brauchen Patienten
oft Zuwendung und psychische Hilfe, aber
leider gibt es heute dafür keine Zeit. Man
braucht mehr Zeit für schriftliche Arbeit
als für die Pflege der Kranken. Die Krankenschwestern leben heute unter großem
Stress, sie haben wenig Freizeit, weniger
Lohn als in anderen Berufen. Deshalb
gehen sehr viele weg aus diesem Beruf
und lassen sich umschulen.
Elsy: Direkt nach meiner Krankenpflegeausbildung habe ich in der AnästhesieAbteilung und in der Intensivstation gearbeitet. Nach 2-jähriger Berufserfahrung
absolvierte ich eine Zusatzausbildung als
Fachschwester für Anästhesie und Intensivpflege. Während dieser Zeit lernte ich
meinen Ehemann kennen, heiratete ihn
und zog von Saarbrücken nach Köln.
Seit über 30 Jahren arbeite ich nun auf
der Intensivstation eines Kölner Krankenhauses. Wenn ich die Zeiten von früher
und heute vergleiche, fällt mir auf, dass
der Einsatz von technischen Geräten sich
erhöht hat. Bereits früher wurden auf der
Intensivstation mehr Geräte eingesetzt als
auf sonstigen Stationen, heutzutage werden diese allerdings ständig erneuert, so
dass wir dazu gezwungen sind, unser technisches Wissen immer wieder zu erweitern.
Das Verständnis gegenüber den Patienten hat sich bei mir deutlich verbessert im
Vergleich zu den Zeiten meines Berufseinstiegs. Vielleicht liegt es auch daran, dass
ich älter geworden bin und mich besser
in ihre Lage versetzten kann.
Joseph: Die anfänglichen Ängste, etwas
falsch zu machen, wichen durch die zunehmende Erfahrung und ständige Begleitung
durch erfahrenes Pflegepersonal. Da ich
die sprachlichen Barrieren zunehmend abbauen konnte, wurde auch der Umgang
mit den Patienten offener und einfacher.
Durch den Wechsel meiner Arbeitsstellen
konnte ich meine vorhandenen Fähigkeiten und Fachkenntnisse erweitern und gezielt diverse Fachrichtungen ausprobieren.
Meine Welt: Hat es sich gelohnt, nach
Deutschland zu kommen und hier als
Krankenpfleger/Krankenschwester zu
arbeiten? Wenn du eine Bilanz ziehst, wo
lag der Gewinn, wo die Verluste?
Ciciliamma: Meine Ausbildung habe ich in
einem kirchlichen Krankenhaus im Sauerland absolviert und auch dort einige Jahre
als Krankenschwester gearbeitet. Da mein
Mann begann in Hagen zu studieren, zogen
wir 1974 dorthin. Zu Beginn war ich im
dortigen Krankenhaus normale Schwester, bereits im zweiten Jahr stieg ich zur
stellvertretenden Stationsleiterin auf und
wurde nach fünf Jahren Stationsleiterin.
meine welt 2/2011 43
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5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
Dies erreichte ich durch einfache Beförderung ohne eine entsprechende Ausbildung.
Da der Caritasverband Paderborn aber
zu dieser Zeit für die Stationsschwestern
von vier Krankenhäusern einen einjährigen Stationsschwesternkurs durchführte
und ich an diesem teilnahm, erhielt ich
nachträglich ein Zeugnis als gelernte
Stationsschwester. Diese Anerkennung
war für mich nach den ersten schweren
Jahren in Deutschland sehr wichtig. Ich
hatte gelernt, richtig, gewissenhafter und
schneller zu arbeiten. Für mich war es eine
sehr wichtige Erfahrung zu lernen, mich
durchzusetzen, da mir dies sehr schwer gefallen war. Aber gerade die Verantwortung
der Tätigkeit als Stationsleitung erforderte
dieses Durchsetzungsvermögen. Das ist
beruflich eine der wichtigsten persönlichen
Errungenschaften für mich.
Zusammenfassend kann ich sagen, dass
es sich sehr für mich gelohnt hat, nach
Deutschland zu kommen. Ich habe meinen
Mann in Deutschland kennen gelernt. Wir
verdienten ausreichend Geld, um unsere
Verwandten und Bekannten in Indien zu
unterstützen. Bis heute unterstützen wir
ein kleines Leprakrankenhaus in Trivandrum. Wir konnten in Deutschland einen
Lebensstandard mit einem eigenen Haus
und Auto erreichen, wie es sicher in Indien
nicht möglich gewesen wäre. In Deutschland haben unsere drei Kinder eine gute
Ausbildung bekommen, alle drei haben
studiert und gute Stellen gefunden. Unser
ältester Sohn ist Diplom-Volkswirt und
Diplom-Ingenieur, unser zweiter Sohn ist
Arzt geworden und unsere jüngste Tochter
arbeitet seit diesem Jahr als Lehrerin. Alle
drei sind hier verwurzelt und gründen ihre
eigenen Familien.
Ich habe mich durch die Krankenschwesterausbildung persönlich wie auch beruflich weiterentwickelt und entfaltet. Ich
habe diese Entscheidung, nach Deutschland gekommen zu sein, nie bereut. Unsere
Freundschaften mit Deutschen wie auch
Indern möchte ich nicht missen. Dafür
habe ich aber einen Preis bezahlt, da ich
meine Eltern, wie auch Geschwister nicht
stets um mich haben konnte. Trotz der regelmäßigen Besuche alle zwei Jahre haben
sie und auch das Land Indien mir immer
sehr gefehlt.
44 meine welt 2/2011
i
Geschwistern sofort auf den Weg, aber der
Weg ist lang. Es war um die Weihnachtszeit
und wir hatten keinen Flug vorgebucht.
Außerdem war aus irgendeinem Grund
mal wieder Streik. Wir hatten es schwer,
Tickets zu bekommen. Mit Zwischenstopps
und langer Warterei hat unsere Reise 3
Tage gedauert, und als wir endlich ankamen, war es zu spät, um meine Mutter
noch lebend zu sehen. Nur an der Beerdigung konnte ich noch teilnehmen. In
diesen Momenten habe ich es verflucht,
dass ich nicht näher dran war.
Aber ich bin stolz, eine Inderin zu sein,
die in Deutschland lebt, welches zu meiner Heimat geworden ist und aus mir die
Person gemacht hat, die ich heute bin.
Joseph Kurumundayil: Geboren in Palai,
Kerala, Indien. Ankunft in Deutschland 1974.
Krankenpflegeausbildung. Ausbildung als Fachkrankenpfleger für Psychiatrie. Verheiratet. Zwei
Kinder.
Mercy: Wenn ich heute Bilanz ziehe, kann
ich sicherlich sagen, dass sich der Schritt
nach Deutschland gelohnt hat, dass ich
dennoch einige Verluste hinnehmen musste. Die Vorteile sind nicht nur finanzieller
Gewinn, sondern das Geschenk, dass ich
ein weltoffenes, freundliches, höfliches und
sauberes Land kennen lernen durfte. Die
Deutschen habe ich als sehr hilfsbereite,
fleißige und pünktliche Menschen wahrgenommen. Des Weiteren konnte ich viele
Städte in Europa besuchen, neue Freunde
gewinnen und viele neue Hobbies entdecken. All dies hat meinen eigenen kleinen
Horizont erweitert und mich von einem
naiven Mädchen zu einer selbstsicheren,
abenteuerlustigen und zielorientierten
Frau gemacht. Da ich aber so weit weg
von meiner Familie lebte, musste ich auch
Nachteile in Kauf nehmen, so konnte ich
an vielen Familienfesten nicht teilnehmen.
Aber noch viel schlimmer war, dass ich
nicht in den letzten Tagen meiner Eltern
an ihrer Seite sein konnte. Als mein Vater
1990 verstarb, konnte man mich erst später
erreichen, und ich schaffte es nicht mehr
zur Beerdigung nach Hause zu fliegen, was
mich sehr entsetzt hat. Als meine Mutter
1992 in lebensbedrohlichem Zustand ins
Krankenhaus eingeliefert wurde, konnte ich rechtzeitig informiert werden. Ich
machte mich mit meinen hier lebenden
Fredeena: Ich bin gerne nach Deutschland gekommen. Meine erste Motivation
war, der Familie zu helfen. Als Kind hatte
ich gesehen, wie meine Eltern schwer arbeiteten, um uns, die vier Kinder, in die
Schule schicken zu können, uns gutes Essen und gute Kleidung zu geben. Damals
entschloss ich mich, meinen Eltern dabei
zu helfen, ein besseres Leben zu führen.
Wenn ich heute eine Bilanz ziehe, habe
ich aus meinem Aufenthalt in Deutschland
mehr Gewinn als Verlust.
Elsy: Die Möglichkeit, nach Deutschland
zu kommen, hier eine Ausbildung zu absolvieren und im Anschluss daran arbeiten zu
dürfen, empfinde ich als einen Segen für
meine Familie und mich. In erster Linie
konnte ich meine Familie in Indien unterstützen. Nach Gründung meiner eigenen
Familie konnte ich mir eine eigene Existenz aufbauen. Als Frau in Deutschland
arbeiten und leben zu können, gibt mir
die Möglichkeit, selbstständiger und unabhängiger zu sein. Gleichzeitig vermisse ich
die Nähe zu meinen Eltern, Geschwistern
und Verwandten in Indien.
Joseph: Es hat sich zweifelsohne gelohnt,
nach Deutschland zu kommen. Ich habe
die Frau meines Lebens hier kennen gelernt und geheiratet. Ich habe mich sowohl
persönlich als auch fachlich weiterentwickeln können und auch verschiedene soziale und kulturelle Interessen verfolgen
können. Die Sprache, die deutsche Kultur,
i
die Bildungsmöglichkeiten in Form von
Weiterbildungen wie z.B. Stationsleitungslehrgänge und die Fachweiterbildung in
der psychiatrischen Pflege, ein Fernstudium in Theologie usw. waren für mich
persönliche enorme Gewinne.
Dazu kommen noch die persönlichen
Kontakte durch die Bekanntschaften mit
Menschen vieler unterschiedlicher Nationen, welche für mich die multikulturelle
Gesellschaft ausmachen. Auch den Bezug
zur katholischen Kirche und den Glaube
an Christus konnte ich in Deutschland
weiter vertiefen. Meinen Kindern konnte ich eine bessere Bildung ermöglichen
und sie können sich nun für ihre Heimat
Deutschland einsetzten und sich in die
Gesellschaft einbringen.
Aber natürlich gab es auch Verluste, z.B.
die Distanz zu meinen Eltern, meiner
Familie und eine Entfremdung von der
alten Heimat.
Meine Welt: Wie hat sich nach deiner Meinung, die Krankenpflege in Deutschland
über die Jahre verändert? Ist etwas Wahres an in der Kritik, dass der Patient/ die
Patientin nicht mehr im Mittelpunkt der
Pflege steht?
Ciciliamma: Oben bereits beantwortet.
Mercy: Die Pflegesituation in Krankenhäusern hat sich in den letzten 40 Jahren
sehr verändert. Früher nahm man sich
mehr Zeit und Geduld für die Patienten,
es wurde liebevoller und herzlicher mit
ihnen umgegangen. Heute gibt es mehr
Patienten und weniger Personal. An allen
Ecken wird gespart. Auch haben sich die
Ansprüche der Patienten im Gegensatz zu
früher sehr verändert, heutzutage stellen
die Patienten viel höhere Forderungen.
Vom Wirtschaftswunderland ist nicht mehr
viel übrig. Da wir aber selbstständig sind,
versuchen wir zumindest, die Patienten
mit der nötigen Zeit, Liebe und dem gebührenden Respekt zu behandeln. Die
Pflege im Altenheim hat sich auf Grund
der dünner gewordenen Personaldecke
drastisch verschlechtert. Darum bin ich
auch stolz auf unsere altengerechten und
barrierefreien Wohnanlagen, in denen die
Senioren in ihren eigenen gewohnten vier
Wänden bleiben können und trotz Roll-
I n t e rvi e w Ak t u e l l
i
stuhl oder Behinderung die Wohnung verlassen können. Aufgrund des 24 Stunden
Betreuungskonzepts müssen sich Angehörige keine Sorgen machen, da täglich
Unterstützung angefordert und im Notfall
sofort reagiert werden kann.
Fredeena: In der Krankenpflege sind mit
der Zeit viele Änderungen eingetreten.
Eigentlich sollten die Patienten im Mittelpunkt der Pflege stehen. Aber dies ist nicht
heute der Fall wegen des Personalmangels
und der Schreibarbeit.
Nach meiner Meinung muss das Gesetz so
geändert werden, dass der Patient wieder
im Mittelpunkt steht und das Pflegepersonal die Möglichkeit und die Zeit hat,
patientennah zu arbeiten.
Joseph: Meiner Meinung nach steht der
Patient weiterhin im Mittelpunkt, allerdings zunehmend auf dem Papier zur
juristischen Absicherung. Woher diese
Entwicklung kommt, ist, denke ich, bekannt. Der zunehmende Kostendruck und
die Gesundheitsreformen zwingen die
Entscheidungsträger, Kliniken wie Wirtschaftsunternehmen zu führen. Dies führt
zu einem Abbau des Krankenhauspersonals und als dessen Konsequenz leidet
auch die Qualität der Patientenpflege, vor
allem für gesetzlich Versicherte. Dies steht
natürlich im Gegensatz zu Wahlleistungspatienten. Alles in allem kann man sagen,
dass es eine Zweiklassen-Versorgung gibt.
Allerdings ist auch der Anspruch der Patienten, was den Service angeht, gestiegen.
Elsy: Im Pflegeberuf ist die Arbeitsintensität in den letzten Jahren deutlich angestiegen. Dadurch bleibt weniger direkter
Kontakt zwischen dem Pflegepersonal und
seinen Patienten. Die schriftliche Dokumentation spielt heutzutage eine gehobene
Rolle. Der Einsatz von Computern ist –
wie in allen Berufszweigen – zur Selbstverständlichkeit geworden. Hinsichtlich
medizinischer Gesichtspunkte ist der Patient heutzutage besser betreut als früher.
Im Gegensatz dazu hat die persönliche
Betreuung leider nachgelassen.
Meine Welt: Eine der Motivationen für
dich, nach Deutschland zu kommen, war
bestimmt, deiner Familie, deinen Verwandten und deinen Freunden zu helfen. Wie
stehen sie heute da? Konntest du genug für
sie tun, damit sie heute ein besseres Leben
führen?
Ciciliamma: Ja, das stimmt. Schon während meiner Ausbildung schickte ich oft
mehr als die Hälfte meines Gehaltes nach
Indien zu meiner Familie. Da ich einen
sehr gutherzigen Mann geheiratet habe,
der auch viele in Indien unterstützte, konn-
Inder/Inderinnen der 2.Generation bei einer internationalen Jugendveranstaltung in Köln, 2000.
meine welt 2/2011 45
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5 0 j a h r e i n disc h e kr a n k e n pf l e g e kr ä f t e i n d e u t sc h l a n d
te die Hilfe nach Indien erfolgreich und
intensiver weiterlaufen. Die finanzielle
Unterstützung ermöglichte den Verwandten eines oder mehrere ihrer Kinder ins
Ausland (USA, Österreich) zuschicken, um
dort Fuß zu fassen und zu arbeiten. Diese
wiederum schickten ihren Familien Geld,
um ihnen einen guten Lebensstandard in
Indien zu ermöglichen.
Heute geht es den Verwandten und Bekannten, denen wir damals geholfen haben,
sehr gut. Ich danke Gott für alles, was er
uns ermöglicht hat.
Lehrer, und der andere Bruder Jerome lebt
noch als einziger in unserer Heimatstadt
Mookanoor. Sicherlich sind am Anfang
größere Geldgeschenke geflossen, weil
ich es mir aus Deutschland besser leisten
konnte. Auch konnten Darlehen in Indien
schneller abbezahlt werden. Aber alle meine Geschwister und auch die Geschwister
meines Mannes, die in Indien geblieben
sind, haben eine höhere Qualifikation
und eine gute Stellung im Beruf, sodass
sie aus eigenen Bemühungen wohlhabend
geworden sind.
Mercy: Mein Vater war Schuldirektor und
meine Mutter Hausfrau und Mutter von
neun Kindern. Uns ging es nicht schlecht,
aber man weiß, es geht immer noch besser.
Vier von neun Geschwistern leben heute
mit ihren Familien in Deutschland, meine
älteste Schwester Leelamma in Düsseldorf,
mein Bruder Jos in Brühl und meine jüngere Schwester Sheela in Frankfurt und ich
in Schwelm. Zwei meiner Schwestern, Lissy
und Thankamani, sind Ordensschwestern
und mittlerweile Schulleiterinnen in Kerala. Meine Schwester Molly, auch Lehrerin, lebte aufgrund der Bankanstellung
und Promotion ihres Mannes schon in
verschiedenen Orten Indiens, Neu Delhi,
Pune oder Angamaly. Ein Bruder Joy lebt
auf den Malediven und arbeitet dort als
Fredeena: Ich bin auf meinen eigenen
Wunsch nach Deutschland gekommen.
Meine Angehörige waren alle dagegen.
Meine Wille war die eigentliche Motivation. Durch diese Entscheidung konnte
ich meinen Eltern, meinen Geschwistern
und vielen anderen Angehörigen helfen.
Indische Gemeinde beim Pfarrfest 2010 in Köln
46 meine welt 2/2011
Elsy: Die Möglichkeit, als ältestes Kind
– von insgesamt neun Geschwistern – in
Deutschland zu arbeiten, war nicht nur für
mich persönlich, sondern auch für meine
Familie ein Segen. Am Anfang konnte ich
einiges bewegen. Ich bin sehr zufrieden
über das, was ich leisten konnte, und ich
bin mir sicher, dass meine Familie heute
besser leben kann, als wenn ich in der
Heimat geblieben wäre.
i
Joseph: Natürlich war meine Hauptmotivation dafür, nach Deutschland zu
kommen, meiner Familie und meinen
Verwandten zu helfen. Meine Familie,
besonders meine direkten Verwandten,
haben einiges an Hilfe von mir erhalten.
Mehrere Verwandte haben die Möglichkeit erhalten, einen Beruf zu erlernen
oder eine Existenz zu gründen. Ich habe
meinen Verwandten bevorzugt Hilfe für
Bildungsmöglichkeiten gegeben, wie ich
sie auch selber durch meinen CollegeBesuch erfahren habe. Dabei muss vor
allem die Rolle der Institution Kirche herausgehoben werden, die auch weiterhin
in Indien ein wichtiger Anlaufpunkt und
Förderer ist. Mir ist bewusst geworden,
dass wir erst durch den Einsatz von Visionären wie z.B. dem selig gesprochenen
Chavara Kuriakos Elias (der Gründer
des CMI Ordens) und den nachfolgenden Kirchenvätern und deren Beitrag zur
Schaffung des Schulbildungssystems die
Möglichkeiten bekommen haben, hierher
zu kommen und letztendlich diese Zeilen
zu schreiben.
Ich danke der katholischen Kirche und
Deutschland für die Möglichkeiten, die
ich erhalten habe. j
i Fotoseite
i
50 Jahre indische Krankenschwestern
in Deutschland
(Bilder aus verschiedenen Quellen)
Seminar Teilnehmer 1975
Indische Krankenschwestern unter sich 2001
Treffen in Köln Dezember 1994
Weihnachten 1965 in Bonn-Venusberg
Jugendtreffen mit Bischof Trelle, Köln 2000.
meine welt 2/2011 47
i
M e n sc h e n sc h icks a l i
Das einsame Leben und der Tod
von Elfriede Maria Schmidt in Kochi, Kerala
Die nachfolgende Geschichte über die
deutsche Staatsbürgerin Elfriede Maria
Schmidt haben wir aus dem Internet
entnommen. Auch andere indische
Zeitungen haben über die verstorbene
Frau berichtet. Im Folgenden erzählen
vier verschiedenen Menschen neben
der Autorin Shahina über ihre Begegnungserfahrungen mit der Verstorbenen.
D ie R edaktion
Shahina (Autorin):
Elfriede Maria Schmidt betrat mein Leben
erst nach ihrem Tod. Sie war im Frühjahr
2002 den ganzen Weg von Deutschland
nach Indien gekommen. Sie kehrte nie
zurück. Sie hatte seit 2003 in dem Hotel
Chandrika Residency in der Nähe von
Durbar Hall Ground, Kochi, gewohnt.
Diese Frau Schmidt wurde am 14. Juni
2011 bewusstlos in ihrem Bett liegend
gefunden. Der Hotel Manager hatte ihre
Zimmertür geschlossen gefunden. Ihre
Lieblingszeitung lag unabgeholt im Foyer. Der Manager rief die Polizei und die
Frau wurde ins Krankenhaus gebracht.
Am nächsten Tag starb sie. Es war ein
gewöhnlicher Tod wie jeder andere. Eine
alte, kranke Frau starb in Stille. Das war
es. Seitdem liegt sie im Leichenhaus des
General Hospital in Ernakulam. Sie liegt
immer noch dort.
Der Hotel Manager erinnert sich:
Eine weiße Frau/eine hellhäutige Frau/
eine Europäerin kam in unser Hotel und
fragte nach einem Zimmer. Als ich fragte,
für wie lange, sagte sie, eine Woche, und
später korrigierte sie sich auf zwei bis
drei Wochen. Nach drei Wochen wurde
die Aufenthaltsdauer verlängert, auf ihren
Wunsch, versteht sich. Ich war ein wenig
skeptisch, stimmte aber zu. Sie hatte alle
ihre Papiere bei sich und zahlte die Miete
prompt und pünktlich.
48 meine welt 2/2011
Nach einer gewissen Zeit fiel es uns schwer,
sie um Zimmerräumung zu bitten, denn
sie war alt, siebenundsiebzig. Es war kein
lukratives Geschäft für uns. Wir hatten wegen ihrer arroganten Art bereits Kunden/
Gäste verloren. Sie konnte keinen rauchen
sehen. Wer in unserem Restaurant rauchte,
musste mit einer Abkanzelung rechnen.
Sie schaltete das Fernsehgerät im Zimmer
nie aus. Es war so, als wäre das Fernsehen
ihr einziges Mittel, mit der Außenwelt zu
kommunizieren. Das Gerät war immer an,
selbst während sie schlief. Sie ließ es nicht
ausschalten, selbst wenn das Zimmer geputzt wurde. In den letzten acht Jahren
wurde das Gerät nur zwei oder drei Mal
leise gestellt. Das war, wenn sie für die
Erneuerung ihres Visums in Sri Lanka
Kurzbesuche abstattete. Ein Ausländer,
dessen Visum für Indien erneuert werden
soll, soll ins Ausland fahren und von dort
aus den Antrag stellen.
Jeden Tag ging sie für einige Stunden aus,
schlenderte durch die überfüllte DB Road,
ging in den naheliegenden Supermarkt
kurz hinein, erledigte einige Bankgeschäfte und kam zurück. Niemand sah sie im
Supermarkt irgend etwas kaufen. Aber
täglich verbrachte sie dort fast eine Stunde.
Sie war ein großer Liebhaber von Katzen.
Katzen war eins ihrer Lieblingsthemen, neben Cricket. Als ihre geliebte Katze starb,
bewahrte sie die Asche in einer blauen
Urne auf. Sie wollte dies zusammen mit
ihrem eigenem Körper verbrennen lassen. Ich war ihr einziger Zuhörer in den
seltenen Momenten, wenn sie überhaupt
sprechen wollte. In einem dieser seltenen
Gesprächen sagte sie, sie wollte in Indien
eingeäschert werden und die Asche solle im Arabischen Meer verstreut werden.
Dies brachte mich in Verlegenheit.
Zum ersten Mal begann ich mir um diese
alte Frau Sorgen zu machen. Ich rief einige Journalisten und erzählte ihnen ihre
Geschichte. Sie wollte die Journalisten
nicht ansprechen. Sie hatte kein Inter-
esse daran. Die Journalisten fanden sie
leidenschaftslos, apathisch. Und ein wenig
arrogant auch.
Fast acht lange Jahre lebte sie in meinem
Hotel. Sie hatte allen Kulturprogrammen
auf dem in Hotelnähe liegenden Durbar
Hall Ground (einer Wiese) beigewohnt.
Das Hotelpersonal und die Hotelgäste
hatten sie dort öfters gesehen. Aber sie
sprach keinen an.
Sabina Iqbal:
Es war im Flur des Hotels Chandrika Residency, dass ich Mariabehn zum ersten
Mal sah. Dies war im Januar (2011). Ich
wohnte im Nebenzimmer und hatte bereits
einiges über sie von dem Personal gehört.
Ich sah sie täglich. Einmal klopfte sie an
meine Tür und fragte, ob ich Wasser im
Zimmer hätte. Ich bat sie herein. Ich wollte
sie sprechen, denn ich wusste, sie könnte
eine Geschichte zu erzählen haben. Als
ich sie fragte, woher sie gekommen war,
warf sie einen verwirrten Blick auf mich
und stellte mir die Gegenfrage, was ich
vermute. Ihr britischer Akzent verführte
mich, aber sie gab mir noch eine Chance.
„Ich schätze, Sie sind Jüdin“, sagte ich. Ich
lag mit meiner Vermutung haargenau richtig. Sie war eine Jüdin mit Erinnerungen
an den Holocaust. „Die Europäer hassen
mich“, fügte sie hinzu.
Für Frau Schmidt war Pakistan das einzige
Land, wo es keinen Rassismus gab. Sie
hatte über drei Jahrzehnte in Pakistan gelebt. Man nannte sie Behenji (Schwester)
in Pakistan. Auch ich fing an, sie Behenji
zu rufen. Ich wusste, dass sie so gerufen
werden wollte, und dies war der alleinige
Grund, warum sie anfing, mich zu mögen.
Frau Schmidts fehlgeschlagene Versuche,
eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung
für Pakistan zu besorgen, zwang sie, nach
Indien auszuwandern. Indien war ihrer
Meinung nach in Bezug auf Geografie und
Demografie sehr ähnlich wie Pakistan.
Sie hatte eine unruhige Kindheit gehabt.
i
Sie hatte ihren Vater im Zweiten Weltkrieg
verloren, aber sie konnte sich nicht daran
erinnern, wann und warum. Sie hatte keine
gute Beziehung zu ihrer Mutter. Maria war
ursprünglich aus Österreich gekommen,
dann wanderte sie aus nach Deutschland
und erwarb dort die deutsche Bürgerschaft.
Sie wurde bei dem Deutschen Auswärtigen
Amt beschäftigt und wurde bei der deutschen Botschaft in Pakistan eingestellt.
Hier lernte sie einen pakistanischen Soldaten kennen, heiratete ihn und gebar
ihm einen Sohn. Die Beziehung dauerte
nicht lange.
Sie kam nach Indien, alleine, wanderte
viel herum, und schließlich kam sie nach
Kochi. Ich sah vor mir das verschwommene Bild eines Kriegsopfers, das freiwillig
seiner Heimat den Rücken kehrte, weil es
jüdisch war. Die Geschichte kam zu einem
abrupten Ende. Ich hatte keine Zeit mehr
für sie gehabt.
Prabha Menon, eine Anwältin, erinnert
sich:
Am 18. Juni 2011 las ich einen Zeitungsbericht über die sterblichen Überreste einer
weißen Frau, die im General Hospital lagen. Ich wurde neugierig. Ich sah das Bild
genau an. Die Person kam mir bekannt vor.
Nach und nach musste ich zur Kenntnis
nehmen, dass die Frau meine Mandantin
war. Ein besonderer Typ, der mich vor neun
Jahren aufgesucht hatte. Ich erinnere mich
sehr gut an diese Begegnung aus dem Jahre
2002. Sie hatte mir ein wichtiges Dokument
ausgehändigt - ihr Testament.
Es war ein sehr hektischer und betriebsamer Tag. Sie kam um 7 Uhr morgens in
mein Büro und fing an zu reden. Anfangs
dachte ich, sie bräuchte Rechtshilfe. Aber
sie verlangte von mir keine. Eigentlich
wusste ich nicht, wovon sie redete.
In Wirklichkeit hatte ich inzwischen aufgehört, ihrem Geschwätz Aufmerksamkeit
zu schenken. Aber ich entmutigte sie auch
nicht. Sie besuchte mich mehrere Male. Ab
und zu sprach sie von Cricket und über die
lieblose Welt. Eines Tages kam sie zu mir in
ausgeglichener Geistesverfassung und bat
mich, bei der Erstellung ihres Testaments
behilflich zu sein. Ich erklärte mich einverstanden und bat sie, einen vorläufigen
Entwurf zu verfassen. Am nächsten Tag
M e n sc h e n sc h icks a l
i
kam sie wieder wie gewohnt und gab mir
ein Stück Papier.
Frau Schmidt wollte ihrem Sohn, Captain
Julian Asphandiar Fatakia, der in der USA
lebte, die Hälfte ihres Vermögens geben.
Sie hatte ein Apartment in Vöslau in Österreich und Bankguthaben in Deutschland
und Indien. Die andere Hälfte wollte sie
den fünf Tigerreservaten Indiens schenken. Sie bat mich auch, ihren Sohn, mit
dem sie seit über einem Jahrzehnt keinen
Kontakt mehr hatte, ausfindig zu machen.
Sie wollte in Indien verbrannt werden und
die Asche sollte im Arabischen Meer verstreut werden. Das Testament war von ihr
eigenhändig sauber maschinengeschrieben
worden. Ich hob es irgendwo unter den
Ablagen auf. Seitdem kam sie nie mehr
zurück.
Seltsamerweise begegnete ich ihr noch
mehrmals auf der Straße. Ich wollte sie
ansprechen, aber sie ging weiter, als ob
sie mich nicht kannte. Einmal wollte eine
Kollegin von mir sie ansprechen. Sie sagte
kein einziges Wort, lächelte sie auch nicht
an, starrte sie wie eine Fremde eine Weile
an und ging weiter.
Über ihren Tod wurde ich nicht informiert.
Ich wusste nicht, wann sie starb. Einige
Tage später las ich in der Zeitung von
der Leiche. Es war sieben Uhr morgens.
Ich eilte ins Büro und suchte überall. Zu
meinem Erstaunen stieß ich auf das gelbe
Kuvert, das mir Frau Schmidt vor neun
Jahren gegeben hatte. In dem Kuvert
waren Adresse und email ID von ihrem
Sohn Julian, der irgendwo in den USA
Pilot sein soll.
Jyothish PS:
Ich bekam die Adresse Julians von Prabha
Menon. Ich hatte diese Adresse nach dem
Tod Frau Schmidts dringend gesucht. Ich
schrieb Julian, er solle hierher kommen
und den Leichnam seiner Mutter abholen.
Ich bekam keine Antwort. Einige Tage später bekam ich eine Mail von seiner Frau.
Sie bat mich, den Leichnam nach Amerika zu schicken, ein Wunsch, den wir nicht
erfüllen konnten. Dann bekam ich eine
zweite Mail, in der sie geschrieben hatte die
Schwiegermutter solle ihre letzte Ruhe in
Indien finden. Sie wollte nicht den ganzen
Weg von Amerika hierher kommen, um
dem Begräbnis beizuwohnen.
Ich hatte Frau Schmidt seit 2008 gekannt.
Sie pflegte in mein Büro zu kommen, wenn
sie ihr Visum erneut haben wollte. Oft wurde sie für eine arrogante Person gehalten.
Einmal wurde sie recht zornig, als einer
vor der Visaabteilung seinen Vordermann
überspringen wollte. Sie hielt ihn mit dem
Griff ihres Regenschirms fest und brachte
ihn zu der Ausgangsposition zurück. Sie
würde gerne über viele Dinge sprechen,
aber ihr Lieblingsthema war Cricket.Wenn
jemand das Thema anschnitt, fing sie an
ununterbrochen darüber zu reden. Oftmals
versuchte ich ihr aus dem Weg zu gehen,
denn das Cricket kam mir Spanisch vor.
Die dritte
Lebensform
Immer öfter „Liebe auf
Distanz“
Immer mehr Paare in Deutschland leben
in getrennten Haushalten. Die „Liebe auf
Distanz“ habe sich nach der Ehe und nach
Partnerschaften mit gemeinsamer Haushaltsführung als dritte partnerschaftliche
Lebensform etabliert, so das Bundesinstitut
für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden.
Nach seinen Angaben führen knapp vier
Millionen Menschen und damit 7,3 Prozent
der Deutschen eine Partnerschaft, in der
beide Partner einen eigenen Haushalt führen. Die immer noch am weitesten verbreitete Lebensform in der Gruppe der 18- bis
unter 70-jährigen ist mit einem Anteil von
56,4 Prozent die Ehe. Für die zahlenmäßige
Zunahme von Partnerschaften mit getrennter Haushaltsführung gab das Institut
mehrere Gründe an: Bei jungen Menschen
seien es vor allem berufliche. Auch trügen
moderne Kommunikationstechniken dazu
bei, Partnerschaften über größere Distanzen aufrechtzuerhalten. Des Weiteren gebe
es Partner, die sich trotz räumlicher Nähe
ganz bewusst für getrennte Haushalte
entschieden, um ein höhere Maß an Unabhängigkeit zu bewahren. Es habe sich gezeigt, dass Partnerschaften mit getrennter
Haushaltsführung weniger stabil seien als
Paarbeziehungen in einer gemeinsamen
Wohnung. Immerhin hielten dennoch etwa
20 Prozent dieser Beziehungen länger als
fünf Jahre.
KNA
(Quelle: Frau und Mutter, 06/2011)
meine welt 2/2011 49
i
Ich mochte es auch nicht.
Was sie da erzählte, konnte ich kaum begreifen. Namen der bekannten Spieler
waren mir fremd.
Nach ihrem Tod fanden wir in ihrem
Zimmer einen Brief. Er war auf Deutsch
geschrieben von einer „Elfriede“. Dieser
Brief informierte Frau Schmidt über zwei
Tode. Einmal über den Tod der Mutter
der Absenderin. Mit dem anderen Tod
war ihre Katze gemeint. Die Absenderin,
eine Krebspatientin, hatte geschrieben, sie
würde gerne nach ihrer Behandlung Frau
Schmidt besuchen. Auch das email ID von
Elfriede war in dem Brief angegeben. Ich
schrieb Elfriede eine Mail über den Tod
von Frau Schmidt. Ich bat sie hier herzukommen und die sterblichen Überreste der
Verstorbenen abzuholen. Nach ein paar Tagen bekam ich eine Antwort von Elfriedes
Sohn. Er hatte geschrieben, er bedauere es
sehr, den Leichnam von Frau Schmidt nicht
abholen zu können. Verzweifelt schrieb
ich die deutsche Botschaft in Delhi und
das Konsulat in Chennai an. Das Konsulat
schrieb mir, ich solle Frau Schmidt in Kochi
verbrennen. Das Gesetz erlaubt es uns
aber nicht. Eine unbeanspruchte Leiche
darf nur begraben werden. Sie darf nicht
verbrannt werden. Aber dabei wollte Frau
Schmidt, dass ihre Leiche verbrannt und
die Asche im Arabischen Meer verstreut
wird. Wir sind ja verpflichtet, ihr Testament
zu vollstrecken. Sind wir nicht? Ich weiß
nicht, was ich tun soll. Ich weiß nicht, ob ich
sie gegen ihren Wunsch begraben soll oder
noch abwarten soll. Ich werde jedenfalls
die Behörden bitten, eine Entscheidung
zu treffen.
Nachwort:
Nach 45 Tagen wurde Frau Elfriede Maria
Schmidt im PACHALAM FRIEDHOF
eingeäschert. Die indische Ausländerbehörde hat diese Entscheidung getroffen, nachdem das Deutsche Konsulat in
Chennai es ablehnte, Verantwortung für
den Leichnam von Frau Schmidt zu übernehmen. Die Asche wurde dann, wie Frau
Schmidt dies verfügt hat, im Arabischen
Meer zerstreut. (Times of India) j
(Beitrag und aus dem Englischen ins Deutsche
übersetzt von Thomas Chakkiath)
50 meine welt 2/2011
meinung
i
Wachstum an sich kann nicht unser
ultimatives Ziel sein
A mart y a S en
Wirtschaftswachstum an sich kann nicht
unser ultimatives Ziel sein. Doch es ist ein
sehr hilfreiches Mittel, um erstrebenswerte
Ziele zu erreichen, etwa einen besseren
Lebensstandard. Jetzt, da Indien ein jährliches Wirtschaftswachstum von ungefähr
8 Prozent hat, gibt es viele Spekulationen
ob und wann das Land ein Wachstum von
über 10 Prozent, wie China, erreichen wird.
Dieser Wachstumsfokus ist nicht nur deshalb unsinnig, weil viele Elemente seiner
Berechnung willkürlich gewählt sind, sondern auch, weil die Lebenswirklichkeit der
Menschen nur teilweise und indirekt von
Wachstum beeinflusst wird.
Vergleichen wir Indien mit Bangladesch,
wo sich die sozialen Indikatoren seit vielen
Jahren sehr schnell verbessern, wie von
Jean Dreze bereits im Jahr 2004 beschrieben. Das Einkommen in Indien ist aufgrund des schnellen Wirtschaftswachstums
kaufkraftbereinigt mehr als doppelt so
hoch wie in Bangladesch. Aber wie spiegelt sich Indiens Einkommensvorteil in
den Dingen wider, die wirklich wichtig
sind? Nicht sehr gut, befürchte ich. Die
Lebenserwartung in Bangladesch liegt
bei 66,9 Jahren, verglichen mit Indiens
64,4. Der Anteil unterernährter Kinder
in Bangladesh (41,3 Prozent) ist etwas
niedriger als in Indien (43,5) und die
Fruchtbarkeitsrate liegt mit 2,3 Prozent
ebenfalls unter derjenigen Indiens (2,7).
Die durchschnittliche Anzahl von Schuljahren in Bangladesch beträgt 4,8 Jahre,
verglichen mit Indiens 4,4 Jahren.Während
Indien bei der Alphabetisierungsrate junger Männer einen Vorsprung hat, ist die
Rate bei den Frauen in Bangladesch höher.
Interessanterweise ist die Alphabetisierungsrate junger Frauen in Bangladesch
höher als die junger Männer, während in
Indien immer noch eine starke Benachteiligung junger Frauen festzustellen ist. Es
gibt viele Beweise dafür, dass Bangladeschs
momentaner Fortschritt auf die wichtige
Rolle zurückzuführen ist, die emanzipier-
te bangladeschische Frauen zunehmend
einnehmen. Die wichtigste Schlussfolgerung ist, dass Wirtschaftswachstum einen
wichtigen Beitrag zur Verbesserung des
Lebensstandards leistet, aber die Reichweite der Verbesserungen vor allem davon abhängt, was wir mit den Erträgen
dieses Wachstums machen. Sicher, es gibt
bereits viele privilegierte Personen, denen
Wachstum alleine ausreicht, da sie nicht
auf Unterstützung angewiesen sind.
Das Wirtschaftswachstum mehrt lediglich
ihre ökonomischen und sozialen Chancen.
In absoluten Zahlen ist diese Gruppe recht
groß geworden. Aber der übertriebene
Fokus auf ihre Situation, und dies wird
oft auch von den Medien unterstützt, erzeugt ein unvollständiges Bild über den
Alltag der Menschen in Indien. Vielleicht
noch besorgniserregender ist, dass diese
Gruppe Wachstum in sich als das Ziel ansieht, dient es doch ihrem persönlichen
Wohlstand. Diese engstirnige Perspektive kann sogar soweit gehen, dass soziale
Aktivisten verspottet werden, wenn sie
uns an die missliche Lage des Großteils
unserer Bevölkerung erinnern. Man kann
nicht davon sprechen, dass es Indien hervorragend geht, wenn eine Vielzahl der
Menschen kaum Verbesserungen spürt. j (Auszüge aus dem Beitrag „Wachstum und
andere Bedenken“ von Amartya Sen, erschienen
in NETZ, 2/2011)
Zeichnung von Marti Faber, Zülpich
i
M igr a t i o n
i
Indische Diaspora in Afrika
A . K hali q K aifi
Menschen indischer Abstammung
sind überall in der Welt zu treffen.
Nach Schätzungen leben zwischen 20
und 30 Millionen Menschen indischer
Abstammung außerhalb Indien. Die
Kolonialherren, insbesondere die
Engländer, nahmen viele Inder als Vertragsarbeiter in ihre anderen Kolonien,
z. B. in Afrika. Im folgenden Beitrag
gibt Dr. Kaifi einen Gesamtüberblick
über die Entstehung der sogenannten
indischen Diaspora in Afrika und über
den heutigen Stand der aus Indien
stammenden Minderheiten in verschiedenen Ländern Afrikas.
D ie R edaktion
Das Wort Diaspora ist griechisch und bedeutet unter anderem „verstreuen“. Damit
ist eine Gruppe von Menschen gemeint,
die infolge von Not und Verfolgung ihre
Heimat verlassen haben und häufig mit
Völkern zusammenleben müssen, die
sich meistens von ihnen nach Aussehen,
Religion und Sprache unterscheiden, wo
sie infolgedessen auch nicht immer gerne gesehen werden. Diese Bezeichnung
wurde ursprünglich lediglich für die im
Ausland lebenden Juden benutzt. Heute
wird das Wort Diaspora im weitesten Sinne
für alle Emigranten gebraucht. Danach
wird die indische Diaspora weltweit auf
ca. 20 Millionen geschätzt, nur Chinesen
übertreffen sie.
Nach der Definition der indischen Regierung teilt man die indische Diaspora
in zwei Kategorien ein, nämlich erstens
sind es Personen indischer Abstammung
bzw. PIO, d. h. Persons of Indian Origin,
die nicht mehr in Indien leben und deren
Eltern, Großeltern und Urgroßeltern in
Autor: Dr. rer. pol., Dipl. Kfm., Oberbibliotheksrat a. D. der Universitätsbibliothek Bremen und
ehemaliger Lehrbeauftragter der Universität
Oldenburg.
Indien geboren sind. Die PIO werden aus
politisch-ökonomischen Gründen vom
indischen Staat bevorzugt behandelt. Sie
erhalten multiple Einreisevisa bis zu einer Dauer von 20 Jahren und verfügen
über sämtliche Rechte mit Ausnahme des
Landerwerbs.
Zu der zweiten Gruppe zählen Inder, die
als indische Staatsbürger im Ausland arbeiten, sie werden als NRI, Non Resident Indians bezeichnet. Die Identifizierung als NRI
ist nach dem Zweiten Weltkrieg entstanden. Aufgrund fehlender Arbeitskräfte in
den westlichen Ländern wurden zahlreiche
Inder, zunächst von anglophonen Ländern
wie Großbritannien, Nordamerika, Kanada, Australien nach dem Quotensystem
für bestimmte Tätigkeiten angeworben.
Seit den sechziger Jahren wurden sie auf
der Basis befristeter Verträge für ein bis
drei Jahre in die Petro Dollar Staaten im
Golf geholt, wo sie mit einer Zahl von über
drei Millionen am zahlreichsten vertreten
sind. Als NRI arbeiten zur Zeit weltweit
über 10 Millionen Inder.
In diesem Aufsatz wird aber lediglich über
Personen indischer Abstammung, die PIO,
in Afrika gesprochen, die vor undenklicher
Zeit freiwillig dorthin ausgewandert sind
oder gezwungenermaßen während der Kolonialherrschaft nach Afrika gekommen
sind. Insgesamt wird die Zahl von PIO in
ganz Afrika auf vier Millionen geschätzt,
davon leben zwei Millionen in Ost- und
Südafrika und auf den Inseln des Indischen
Ozeans östlich von Afrika.
Seit Jahrhunderten ist die Ostküste Afrikas den Indern als Seefahrer und Händler
bekannt gewesen, die Römer, Araber und
Europäer berichten reichlich über ihre
Geschäftstüchtigkeit. Die Einheimischen
nannten sie Muhindi/Wahindi. Vasco da
Gama und alle anderen Seefahrer aus den
Kolonialländern nahmen ihre Dienste in
Daressalam, Mombasa, Sansibar als Lotsen
und Wegweiser nach Indien in Anspruch,
da sie die kürzesten Fahrtrouten und den
vom Monsun her günstigsten Zeitpunkt
zum Segeln am besten kannten (Arabisch:
Mausam = Windrichtung).
In diesem Aufsatz wird zunächst die Ursache der indischen Diaspora in Afrika
kurz geschildert.
Seit der Zeit der Maurya-Könige (321- 184
v. Chr.) war der indische Herrscher der
oberste Herr über Grund und Boden.Auch
der Besitz der indischen Fürsten gehörte dem König. Francois Bernier, der sich
zwischen 1658 und 1667 als Arzt an den
Mogulnhöfen aufhielt, schrieb: „ ... dass
die Omrahs (Adligen) von Hindoustan
weder Landeigentümer sein können noch
über selbständige Einkünfte verfügen, wie
es bei den Adligen von Frankreich und
christlichen Staaten der Fall ist“.1
Trotz des absoluten Eigentumsrechts des
Herrschers an Grund und Boden verfügte
die Dorfgemeinde fast ununterbrochen
über das Nutzungsrecht des ihr zugewiesenen Landes, das wiederum von einzelnen
Bauern und von deren Nachkommen bewirtschaftet wurde. Der Bauer war somit
der faktische Besitzer des von ihm bebauten Grund und Bodens, solange er den
Steuerverpflichtungen nachkam.2
Der vom einzelnen Bauer erwirtschaftete
Überschuss am Ertrag wurde mit den Webern, Schneidern, Schreinern, Schustern
Maurern, Barbieren, Hebammen und Totengräbern geteilt. Auf dieser Grundlage
der Tauschwirtschaft basierte die existentielle Grundversorgung der Dorfgemeinschaft.
Dies alles änderte sich gewaltig während
der Herrschaft der Ostindischen Gesellschaft (1764-1857) in Indien. Sie schuf ein
Gesetz (Permanent Settlement Act), das
die Keimzelle des privaten Besitztums in
Indien schuf. Danach wurde zum ersten
Mal ein kleiner Kreis von Landeigentümern bzw. Zamindaren geschaffen. Der
Glaube daran, dass die Großgrundbesitzer
in der Lage waren, die Landwirtschaft zum
Zwecke der Industrialisierung zu kom meine welt 2/2011 51
i
merzialisieren, spiegelte dabei den Erfolg
der kapitalistischen Agrarwirtschaft in
Großbritannien wieder. Danach waren
die indischen Bauer nicht mehr Eigentümer des Landes, das sie seit Jahrhunderten bebaut hatten. Sie wurden jetzt
Pächter und Landknechte des einzelnen
Zamin-dars. Die Steuer- und Abgabelasten
unterschiedlicher Art, die der Zamindar
den Bauern auferlegte, führten dazu, dass
der Bauer zu Grunde ging. Am Ende des
18. Jahrhunderts starb fast ein Drittel
M igr a t i o n
i
der Landbevölkerung von Bengalen, das
damals auch die heutigen Bundesstaaten
Orissa und Bihar umfasste und unter der
Verwaltung der Ostindischen Gesellschaft
lag. Der damalige Generalgouverneur von
Bengalen, Charles Cornwallis (1786-1793),
berichtete im englischen Parlament, wie
folgt: „Ich möchte versichern, dass ein
Drittel des territorialen Besitzes der Gesellschaft in Indien jetzt zu einer Wildnis
geworden ist, die nur von wilden Tieren
bewohnt wird“.3
Mit dem Ruin der bäuerlichen Gesellschaft
einher ging die Vernichtung der Weber
(Julaha, eine moslemische Weberkaste)
und deren Baumwollproduktion, die Wirtschaftssäule der indischen Wirtschaft.
Die Webereien von Bengalen wurden aufgrund der Billigprodukte aus England völlig vernichtet. William Cavendish Bentinck,
Indiens Generalgouverneur (1827-1835),
äußerte sich dazu folgendermaßen: „Das
Elend findet kaum eine Parallele in der
Geschichte des Handels. Die Knochen der
p o r t ra i t
Anshu Jain
Der Inder wird 2012 Chef der Deutschen Bank
Darf ein Inder die Deutsche Bank führen?
Diese Frage wird in diesen Tagen häufig
gestellt. Das Problem daran: Die Frage
führt in die Irre.
Jain wird in Jaipur im Bundesstaat Rajasthan im Norden Indiens geboren. Sei
Vater arbeitet im öffentlichen Dienst. Die
Eltern sind wohlhabend, aber nicht reich.
Als Jain sechs Jahre alt ist, zieht die Familie
in die Hauptstadt Neu-Delhi. Dort verbringt er seine Jugend, unterbrochen von
einem Aufenthalt in Kabul, als der Vater
nach Afghanistan versetzt wird. Jain geht
auf die Delhi Public School on Mathura
Road, danach studiert er Volkswirtschat
am staatlichen Shri Ram College. Er ist
gut, aber kein Streber. Zwei Tage vor der
Abschluss-prüfung spielt er lieber Cricket,
statt für den Test zu lernen, so erzählt es
ein Studienfreund, Lokesh Sharma.
Jain ist stolz auf sein Heimatland, er baut
derzeit ein Haus in Delhi, und als das Topmanagement der Deutschen Bank einmal
seine Jahrestagung auf dem Subkontinent
abhielt, spielte er mit dem Vorstand in Jaipur eine Runde Elefantenpolo.
Und doch sind die Jahre in Indien nur ein
Teil seines Lebens. Er gehört einer alten
indischen Glaubensrichtung an, doch ein
religiöser Mensch ist er nicht. Schon mit
20 Jahren geht er mit seiner Frau Geetika,
52 meine welt 2/2011
die er auf dem College kennen gelernt
hat, in die USA. Er studiert Betriebswirtschaft an der University of Massachussetts
in Amherst – eine solide Universität, aber
keine der Top-Adressen. Schon während
des Studiums interessiert er sich für Finanzen. Karrierepläne werden daraus erst, als
er von Amherst aus nach New York reist
und die Wall Street besucht. Jain geht zu
Kidder Peabody, dann zu Merrill Lynch.
Es sind heiße Jahre im New Yorker Finanzdistrikt, eine Fusionswelle rollt, das
Geschäft mit Anleihen boomt. Es ist jene
wilde Ära, die Oliver Stone in seinem Film
Wall Street verewigt hat.
Die Jahre in den USA und Großbritannien und die Reisen, die er in nunmehr 16
Jahren bei der Deutschen Bank absolviert
hat, prägen ihn. Allein 2010 war er rund
140 Tage unterwegs. Anshu Jain ist überall
zu Hause – und nirgends. Er sei ein „denationalisierter Mensch“ sagt einer, der
mit ihm in Deutschland zu tun hatte.
Auch in den Zirkeln der Investmentbanker
ist er nie ganz heimisch geworden. Ihre
Statussymbole bedeuten ihm wenig: Privatjets, erlesene Kunstsammlungen oder
ausschweifende Partys – Jain hat dafür
nicht viel übrig. Seine Unterlagen trägt
er in einem schwarzen Rucksack umher,
einfach weil es praktischer ist. In London
fährt er U-Bahn, wenn er so am schnellsten
ins Büro kommt – bei den Anschlägen 2005
blieb er in der tube stecken, wie so viele
andere auch. Im dritten Stock von Winchester House, der Zentrale der Deutschen
Bank in London und Jains Machtzentrum,
hat er ein Büro zwischen anderen. Darin
Standardmöbel. Sein Haus im Londoner
Westend ist schick, aber nicht protzig,
es liegt in einer ordentlichen, aber nicht
edlen Straße. Im altehrwürdigen Marylebone Cricket Club ist er nur als assoziiertes Mitglied eingetragen. In Gesprächen
kommt er ohne lange Vorrede zur Sache
und beendet die Konversation ohne große
Abschiedsworte. Es geht um den Inhalt,
nicht um die Form.
Seine Heimat ist seine Familie. Ist an den
Märkten wenig los und steht kein Termin
mehr an, kommt es vor, dass er um fünf
oder sechs Uhr sein Büro verlässt. 24 Stunden erreichbar, aber zu Hause. j
(Auszug aus: „Der Inder Anshu Jain wird 2012
Chef der Deutschen Bank. Um ihn ranken sich
viele Gerüchte“. Von Mark Schieritz und Arne
Storn, DIE ZEIT, 1.9.2011)
i
Baumwollweber bleichen die Ebenen von
Indien“.4
Somit wurde der Ackerbau und das Handwerk völlig zerstört, die bisher die Säule
der indischen Gesellschaft gewesen waren. Jawaharlal Nehru schrieb: „Indien
entwickelte sich zur Agrarkolonie des
industrialisierten England, als Lieferant
der Rohstoffe und als Abnehmermarkt
der englischen Waren“.5
Infolge des nordamerikanischen Unabhängigkeitskriegs (1776-1783) und der
Französischen Revolution (1789), die auf
den karibischen Inseln zur Sklavenrevolte
gegen die Plantagenbesitzer führte, kam
es in den Kolonien zur Verknappung der
Arbeitskräfte beim Anbau der bisherigen
Exportprodukte wie Zucker, Baumwolle,
Indigo usw.. Demzufolge wurde Indien die
Funktion als Billiglieferanten von Arbeitskräften als Ersatz für die Sklaven, den
sogenannten Kulis (Tamil: Tagelöhner),
zugewiesen. Die Engländer bedienten
sich des von ihnen verursachten Heers
von Arbeitslosen sowohl für den eigenen
Bedarf als auch für die anderen Kolonialherren. Während der Kolonialherrschaft
wurden über fünf Millionen Inder als Kulis
in überseeische Länder verschifft.6
Die ersten Arbeiter kamen aus Bengalen,
dem Herrschaftsbereich der Ostindischen
Gesellschaft. Sie wurden über den Hafen
von Hoogly (Kolkata) nach Ost- Afrika
(heute Kenia, Tansania und Uganda) gebracht. Um diese Zeit verschifften auch
die Franzosen ihre Arbeitskräfte, zunächst
als Sklaven, aus ihren südindischen Besatzungen von Pondicherry (Pudicheri)
und Karaikal in Tamil Nadu in ihre Inselkolonien im Indischen Ozean, nach
Madagaskar, Mauritius, Réunion und zu
den Seychellen. Die Portugiesen taten dieses auch für ihre afrikanischen Kolonien
Mosambik und Angola.
Vertragsarbeiter
Die damaligen Vertragsarbeiter stellten
keine homogene Gruppe dar. Dieser Zustand ist bis heute unverändert geblieben.
Sie sind Hindus, Moslems, Christen, Sikhs
und Parsen. Die Hindus machen insgesamt
fast 70% der afrikanischen Diaspora aus.
Die Moslems zählen zur zweitstärksten
Gruppe von 20%, die Christen und Sikhs
M igr a t i o n
i
liegen bei nicht mehr als 7 bis 8% der
dortigen indischen Bevölkerung.
Im Gegensatz zu den Vertragsarbeitern
sind Geschäftsleute aus Indien mehrheitlich freiwillig und aus eigener Initiativen
nach Afrika gekommen. Zu ihnen gehören hauptsächlich Hindus und Moslems.
Die Hindus kommen aus der Kaste der
Banias, die Moslems aus der Volksgruppe
der Bohras, Khojas (Ismailis: Anhänger
von Aga Khan) und Memons, sie sind zum
größten Teil Schiiten. Sowohl Hindus als
auch Moslems kommen hauptsächlich aus
dem Bundesstaat Gujarat. Es sind solche,
die seit Jahrhunderten ausschließlich Geschäfte betreiben.
Die von der indischen Diaspora gesprochenen Sprachen sind Hindustani bzw.
Bhojpuri, ein alter Dialekt der Gangesebene, und die südindischen Tamil, Telegu,
Malayalam und Konkani Sprachen, die in
den ehemaligen französischen und portugiesischen Kolonien gesprochen werden.
Die Sprache der Geschäftsleute ist aber
weitgehend Gujarati.
Am Anfang des 19. Jahrhunderts brachten die Engländer eine kleine Zahl von
Indern nach Afrika für den Straßenbau,
zur Urbarmachung der Siedlungsgebiete
und als Soldaten. Erst am Ende des 19.
Jahrhunderts kam eine große Zahl von
ihnen nach Ost-Afrika zum Bearbeiten von
Zuckerfeldern und für den Eisenbahnbau,
der 1896 begann. Der indische Unternehmer Alibhoy Jeevanji erhielt zu diesem
Zweck einen Vertrag von den Engländern
zum Anheuern von über 30.000 indischen
Arbeitern. Der Eisenbahnbau begann 1896
am Hafen von Mombasa (Kenia), erreichte
im Jahr 1901 den Viktoriasee und endete
1931 in Kampala (Uganda). Diese Bahn,
Uganda- Bahn genannt, ist 930 km lang
und verbindet Kenia,Tansania und Uganda
miteinander. Entlang dieser Bahnlinien
entstanden zahlreiche ostafrikanische
Städte wie Nairobi (Hauptstadt von Kenia), Kisumu, Kitale und Jinju, in denen
heute noch Inder in großer Zahl leben.
Auch die Bahn ermöglichte es ihnen, sich
im Inneren des Landes niederzulassen. Die
Bauarbeiter waren hauptsächlich Sikhs aus
dem Punjab. Von hier aus wurden sie auch
zum Baumfällen nach Vancouver (Kanada)
und als Landarbeiter nach Nord-Amerika
gebracht. Die Parsen fanden in der Uganda-Bahn Beschäftigung als Lokomotivführer und Bahnangestellte. Seit Beginn
der Dampfschifffahrt zwischen Mumbai
und Sansibar 1872 kamen in großer Zahl
Geschäftsleute aus Gujarat und Mumbai
nach Afrika.
Nach einer Schätzung beläuft sich zur Zeit
die Zahl der PIO in Ost-Afrika (Kenia,
Tansania und Uganda) auf ca. 205.000, das
sind ca. 0,72 % der dortigen Gesamtbevölkerung (s. Tabelle). Bis in die siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts kontrollierten
die Inder fast 90% des dortigen Handels,
von Afrikanern abfällig Dukawalla (Hindi:
Dukan = Geschäftsinhaber) genannt. Um
1960 lag das pro Kopf Einkommen eines
Inders in Uganda bei 288 Pfund Sterling,
dagegen nur 12 Pfund bei den Einheimischen.7
Auch wegen ihrer Zusammenarbeit mit
den Engländern wurden sie zur Zielscheibe massiver Kritik in Ost-Afrika. 1971
gab Idi Amin, der Diktator von Uganda
(1971-1979), den 75.000 Indern, die nicht
die Staatsangehörigkeit von Uganda besaßen, den Befehl, das Land innerhalb von 90
Tagen zu verlassen. Kein einziger afrikanischer Staatsmann sprach sich gegen eine
solche Vertreibungspolitik von Idi Amin
aus. In der Tat wanderten 1972 über 72.000
Inder von dort nach Großbritannien aus.
Auch in den anderen Staaten von OstAfrika wurden die Stimmen gegen sie sehr
laut. Jomo Kenyatta, der erste Präsident
von Kenia (1964-1978), sagte den Indern
„Pack and Go“. Bis 1975 verließen fast
200.000 Inder Ost-Afrika.
Jawaharlal Nehru, Premierminister von
Indien (1947-1964), riet den dort lebenden Indern, Afrika als ihr Heimatland zu
betrachten, sich kräftig in den dortigen
Freiheitsbewegungen zu engagieren und
sich in das dortige Volk zu integrieren.
In einer seiner Reden ging er sogar so
weit zu sagen:
„If you cannot be and if you are not friendly to the people of that country, come back
to India and do not spoil the fair name
of India“.8
Auch gegen Ende des 19. Jahrhunderts
wurden Inder nach Südafrika gebracht,
zunächst nach Natal, Transvaal und in die
Cape Colony, und zwar für die gleichen
meine welt 2/2011 53
i
Tätigkeiten wie Zucker- und Eisenbahnanbau. Indische Händler schlossen sich
ihnen an. Fast 90% der südafrikanischen
indischen Diaspora lebt noch in diesen drei
Gebieten. Heute beläuft sich ihr Bevölkerungsanteil auf 1,2 Millionen und damit
machen sie 2,78% der südafrikanischen
Bevölkerung aus. Ihr Einkommen ist drei
Mal so hoch wie das der Schwarzafrikaner und halb so groß wie das der Weißen. Sie sind aber in die südafrikanische
Gesellschaft gut integriert. Sie betreiben
nicht nur Geschäfte, sondern sind sie auch
vielfach in den akademischen Bereichen,
Regierungsämtern sowie in der Politik
tätig. Diese Entwicklung geht auf Mahatma Gandhi zurück, der dort 21 Jahre
(1893-1914) lebte und zusammen mit den
Afrikanern Widerstand gegen die dortige Rassentrennungspolitik leistete. Der
Indian National Congress diente Nelson
Mandela bei seiner Gründung des African
National Congress 1960 als Vorbild. Im
Gegensatz zu Ost-Afrika sind die Inder
von Südafrika nicht vertrieben worden.
Von Ost- und Südafrika ging ein Teil der
indischen Diaspora auf der Suche nach
Arbeits- und Geschäftsmöglichkeiten
nach Botswana, Malawi, Sambia (früher:
Nord-Rhodesien) und Simbabwe (SüdRhodesien). Die Engländer gewährten
den Indern die Möglichkeit, sich in ihren
Kolonien frei zu bewegen und wohnhaft
zu werden, um ihren Bedarf an Gütern
und Dienstleistungen zu decken. In den
genannten Ländern beträgt die Gesamtzahl der PIO 44.000. Ihr Anteil macht insgesamt lediglich 0,72% der Bevölkerung
aus, aber sie sind auch in diesen Ländern
sehr wohlhabend, was gelegentlich zu Konflikten zwischen ihnen und der dortigen
Bevölkerung führt.
In der ehemaligen englischen Kolonie
Mauritius sind die indischen Emigranten
am meisten vertreten.Wie nirgendwo sonst
in der Welt bilden sie hier die Mehrheit,
mit einer Zahl von 617.000 machen sie
fast 60% der dortigen Gesamtbevölkerung aus. Die Insulaner nennen ihr Land
„Little India“.
Die Franzosen besaßen diese Insel von
1715 bis 1810 und brachten während
dieser Zeit die Inder aus ihren besetzten
Gebieten Pondicherry und Karaikal (Ta54 meine welt 2/2011
M igr a t i o n
i
mil Nadu) zunächst als Sklaven auf die
Insel. Infolge des Krieges (1803- 1815)
zwischen Napoleon und England musste
Frankreich 1810 Mauritius an England
abtreten. Aber Frankreich ließ in einem
Vertrag festschreiben, dass die Engländer
die bisherige französische Kultur, Sprache
und Tradition weiter beibehalten sollten.
Nach der Übernahme der Insel brachten
die Engländer eine große Zahl von Indern nach Mauritius. Hierher kamen auch
vielfach die Vertragsarbeiter aus dem damaligen Bengalen, weswegen auch hier
heute noch das alte Bhojpuri gesprochen
wird. Aber auch Morisyen, eine kreolische
Sprache, die auf dem Französischen basiert, wird von fast allen Inselbewohnern
im Alltag benutzt. Interessant ist es, dabei
zu beobachten, dass die PIO trotz ihrer
großen Mehrheit und Geschäftstüchtigkeit
in Mauritius keine ökonomisch dominante Rolle spielen. Die Kreolen, ehemalige
Sklaven aus Afrika, die sich mit Europäern
vermischt haben und die lediglich 5% der
dortigen Bevölkerung ausmachen, kontrollieren noch wichtige Geschäfte und Ämter
in Mauritius. Es kann ohne weiteres gesagt
werden, dass die herrschende Oberschicht
bis heute französisch geprägt geblieben ist.
Assimilierungspolitik
Im Gegensatz zur englischen war die französische und portugiesische Politik darauf
fixiert, ihre Sklaven und Fremdarbeiter voll
an ihre Gesellschaft zu assimilieren. Infolge dieser Politik wurden die PIO in den
frankophonen Kolonien wie Madagaskar,
Mauritius, den Seychellen und Réunion
christianisiert. Dort musste man Französisch oder Kreolisch sprechen, französische
Namen und Kleider tragen, um voll und
ganz Franzose zu sein. So ist es heute sehr
schwer, die PIO in diesen Ländern auszumachen, mit Ausnahme von Mauritius, das
von den Engländern übernommen wurde,
die eine Politik der Nichteinmischung in
kulturell-religiöse Angelegenheiten ihrer
Kolonialvölker betrieben.
In den lusophonen Staaten von Mosambik und Angola kamen die PIO primär
aus den portugiesischen Kolonien Goa,
Daman und Diu, die bereits zum Katholizismus konvertiert waren, portugiesisch
sprachen und sich voll assimiliert hatten.
Ihnen wurde auch erlaubt, in den porugiesischen Kolonien Land zu erwerben,
was bei den Engländern und Franzosen
lange Zeit nicht möglich war. Menschen
aus Goa wurden sogar zu Großgrundbesitzern und Feudalherren in Mosambik,
die sogenannten Prazeiros. Bei der Vergabe von Ämtern herrschte offensichtlich
keine Diskriminierung wegen Herkunft
und Hautfarbe. In den lusophonen Ländern wurden die Kolonialvölker nach der
Assimilierung als verlängerter Arm des
Mutterlandes bzw. Imperiums betrachtet.
Die indische Stadt Velha Goa blieb bis
zum Jahre 1530 Sitz des Vize-Königs von
Mosambik. Aus diesen Gründen waren
sie bereits im 19. Jahrhundert weder in
ihrer äußeren Erscheinung noch in ihrer
Tradition als indisch zu erkennen. In den
dortigen Statistiken findet man lediglich
einige indische Geschäftsleute, die sich
nicht assimiliert haben, und die neu hinzugekommenen NRI.
In der ehemaligen französischen Kolonie
Seychellen leben noch ca. 5.000 PIO, sie
machen 6,25% der dortigen Bevölkerung
aus. Sie sind dort voll assimiliert, sehr wenige von ihnen haben noch indische Namen.
Réunion ist seit 1946 ein Teil bzw.ein
Départment, es heißt „Outre Mer“, von
Frankreich. Die Vertragsarbeiter kamen
auch hier aus den ehemaligen französischen Kolonien Tamil Nadu und Malabar.
Fast 25% der Gesamtbevölkerung von
800.000 sind indischer Abstammung. Sie
gehören zur römisch-katholischen Kirche
und haben sich mit der dortigen afrikanischen und französischen Bevölkerung
vermischt. Die Einheimischen nannten sie
Tamilou. Es sind dort lediglich ca. 8.000 als
indische Geschäftsleute übrig geblieben,
die noch ihre alten indischen Namen, ihre
Religion und Tradition beibehalten haben.
In Madagaskar leben 25.000 PIO, das
sind 0,17% der dortigen Bevölkerung.
Die meisten von ihnen sind Händler und
Geschäftsleute aus Gujarat und Mumbai,
in der Mehrzahl Bohras und Khojas aus
Gujarat. Sie pflegen ihre alte Kultur und
Tradition weiter. Sie kontrollieren noch
über 50% der dortigen Binnengeschäfte
und sind dort nicht gern gesehen.
Zum Schluss sei gesagt, dass sich die indischen Händler bis jetzt kaum in die af-
i
rikanische Gesellschaft integriert haben.
Die Händlergruppen sowohl der Hindus
als auch der Moslems kommen mehrheitlich aus Gujarat, gelten in religiöser
Hinsicht als sehr konservativ, pflegen ihre
Landessprache und Tradition und leben
noch weitgehend nur mit ihren eigenen
Volksgruppen zusammen. Sie bilden in Afrika in kultureller und sprachlicher Sicht
eine Einheit, eben die der Vertragsarbeiter,
die aus verschiedenen Regionen kamen.
Die wirtschaftliche Unabhängigkeit und
Besserstellung der Händler brachte sie
nicht unter Zwang, ihre Lebensweise und
Weltanschauung zu ändern, wie es bei den
lohnabhängigen Kulis und Vertragsarbeitern der Fall war.
Nachdem Indien begonnen hat, ökonomisch und politisch eine beachtliche Rolle
in der Welt zu spielen, fühlt sich die indische Diaspora zu dem ursprünglichen
Land ihrer Vorväter hingezogen. Nach
der Unabhängigkeit Indiens und der afrikanischen Länder normalisieren sich die
Beziehungen zwischen ihnen und ihren
Gastländern und diese werden durch die
modernen Kommunikationsund Transportmittel noch gefördert. Seit über 20
Jahren arbeitet Indien auf Bundesebene
an der Pflege und Intensivierung der Beziehungen zwischen der indischen Diaspora
in deren Gastländern. Es sind inzwischen
unzählige öffentliche und private Institutionen und Organisationen in Indien
entstanden, die zur Wiederbelebung der
Kultur, Tradition und Kontakte untereinander beitragen. Die Aufzählung solcher
Organe, die sich der Renaissance der Beziehungen widmen, würde den Rahmen
dieses Aufsatzes sprengen.
Die Inder im Ausland, sowohl PIO als auch
NRI, zählen zu einer der erfolgreichsten
Volksgruppen in ihren Aufenthaltsländern. In den USA und Kanada sind sie die
Wohlhabendsten unter allen Minoritäten.
Dies gibt ihnen das Gefühl der Stärke und
Zugehörigkeit zu ihrem Ursprungsland.
Zu diesem Zweck sind Netzwerke und
internationale Dachorganisationen, wie
Global Organization of Persons of Indian
Origin (GOPIO) entstanden, die sich als
Brückenbauer, Informationsträger und
Sprachrohr für die Belange der indischen
Diaspora einsetzen und die Gastländer auf
M igr a t i o n
i
PIO und NRI in
Ost-und Süd-Afrika9
Land PIO und NRI Bevölke-
rungsanteil
Südafrika 1.200.000 2,78 %
Mauritius 716.000 59,67 %
Kenia 103.000 0,33 %
Tansania 90.000 0,26 %
Madagaskar 25.000 0,17 %
Mosambik 21.000 0,12 %
Simbabwe 17.000 0,13 %
Sambia 13.000 0,12 %
Uganda 12.000 0,05 %
Botswana 9.000 0,42 %
Réunion 8.000 1,00 %
Seychellen 5.000 6,25 %
Malawi 5.000 0,25 %
Gesamt 2.224.000
die Diskriminierung und Benachteiligung
dort ansässiger Inder aufmerksam machen
und medienwirksame Maßnahmen und
politische Schritte ergreifen.
Es ist allgemein bekannt, dass die chinesische Diaspora entscheidend zur Entwicklung von China als Großmacht beigetragen
hat. Die Chinesen in den Ländern ihrer
Diaspora betrieben hauptsächlich Handel
und Kommerz, dagegen blieben die Inder
in ihren Gastländern weitgehend lohnabhängig.Die Auslandschinesen verfügten
fast über eine Monopolstellung für ihre
Heimatwaren wie Seide, Porzellan, Schießpulver, Papier, Buchdruckkunst und Tee.
Darüber hinaus stiegen sie in die Gastronomiewirtschaft ein. Im Laufe der Zeit
kontrollierten sie einen beträchtlichen Teil
des Binnengeschäfts von Südost-Asien,
von den Philippinen bis Birma. Da sie in
Regionen lebten, die ihnen kulturell verwandt waren, hatten sie es leichter, sich
dort geschäftlich zu entfalten. Dagegen
waren die Geschäftsbedingungen für die
Inder in Afrika ungünstig und feindselig.
Außerdem hinderte das Vordringen europäischer Seefahrer und Kolonialherren
die Inder gewaltig an der Ausbreitung ihrer Geschäfte in überseeischen Ländern
wie in Afrika. Darüber hinaus lernten die
Chinesen sehr früh von den Europäern
in Hongkong, Singapur und Macao das
moderne Geldund Bankwesen kennen,
die Formalitäten und Wege des internationalen Geschäftes. Es entwickelte sich
unter ihnen eine Klasse des Geld- und
Handelsadels, Maiban, die ihr Kapital und
Können der Volksrepublik China zur Verfügung stellten.
Die Chinesen von Chinatown in den USA,
Kanada und England beschäftigten sich
vornehmlich mit Handel und Geschäften
aller Art, anders als die Inder. Die indischen Geschäftsleute konnten im europäischen Raum ihre Tabus nur schwer
überwinden, was notwendig gewesen
wäre, um heimisch zu werden. Die viel
geringere Zahl indischer Geschäftsleute
in Europa belegt das.
Seit den neunziger Jahren des vorigen
Jahrhunderts trägt die indische Diaspora
zu der Entwicklung Indiens bei, und zwar
durch die in Silicon Valley (Kalifornien)
arbeitenden NRI, die dort wegen ihrer
guten technischen Ausbildung Arbeit
fanden. Sie wurden im Laufe der Zeit
Mitinhaber und Gründer der namhaften
Informationstechnologiefirmen.Von ihnen
gingen einige nach Bangalore (Karnataka)
und Hyderabad (Andhra Pradesh) und
gründeten dort Firmen, die heute zu den
größten der Welt zählen. Sie tragen massiv zum Export von Computersoft- und
Hardware ins Ausland bei, fast 30% der
indischen Auslandsdevisen gehen auf diese
Firmen zurück.
Devisenüberweisungen
Auch die Devisenüberweisung der indischen Diaspora spielt eine sehr große
Rolle bei der Entwicklung Indiens. Nach
Angaben der Reserve Bank of India wurden 2009 von im Ausland lebenden Indern
fast 30 Milliarden US-Dollar nach Indien
überwiesen, was 4% des indischen Bruttosozialprodukts darstellt. Bei der Überweisung lag der Anteil der USA mit 44% an
erster Stelle. Danach kamen die Golfländer
mit 25% und Europa mit 13%. Nach den
Schätzungen liegen die Überweisungen
von Indern weit höher, da der Großteil
des Geldes, insbesondere aus den Petro
Dollar Staaten, über Hawala bzw. Vermittlungsmänner und Geschäftsinhaber
transferiert wird. Da Inder seit ein paar
Jahren verstärkt als IT-Spezialisten und
meine welt 2/2011 55
i
Fachkräfte weltweit eingestellt werden,
nehmen die Geldüberweisungen nach
Indien zu. So wird vermutet, dass Indien
diesbezüglich bald China überholen wird.
Ferner kommen zur Zeit fast sechs Millionen Touristen nach Indien, wovon über
80% aus dem Kreis der PIO und NRI sind.
Die Einnahmen werden dadurch auf acht
Milliarden geschätzt. Die Mehrzahl der
Auslandsinder kommt aus dem Inneren
des Landes, und auf diese Weise wird durch
ihre Besuche auch die bisher vernachlässigte Infrastruktur des Binnenlandes verbessert und die dortige Kaufkraft gesteigert.
Indien hat sich ohne Zweifel als demokratisches Land voll bewährt und dabei weitgehend friedlich entwickelt. Das schafft
M igr a t i o n
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eine gute Voraussetzung für die Investition. Demzufolge ist erkennbar, dass die
indische Diaspora zunehmend in Indien
investiert. Ein sehr gutes Beispiel liefert
uns das Land Gujarat, das sich, verglichen
mit den anderen Bundesländern Indiens,
infolge der Investitionen von Gujaratis
aus Afrika, Nordamerika und England
am besten ökonomisch und industriell
entwickelt hat.
Die Überweisungen indischer Vertragsarbeiter aus den Vereinigten Arabischen
Emiraten (VAE) und Saudi-Arabien
nach Kerala und Hyderabad haben entscheidend zum Wohlstand der dortigen
Bevölkerung und Gründung zahlreicher
kleiner Betriebe beigetragen. j Literatur:
1) Bernier, Francois. Travels in the Mogul
Empire A. D. 1656-1668. By Vincent A. Smith.
London 1916. S. 224
2) Antonova, K. Alex Sandrovna. A History of
India. Book 1. Moscow 1979. S. 88
3) Minute in September 18,1789. In: John Strachey. The End of Empire. London 1959. S. 66
4) Marx, Karl. Das Kapital. Marx-Engels Werke
(MEW). Bd. 9 (1960). S. 455
5) Nehru, Jawaharlal. The Discovery of India.
Calcutta 1947. S. 247
6) Potts, Lydia. Weltmarkt für Arbeitskräfte.
Hamburg. 1988
7) Ramchandani, R. R., Uganda Asians. Bombay
1976. S. 84-87
8) Selected Works of Jawaharlal Nehru. Vol. 9.,
New Delhi. 1976. S. 619
9) Dubey, Ajay. Indian Diaspora in Africa. New
Delhi 2010
Zahlenangaben über Inder in Afrika, s. unterschiedliche internationale Statistiken
Die 698 Adivasi-Gemeinschaften besitzen
eine eigene Sprache und eine eigenständige Kultur und pflegen umweltschonende
Lebensweisen. Doch die Bundesregierung
weigert sich, sie als indigene Völker anzuerkennen. Amtlich sind sie als scheduled
tribes registriert, aber sie selbst bezeichnen
sich in Hindi als adivasi, um ihren Anspruch
als erste Bewohner bzw. Ureinwohner zu
unterstreichen. Gelegentlich werden sie
auch girijans (Kinder der Berge) genannt.
Bis zur Zeit der europäischen Eroberung
lebten sie zurückgezogen im nahezu undurchdringlichen Dschungel. Aber die
kolonialen Forstgesetze sprachen ihnen
jegliches Nutzungsrecht an den Wäldern
ab. Die Wälder wurden gerodet. In den
höheren Bergregionen legten die Briten
Teegärten und in den unteren Kaffeeplantagen an. Die adivasi konnten sich
nicht mehr autark ernähren, denn Wald
und Weiden reichten nach der Rodung
nicht mehr für eine Lebensgrundlage für
alle Dorfbewohner aus. Als Kulis mussten
sie in Teegärten oder auf Kaffeeplantagen
ganztägig arbeiten. Vor diesem Leben als
Kuli gingen sie einer Arbeit nicht den ganzen Tag nach. Man kann behaupten, Jahrhunderte hatte es ausgereicht, dass sie nur
einen halben Tag bis etwa zur Mittagszeit
Zeit aufwenden mussten, um für ihren Lebensunterhalt zu sorgen. Ab der Mittagzeit
konnten sie sich in Gruppen zusammenfinden und sich unterhalten, und sie tanzten
und sangen gemeinsam. Während dieser
freien, erholsamen, fröhlichen Zeitspanne
von der Mittagszeit bis zum Abend wurden
auch Mythen und Märchen erzählt, die so
an die Kinder weitergegeben wurden.Aber
nach einer ganztägigen, eintönigen, immer
gleichbleibenden Arbeit in Teegärten oder
auf Kaffeeplantagen kommt der adivasi
müde und abgespannt in sein Dorf zurück
und möchte sich nur noch ausruhen, um
am nächsten Tag wieder erholt zur Arbeit
gehen zu können. Aber nicht nur Männer,
sondern auch Frauen arbeiten in Teegärten
und auf Kaffeeplantagen. Die gelebten
Traditionen und die über Generationen
hinweg immer wieder neu erzählten Mythen und Märchen sind auf der Strecke
geblieben. Unwiederbringlich gehen hier
die Kulturen der Stammesbevölkerung und
deren Traditionen und Sprachen verloren,
obwohl einige Idealisten und auch der indische Staat versuchen, das Kulturgut der
Stammesbevölkerung zu retten, indem Videofilme von der Lebensweise der adivasi
gedreht und deren Mythen und Märchen
aufgeschrieben werden.
buchauszug
Wer sind die Adivasi?
G erda R ahlfs
Nachfolgend drucken wir einen kurzen
Auszug aus dem Buch „Frauen und
Geschichten aus Indien“ von Gerda
Rahlfs, das 2010 erschienen ist. Das
Buch ist ein „bewundernswertes Kompendium einer höchst facettenreichen
Darstellung des indischen Subkontinents“ (Prof. Dr. Dr. Peter Antes, Leibniz
Universität, Hannover) und zugleich
eine Liebeserklärung an Indien. Die
Erlebnisse und Eindrücke einer Studienreise nach Nordindien im Jahre 2006
prägten und inspirierten Gerda Rahlfs,
sich intensiv mit dem Thema Indien
auseinanderzusetzen und das vorliegende Buch zu schreiben. Das Buch
ist in dreieinhalbjähriger intensiver
Arbeit entstanden. Eine im März 2008
erkannte Leukämieerkrankung zwang
Frau Rahlfs zu mehrmaligen Krankenhausaufenthalten. Am 2. 4. 2010 verstarb Gerda Rahlfs unerwartet und viel
zu früh.
D ie R edaktion
56 meine welt 2/2011
i
I n t e rvi e w
i
„Indische Musik bedeutet für mich der Atem des
indischen Subkontinents, in welchem meine Seele
beheimatet ist.“
D iptesh alias F ichi D iamond
Diptesh ist von indischen Eltern in
Ratingen (Düsseldorf) geboren und
dort aufgewachsen. Früh im Leben
entwickelte er eine Leidenschaft für
Hip Hop Kultur und Rap Musik, weil,
wie er sagt, „Hip Hop alle Rassen und
Religionen vereint“. Heute komponiert
Fichi Diamond Protestlieder und singt
tiefenpoetische Rap und Reggaesongs
über die Liebe. Im folgenden Interview
erzählt er über sein Leben als Musiker
und als Sohn aus Indien eingewanderter Eltern. Die Fragen stellte Jose Punnamparambil
D ie R edaktion
Meine Welt: Bist du als Kind indischer
Eltern in Deutschland geboren und hier
aufgewachsen?
Diptesh: Genau. Meine Eltern stammen
beide aus dem indischen Bundesstaat Bengalen und ich bin hier in Deutschland mit
einem indischen Herkunftshintergrund,
welchen ich mit Stolz verkörpern darf,
geboren und aufgewachsen.
Meine Welt: Du bist ein Musiker. Welche
Art von Musik betreibst du? Wie kamst du
zu dieser Art von Musik?
Diptesh: Ich bringe mich als MC der Hip
Hop Kultur in der Rapmusik zum Ausdruck
und singe neuerdings auch Reggaesongs.
Hip Hop ist eine urbane Subkultur, die
aus Mcing (Rap), Djing, B-Boying (Breakdance) und Graffiti-Art besteht, in der New
Bronx von Afrika Bambaata aus der Taufe
gehoben wurde und in den USA meist von
Afroamerikanern und Puerto Ricanern
und anderen ethnischen Minderheiten
gelebt wird, welche von der gesellschaftlichen Mehrheit unterdrückt werden. So
ist der Rapgesang sehr subversiv gehalten und gibt auch mir die Möglichkeit,
als Mitglied einer ethnischen Minderheit
meine Schaffenskraft in Deutschland frei
zu entfalten und meine traurigen Erlebnisse mit Rassismus zu verarbeiten, die ich
seit meiner frühesten Kindheit erfahren
habe. Mein erstes deutsches Wort, welches
ich kennenlernte, war „Neger“. Ich wurde
diskriminiert und musste viel kämpfen.
Als die Hip Hop Kultur mir dann im Alter von 12 Jahren eine Heimat gab und
mich mit Stolz beseelte, mit welchem ich
meine indische Herkunft lebe, und ich mit
15 Jahren das erste Mal auf der Bühne
stand, war ich nicht mehr der „Neger“,
sondern der „Coole schwarze Inder mit
dem Mikrophon“. Ich bekam den Respekt,
den ich mir erträumte. Außerdem lehrte
mich Hip Hop, meinen Geist mit Wissen
zu vertiefen und wachsen zu lassen. So
habe ich meine Fertigkeiten in der deutschen Sprache immer weiter ausgebaut,
habe Germanistik studiert und kenne nun
mehr Worte als „Neger“ (lacht.) Mein gesamtes Selbstwertgefühl entstammt der
Hip Hop Kultur, in welcher ich kunstvoll
meine Rap Reime mit rhythmischen Beatkompositionen lebendig werden lasse, die
mal tiefenpoetisch geschrieben sind und
mal sehr hart und direkt meine Gefühlsmomente fassbar machen. So verkörpere
ich heute als Rap MC authentisch die Hip
Hop Kultur.
Meine Welt: Welche Beziehung hast
du zu indischer Musik?
Diptesh: Ich habe einen sehr tiefen
Bezug zur indischen Musikvielfalt.
Sie bedeutet für mich den Atem des
indischen Subkontinents, in welchem
meine Seele beheimatet liegt. Der
Atem, die Atmosphäre, der Klang meiner
indischen Herkunft. Als Kind habe ich mir
sehr gerne Hindi-Movies angeschaut, in
welchen ja viel gesungen und getanzt wird.
Diese dreistündigen Filmerlebnisse prägten mich, und als ich älter wurde, lernte ich
in der Tiefe die indische klassische Musik
zu lieben und den Facettenreichtum der indischen Musikkultur kennen. Was indische
Folklore angeht, spricht mich besonders
die Punjabi Bhangra Musik an, die mich
zum Tanzen bewegt. Außerdem faszinierte
mich die urbane Musik der indischen Diaspora in UK, deren berühmteste Vertreter
wohl der Tablaspieler Talvin Singh, Punjabi
MC, Juggy D und Jay Sean sein dürften.
Sie verbinden Drum&Bass, Hip Hop und
Rhythm&Blues mit Klängen aus der indischen Musik. So lasse ich ebenfalls hin
und wieder indische Musikkulturvielfalt
in meine Rapmusik mit einfließen und
unterstreiche auf diese Weise meine indische Herkunft.
Meine Welt: Ist Musik die Hauptquelle
deines Lebensunterhalts oder ist sie nur
ein Hobby?
Diptesh: Ich habe vor einiger Zeit die Musikproduktionsfirma „Indertat.com“ ins
Leben gerufen und arbeite als Industrietexter, um mein musikalisches Unternehmen zu finanzieren und meinen Lebensunterhalt zu sichern. Darüber hinaus bin
ich Berufsmusiker und trage bundesweit
meine welt 2/2011 57
i
meine musikalische Schaffenskraft auf die
Bühne und habe mein erstes Solo-Debüt
„Bollywood Ghetto Gentleman“ als CD
veröffentlicht. So ist Musik mehr als nur
ein Hobby für mich.
Meine Welt: Bist du als Musiker in
Deutschland akzeptiert? Ist deine Hautfarbe ein Vorteil, um in dieser Branche
weiterzukommen?
Diptesh: Ich habe eine Menge Fans, die
meine Musik sehr schätzen und feiern. Sie
sehen mich als „schwarzen Rapper“ und
„coolen Reggae-Sänger“. Auf diese Weise
wird meine Hautfarbe für den kommerziellen Erfolg ein erheblicher Vorteil, ein
Umstand, welcher auch die Musikindustrie
erkennt. Jedoch wird erwartet, dass ich als
dunkelhäutiger Rapper keine hochwertigen Lyrics zum Ausdruck bringe, sondern
meine Songtexte so einfach wie möglich
halte. Meist haben nur deutschstämmige MCs die Möglichkeit, Rap als Kunst
kommerziell zu verkaufen. Sie kritisieren
beispielsweise meinen indischen Akzent in
meinem Gesang, welcher jedoch gar nicht
vorhanden ist. So diene ich nur als bloße
Unterhaltung für die Masse. Neben dem
kommerziellen Erfolg, den ich anstrebe,
möchte ich natürlich auch als ernstzunehmender Musiker anerkannt werden.
Diese Anerkennung ist in Deutschland
für einen Dunkelhäutigen sehr schwierig
zu erreichen. So muss ich mich also auch
im Musikgeschäft mit Rassismus auseinandersetzen.
Meine Welt: Hast du wegen deiner Herkunft Diskriminierung in Deutschland
erlebt? Wenn ja, bitte erzähle uns dieses
Erlebnis.
Diptesh: Ich habe seit meiner Kindheit
ständig Rassismus und Ausgrenzung erfahren. Da ich als kleiner Bub erst mit der
bengalischen Sprachkultur in Berührung
kam, weil ich Deutsch ohnehin im sozialen Umfeld deutscher Kinder adaptieren
würde, verstand ich im Kindergarten nur
die Bedeutung des Wortes „Neger“. Ein
Umstand, welcher vollkommen ausreichte,
um mich mit Händen und Füßen gegen die
Herabwertung meiner Würde zur Wehr zu
setzen, da ich mich auf Deutsch nicht mitteilen konnte. So war ich sehr destruktiv,
58 meine welt 2/2011
I n t e rvi e w
i
bewarf die anderen „bösen“ Kinder mit
Spielzeugautos, warf sie von ihren Stühlen
und wurde durchgehend getadelt. So weigerte ich mich, den Kindergarten weiterhin
zu besuchen. Doch meine Eltern, welche
einen hohen Bildungshintergrund haben,
motivierten mich, mit deutschen Kindern
zu spielen und die deutsche Kultur in der
Tiefe kennenzulernen, da ich als ein Teil
der deutschen Gesellschaft von ihr anerkannt werden sollte. Letztendlich ist
Deutschland ja meine Heimat, und Sprachkultur muss in ihrer Dynamik gelebt werden, ohne das sprachliche und kulturelle
Erbe der Eltern zu verleugnen. So bleibt
die eigene Persönlichkeit lebendig und
mein indischer Geist kann die deutsche
Sprache nur bereichern. Also versuchte
ich, mich mit den deutschen Kindern anzufreunden, doch blieb diese Heimat für mich
eine vertraute Fremde. In der Schulzeit
wurde ich von meiner gesamten Klasse
als „Neger“ beschimpft und antwortete
mit Gewalt, bei welcher mir Freunde vom
Schulkindergarten halfen, die ebenfalls mit
Migrantenhintergrund in Ratingen West
aufwuchsen. In einem Ferienerholungsheim wurde ich von älteren deutschen Kindern durchgehend als „Neger“ beschimpft.
Sie wurden sogar handgreiflich. Es war
eine sehr harte Zeit und ich verleugnete
mich selber, bis ich das Alter von 12 Jahren
erreichte und der positive Geist der Hip
Hop Kultur mir eine neue Heimat gab, in
welcher nicht meine Hautfarbe oder meine
Herkunft zählte, sondern meine Leistung
im Rap. Ich begann, bewusst und positiv
zu denken, Gewalt als Lösung für meine
Ein gespaltenes Land
Deutschland ist nach der „Sarrazin-Debatte“ ein gespaltenes Land. Aber die Trennlinie verläuft nur oberflächlich zwischen
„den Muslimen“ und „dem Rest“ und nur
temporär zwischen Menschen mit Migrationshintergrund und jenen ohne. Die Trennlinie verläuft zwischen den „alten“ und den
„neuen“ Deutschen und ihrer jeweiligen
Vision von der Zukunft ihres Landes. Es
sind zwei unterschiedliche Vorstellungen
von Deutschland, die hier aufeinanderprallen. Das neue Deutschland wird sich
Probleme abzulehnen und befasste mich in
der Tiefe mit meiner indischen Herkunft,
brachte diese in meinen Songtexten zum
Ausdruck und wurde mit Respekt bedacht. Mit meiner Kunst möchte ich alle
perspektivelosen Kids mit ausländischen
Wurzeln inspirieren und ihnen als Vorbild
dienen. Ich möchte sie dazu bewegen, ihren Migrantenhintergrund als persönliche
Bereicherung und als Bereicherung für ein
neues Deutschland zu betrachten, um eine
langfristige multikulturelle Gesellschaft
zu begünstigen.
Meine Welt: Welche Zukunftspläne hast
du? Willst du in dieser Branche bleiben und
dich als Rap/Reggae Musiker profilieren?
Diptesh: Ich möchte auf jeden Fall durchgehend in der Unterhaltungsbranche verbleiben und mich in dieser fest etablieren. Nach meinem Solo-Debut- Album
„Bollywood Ghetto Gentleman“ ist die
Veröffentlichung eines Mixtapes geplant,
welches den Titel „Gutes Zeug aus West“
tragen wird. Hinterher folgt dann ein RapAlbum, das mit „Sprechgesang“ betitelt
sein wird. Ansonsten arbeite ich nebenher
an einem Roman. Meinen Künstlernamen
Diptesh MZ habe ich übrigens in Fichi
Diamond abgeändert, wobei ich derzeit
noch mit beiden Pseudonymen auftrete.
Ich bin gespannt, wohin mich die Wege
der Kunst führen. So warte ich nun gespannt auf all die neuen Inspirationen, mit
welcher Gott meine Kreativität beseelt.
Hierbei folge ich meiner inneren Stimme
und lasse mich überraschen. j
in der Zukunft nicht mehr durch Herkunft,
Genetik und Abstammungsstrukturen
definieren können – dies erlaubt schon der
demografische Wandel nicht mehr. Es wird
sich trotzdem nicht abschaffen – es wird
nur ethnisch und kulturell vielfältiger sein.
Und Deutschsein gilt dann als Chiffre für
die Zugehörigkeit zu einem gemeinsamen
Land.
N aika F oroutan , H U - B erlin
(Auszug aus dem Beitrag „Neue Deutsche,
Postmigranten und Bindungs-Identitäten. Wer
gehört zum neuen Deutschland?“, Aus Politik
und Geschichte, 15.11.2010)
i
Erz ä h l u n g
i
Ein hilfsbereiter Mensch
U da y P rakash
Eine Eigenheit meines Vaters bestand
darin, den Mitmenschen unentwegt helfen zu wollen. So kam es gelegentlich vor,
dass er sich bemühte, jemandem auf die
eine oder andere Weise unter die Arme
zu greifen, obwohl dieser seine Hilfe gar
nicht benötigte.
Selbst wenn ihn jemand ohne Hintergedanken besuchte, hatte Vater den Eindruck,
sein Gast würde in der Klemme stecken
und sich nicht trauen, offen darüber zu
sprechen. Also versuchte er ihm sein Geheimnis zu entlocken und herauszufinden,
in welchen Schlamassel er geraten war und
wie er ihn daraus befreien könnte.
Von denjenigen, die keine nennenswerten
Schwierigkeiten hatten oder die Fähigkeit besaßen, sich selbst aus der Patsche
zu helfen, machten sich auch einige über
Vater lustig.
Zudem vermochten manche Vaters Möglichkeiten genau einzuschätzen. Sie wussten, bei welchen Angelegenheiten welche
Hilfe von ihm zu erwarten war und wann
er nicht weiterhelfen konnte. Mit anderen
Worten, sie konnten genau beurteilen, welche Möglichkeiten er besaß und wann es
sich lohnte, ihn aufzusuchen. Wann immer
es ihnen von Vorteil erschien, spannten sie
ihn für ihre Zwecke ein, und war einmal
keine Hilfe von ihm zu erwarten, teilten
sie ihm ihre Probleme erst gar nicht mit.
Vater hatte keinen Umgang mit Politikern, Industriellen, Schmugglern oder
hohen Beamten und war daher für die
einflussreichen Leute aus der Stadt und
dem nahegelegen Städtchen von nicht allzu
großem Nutzen. Und trotzdem versuchte
er auch diesen Menschen zu helfen, wenn
er einmal Besuch von ihnen bekam und
sie ihre Probleme vor ihm ausbreiteten.
Und dann gab es natürlich Unzählige, die
auf Vaters Hilfe angewiesen waren und für
die er von unschätzbarem Wert war. So half
er beispielsweise regelmäßig, wenn jemand
zuhause im Bett lag, vom Dorf ins Krankenhaus gebracht werden musste und kein
Geld für Ärzte und Medikamente besaß.
Mit seinem Traktor fuhr er ihn ins nächste
Städtchen, brachte ihn ins Krankenhaus
und bezahlte in der Regel sämtliche Rechnungen aus eigener Tasche.
Einer von ihnen war der tuberkulosekranke Stammesangehörige Lalu, der
mit zwanzig Jahren bereits wie ein Achtzigjähriger ausgesehen hatte, zu einem
Skelett abgemagert war und bei seinen
Hustenanfällen Blut spuckte. Ihn hatte
Vater, nachdem er sein Getreide verkauft
hatte, in die Landeshauptstadt Bhopal gebracht. Zwei Jahre später war Lalu kerngesund zurückgekehrt. Keiner hätte für
möglich gehalten, dass er bereits zu den
Todgeweihten gezählt hatte.
Jeden Morgen kam Lalu zu uns. Meistens
brachte er Tomaten oder anderes Gemüse
mit. Nach seiner Genesung hatte er begonnen es anzubauen. Auf diese Weise brachte
er seine Dankbarkeit Vater gegenüber zum
Ausdruck.
Auch bei dem Vorfall, von dem ich nun
berichten möchte, geht es um Vaters Angewohnheit, anderen helfen zu wollen.
Es war gerade Regenzeit. Bis auf kleine
Unterbrechungen hatte es mehrere Tage
geregnet. Sämtliche Gräben und Wasserspeicher hatten sich gefüllt. Der Wald
war triefend nass. Auf der Veranda stand
Wasser.
Der Fluss, der direkt an unserem Haus
vorbeiführte, war über die Ufer getreten.
Was an der Oberfläche trieb – Schaum,
abgebrochene Äste und Müll, von dem
keiner wusste, woher er stammte –, wurde von den Wellen immer wieder unter
Wasser gespült.
Er hatte sich in einen reißenden Strom
verwandelt. Sah man ihn oder hörte man
seine tosenden Wellen, so jagte er einem
Angst und Schrecken ein. Und stellte man
sich mit geschlossenen Augen an sein Ufer,
hatte man selbst am helllichten Tag den
Eindruck, als sei man auf allen Seiten vom
Hochwasser umgeben und befinde sich
mitten in der Strömung.
Als sich der Vorfall ereignete, führte noch
keine Brücke über den Fluss. Man wurde
von einem Boot übergesetzt. Die Fährleute hatten die Anlegestelle gepachtet.
Für ihren Dienst entlohnte man sie mit
ein paar Münzen.
Die Dorfbewohner, die auf unserer Seite
des Flusses lebten, waren fast die gesamte
Regenzeit vom nahegelegen Städtchen und
von der Stadt abgeschnitten. Doch war
der Markt, der mittwochs im Städtchen
abgehalten wurde, für sie von enormer
Bedeutung. Sie machten sich nicht nur
zum Einkaufen auf den Weg dorthin, sie
boten auch ihre Waren dort an. Aus diesem
Grund bildete sich jeden Mittwoch gleich
nach Tagesanbruch eine Menschenschlange, die den Fluss überqueren wollte, was
für die Fährmänner bedeutete, dass sie an
diesem Tag alle Hände voll zu tun hatten.
Der Vorfall, um den es hier geht, ereignete sich ebenfalls an einem Mittwoch. Im
Städtchen fand gerade der Wochenmarkt
statt. Obwohl der Fluss Hochwasser hatte,
trafen die Dorfbewohner in Scharen an
der Anlegestelle ein, um zum Markt zu
gelangen. Die Fährmänner beförderten
ununterbrochen Menschen und Waren
über den Fluss, entluden sie am anderen
Ufer und kehrten wieder zurück.
Selbstverständlich mussten alle, die den
Fluss überquert hatten, nach dem Ende des
Markts wieder auf die andere Seite zurückkehren. Die Geldbörsen der Fährmänner
waren voller Geldstücke, auf denen Georg
V. und Königin Victoria abgebildet waren.
Allmählich brach die Nacht an. Es war
gerade Neumond. Im Dorf brannten hier
und da ein paar Kerzen und Laternen.
Alles andere lag in tiefer Dunkelheit. Gelegentlich waren neben dem tosenden Fluss
auch herumschwirrende Glühwürmchen
sowie Kühe und Hühner, Frösche oder
Grillen zu hören.
Sobald es dunkel wurde, trank Vater gewöhnlich etwas und setzte sich mit ein
paar Dorfbewohnern zusammen. Dann
sprachen sie über alles Mögliche, meistens
jedoch über Politik und Landwirtschaft.
Damals kannte man selbst in den Dörfern noch die großen Hindidichter. Vater
konnte mehrere Gedichte von Pant, Nirala und Maithilisharan Gupt auswendig.
Bachchans ›Trinkstube‹ sang er oft, wenn
er etwas getrunken hatte.
meine welt 2/2011 59
i
Er saß gerade mit ein paar Leuten zusammen und trank seinen Alkohol, als jemand
zu ihnen kam und berichtete, dass noch
an keinem Tag so viele Menschen vom
Markt zurückkehren würden wie an die-
Erz ä h l u n g
i
sem. Selbst wenn das Boot pausenlos im
Einsatz wäre, würde es mehrere Stunden
dauern, bis alle übergesetzt seien.
Die nächtliche Dunkelheit stellte dabei
ein großes Problem dar. Selbst mit einer
Alokeranjan Dasgupta und
Martin Kämpchen gewürdigt
von rechts nach links: Nirmalendu Sarkar, Alokeranjan Dasgupta, Martin Kämpchen, Jose Punnamparambil.
Während des Tagore-Abends, der im Rahmen des diesjährigen Literaturseminars
des Literaturforums Indien im Arbeitnehmerzentrum Königswinter vom 8. 7. bis
10. 7. 2011 stattfand, wurden die zwei bekannten Tagore- Experten im deutschsprachigen Raum, Alokeranjan Dasgupta und
Martin Kämpchen, für ihre herausragende
Arbeit gewürdigt. Der Vorsitzende und der
stellvertretende Vorsitzende des Forums
haben die beiden Experten mit dem für
die Ehrung vorgesehenen Schultertuch
aus Indien umhüllt. Der stellvertretende
Vorsitzende des Literaturforums Indien
sprach von der bahnbrechende Arbeit, die
die beiden Experten geleistet haben, um
das Interesse an Tagore und seinen Werken im deutschsprachigen Raum wieder
zu beleben.
Alokeranjan Dasgupta, selbst ein namhafter Dichter in der bengalischen Sprache, ist ein bekannter TagoreÜbersetzer
und Interprete Er hat bereits drei Werke
über Tagore veröffentlicht: „Goethe und
Tagore“, „Der andere Tagore“ und in
60 meine welt 2/2011
diesem Jahr „Mein Tagore“. Das letzte
Werk beinhaltet eine exklusive Auswahl
von Tagores Prosa und Gedichten in der
Übersetzung des Autors sowie nostalgische Erinnerungstexte des Autors an seine
Studentenzeit in Shantiniketan.
Martin Kämpchen, der deutsche Autor und
Übersetzer, der seit über drei Jahrzehnten
in Shantiniketan lebt, hat in den letzten
Jahren mindestens 10 Bücher über Tagore
herausgegeben. Im laufenden Jahr alleine
hat Herr Kämpchen 4 Tagore-Bücher herausgegeben: Rabindranath Tagore – Gedichte und Lieder (Insel), Mein Lieber
Meister (Draupadi Verlag), Rabindranath
Tagore und Deutschland (Marbacher Magazine Nr.133) und eine Sammlung von
Aphorismen aus den Werken von Tagore.
Seine Monographie über Tagore (Rowohlt
Verlag 2011) und sein Tagore-Band „Das
Goldene Boot“ – Lyrik, Prosa, Drama
(Verlag Artemis und Winkler 2005) sind
als wichtige Standardwerke über Tagore
geschätzt.
J ose P unnamparambil
Laterne war es gefährlich zu rudern, da bis
auf einen kleinen Lichtkegel alles im Dunkeln lag. Die Fährmänner scheuten sich
weiterzufahren, während die Menschen
am anderen Ufer kaum erwarten konnten
übergesetzt zu werden. Ohne irgendwelche
Vorkehrungen zu treffen, hatten sie ihre
Häuser verlassen. Sie mussten zurück.
In dieser Dunkelheit war es ausgesprochen
riskant, all die Menschen mit dem Boot
durch eine so starke Strömung zu fahren.
Das Boot konnte mit einem im Wasser
treibenden Baumstamm oder anderem
Treibgut zusammenstoßen und kentern.
Wenn man auf irgendeine Weise für etwas Licht sorgen könnte, würde dies alles
erleichtern.
Vater hatte bereits einige Gläser getrunken. In seinem Rausch musste sich seine
Hilfsbereitschaft noch einmal gesteigert
haben.
Schließlich fand er eine Lösung. Er startete
den Traktor, stellte die Scheinwerfer ein
Stück nach oben und fuhr zur Anlegestelle.
Am Hang hielt er den Traktor an. Wenn er
das Gaspedal betätigte, reichte das Scheinwerferlicht gerade aus, um Anlegestelle
und Ufer erkennen und das Boot steuern
zu können.
Es setzte sich in Bewegung, nahm die
Menschen auf der anderen Seite auf und
brachte sie über den Fluss.
Um Mitternacht erklangen von der Anlegestelle plötzlich die Rufe mehrerer Menschen. Es musste sich um Klageschreie handeln. Vermutlich war das Boot gekentert.
Ich war damals noch ein Kind, gerade
einmal zehn Jahre alt.
Kurz darauf begannen auch in unserem
Haus mehrere Menschen zu weinen. Am
lautesten weinte Mutter. Sie drohte den
Verstand zu verlieren. Meine Tanten und
einige andere Frauen aus dem Dorf waren ebenfalls in Tränen ausgebrochen.
Alle machten sich mit Laternen auf den
Weg zur Anlegestelle. An Mutters Seite
lief auch ich dorthin.
Das Ufer stand zu zwei Dritteln unter
Wasser. Überall war das ohrenbetäubende Tosen des Flusses zu hören. Mehrere
Menschen riefen wild durcheinander. Sie
rannten mit ihren Laternen hin und her.
Dann bemerkte ich es. Der Traktor stand
nicht mehr am Hang. Auch das Scheinwer-
i
ferlicht war nirgendwo zu sehen. Dort war
alles dunkel und überflutet. Und Vater …?
Es fühlte sich schrecklich an.Als wäre mein
Herz mit einem Mal vollkommen leer. Im
nächsten Moment begann ich am ganzen
Körper zu zittern und brach in Tränen aus.
Dann sah ich das entstellte Gesicht meiner
Mutter. Sie wälzte sich auf der vom Regen
durchweichten Erde und weinte bitterlich.
Vermutlich hatte sich die Bremse des
Traktors gelöst, als er am Hang über der
Anlegestelle stand und sich im Leerlauf
befand. Vater hatte auf dem Fahrersitz
gesessen. Einige andere saßen auf einem
seitlich befestigten Brett und konnten gerade noch abspringen, bevor der Traktor
mit Vater in die Fluten gefahren war.
Jemand sprach davon, dass er betrunken
auf dem Traktor gesessen und gesungen
hatte.
Ich weiß, um welches Tagore-Lied es sich
gehandelt haben dürfte:
„Wenn keiner deinem Rufe folgt, dann
gehe alleine voran!
Dann gehe alleine voran! Dann gehe alleine voran!“
Zum Glück waren die Räder des Traktors
in der Sandbank, die sich vor der Anlegestelle befand, eingesunken. Der Traktor
war stecken geblieben und der Motor
ausgegangen. Vermutlich hatte sich der
Auspuff mit Wasser gefüllt.
Im schwachen Laternenlicht sah ich ihn.
Ein paar Meter vor der Anlegestelle ragte
Vaters Kopf aus der braunen Strömung des
schäumenden Flusses. Er schaute von uns
weg, zum anderen Ufer hin. Der Traktor
war in den Fluten versunken. Vater saß
auf dem Fahrersitz und befand sich bis
zum Hals unter Wasser.
Er drehte sich nicht zu uns um. Vermutlich war er vor lauter Angst erstarrt. Der
furchteinflößende Lärm des Hochwassers
musste in seinen Ohren dröhnen. In der
Dunkelheit konnte er sicher nichts als das
endlose Wasser des brodelnden Flusses
sehen.
Keiner konnte ihm helfen. Vater hatte einen ausgesprochen schweren Körper. Wie
sollte man ihn da ans Ufer bringen? Das
Boot befand sich gerade auf der anderen
Seite. Vermutlich war Vater noch immer
betrunken. Sein Kopf ragte nur aus den
Wellen, weil er auf dem hohen Sitz des
Erz ä h l u n g
i
Traktors saß. Hätte er versucht auszusteigen, wäre er in den Fluten ertrunken. Er
konnte nicht einmal schwimmen.
Dieser Anblick in jener Nacht hat sich wie
ein Bild, das einem keine Ruhe lässt, für
immer in mein Gedächtnis eingebrannt.
Eine Neumondnacht, tagelanger Dauerregen und das tosende Wasser des über
die Ufer getretenen Flusses.
Und in einiger Entfernung irgendwo in
den Fluten befand sich der Kopf meines
vor Angst erstarrten, vollkommen bewegungslosen Vaters.
Wäre am Traktor ein Gang eingelegt gewesen und der Motor nicht ausgegangen,
wäre er noch eine Weile im Fluss weitergefahren. Dann wäre nicht einmal Vaters
Kopf zu sehen gewesen.
Vielleicht begriff ich damals, dass wir bei
den wirklichen Problemen unserer Mitmenschen nichts ausrichten können.
Schließlich befand Vater sich an jenem Tag
mitten in den Fluten, und sie alle konnten
nur mit ihren Laternen am Ufer hin und
her rennen. Und selbst Mutter, die wie
verrückt weinte, war nichts als eine Zu-
schauerin. Sie schnappte verzweifelt nach
Luft und war doch durch dieses endlose
Hochwasser von Vater getrennt.
Obwohl sich mein Herz vollkommen leer
anfühlte und ich eine schreckliche Erfahrung durchlebte, hatte auch ich nur eine
Zuschauerrolle inne.
Vermutlich wusste dies auch Vater und
blickte daher nicht zur Anlegestelle zurück.
Er schaute unentwegt dorthin, wo der Tod
auf ihn lauerte.
Dann packte mich Manohar und lief mit
mir davon. Vermutlich hatte ihm jemand
zu verstehen gegeben, dass man mich fortschaffen müsse. Während ich mich nach
Leibeskräften wehrte, brachte er mich nach
Hause. Als wir dort ankamen, weinte ich
noch immer.
Immer wieder sah ich den regungslosen
Kopf meines Vaters mitten in den Fluten.
Sehr viel später näherten sich mehrere
Laternen unserem Haus und menschliche
Stimmen erklangen.
Manohar gab mir zu verstehen, dass ich
ruhig sein müsse. Vater würde kommen.
(Aus dem Hindi von André Penz)
Fronleichnam in Köln-Mülheim
Die Mitglieder der indischen Gemeinde bereichern die Mülheimer Tradition schon seit langem.
Seit den 60er-Jahren ist die Stadt Köln ein Anziehungspunkt für in Deutschland lebende
indische Christen. Auf Einladung der deutschen Bischöfe kamen damals junge Inderinnen
nach Deutschland, um als Krankenschwestern zu arbeiten. Der Kölner Kardinal Josef Frings
stellte ihnen einen Seelsorger zur Seite. So entstand die syromalabarische Gemeinde.
(Quelle: Frau und Mutter 06/2011)
meine welt 2/2011 61
i
aktuelles
i
Prof. Dr. Shiva Prakash ist neuer
Direktor des Tagore Centers in Berlin
Dr. H. S. Shiva Prakash ist ein bekannter
indischer Dichter, Dramatiker und Literaturwissenschaftler aus dem Bundesland
Karnataka. Er schreibt in Kannada, einer
der modernen indischen Sprachen.
1954 wurde Shiva Prakash in Bangalore
(Karnataka) geboren. Nach dem Schulabschluss studierte er Englische Literatur an
der Universität Bangalore und schloss das
Studium mit M.A und Promotion ab. Seit
2001 ist er Professor für Ästhetik an der
Jawaharlal Nehru Universität, Neu Delhi.
Am Anfang dieses Jahres wurde er zum
Direktor des „Indian Cultural Centre“
(Tagore Centre) der indischen Botschaft
in Berlin berufen.
Sein künstlerisch kreatives Werk umfasst
neun Gedichtbände und 13 Theaterstücke.
Von ihm wurde eine Anthologie von Kannada Gedichten in englischer Übersetzung
herausgegeben. Seine Theaterstücke fanden große Beachtung und führten zum Teil
zur kritischen Auseinandersetzung z. B.
über das Stück Mahachaitra. Die Stücke
wurden neben Englisch in viele andere
indische Sprachen übersetzt und erfolgreich aufgeführt.
Durch zahlreiche Veröffentlichungen auf
dem Gebiet der Literatur und der Theaterwissenschaft ist Shiva Prakash anerkannt.
Zu seinen Spezialgebieten zählen Ästhetik, Vergleichende Literaturwissenschaft,
Bhakti-Literaturstudien, modernes indisches Theater und literarische Übersetzung. Er trat hervor durch seine intensive
und extensive Forschung auf dem Gebiet
der indischen Mediävistik und insbesondere der Kannada Vacana Lyrik.
Dr. Shiva Prakash war für lange Jahre Herausgeber der Literaturzeitschrift „Indian
Literature“, die von der Central Sahitya
Akademi, New Delhi, veröffentlicht wird.
Er ist auch ein Kolumnist in bekannten
indischen Zeitungen wie Indian Express,
The Hindu, Pioneer und seit kurzem auch
in Kannada Prabha.
Zahlreiche Auszeichnungen erhielt Dr.
Shiva Prakash, z.B. den Sangeet Natak
Akademi Preis, Ministry of Human Resources Development Fellowship für Kan-
Gisela Bonn-Preis für Achim Rodewald
von rechts nach links: Prof.
Shiva Prakash, Herr Achim
Rodewald und Herr HansJoachim Kiderlen
In einer Festveranstaltung am 24.09.2011
im Kulturrathaus Dresden wurde der
diesjährige Gisela Bonn- Preis an den
Wirtschaftsjournalist Achim Rodewald
verliehen. Der Direktor des Tagore Centers Berlin und der Botschaftsrat für Kultur
62 meine welt 2/2011
bei der Indischen Botschaft in Berlin Prof.
Dr. Shiva Prakash hat Herrn Rodewald
den Preis persönlich überreicht.
Der Preis würdigt das herausragende journalistische Engagement Achim Rodewalds,
der mit seiner Arbeit in den letzten Jah-
nada Literatur, Kannada Sahitya Akademi
Preis, Honorary Fellow of the School of
Letters, University of Iowa (seit 2000).
Am 12. Sept. 2011 haben die DeutschIndische Gesellschaft, Bonn, und das
Literatur-Forum Indien in Deutschland
für den neuen Direktor des Indian Cultural
Centre, Berlin, Prof. Dr. Shiva Prakash,
einen Begegnungsabend im Uni Club
Bonn mit einem Vortrag veranstaltet. Er
sprach über das Thema: Cultural Dialogue
between Germany and India in Changing
Times. Es gab eine rege Diskussion. Die
Veranstaltung wurde gut besucht und bereichert durch die Anwesenheit von Prof.
Dr. Huber, dem ehemaliger Rektor der
Universität Bonn.
A nnakutt y V aliamangalam
K . F indeis
ren die Berichterstattung über die wirtschaftlichen Aspekte Indiens maßgeblich
mitgeprägt hat.
Neben seiner journalistischen Arbeit für
die Deutsch-Indische Handelskammer
(Mumbai) in der Zeit von 2003 bis 2010
war Herr Rodewald auch als Autor und
Co-Autor zahlreicher Publikationen im
Bereich der deutsch-indischen Wirtschaftbeziehungen, aber auch als Reisejournalist
tätig. Als Beispiel seien sein Reise-Ratgeber Business Know How Indien (2007),
der in kompakter Form interkulturelles
und wirtschaftliches Know How verknüpft,
oder auch der inzwischen vergriffene Band
„Indien“ mit einem Vorwort des FAZKorrespondenten Christoph Hein genannt.
JP
i
G e dic h t e
i
Die Megacity mit vielen Stimmen
Gedichte aus Mumbai
Gönne mir nur einen kleinen Gefallen:
Unsere elektrischen Züge
mögen pünktlich kommen.
Lass uns genießen diese am baumelnden
Handgriff hängende Reise...”
EUNICE D’SOUZA
Goanesin – lebt in Mumbai und schreibt auf
Englisch
P U T H I YA M A D H AV I
Tamilin – lebt in Mumbai und schreibt auf Tamil
Landschaft
1. Sicherheitsschutzgott
Die Krähen werden es niemals lernen,
dass es genügend Müll für alle gibt:
Die Schnäbel der Jungen sind wundrot,
lautlos.
Der Fischreiher landet auf dem höchsten
Ast.
Nicht einmal ein Blatt ist gestört.
Auf allen Seiten das Meer.
Vier Gesichter,
acht Hände,
schrecklich tödliche Waffen,
die die Asuras vernichtet haben.
Die Festungen
und die Fahnen,
all das hast Du.
Warum denn mein Gott
hast Du noch gefragt
nach einem Sondereinsatzkommando?
Bevor ich meine Worte beendete,
verschwand unser Gott.
2. Bitte um Wunscherfüllung
Sagen
Gott ist erschienen
in meinem Morgentraum
mich aufweckend mit seinem
Korb voller Sorgen:
In einem Brief
lässt sich alles sagen.
Am Telefon
nur halbe Stimme,
wenn tete-a-tete,
unmöglich zu reden.
(Übersetzt aus dem Englischen ins Deutsche
von Annakutty Valiamangalam K. Findeis)
ANU MENON
Keralesin – lebt in Mumbai und Deutschland,
schreibt auf Deutsch und Malayalam
Ladies’ Compartment
Frauen...
Auf der Heimreise von der Großstadt
von Mumbai zum Dorf.
„Mahanagari” trug sie alle
großzügig zur heiligen Stadt Varanasi.
Frauen und Frauen
dunkle Nacht,
Geschrei, Gerede, Geplapper
– wie Krähenversammlung.
Frauen, Frauen und Frauen
produktiv, Frucht tragend,
dicke Busen, größer als
des Kindes Kopf.
Frauen, Frauen, Frauen und Frauen
je mit unendlich vielen Kindern,
ein Geschrei - sinnlose Rederei,
die Emanzen ohne Männer,
nur als Schutzpolizisten
Söhnen war erlaubt
mitzufahren...
Sonntag war es
und zehn Uhr.
Sie bedauerten sich
ohne Ramayana-Schau
die Sitas im Mahanagari Express
Ladies’ Compartment.
„Willst du einen Gunsterweis,
um dein Gedicht zu schreiben?”
„Nein, mein Herr, der Frühling
des Dichtens ist noch nicht verwelkt!”
„Wünschst du dir einen Bungalow in
Mumbai?“
„Nein, mein Herr, ich würde lieber
wohnen mit ehrlichen Menschen.”
„Wünschst du dir Nachkommen,
die deinen Namen in die Geschichte
eintragen werden?”
„Oh nein, mein Herr, meine zwei Kinder
werden es sicherlich tun.”
„Oh meine Liebe, sag mir dann,
was du dir überhaupt wünschst.
Wie soll ich es sonst wissen?”
„Der Gott, der alles weiß,
fragt mich so was?”
Sein trauriges Gesicht erblickend,
habe ich mich entschieden,
eine kleine Bitte um Wunscherfüllung
zu stellen.
(Übersetzt aus dem Tamil ins Deutsche von Annakutty Valiamangalam K. Findeis im Gespräch
mit der Dichterin)
HRISHIKESHAN
Keralese – lebt in Mumbai und schreibt auf
Malayalam
Doch
mit den Vögeln,
den Bäumen,
dem Himmel,
den Flüssen
zu kommunizieren,
keine Blockade.
Aber
mit den Blumen rede man
in ihrer Sprache,
auch mit den Würmern...
das Reden
ähnlich
In vielen solchen Sprachen
zu sprechen sehne ich mich,
das stumme Ich.
(Übersetzt aus dem Malayalam von Annakutty
Valiamangalam K. Findeis)
„Gott, Du weisst doch alles.
Du kennst unsere Nöte,
Du kennst unsere Gier.
Ich werde Dich nicht in Verlegenheit
bringen
mit meiner Bitte um ewiges Leben.
Du Adishankara...
Mahashaktis Kraft,
keine große Bitte.
meine welt 2/2011 63
i
K . S atchidanandan
Die letzte Sonne
g e dic h t e
i
Nachfolgend drucken wir ein Gedicht von Dr. Shiva Prakash ab, das er über den
Einsturz des World Trade Centre New York verfasst hat. Das Gedicht wurde für
MEINE WELT von Annakutty Valiamangalam K. Findeis ins Deutsche übersetzt.
D ie R edaktion
Eine meiner Adern ist noch nicht
vertrocknet,
erzählte das Blatt seinem Ast.
Da ist ein Blatt,
das noch nicht gefallen ist,
erzählte der Ast dem Wind.
Da steht noch ein Ast im Wind,
ohne zu wackeln,
erzählte der Baum dem Vogel.
Es gibt bestimmt noch einen Baum
irgendwo in einer Ecke,
erzählte der Wald der Erde.
Auf der Erde ist noch
ein Wald übrig,
erzählte der Berg seiner Sonne,
und ich sagte der hereinbrechenden Nacht:
Da ist noch eine Sonne,
die nicht verloschen ist.
(Aus dem Malayalam von Jose und Asok
Punnamparambil)
S hiva P rakash
Lieber Freund Joe
Eingestürzt:
Das gewaltige Gebäude
Dein schwarzer Finger zeigte drauf
An dem New Yorker Morgen
Weiß leuchtete
Das Symbol des Sieges
Der weißen Kapitalisten
Gebaut auf den Ruinen
Unserer Ahnen Land
Mit den gebrochenen Gliedern
Unserer Götter und Göttinnen
(Wie können unsere unschuldigen
Götter und Göttinnen
austricksen die Geschicklichkeit und die
Gerissenheit der Geschäftsleute?)
Aber, lieber Freund Joe,
Was riss es herunter
War es nicht der Wirbelwind der Wende
Wovon wir träumten;
Sogar nach dem Sturz
Sind sie nicht zurückgekehrt
Unsere Götter und Göttinnen
Zu ihren Tempeln
Auch unsere Kinder
Kehrten nicht heim
Siehe da! Die beflügelten ungeheuren
Sanddünen
Der letzten Dämmerung
Verhüllend das Gesicht der untergehenden Sonne
Hinter den Ruinen
Jenes Baus
64 meine welt 2/2011
Warum nicht das Gute,
Wie du,
Hoch und runter kletternd die Treppen
Der schmutzstrotzenden Wohnung
Deines Harlem-Hauses
Lahmgeprügelt
Von den Bastarden der Zivilisation?
Inzwischen
Verkrüppelte Wesen geboren aus Furcht
Ihre Hände und Beine verdreht
Ihre Augen und Nasen verkehrt,
Betrunken,
Bestehlen und töten einander
Während ein stumpfes Messer oder eine
Pistole
Auf sie im Düsteren lauert.
Lieber Freund Joe,
Hat dein hinfälliges Haus überlebt
Mit seinen Erinnerungen gebrochener
Ehen?
Hat die Angst vor plötzlichen Angriffen
Von unbekannter Hand
Noch überlebt?
Solche Dinge überleben, ich weiß
Ob Weltreiche steigen oder fallen
Die Hütten der Armen bleiben bestehen
für immer
Schreie
Noch einmal
Verstümmelte Leichen
Noch einmal
Doch
Dein Gandhi
Unser Luther, beide sind tot
Sag mir, lieber Freund Joe,
Warum ist nur Sünde die Lösung
Für die Sünden unserer Welt?
Wenn Götter und Göttinnen verschwinden,
Braucht die Erde
Insekten, um weiterhin zu bemuttern
i
S e mi n a rb e ric h t
i
Indische Literatur als
gesellschaftliche Kraft
C hristina K amp
„Zu allen Zeiten und in allen Ländern
gab es Menschen, die man gerne zum
Schweigen gebracht hätte. Doch allen
Versuchen zum Trotz hat die Literatur
das letzte Wort“, so Nirmal Sarkar zur
Eröffnung des Seminars „Die Macht der
indischen Literatur bei der Gestaltung
der Gesellschaft in Indien“, das vom 8.
bis 10. Juli 2011 in Kooperation mit dem
Arbeitnehmer-Zentrum Königswinter
bei Bonn stattfand. Der 2006 gegründete Verein Literaturforum Indien richtete
das Seminar nun bereits zum 5. Mal aus
– mit großem Erfolg. Rund 45 Teilnehmerinnen und Teilnehmer nahmen sich
ein Wochenende Zeit, darüber zu diskutieren, wie Schriftsteller und ihre Werke
Gesellschaften verändern können.
ONV Kurup: Das Salz Keralas
ONV Kurup ist ein Dichter des sozialen
Engagements und des grenzenlosen Humanismus, der in Malayalam schreibt, der
Sprache des südindischen Bundesstaates
Kerala. Annakutty Findeis stellte ihn als
einen der bedeutendsten revolutionären
Schriftsteller vor, der als „das Salz Keralas“
gilt. Bekannt ist er für seine Gedichte wie
Bhumikkoru Charamagitam (Ein Requiem für die Erde) und Suryagitam (Sonnengesang), aber auch für seine Filmlyrik,
die mehr als 1.500 Lieder umfasst und für
die er mehrere Preise erhielt. In der ÖkoBewegung in Kerala spielten und spielen
Dichterinnen und Dichter eine führende
Rolle. ONV Kurup engagierte sich zum
Beispiel im Widerstand gegen das Silent
Valley Staudamm-Projekt. Er sagte: „Ein
Gedicht ist wie eine Widerstand leistende
Pflanze.“
Paul Zacharia
Mit Paul Zacharia war einer der bekanntesten Schriftsteller Keralas auf dem Se-
minar anwesend.
Er schreibt in
Malayalam Kurzgeschichten und
kurze Romane,
Martin Kämpchen und Paul Zacharia im Gespräch
von denen einigesellschaftlichen Wandel bestimmen,
ge auch ins Deutsche übersetzt wurden
sind die Parteien, die Religionen und die
(„Bhaskara Pattelar und andere GeschichMedien.
Doch die wollten eher den Status
ten”, Horlemann Verlag). Malayalam, so
quo statt Veränderungen. Doch dass die
Zacharia, sei eine junge Sprache. Als
Stimmen der Schriftsteller unter mächtiSprache der Literatur habe sie erst Ende
geren untergehen, solle nicht heißen, dass
des 19. / Anfang des 20.Jahrhunderts an
Schriftsteller sich nicht zu Wort melden
Bedeutung gewonnen. Der Schriftsteller
sollten.
beschrieb verschiedene Einflüsse auf die
Literatur und die Möglichkeiten indischer
Schriftsteller, auf die Gesellschaft und die
Ausgewählte Schriftsteller
Politik in Indien einzuwirken.
Der britisch-indische Autor Ruskin Bond
Der Kolonialismus sei in vieler Hinsicht
ist außerhalb Indiens noch wenig bekannt.
eine negative Kraft gewesen, so Zacharia.
Reinhold Schein stellte den Autor und
Doch in der Literatur habe sie als Katalysein Werk „Ein Schwarm Tauben” vor,
sator gewirkt, denn britische Missionare
das einen Rückblick auf die Kolonialzeit
brachten Bildung für die Massen, auch für
nimmt. „Ein Schwarm Tauben” erschien
Frauen und niedrigere Kasten. Mit dem
auf Deutsch 2010 im Draupadi-Verlag. Der
westlichen Gedankengut entwickelte sich
Roman ist ein sehr persönliches Werk mit
ein neues Bewusstsein. Ab den 1930er Jahautobiographischen Zügen, das weder die
ren drückte die Malayalam-Literatur dann
Kolonialherren rechtfertigt noch Aufständie Ideen der Freiheitsbewegung aus.
dische glorifiziert.
Der nächste Katalysator in Kerala war
Die Übersetzerin Ingrid von Heiseler
der Kommunismus. Auch der kam durch
stellte die gesellschaftliche Wirkung von
das Englische und war damit ebenfalls
Literatur am Beispiel der Tamil-Autorin
ein von außen kommender „kolonialer
Salma vor. In ihrem Roman „Die Stunde
Input”. Es ging darum, das feudale Sysnach Mitternacht” stellt Salma die Wirktem zu verändern. Die Literatur setzte
lichkeit in einem Teil der indischen Gesellsich für die Unterprivilegierten ein und
schaft realistisch dar. In der Hoffnung auf
wurde zum Flagschiff der progressiven
Veränderungen beschreibt sie Missstände
Bewegung. Der Kommunismus kam als
wie die starke Diskriminierung von Frauprogressive kulturelle Kraft nach Kerala,
en, die sie selbst erlebt hat. André Penz
quasi durch die Vordertür. Die Medien
portraitierte den indischen Dichter Sachgewannen an Bedeutung und die Literachidananda Vatsyayan, der dieses Jahr 100
tur erreichte durch die Medien ein breites
Jahre alt geworden wäre. Barbara Bomhoff
Publikum. Romane wurden zum Beispiel
zeigte die Gesellschaftskritik im Werk des
als Serien in Zeitungen und Zeitschriften
Schriftstellers Bhisham Sahni auf, dessen
veröffentlicht.
Romane über die Teilung Indiens und über
Die Kräfte, die laut Zacharia heute den
Slumräumung auch verfilmt wurden.
meine welt 2/2011 65
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Begegnungen mit Tagore
Das Jahr 2011 steht ganz im Zeichen von
Rabindranath Tagore, dessen Geburtstag
sich in diesem Jahr zum 150. Mal jährt.
Zwei ausgewiesene Tagore-Experten
stellten den berühmten Meister vor, der
1913 den Nobelpreis erhielt. Sowohl der in
Deutschland lebende bengalische Schriftsteller Alokeranjan Dasgupta als auch
der in West-Bengalen lebende Deutsche
Martin Kämpchen haben Tagore aus dem
bengalischen Original ins Deutsche übersetzt („Rabindranath Tagore. Gedichte und
Lieder“. Von Martin Kämpchen, Insel Verlag, 2011; „Mein Tagore. Eine Annäherung
an den indischen Dichter Rabindranath
Tagore“. Von Alokeranjan Dasgupta,
Draupadi Verlag, 2011). Sie setzen sich
für eine Tagore-Renaissance in Deutschland ein. Denn die Reaktion auf Tagore
nach der Niederlage im 1. Weltkrieg war
ganz und gar zeitbestimmt. Deutschland
habe nach kulturellen Figuren gesucht, die
helfen könnten, das Volk wieder aufzurichten. Tagore wurde als eine Art Messias angesehen. Das Image Tagores habe
sich darauf hin „fossiliert“ und konnte
sich nicht weiterentwickeln. Deshalb sei
es heute schwierig, eine neue Wirkung
hervorzurufen. Doch ein Weg seien neue
Übersetzungen aus dem Bengalischen. Es
gehe nicht nur darum, Prosa anzubieten,
sondern darum, bengalische Gedichte in
kongeniale deutsche Gedichte zu übersetzen.
Rückblick auf die Buchmesse 2006
2006 war Indien Gastland auf der Frankfurter Buchmesse – als einziges Land sogar
schon zum zweiten Mal. Mehr als die Hälfte der indischen Autorinnen und Autoren,
die auf der Buchmesse vertreten waren,
schreiben in Regionalsprachen. Dennoch
läuft Indien auf der Webseite der Frankfurter Buchmesse als „anglophone Nation”,
stellte Eva Massingue von Litprom fest.
Außergewöhnliches wie indische Literatur
an den deutschen Leser zu bringen sei nicht
einfach, so ihre Einschätzung. Anlässlich
der Buchmesse habe es damals Gelder
für Übersetzungen gegeben. „Vieles wäre
nicht passiert, wenn es den Gastland-Auftritt nicht gegeben hätte“, so Massingue. j
66 meine welt 2/2011
N e u e B üc h e r
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N e u e B ü ch e r
Mrs Sengupta will hoch hinaus
A mit C haudhuri
Roman, aus dem Englischen von Barbara Heller, Blessing Verlag, 2011
Amit Chaudhuri erzählt in seinem neuen
Roman sehr melodisch von einer Gesellschaft im Umbruch.
Mallika Sengupta, Ehefrau eines aufstrebenden Geschäftsmannes, träumt von einer
Karriere als Sängerin. Ihr Gesangslehrer
Shyamji kämpft indes mit dem gewichtigen
Erbe, das ihm sein Vater, ein viel gerühmter
Sänger und geschätzter Guru, aufgebürdet
hat. Und Mrs. Senguptas Sohn Nirmalya
hat Probleme mit dem Erwachsenwerden.
„Der Grundkonflikt dieses Romans
besteht im Widerstreit von Kunst und
Materialismus. Dies rechtfertigt den ehrenvollen Vergleich mit Thomas Manns
Buddenbrooks.“ (The Times)
Indian Dreams
R oswitha J oshi
Roman, Englisch, UBS Publishers’
Distributors Pvt. Ltd., New Delhi,
2010
Roswitha Joshi, die in Indien lebende
deutsche Autorin, beschreibt in dem Roman die Liebesgeschichte zwischen der
Deutschen Norma und dem Inder Akash
mit viel Humor, Herzlichkeit und IndienKentnissen.
Gopinath Bardoloi, The Assam
Problem and Nehru’s Centre
N irodh K . B arooah
Sachbuch, Englisch, Bhabani Print &
Publications, Guwahati (Assam) 2010
Ein gut recherchiertes historisches Werk
über den großen Politiker des indischen
Bundesstaates Assam Gopinath Badoloi
(1920 bis 1950), der auch eine führende
Figur der gandhianischen Bewegung für
indische Unabhängigkeit war. Der Autor Nirode Barooah ist ein promovierter
Historiker (Londoner Universität und
Universität Bonn) und lebt seit Mitte
der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts
in Deutschland.
Misery of Leadership
A Holistic Approach to Good
Leadership
I rmel V . M arla und K amal T aori
Sachbuch, Englisch, Authorpress,Q2A Hauz Khas Enclave, New Delhi,
2011
Das Buch analysiert die große Schwäche
der politischen Führung im heutigen Indien und zeigt Wege aus der herrschenden
Misere.
Die Geschichte der Goldenen Frauen
J abber M d . A bdul
Geschichte, Eigenverlag, 2011 (E-Mail:
[email protected])
Das Buch handelt von den vier Protagonistinnen Eva, Kali, Bishakha und Mary,
die den vier Hauptreligionen des indischen
Subkontinentes angehören. Sie werden als
Ärmste der Armen geschildert, die mit
aller Art von Diskriminierung in der patriarchalischen Gesellschaft leben müssen.
Der Autor stammt aus Bangladesch und
lebt in Deutschland seit 2005.
Fehler der
Industrienationen
Die Industrieländer haben Jahrzehnte gebraucht, bis sie Nachhaltigkeit für sich entdeckten. Die Schwellenländer wissen um
die Fehler der Industrienationen und um
die Gefahr, sie zu wiederholen – immerhin
ist heute China der größte Produzent von
Treibhausgasen. Zunehmend versuchen
die Schwellenländer jedoch – unterstützt
von der internationalen Zusammenarbeit
–, Fehlentwicklungen zu vermeiden.„Wir
können der Praxis der Industrieländer nicht
folgen. Wir haben unsere eigene Kultur
und müssen unsere eigenen Lösungen
finden“, erklärt zum Beispiel die Initiative
„Green Economy India“.
(Quelle: „Das große Umdenken“, Akzente
02/2011)
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B uc h b e spr e c h u n g
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Chili, Chai, Chapati
mit einem lauten Krachen irgendwo eine
Haustür auf. Wir erschraken. Beide. Zitterten wie Espenlaub. Waren in gleichem Maße
alarmiert. Voller Angst schauten wir uns um,
ich dorthin, er hierher. Die Pupillen unserer
Augen wanderten umher, tickten wie Zeiger einer Uhr von einem Augenblick zum
nächsten. In diesem Moment schauten wir
einander ohne zu zwinkern an, zerrissen die
Dunkelheit. Es war einer jener Momente,
die für immer bleiben. Solche Momente
vergehen nie. Über solche Momente wird
niemals gesprochen.“
Chili, Chai, Chapati.
Geschichten aus Indien.
Herausgegeben von Friederike Grenner, Jürgen Neuß und Anna Petersdorf.
Kitab, Klagenfurt 2011.
Welche indischen Autoren kennen Sie?
Welche davon schreiben nicht auf Englisch,
sondern in ihren Muttersprachen? Hindi
ist die offizielle Bundessprache des Vielvölkerstaates Indien. Die Übersetzer der
Hindi-Kurzgeschichten schließen mit ihrer
nun vorliegenden Auswahl endlich eine
Bildungslücke, indem sie den deutschsprachigen Lesern direkten Zugang zu einer
der produktivsten literarischen Szenen der
Welt ermöglichen.
Bilder von der treu ergebenen Ehefrau,
wie in der ergreifenden Kurzgeschichte
„Das Mittagessen“ von Mohan Rakesh
(1957) lassen sich ebenso finden wie gänzlich andere, keineswegs immer stereotype
Bilder von Männern, Frauen und Kindern.
Keine exotisch-blumige Sprache, sondern
fast ausnahmslos steht der Mensch im Zentrum – im Hier und Jetzt, überall.
„In diesem Moment fiel Candar auf, dass
eine Ewigkeit vergangen war, seit er sich
das letzte Mal selbst begegnet war, Zeit gefunden hatte für einen inneren Dialog. Er
hatte sich nie gefragt: ‚Wie ist deine Situation
und ist es eigentlich das, was du willst?’ Ein
schwaches Lächeln umspielte seine Lippen und er machte eine Notiz hinter jeden
Freitag: ‚Mich selbst treffen. Von sieben bis
neun Uhr abends.’ Und heute war ja Freitag!
Das Treffen sollte also heute stattfinden. Er
warf einen Blick auf seine Armbanduhr – es
war sieben Uhr. Aber der Gauner in ihm
gewann die Oberhand. Warum nicht zuerst
eine Tasse Tee im Teehaus trinken gehen?“
Diese Leseprobe stammt aus Kamleshvars Meistererzählung „Fremd“ (1963), die
unter den frühen Hindi-Kurzgeschichten
der Nayi-Kahani-Bewegung („Neue Erzählung“) heraussticht. Darin konfrontiert
der Protagonist sich und die Leser mit
bohrenden Fragen, die jeden betreffen
und etwas angehen. Kamleshvar prägte
seine Geschichte durch eine gleichzeitig
präzise wie laxe Sprache, die an italienische
Neorealismo-Filme erinnert.
Mühelos gleichsam zum Film werden auch
die Sprachbilder in Priyamvadas souverän
erzählter Geschichte „Echos“ (1972), die
einen ähnlich existentialistischen Inhalt
vermittelt. Darin versucht die Protagonistin ihrer Sehnsucht nach Selbsterfahrung
gegen alles Pflichtgefühl Raum zu geben
und den Kontakt zu ihrer Familie im Konflikt mit den damit drohenden Familienzwängen dennoch zu halten. Ein ungleicher
Balanceakt, der seinen Tribut fordert.
Besondere Erwähnung verdient schließlich
noch „In diesen Tagen“ von Geetanjali
Shree (2008) über Courage, den Mob und
wechselseitiges Versagen von Opfer und
Täter:
„Ich schaute ihm hinterher und er wusste,
dass ich ihm nachspähte. Er lief geradeaus
soweit die Straße führte. Nein, ich trat nicht
hinaus auf die Straße. Wenn ich bis jetzt
nicht hinausgetreten war, warum hätte ich es
jetzt noch tun sollen? Man könnte auch fragen: Wenn ich es bis jetzt nicht getan hatte,
wie hätte ich ihn nun stellen können? Man
könnte auch sagen: Es war genau richtig
so, denn wer weiß in diesen Tagen schon,
wer alles eine Waffe bei sich trägt? Dort, wo
die Straße die Kurve macht, bog er ab. Ich
wandte mich ab. Doch da flog urplötzlich
Leser sind in Chili, Chai, Chapati gut aufgehoben, denn die Herausgeber liefern
eine äußerst informative Einführung und
Literaturhinweise zu anderen, vor allem
deutschen Übersetzungen indischer Autoren mit.
Während bisher vor allem Romane und
neueste Erzählungen auf den deutschen
Buchmarkt fanden, stellt Chili, Chai, Chapati eine Anthologie des vitalsten literarischen Genres vor: die Kurzgeschichte.
Dabei gingen die Herausgeber chronologisch vor und decken nahezu den gesamten
Zeitraum seit der Gründung der Indischen
Republik ab, die ja mit der Gründung der
Bundesrepublik Deutschland zusammen
fällt.
Die Anthologie hebt sich von bisherigen
Sammlungen auch dadurch ab, dass der
Anteil der Schriftstellerinnen etwas höher
liegt als jener der Schriftsteller. Gegenüber
den von Indern auf Englisch geschriebenen Short-Stories zeichnen sich die in der
Muttersprache Hindi verfassten Kurzgeschichten durch größere Ernsthaftigkeit
aus. Nicht die schreiendgrellbunte Welt
Bollywoods und Kollywoods, sondern
eine stille Welt dichter Atmosphäre, unausgesprochener Gedanken und brodelnder Gefühle kann in Chili, Chai, Chapati
entdeckt werden.
J osua W albrodt
Josua Walbrodt studierte Filmwissenschaft,
Kunstgeschichte und Klassische Archäologie. Er
arbeitet derzeit an seiner Dissertation in Kunstgeschichte.
meine welt 2/2011 67
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B uc h b e spr e c h u n g
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Die magische Kraft alter Überlieferungen
Der Geschichtenerzähler
O mair A hmad
Aus dem Englischen von Anne Breubeck.
Draupadi Verlag, Heidelberg 2011, 144 S.
(gebunden)
Einem Mann wurde sein Haus zerstört. Es
stand im Delhi des 18. Jahrhunderts, eine
grausame und kriegerische Zeit der Verwüstung, der Zerstörung, der Vertreibung,
der Willkür der Mächtigen. Der Mann zieht
seitdem umher, durch das, was er selbst
erlebt hat, kennt er die Menschen. Selbstbewusst beugt er sein Haupt nur, wenn es
die Höflichkeit verlangt. Als Geschichtenerzähler bezaubert und bestürzt er. Eines
Abends gelangt er vor das Schloss einer
mächtigen Fürstin. Eine spannungsvolle
Begegnung zweier sozial höchst unterschiedlicher, geistig aber sehr ähnlicher
Menschen.
Damit lässt sich das Ausgangsszenario
des „Geschichtenerzählers“ beschreiben,
einer Novelle von Omair Ahmad. Aber
wer nun ist Omair Ahmad? Ein Mann aus
Nordindien, Jahrgang 1974, der einige Zeit
in Saudi Arabien lebte und in New York
Politik studierte, ein engagierter Journalist, vor allem aber ein Schriftsteller, von
dem man in Asien spricht und bald nicht
mehr nur dort.
So nährt sich sein „Geschichtenerzähler“
aus der magischen Kraft alter mündlicher
Überlieferungen und Märchen, die Omair
Ahmad mit Motiven aus der Bibel oder
dem Koran durchsetzt hat. Das Erzählen
selbst wird bei ihm zu einem Gespräch,
Rede und Gegenrede zwischen Gast und
Gastgeber, dem Geschichtenerzähler und
der Fürstin, bei der er verweilt, nur um wieder aufzubrechen. Die Geschichten selbst
handeln von der Freundschaft zwischen
Ungleichen, dem Kind im Wald und dem
jungen Wolf, den Knaben, die gemeinsam
aufwachsen, obwohl sie verschiedener Herkunft sind und der eine als Königssohn ins
Gefängnis gesteckt wird, der andere zum
großen, aber innerlich leeren Krieger sich
wandelt. Freundschaft, die immer tragisch
endet, sich in ihrer Sehnsucht für einander
als letztlich unmöglich erweist. Wie auch
der Geschichtenerzähler zum Umherziehen verurteilt sich gezwungen fühlt, fern
von aller Gemeinschaft.
Anne Breubeck hat mit ihrer ersten größeren Übersetzungsarbeit im Deutschen
eine Erzählung erstehen lassen, die sich
orientalisch-blumigem Kitsch enthält und
stattdessen klare Bilder findet, die sich
geschmeidig aneinander reihen. Dadurch
zeigt sich Omair Ahmads unauffällige Raffinesse im Umgang mit literarischer Tradition und Formen modernen Erzählens.
Ein schöner Beweis seines Könnens, dem
bald sein schon jetzt in Indien gefeierter
Kult-Roman „Jimmy the Terrorist“ in
deutscher Übersetzung folgen wird.
F ranz S chneider
Dr. Franz Schneider ist Journalist. Er lebt in
Heidelberg.
Fast ohne Worte – aber voller Geschichten
Das machen wir.
Ein Bilderbuch aus Indien.
R amesh H engadi / S hantaram
D hadpe / G ita W olf .
Statt auf die Lehmwände ihrer Häuser,
wie es bei den Warli sonst üblich ist, haben die beiden Künstler Ramesh Hengadi
(*1974) und Shantaram Dhadpe (*1965)
auf Anregung der indischen Verlegerin
Gita Wolf, Alltagsdarstellungen aus dem
Leben der Warli zu Papier gebracht. Der
Tradition des Tara-Verlages von Gita Wolf
gemäß wurde dazu in Siebdruck per Hand
bedrucktes Papier in der Farbe der Hauswände verwendet, natürlich fair trade, der
Umschlag besteht aus handgeschöpftem
Papier. Diese komplett in Handarbeit hergestellte bibliophile Kostbarkeit ist das
zweite Buch, das der Verlag Baobab Books
herausgegeben hat, obwohl Baobab Books
68 meine welt 2/2011
unter dem Namen Kinderbuchfonds Baobab schon seit mehr als 20 Jahren Bücher
publiziert. Dieser Widerspruch ist schnell
aufgeklärt: Nach mehr als 50 Büchern, die
in verschiedenen Verlagskooperationen
herausgegeben wurden, hat sich Baobab
Books 2010 entschieden, den Schritt in die
Eigenständigkeit zu wagen. Der Titel „Das
machen wir” ist somit auch Programm für
Baobab Books.
Bis zur Kolonialisierung lebten die Warli
als Jäger und Sammler naturnah in den
Wäldern Maharashtras, zur Sesshaftigkeit gezwungen, blieben sie jedoch auch
weiterhin in enger Verbindung zur Natur und lebten nach eigenen Bräuchen
und Vorstellungen. Früher dienten die
mit Reispaste und Bambuspinsel auf die
Hauswände gemalten Bilder in erster Linie dazu, Göttinnen und Götter zu Festen einzuladen, besonders zu Hochzeiten.
Meistens malten die Frauen, heute üben
auch Männer die traditionelle Malkunst
aus, auch auf Papier und gegebenenfalls
sogar in Farbe, um so dringend benötigtes
Geld zu verdienen. Die beiden Künstler
dieses Bilderbuches haben die Malerei zu
ihrem Beruf gemacht.
E va M assingue
(Quelle: „Literatur Nachrichten, Sommer 2011)
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Indorama
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Neuer Bundesvorstand der
Deutsch-Indischen Gesellschaft
Deutsch-Indisches Sozialversicherungsabkommen unterzeichnet
Bei der Jahresversammlung der DeutschIndischen Gesellschaft e.V. vom 23.09. bis
24.09.2011 im Kulturrathaus Dresden wurde ein neuer Bundesvorstand gewählt. Mitglieder des neuen Vorstandes sind:
Herr Hans-Joachim Kiderlen .
(Vositzender)
Frau Dr. Lydia Icke-Schwalbe.
(1. Stellv. Vorsitzende)
Prof. Dr. Anand Srivastav .
(2. Stellv. Vorsitzender)
Frau. Dr. Sabine Lutz (Schatzmeisterin)
Herr Manfred Krause (Mitglied)
Herr Herbert Lang (Mitglied)
Prof. Dr. Michael Mann (Mitglied)
Herr Sven Andreßen (Vorsitzender des
Beirates) Ehrenvorsitzender der
Deutsch-Indischen Gesellschaft e.V.
Dr. Hans-Georg Wieck (Vorsitzender
des Vorstandes der Indien-Stiftung)
Dipl. Kaufm. Helmut Nanz
Verbesserungen für Arbeitnehmer
und Rentner
Bundessozialministerin Ursula von der
Leyen hat am 12. Oktober 2011 in Berlin
gemeinsam mit dem indischen Minister für
die Angelegenheiten der Auslandsinder
Vayalar Ravi das deutsch-indische Sozialversicherungsabkommen unterzeichnet.
Durch das Abkommen wird der soziale
Schutz der Staatsangehörigen beider
Länder im Bereich der jeweiligen Rentenversicherungssysteme insbesondere für
den Fall, dass sie sich im jeweils anderen
Vertragsstaat aufhalten, sichergestellt und
koordiniert.
Bewusster feiern
Die kirchlichen Feste der Pfarrgemeinden
im indischen Bundesstaat Kerala sind in
den letzten Jahren immer extravaganter
geworden. Die Pfarreien überbieten sich
gegenseitig mit zunehmend aufwendiger
Beleuchtung, Feuerwerk, Musikkapellen
und Umzügen. Diese Überschwänglichkeit
und Verschwendung, so der Bischofsrat,
schmälere die spirituelle Dimension der
Veranstaltungen, die Ausdruck von Glaubenstradition und liturgischem Erbe seien.
Deshalb riefen die Bischöfe der 30 Diözesen Keralas jetzt mit einer zwölf Punkte
umfassenden Richtlinie zum ernsteren,
spirituelleren und umweltbewussteren
Feiern auf. Der stetig wachsenden Kommerzialisierung religiöser Feste will man
auf diese Weise entgegenwirken, nutzen
doch immer mehr Firmen die Veranstaltungen zu Werbezwecken. Auch Umweltverschmutzung durch Feuerwerk, Plastikbanner und Verkehrsstaus anlässlich großer Prozessionen soll künftig vermieden
werden. Umweltaktivisten begrüßten die
Initiative und beschrieben sie als „lange
überfällig.“
kna / mw
JP
Bundesverdienstkreuz für
Dr. Nirmalendu Sarkar
In Anerkennung seiner besonderen Verdienste, insbesondere als Gründungsmitglied und Vorsitzender des „Literatur
Forum e.V.“ Düsseldorf and Vorstandsmitglied der Finanzen des „Eine Welt
Forum Düsseldorf e.V“, wurde Herrn
Dr.Nirmalendu Sarkar das Verdienstkreuz
am Bande des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland verliehen. Die
Auszeichnung wurde Herrn Sarkar am
26.09.2011 im Düsseldorfer Rathaus von
dem Bürgermeister überreicht.
Als Gründungsmitglied und Vorsitzender
des im Jahr 2006 gegründeten „Literatur
Forum Indien e.V.“, engagiert sich Herr
Sarkar zur Förderung und Verbreitung
von Literatur aus Indien und Südasien
in Deutschland. Im Rahmen des literarischen Austausches zwischen Indien und
Deutschland versucht er mit beherzter Unterstützung der deutschen und indischen
Schriftsteller, Indologen, Verleger und
Zeitschriften wie z.B. „Meine Welt“, die
Förderung der Kultur und Verständigung
zweier Völker zu ermöglichen. Anerkennenswert ist auch Herrn Sarkars außerordentlich beeindruckendes ehrenamtliches
Engagement bezüglich der Fortentwicklung und Ausbau der Einen Welt Arbeit
in Düsseldorf. Neben seiner langjährigen
beruflichen Verpflichtung als Oberstudienrat an einem Berufskolleg, wofür er von
der Landesregierung NRW bereits ausgezeichnet wurde, nahm er sich Zeit, sich
für die „Kommunale Nord-Süd- Arbeit“
und die inzwischen bundesweit angesehenen „Düsseldorfer Eine Welt Tage“ zu
engagieren. Herr Sarkar arbeitete auch
ehrenamtlich 24 Jahre lang als ordentliches Mitglied im Prüfungsausschuss der
Industrie- und Handelskammer für den
Groß- und Außenhandel. Auch bei der
Deutschen Kalkutta Gruppe, die mehrere soziale Hilfsprojekte in Kolkata und
Umgebung durchführt, war er lange Jahre
ein aktives Mitglied.
MEINE WELT gratuliert Herrn Dr. Sarkar
für die große Auszeichnung und wünscht
ihm viel Kraft, seine Arbeit, die die Völkerverständigung fördert, fortzusetzen.
JP
meine welt 2/2011 69
i
indorama
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Neues Verfahren zur Bean­
tragung von Visa für Indien
Kluge Karte für Patienten
Rund 400 Millionen Menschen arbeiten
in Indien im informellen Sektor. Damit
auch sie Zugang zur Gesundheitsversorgung erhalten, entwickelte das indische
Ministerium für Arbeit und Beschäftigung 2007 ein staatliches Sozialversicherungsmodell. Heute hat das Soziale
Sicherungsprogramm mehr als 60 Mil-
lionen Mitglieder, die über eine digitale
Versichertenkarte in Krankenhäusern
landesweit kostenfrei behandelt werden.
Die GIZ beteiligte sich im Auftrag des
BMZ an der Entwicklung des Modells.
Inzwischen stößt es in anderen Ländern
auf Interesse. Die GIZ etabliert Süd- SüdKooperationen zu diesem Thema.
Die indische Regierung hat das Verfahren zur Beantragung eines Visums für
Indien mit sofortiger Wirkung geändert.
Das Antragsformular kann ab sofort nur
noch online (https://indianvisaonline.gov.
in/visa/) ausgefüllt werden.
Es muss anschließend ausgedruckt und mit
dem Reisepass und gegebenenfalls weiteren notwendigen Dokumenten (Empfehlungsschreiben etc.) bei der zuständigen
Visaagentur eingereicht werden.
Zusätzlich sind zwei farbige biometrische
Fotos (Format 5 x 5 cm, vor hellem Hintergrund) lose beizufügen.
Fragen zur Beantragung von Visa beantwortet Ihnen das für Ihr Bundesland
zuständige Konsulat bzw. die indische
Botschaft.
(Quelle: Akzente 01/2011)
Kontaktdaten unter http://www.indian
embassy.de/templateg.php?mnid=801&.
inclpage=visaservices.htm.
Seit 9 Jahren lebt Frau Medha Bhatt in
Thiruvananthapuram, Kerala, mit Mann
Ganguly und seit 4 Jahren mit dem Sohn
Ishaan. Aus Textilabfällen, Altpapier
etc. produziert die gelernte Designerin
in Handarbeit ästhetisch ansprechende
Objekte wie Wandbehänge, Rucksäcke,
Buchumschläge, Tagesdecken etc. – alles
nach der traditionellen Technik der „Kutch
patchwork applique” der Frauen aus dem
Rann of Kutch, Gujarat.
Durch ihre Arbeit will Frau Medha Bhatt
die Lebensdauer von Abfall nachhaltig
verlängern, der Verschwendung von knappen Ressourcen entgegenwirken und den
Planet Erde von der Last des Mülls ein
wenig befreien.
Kontakt: [email protected]
The Forest Floor
Innovative Abfallverwertung für
nachhaltige Designer-Kunst
„The Forest Floor” ist der Brandname eines Designer Produkts, das die aus dem
Bundesstaat Gujarat stammende Frau
Medha Bhatt Ganguly entwickelt hat.
Sie produziert Kunst und Gebrauchsgegenstände aus Textil- und Papierabfällen.
Die Inspiration hierfür bekam sie während
ihrer Recherchen unter den Dorfbewohnern ihres Heimatortes Ran of Kutch in
Gujarat. Diese Recherchen führte sie im
Rahmen ihres Studiums an dem renommierten National Institute of Design in
Ahmedabad, Gujarat, durch. Nach dem
Studium entschied sich Frau Medha Bhatt
keinen lukrativen Job in der Industrie als
Modedesigner anzunehmen, sondern der
Umwelt zu liebe eine eigene Initiative namens „The Forest Floor” (Der Waldboden)
zu gründen.
70 meine welt 2/2011
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Fotoseite
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Deutsch-Indische Begegnungen
Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde im Mai dieses Jahres mit dem hochgeschätzten Jawaharlal Nehru Award für Internationale Verständigung ausgezeichnet. Im Bild nimmt Frau Merkel den Preis von der Präsidentin der
indischen Republik Frau Pratibha Patel entgegen. In der Mitte ist Dr. Karan
Singh, der Präsident des ICCR (Indian Council for Cultural Relations)
(Quelle für alle Bilder: India German in Focus
2011, Indische Botschaft, Berlin)
Indischer Minister für Bildung, Kommunikation und Informationstechnologie und die Bundesministerin für Bildung und Forschung Frau Dr.
Annette Schavan bei der Unterzeichnung einer Kooperationsvereinbarung
über Zusammenarbeit zwischen der Universität Hyderabad und der Westfälischen Wilhelms-Universität am 31. Mai 211 in Neu Delhi, Indien.
Um das 60-jährige Bestehen
der diplomatischen Beziehung
zwischen Deutschland und
Indien zu feiern, hat in Indien
ein 15-monatiges Programm mit
dem Titel „Germany and India
2011-2012: Infinite Opportunities” begonnen. Das Programm
wurde am 31. Mai 2011 von
Kanzlerin Merkel und Frau
Meira Kumar, Präsidentin des
indischen Parlaments (Lokh
Sabha) eingeweiht.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr und Stadtentwicklung
besuchte im April dieses Jahres Herrn Vayalar Ravi, indischer Minister für
Auslandsinder und Luftverkehr, in Neu Delhi, Indien.
Indiens Verteidigungsminister Herr A. K. Antony hatte eine Begegnung
mit dem deutschen Verteidigungsminister Herrn Thomas de Maiziére im
Mai dieses Jahres in Neu Delhi.
meine welt 2/2011 71

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