13 Tage Indien - Peter Vogel. Fotograf.

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13 Tage Indien - Peter Vogel. Fotograf.
Peter Vogel
13 Tage Indien
Indien pur
Eine Reise nach Mumbai und Delhi
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13 Tage Indien
Eine Reise nach Mumbai und Delhi
Eine Woche Mumbai,
dann per Nachtzug für
4 Tage nach New Delhi. Für uns begeisterte
Städtereisende war diese Zeiteinteilung optimal.
Hotels und Zugreise waren bequem per Internet
vorgebucht, jetzt kann
nichts mehr schief gehen.
Dachten wir.
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7000 km von zu Hause
Bei den Hotelbewertungen im Internet stand:
Unschön sei, dass man
beim Verlassen des Hotels mit der Armut konfrontiert werde. Unangenehmes
Berührtsein
eines Edeltouristen? Als
unser Taxi vom Flughafen kommend in eine
kleine Straße abbiegt
und langsamer wird, sehen wir zu beiden Seiten
Straßenbewohner dicht
an dicht. Auf Planen,
Laken, dem nackten
Boden dämmern sie im
Schein der Straßenlampen. Der Wagen hält,
und ich denke: Bitte, bitte nicht hier. Nicht in dieser Straße, nicht in dieser
Armut. Mein Blick fällt auf
das Schild „Blood Bank
- Mumbai Hospital“. Ge-
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genüber, hinter einer
Mauer, der Schriftzug
„West End Hotel“. Wir sind
da. Der Fahrer wuchtet
unsere Koffer vom Dachgepäckträger, aus dem
Hotel kommen uns nette Menschen entgegen,
die behilflich sind. Bei
den Straßenbewohnern
beginnt ein Kleinkind zu
weinen, ein Hund bellt.
Wir gehen ins Hotel. Der
leicht verfallene Charme
der 40er Jahre umfängt
uns. „Your name and
Passport, please?“
Später lernen wir: Immer
abends gegen 18 Uhr ist
die Strasse rappelvoll mit
Obdachlosen. Behinderte in ihren Rollstühlen,
Mütter mit ihren Kindern,
Männer. Sie alle warten
auf die Speisung durch
die Moschee nebenan.
Nun, auch vor dem Interconti Hotel finden sich, in
einigem Abstand, spätestens an der nächsten
Straßenecke, Bettler und
Straßenfamilien. Der Armut kann man in Indien
wohl nicht ausweichen,
man kann sie nur ausschließen. Etwa durch die
allgegenwärtigen Wachleute. Sie bewachen die
Eingänge zu den etwas
gepflegteren
Einrichtungen. 60% der Mumbaier leben in Slums. Die
Straßenbewohner nicht
mitgezählt.
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Charme der Vergangenheit
Das Hotel West End im
Zentrum Mumbais hat
schon bessere Tage gesehen. Das Haus wurde
in den 40ern gebaut. Seitdem kamen Klimaanlage
und etwas Haustechnik
dazu; die Frühstücksgarnitur jedenfalls hat die
Jahrzehnte überlebt.
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Alles ist einwandfrei in
Schuß. Personal ohne
Ende: Liftboy, Etagenkellner, vier Bedienungen
im leeren Speiseraum.
Geduldig warten die
Mitarbeiter, ihr bezauberndstes Lächeln bei
einem Gast zeigen zu
können.
Vor der Tür der obligatorische Wachmann und
ein Door-Man mit Turban.
Wollen Sie ein Taxi? fragt
er bei jedem Verlassen
der Lobby.
Direkt vor dem Grundstück wartet fast den
ganzen Tag ein würdig
aussehender Inder. Er
spricht perfekt und akzentfrei Englisch. Er managet die Taxifahrten für
die Gäste, ist jederzeit für
einen Smalltalk zu haben.
Unweigerlich dirigiert er
jedoch jedes Gespräch
auf ein Angebot: Ein Ausflug aufs Land vielleicht?
2000 Rupien. Ah, ihr seid
beim Shoppen schlecht
beraten worden? Hättet
ihr mich gefragt! Ich kenne die besten Einkaufscenter. Sehr billig! Beste
Qualität. Soll ich Euch
hinfahren? Oh, ihr wollt
zum Gate of India! Gute
Idee. Nehmt ein Taxi!
Nimmt man eins, fährt
vermutlich der Schwager die Tour im Privatwagen. Ob der freundliche,
geschäftstüchtige Inder
zum Hotel gehört oder
freischaffend ist, werden
wir nie erfahren.
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Mittagsschlaf
Menschen, Menschen,
Menschen überall. Einige
Reiche, wenige aus dem
Mittelstand, die meisten
arm. Gegen Mittag liegen die Massen danieder, am Straßenrand, auf
den Bänken, am Strand.
Ein Tuch über die Augen,
den Oberarm als Kopfkissen unter dem Kopf, und
schon ist das Bett fertig.
Es wird geratzt. Gelangweilte Hunde schnuppern am Bein - ein Fußtritt sorgt für den nötigen
Respekt.
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Bananendiplomatie
Im Park Hanging Gardens, am nördlichen
Ende der berühmten
Bucht vor Mumbai auf
einem Hügel gelegen,
rasten wir auf einer Parkbank. Rechts neben uns
Arbeiter, vor uns eine Familie mit Kind. Der Vater
zeigt auf meine Bananen
- der Fünfjährige schaut
neidisch. Ich gebe ihm
eine, aber er fremdelt.
Schließlich bittet ein Vater um ein Familienbild
- jetzt posiert der Kleine.
Der Vater platzt vor Stolz,
putzt den Jungen heraus.
Aus den mitgebrachten
Plastikbeuteln wird allerlei
hervorgekramt, das Kind
damit dekoriert. Der Sohn
trägt nun Turnschuhe mit
Leuchtdioden, eine goldene Hose, verspiegelte
Sonnenbrille. Die Mutter
trägt Sari und sitzt später
wie
selbstverständlich
im Schneidersitz auf der
Parkbank, während die
beiden Männer über die
Wiesen toben.
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Marine Drive
Der Marine Drive in
Mumbai umarmt das
Arabische Meer. Breite
Sandstrände laden zum
Bummeln ein.
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Sonnenstrand
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An der Strandpromenade Marine Drives herrscht
gegen Mittag glühende
Hitze. Sie umfasst die
Bucht zum Arabischen
Meer in einem großen
Bogen.
Erbarmungslos
brennt die Sonne – um
die wenigen schattenspendenden
Bäume
gruppieren sich dösende
Straßenköter, die üb-
lichen
Mittagsschläfer
und junge Paare. Sie im
Sari oder unter Schleier oder Kopftuch, er in
Jeans und langärmligem
Hemd.
Verstohlenes
Händchenhalten.
Die
vorbeiziehenden Horden
junger Männer ignorieren die Idylle auf der
Parkbank.
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4 Worte Hindi
Die Kellner im Hotel geben uns eine kompakte
Hindi-Einführung. Namaste, begleitet von vor den
Augen gefalteten Händen, heißt „Guten Tag“
und „Auf Wiedersehen“.
Aber nur bei der Familie
und guten Freunden sei
das üblich, meinen unsere beiden Sprachlehrer.
Und: Nej heißt nein, han
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ist ja. Später hängen sich
bettelnde Kinder mit großen, schwarzen Augen an
uns. Nej sagen, dazu den
Kopf wiegen, nej, nej. Die
meisten verschwinden. In
hartnäckigen Fällen hilft
ein zunehmend barsche
formuliertes „Chalo“, das
bedeutet „Geh!“. Wir benutzen es nur bei schwierigen Zeitgenossen. Man-
che trotten dann davon,
andere antworten „Chalo, chalo, you speak Hindi!“ und strahlen uns an.
Beim Fragen nach dem
Weg oder der Taxisuche
hilft das Namaste-Ritual,
ein Lächeln in das Gesicht des Gegenübers zu
zaubern.
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Die Basilika auf Mount
Mary.
Christlich-katholische Folklore, durchsetzt
mit orientalischem Aberglauben. Eine präzise
Schilderung der Lebens-
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wegs Jesu schmückt die
Seitenwände der portugiesischen Kirche, kombiniert mit dem Kreuzweg.
Vor der Kirche eine Opferstelle für Körperteile in
Wachs: Wessen Arm geheilt wurde oder werden
soll, bringt hier einen hohlen Wachsarm vorbei.
Das hilft. Auch Hindus
nutzen diese Heilkraft.
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Strandleben
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Der im Reiseführer ausgelobte
Strand
von
Bandra erweist sich als
Slum.
Wahrscheinlich
haben wir den falschen
Abschnitt
aufgesucht.
Idylle und Desaster liegen hier oft nur wenige
hundert Meter auseinander. Schnell weiter, in der
Motorrikscha.
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Drei Räder, ein Motörchen,
Viergangschaltung und ein zu allem
entschlossener
Fahrer.
So dicht, wie bei uns die
Autos parken, so dicht
wird hier gefahren. Vermutlich mit 50-60 km/h
in Armlänge Abstand.
Wir begreifen die Choreographie des Tanzes
der Mobile: Jede Fläche
wird genutzt, die Hupe
warnt und stärkt zugleich
das
Selbstbewusstsein,
aber letztendlich vollbringen alle gemeinsam die
Großtat: Mumbai n Bewegung zu halten. Inmitten von Schlaglöchern, zu
ignorierenden Ampeln,
Schwertransportern und
Mopeds bahnen sich Rikschas und Taxis aus vergangenen Jahrzehnten
ihren Weg. Laut, schnell,
und als würde gerade
der nächste Tsunami von
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hinten anrollen. Kommt
es zu einem Rempler,
folgt eine kurze, lautstarke Diskussion. Ach,
der Schaden ist nur eine
Beule. Hände hochwerfen, wieder einsteigen, weiterfahren.
Im gehabten Tempo. Am Ende der
Fahrt guckt der
Fahrer
aus
dunkeln Augen auf den
Fahrgast
der gibt ein
angemessenes
Fahrgeld. Nun erst
wird bedächtig der Taxameter geprüft
- oh, je. Ein Wiegen des Kopfes
signalisiert dem Fahrgast:
Das macht mich nicht
glücklich, aber es passt
schon! Das doppelte
oder dreifache des Taxameters sollte es schon
sein, Ausländer.
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Juhu Beach
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Am Strand von Juhu geht
bald die Sonne unter.
Hindus, Sikhs und Muslime ohne Zahl wühlen begeistert mit ihren Kindern
im Sand, gehen dem
ablaufenden Wasser bei
Ebbe hinterher, nehmen
ein Bad in Unterwäsche
oder auch im vollen Outfit. Am Strand endlose
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Reihen von Freßbuden,
Karusels, Verkäufern. Lächelnd
dargebotene
Angebote: Luftballons,
extra stabil; Erdnüsse
frisch geröstet, Zuckerwatte in dunkelrosa, oder
vielleicht ein paar Früchte? Nein? Macht nichts.
Dann vielleicht ein Foto?
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Jungs spielen am Strand
Fußball und Kricket. Da
der Platz doch irgendwie
begrenzt ist, überschneiden sich die Spielfelder.
Kein Problem. Bälle sausen hin und her, gefolgt
von den ihnen nacheilenden Spielern. Dazwischen Eltern mit ihren Babys. Papa kickt die Bälle
zurück.
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Ein dichter Pulk von Männern bildet einen Kreis.
In der Mitte zwei Akteure, die sich grimmig
anschauen, laut rufen.
Doch die Menge um
sie ist nicht aggressiv:
Sie antworten offenbar
auf die Ausrufe mit lautem „Ha“ und „Nej“, ja
und nein. Eine spontane
Vorführung eines ZweiPersonen-Stücks mit Zuschauerbeteiligung.
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Wenig weiter sehen wir
Ringkämpfe, in Gruppen ausgeführt. Die eine
Partei kauert am Boden,
die Kämpfer an der vorderen Linie werden an
einem Fuß festgehalten.
Da greift auch schon
die Gegenpartei an,
versucht einen Mann zu
greifen und in sein eigenes Spielfeld zu ziehen.
Alle wirbeln durcheinander, Geschrei. Der
Schiedsrichter spricht ein
Machtwort. Die Kämpfer
nehmen erneut Aufstellung.
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Strassenfest
Nach ein, zwei Bier im
Hard Rock Cafe beginnt
die Suche nach einem
Taxi. Von weiter vorn hören wir Lärm. Feuerwerk
und Schlagzeug. Unter
schnellen Rhythmen zieht
eine Prozession durch die
Straße, im Schritttempo.
Auf einem kleinen Karren eine LKW-Batterie.
Sie betreibt den Verstärker für die E-Orgel. Minderjährige zünden Kracher mit unglaublicher
Sprengkraft - noch in einigen Metern Entfernung
spüren wir die Druckwelle, vom Krach ganz zu
schweigen. Direkt dahinter tanzen die jungen
Männer zur den schnellen
Rhythmen. Ihnen folgen,
andächtig
schreitend,
in roten Saris, eine Kerze
in der Hand, die Frauen.
Ich fotografiere unter
großer Anteilnahme der
Feiernden. Wir reihen
uns, vom freundlichen
Lächeln eingeladen, in
die Schar der Tänzer ein.
Später wird uns das junge Brautpaar vorgestellt.
Es folgte der Prozession
im Auto sitzend. Man lädt
uns zur Party ein. Wir müssen zu unserem allergrößten Bedauern ablehnen.
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Guten Appetit
Irgendjemand
meinte:
Jeder, der nach Indien
reist, nimmt einige Kilo
ab.
Das kann nur daran liegen, dass die indische
Kost, so wie wir sie erlebten, ausgesprochen
leicht und meist vegetarisch ist. Die Restaurants mit gehobenem
Ambiente bieten, meist
für 2 Euro pro Gericht,
eine Speisekarte in englischer Übersetzung, so
dass die Auswahl leicht
fällt. Pfannkuchen in dick
und dünn, jeweils mit
eingebackenem Gemüse
unterschiedlichster
Art, sind die eine Sache.
Reisgerichte mit allerlei
Grünzeug sind eine Alternative. Dazu kommt das
Thali. Je nach Anspruch
wird ein mit vielen Vertiefungen ausgestattetes
Metalltablett, oder auch
ein mit Blättern ausgelegtes Plastikteil im Stil der
Mensa-Tabletts,
gereicht. Reis satt in der Mitte,
darum Dips, Soßen und
Verschärfer aller Art. 2
Euro. Und keine Angst, es
gibt Alternativen. Auch
Nichtvegetarische. Zu erkennen am roten Punkt
in der Speisekarte.
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Am Straßenrand zu essen
ist sicher auch möglich.
Unzählige Freßbüdchen
reihen sich aneinander.
Es gibt frisch gepressten
Zuckerrohrsaft, Kokosnüsse, frisch geöffnet, aber
auch Thali und frittiertes.
Wenn man dann aber
auch sieht, wie die Teller
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am Rinnstein gewaschen
werden, der Teigfladen
auf einem Stück Plastik
direkt auf dem Gehweg
ausgerollt wird, überdenkt man den Hungerstatus noch einmal und
sucht lieber ein Restaurant auf.
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Laecheln
Am Strand von Juhu trifft
sich angeblich der LachKlub. Ritualisierte Heiterkeitsausbrüche sollen das
Wohlbefinden steigern.
Dabei ist die Grundhaltung der meisten Inder
entspannt. Polizisten trällern mit einem scharfen
Pfiff Verkehrssündern hinterher, mehr Aufwand
wäre wohl zu viel. Ansonsten wird viel gelächelt.
Der Liftboy bei jeder Fahrt,
der Taxifahrer bei der
Diskussion der Fahrtziele,
der Bettler beim Erkennen seiner Erfolglosigkeit.
Die 10jährige am Strand,
die Henna-Bemalungen
verkauft, beherrscht die
Kunst des Lächelns perfekt. In rasendem Wechsel flirtet sie, unterbreitet
Angebote, strahlt aus
schwarzen Augen, und
passt sogleich ihre Preisvorstellung an. Als ein
strenger Herr sie vertreiben will, weicht sie um
ein, zwei Meter zurück.
Und beobachtet uns von
dort aus. Wenig später ist
sie wieder direkt bei uns.
Die nächste Lächel-Handelrunde beginnt.
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Sauberkeit
Wie man mitten im knietiefen Unrat strahlendes
Weiß in die Wäsche zaubert, demonstrieren die
Dhobi Wallas (Wäscher)
im Dhobi Ghat (Wäscherei-Viertel). Direkt neben
den
Eisenbahngleisen,
hinter hohen Mauern,
findet sich ein Areal mit
Waschtrögen aus Beton.
In ihnen stehen, knöcheltief in der Lauge, die Wäscher, und schlagen die
Wäsche unablässig gegen die Betonwände. Da
weicht auch das zarteste
Grau, unterstützt durch
moderne Weißmacher.
Krankenhauswäsche
trocknet wenig später
ebenso dekorativ wie
die Jeans aus hunderten
Haushalten im Wind und
praller Sonne.
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National Park
An der Endstation einer
der Vorstadtbahnen liegt
der Nationalpark. Unscheinbar der Eingang,
mit 20 Rupien gering der
Eintritt. Schon nach wenigen Metern tritt der unablässig wabbernde Lärm
der Großstadt zurück, wir
hören Vogelgezwitscher.
Einige Meter weiter spielen Affen miteinander.
Hinweisschilder fordern
zum Besuch bei den Spinnen auf. Ein See lädt zu
einer Bootsfahrt ein, eine
Minieisenbahn ist zurzeit
außer Betrieb. In 6km Entfernung, oben auf einem
Berg, kann man buddhistische Höhlen bewundern, oder zur linken zur
Tiger- und Löwensafari
aufbrechen. Viele Schulkinder in adretten Uniformen überholen uns.
Wo wir denn hinwollen,
fragen sie. Nirgendwohin, nur schauen, ist unsere Antwort. Sie kichern.
Schließlich zeigen sie auf
einige Hütten im Wald.
Hier wohnen wir, strahlen
sie. Vielleicht können wir
ja ein Foto machen?
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Ortswechsel
Mumbai Central Station 16:10h. Unsere Koffer
hinter uns herziehend suchen wir die Reservation
List für den Rajani Express
16:40 nach New Delhi.
Sie hängt direkt am Gleis
1, durch die Menschentraube davor dann doch
leicht zu finden. Tatsächlich: Für den Wagen A3
sind unsere beiden Na-
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men eingetragen, dank
der Reservierung im Internet vor über 6 Wochen.
Der Zug fährt langsam
ein, unser Wagen hält direkt vor der Leuchtanzeige mit der Angabe „A3“
– wie praktisch. Wir steigen ein. Das Typenschild
neben der Tür verrät das
Baujahr: 2004. Drinnen
der Charme eines Nach-
kriegs-Truppentransporters. Rechts Liegeabteile
für jeweils vier Personen
in 2 Etagen („2 tier“, es
gibt auch „3 tier“ Wagen, da ist es dann besonders kuschelig.) Links
neben dem Gang sind
noch einmal zwei Sitz-/
Schlafplätze.
Robuste
Stahlrahmen, zweckmäßige Klappvorrichtungen,
blaue Kunststoffbezüge
auf dünn gepolsterten
Liegeflächen. Wir verstauen unsere Koffer und
beziehen unsere Betten: Es sind die beiden
oberen. Die Schaffner
schleppen ballenweise
Bettzeug in den Zug, das
sie zwischen den Einsteigenden schnell sortieren, die Kopfkissen frisch
beziehen, und, bitte kurz
zur Seite treten, im Wagon verteilen. Jeder bekommt ein Kopfkissen,
zwei Laken, eine Decke.
Der Wagen ist klimatisiert.
Pünktlich um 16:40 fährt
der Zug los – ohne jedes
Signal nimmt er Schritttempo auf. Die letzten
Fahrgäste trotten ne-
ben dem Zug her, noch
Abschied
nehmend,
und springen dann auf.
Noch einige Kilometer
bleiben die Türen geöffnet, während der Zug
durch die Vororte von
Mumbai trottet. Schaffner und Fahrgäste hängen im Windzug aus der
Tür heraus, um sich noch
etwas Fahrtwindkühlung
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zu gönnen. Ein Schaffner
verrichtet noch schnell
ein Gebet, dann wird die
Tür mit einem einfachen
Klappmechanismus verschlossen.
Im Zweierabteil gegenüber verkriechen sich zwei
junge Männer im unteren
Bett, ziehen die Vorhänge zu. Sie werden die
Hälfte der 14stündigen
Fahrt nebeneinander auf
60cm Breite verbringen,
angeregt palavernd.
Später wird ein Abendessen serviert, vegetarisch
oder auch mit Fleisch,
frisch aufgewärmt in der
Bordküche. Dort wird
auf großen Gaskochern
auch das Tee- und Kaffeewasser gekocht, um
in kleinen Thermosflaschen verteilt zu werden.
Gegen 18:30h geht die
Sonne unter, 15 Minu-
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ten später ist es draußen
stockfinster. Die Klimaanlage bollert, die anderen
Reisenden bauen sauber ihre Betten, ketten
ihre Koffer an, und entschlummern schnell. Der
Zug rast durch die Nacht,
ruckelt seine Fracht unsanft in den Schlaf.
Gegen Mitternacht versammelt sich eine kleine Gruppe zwischen
den Wagen, bei den
sanitären Einrichtungen.
Unter dem RauchenVerboten Schild wird
fröhlich gepafft, der Unter-Schaffner bekommt
auch eine Zigarette, so
dass alles seine Ordnung
hat. Später kommt der
Chef-Schaffner vorbei,
erinnert mit ernstem Blick
an das Rauchverbot –
und geht. Alle Zigaretten
bleiben an.
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Delhi
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New Delhi empfängt
uns im Nebel - oder ist
es Smog? Endlose Slums
links und rechts der
Bahnstrecke. Kleine Wellblechhütten
drängeln
sich aneinander, daneben Abfallberge, Kühe,
Kinder. Einige erledigen
ihre Morgentoilette, ein
Mann mit Krawatte und
Aktentasche trottet auf
den Gleisen. Wir fahren
in den Bahnhof ein, er
bietet optisch kaum Abwechslung zu den Slums.
Der Zug hält, alles stürmt
raus. Mühelos finden wir
den Weg aus dem Bahnhof, das Hotel ist laut
Google Maps nur wenige
hundert Meter entfernt.
Wir wollen die Strecke
laufen. Alle paar Meter
werden wir freundlich
angesprochen, aber immer geht es ums Verkaufen: Eine Taxifahrt, eine
extra günstiges Hotel. Vor
unseren Füßen liegt der
Unrat dieser Welt - ungeniert wird direkt neben
dem Weg an die Wände
gepinkelt, es riecht nach
Moder,
vergammelnden Abfällen, Benzin
und Ammoniak. Unbeirrt
setzen wir unseren Weg
fort, vorbei an Küchen
am Rinnstein, Pferdegespannen,
schreienden
Babys, Mini-Tempeln aus
alten Ölfässern. Der Blick
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reicht im Dunst ein paar
hundert Meter. Delhi leider unter einem „Freak
Smog“, eine besonders
intensiven
InversionsWetterlage, erfahren wir
am nächsten Tag aus
der Zeitung.
Da kommt auch schon
der Abzweig in die Arakashan Road. In Nummer 34 soll unser Hotel
sein. Ein Hotelschild nach
dem anderen, dazwischen nette Männer, die
uns freundlich nach dem
woher, wohin fragen, und
sogleich eine Taxifahrt,
eine Rikscha, ein super
günstiges Hotel anbieten.
Vor unserem Hotel Ajanta steht ein Wachmann,
der uns freundlich die Tür
öffnet. Wir entspannen
uns, hier sind viele junge
Europäer zu sehen, der
Frühstücksraum ist voll
von ihnen. Der Mann an
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der Rezeption führt uns in
ein Separée, fragt nach
unserer Reservierung. Wir
geben die Unterlagen,
er schaut in einige Listen,
kann nichts finden, bittet
um Geduld. Nun meint
er, ob wir schon einen
Trip nach Agra geplant
hätten, zum Taj Mahal?
Vier Tage Delhi seien
doch viel zu lang, zwei
Tage würden reichen.
Da wäre doch eine Reise
nach Agra das richtige.
Auch dort gibt es ein Hotel Ajanta, schwärmt er.
Ob er die Buchungen für
Fahrer und Hotel gleich
machen soll? Erst jetzt
sehe ich das Schild „Travel Agent“ im Raum. Wir
lehnen ab. Resigniert
bringt er uns zurück zur
Rezeption, wo unsere Buchung umgehend bestätigt wird. Wir können das
Zimmer 212 beziehen.
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Unser erster Ausflug in die
Stadt zum Connaught
Place bringt uns die
Gastfreundschaft
und
Lebensart auf die Neu
Delhi Art näher: Während
die Mumbaier freundlichtolerant-interessiert sind,
wird schon unsere erste
Frage nach dem Weg
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mit einer Geldforderung
begegnet. 20 Rupien sollen es sein, oder der Passant sagt uns nicht, wo
der Connaught Place
ist. Wir verweigern die 20
Rupien, unwirsch nickt er
in Richtung andere Straßenseite. Das soll das wirtschaftliche Zentrum Neu
Delhis, das Luxus-Viertel
sein? Verfallene Häuser,
Schutt- und Abfallberge,
dazwischen
hupende
Autos und Rikscha. Wir
trotten weiter, werden
dank unseres suchenden
Blicks als ahnungslose,
leichte Beute erkannt
und alle paar Meter an-
gesprochen:
Woher,
wohin, wie lange? Wie
schön, dann braucht ihr
jetzt ein Taxi? Oder einen zwei Tage Trip nach
Agra? 4 Tage Delhi sind
doch langweilig, hier gibt
es nichts zu sehen! Als mir
ein Schuhputzer unbemerkt eine satte Ladung
Kot auf dem Schuh platziert, um Sekunden später seine Hilfe anzubieten, falle ich prompt auf
den Trick rein. 600 Rupien
will der Mann haben. Ein
Passant meint, 300 Rupien seien angemessen.
Ich merke nicht, dass der
freundliche Berater wohl
ein Komplize ist. 300 Rupien ärmer, mit einem mit
Schuhcreme gereinigten
Wildleder-Turnschuh, ziehen wir in ein westliches
Cafe. In Ruhe wählen wir
aus der Speisekarte, trinken zwei Prolongé, verzehren zwei Sandwichs
und einen Brownie. Die
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Rechnung summiert sich
auf 250 Rupien. Später,
im Hotel, werden wir von
zwei Portugiesen erfahren, dass der Schuh-Trick
im Lonely Planet Reiseführer beschrieben steht.
Beim Anblick der Bettler draußen, den verfallenen Häuser, dem Dreck
auf Gehweg und Straße,
dem durch die dicken
Scheiben
hereindringenden Lärm nehmen
wir das Urteil des freundlichen Inders aus dem
Zug Ernst: Mumbai ist
angenehm indisch. New
Delhi ein Dreckloch.
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Abends dann ein Gang
auf das Hoteldach. Zwei
Portugiesen sind gerade bei ihrer Bestellung in
der Dach-Bar. Ich spreche sie auf Ihre Erfahrungen in Delhi an. „Ein
kompletter
Wahnsinn.
Wir sind schockiert! Die
Menschenmassen, dieser unvorstellbare Dreck,
diese Aggressivität. Wir
wurden um 12.000 Rupien in einem Reisebüro
betrogen, das vorgab,
das offizielle, staatliche
zu sein.“ Die Beiden sind
sichtlich genervt. Jeder
Fehler des Kellners wird
energisch abgemahnt:
Das Bier zu warm, die
Tischkerze zu klein, das
Essen zu spät. Die Nerven liegen blank. „Nichts
wie raus aus Delhi“, raten
sie mir. Sie haben noch
mehrer Wochen IndienRundreise vor sich, Delhi
ist ihre erste Station.
Im Treppenhaus treffe
ich auf drei Deutsche in
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kurzen Hosen und vom
Bierbauch gespannten TShirts. „Zum Essen ins Metropolis Hotel in der Main
Bazar Street“, empfehlen
sie einstimmig. Zwei Straßen runter, oder so, den
genauen Weg wissen sie
nicht mehr. „Man isst im
Metropolis, schläft hier im
Antaja“ ist ihr Rat. Einer
der drei war schon mal
hier, erinnert sich an die
gute Futterquelle.
Auf unserem Plan von
Google Maps finden wir
die Main Bazar Street, im
Detail helfen uns die lokalen Polizisten mit den
bei ihnen üblichen, ausgiebigen Denkpausen,
weiter. Ist die Erkenntnis gereift, hebt sich der
Amtsarm lässig in die
gemeinte Richtung, und
einer Mischung aus Hindi
und Englisch entnehmen
wir die empfohlene Richtung: „Doh street, right
saarth hundred metra,
Metropolis!
Das Metropolis Hotel ist
definitiv ein Geheimtipp.
Die Dachterrasse ist voll
mit Europäern in unterschiedlichstem
Outfit.
Genussvoll verzehren sie
Hühnchenspieße, Massala und Roti mit Salat
und Eiscreme als Desert.
Dazu etliche King Fischer
Strong zu 120 Rupien die
Flasche. Das Lamb Matras mit Chiapatti und
der Kaschmiri Rice mit
Rosinen und Gemüse
versöhnt uns mit unserem
ersten Tag in Delhi.
Im Aufzug im Hotel treffen wir einen Australier.
„Was denkst Du über
Delhi“, fragen wir. „I‘m
shocked“ ist seine knappe Antwort, als er im 3.
Stock aussteigt. Aber er
grinst uns dabei an.
Ich und Philipp beschließen, Delhi morgen eine
Chance zu geben. Schilde hoch, Deflektoren auf
9, Warp Energy ist bereitgestellt.
Intermezzo
Das kurze Glück hatte wohl der junge Inder gesucht, der nun vor
dem Hotel steht. Klebstoff hat er geschnüffelt, den mit den aggressiven Lösungsmitteln für Leder. Erschöpft, benebelt, lehnt er
an einem der Abfall-Rikschas, sein Rücken findet halt an der Seitenstrebe. Seine Beine sacken weg, sein T-Shirt verfängt sich in
einem Haken, er sinkt weiter, der Kragen zieht sich um den Hals
zu, die Beine knicken weg, er röchelt, sinkt weiter, bekommt nun
keine Luft mehr. Beherzt reißt ein Passant das T-Shirt entzwei, lässt
den Jungen zu Boden sinken. Der hat inzwischen Krampfanfälle,
zuckt und windet sich am Boden. Ein Passant zieht seine Schuh
aus, stopft das Fersenteil zwischen die Zähne des Epileptikers. Ein
Menschentraube bildet sich, die meisten sind hilflos. Die Krämpfe
hören auf, die Hotelgäste vor der Tür schauen verstört auf die Szenerie. Ich bitte eine Französin um ihre fast leere Wasserflasche, um
sie dem Jungen zu geben. Wasser gibt es im Hotel, bekundet sie,
und gibt dann doch die fast leere Flasche her. Inzwischen wurde
der Patient schon anderweilig mit Wasser versorgt; wenig später
wird er von einem Mann weggeführt.
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Delhi Welcome
Nach ausgiebigem Frühstück im Hotel ziehen wir
los. Delhi heißt uns willkommen. Leute posieren
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für die Kamera. Neutrale
bis lächelnde Gesichter,
man ist trotz der sonntäglich
geschlossenen
Ladengeschäfte fleißig
beim Handeln und Reparieren. Wir ziehen Richtung Norden, entlang der
Bahngleise. Alles ist ein
wenig heruntergekommen, am Wegesrand
mampfen Kühe an den
Abfallhaufen. Bei der Brücke über die Bahngleise
rechts runter, durch eine
der alten Bazar-Straßen,
vorbei am Gewürzmarkt.
Leben pur. Wir sind mitten in der Altstadt.
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Das Rote Ford, eine historische Befestigungsanlage, erstrahlt in satten
Rottönen. Eine gewaltige
Mauer, dahinter eine
großzügige Anlage mit
Mosche aus Marmor, stilvollen Gartenanlagen,
und vielen, vielen, vielen
Einheimischen, die hier
Sightseeing machen.
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In der Freitagsmoschee
das gleiche Bild: Entspannte Hindus, betende
Muslims, fotografierende
Ausländer. Delhi begeht
seinen Sonntag.
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South at Eden
Schon die RikschaFahrt in den Süden
Delhis begann bemerkenswert. Der Fahrer
verzichtete auf Preisverhandlungen, verwies auf sein Taxameter. Unser Ziel, die Lodhi
Gardens, waren nach
20 Minuten erreicht:
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Wir trauten unseren Augen nicht: Gepflegte
Grünanlagen, fast menschenleer, gefüllt mit
zwei, drei Moscheen und
Grabmälern. Exotische
Vögel, ein paar Hunde,
aufmerksame Wachleute. Wir sind entspannt und
begeistert. Hier beginnt
das Delhi der Reichen. In
diesem Viertel herrscht
Ruhe, hier stehen großzügige Häuser, hier sind die
Parkplätze der BMWs und
Volkswagen.
Im Indian Habitat Center
nebenan, einem Kongreßzentrum,
schauen
wir uns mehrere Ausstel-
lungen an und nehmen
unser Abendessen in der
„Eatery“, einem kantinenähnlichen
Restaurant. Indische und chinesische Hauptgerichte,
eine europäische Konditorei. Lecker.
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Das Ende naht
Tag und Nacht Lärm.
Tag und Nacht Smog.
Tag und Nacht Armut.
Tag und Nacht Indien
auf seine intensive Art.
Zunehmend rächt sich,
dass wir seit unserer Ankunft keine Indien-Pause
eingelegt haben: Keine
großen Hotelbars, keine
klimatisierten und schallgedämpften Taxis, kein
europäisches Restaurant
haben uns eine kurze
Auszeit gegeben. Nun
können wird das allgegenwärtige Chaos immer
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weniger ertragen, igeln
uns mit Buch und Kopfhörer im Hotel ein, lassen
Delhi Delhi sein. Zu allem
Überfluss holt mich der
Delhi Belly in seiner milden Form ein. Vorsichtshalber bleibe ich einen
Tag im Hotel, um nicht zu
persönlichen Kontakt mit
den einheimischen sanitären Anlagen suchen zu
müssen. Doch die Strafe
der Indienreisenden verläuft harmlos. Dennoch:
Ich will nur noch raus
hier. Raus aus Delhi, raus
aus Dreck und Armut,
weg von den Bettlern,
scharfem Essen, RikschaGeknatter und Hupkonzert.
In einem unserer Bücher
wird das leichte, europäisierte Leben in Delhi
beschrieben, irgendwo
im Süden, aber auch am
Connought Place. Dort
seinen die netten Cafes,
die Einkaufstempel. Wir
gehen nicht auf die Suche nach den beschriebenen Plätzen. Zu oft
schon wurden wir ent-
täuscht, zu weit klafften
Reiseführer und Wirklichkeit auseinander.
Unser letztes Mittagessen
im Metropolis besteht aus
einer Garden Pizza und
einer Quadro Stagione,
einer Flasche Wasser und
zwei Nescafe. Um 1:25h
heute Nacht startet die
Boing 747 nach Hause.
Der vom Hotel organisierter Taxifahrer fragt uns
auf dem Weg zum Flughafen, wie uns Indien gefalle. Er wartet kaum auf
die Antwort. „Sie sind alle
Betrüger,“ meint er, „nehmen für eine einfache
Taxifahrt statt 180 Rupien
bei Fremden 400.“ Da,
wo er herkomme, wäre
dass nicht so. Wo er denn
herkomme, wollen wir
wissen. „Aus Nepal.“
Eine Bettlerin mit Kleinkind auf dem Arm klopft
mit einer leeren Nuckelflasche ans Autofenster.
Ihr Gesicht drückt den
Hunger dieser Welt aus.
Flehend hebt sie die Hände, zeigt ihr schlafendes
Kind. Wieder überlege
ich, ob Almosen eine
Lösung sind. Bei Behinderten und Alten bin ich
freigiebiger. Ich denke
an die Kleinkinder, die
gegen Gebühr an Bettler ausgeliehen werden.
Erst kürzlich wurde ein
Kindermädchen dabei
geschnappt, wie sie seit
Wochen das ihr anvertraute Baby arbeiten lies.
Die Ampel springt auf
Grün, der Hintermann
hupt, wir fahren weiter.
Noch drei Stunden bis
zum Abflug.
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Peter Vogel. Fotografie.
Eppendorfer Weg 229
20251 Hamburg
Alle Rechte beim Autor
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