Der blasse Diktator. Erich Honecker als biographische

Transcrição

Der blasse Diktator. Erich Honecker als biographische
Martin Sabrow
Der blasse Diktator.
Erich Honecker als biographische Herausforderung
Vortrag im Rahmen des Institutskolloquiums des
Zentrums für Zeithistorische Forschung am 9. Februar 2012 in Potsdam
DAS FORSCHUNGSPROBLEM
Erich Honecker war ein unscheinbarer Herrscher, und wer seinen Namen nennt, hat
das Bild eines monotonen Silbenverschluckers vor Augen, der nie eine historische
Tat vollbrachte, aber auch nie einen theoretischen Gedanken äußerte, der anders als
Lenin,
Stalin,
selbst
Ulbricht
und
Grotewohl
nie
„Erich
Honecker-Werke“
hervorbrachte und dessen intellektuelle Strahlkraft sich in schlichten Weisheiten wie
dem Bebelsatz „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“
erschöpfte. Als Ulbricht 1971 stürzte, stellte die „Welt“ seinen Nachfolger schlicht als
„Politruk“ vor: „Exponent dieses Funktionärstyps ist der neue Erste Sekretär des ZK
der SED, Erich Honecker.“1 Richard von Weizsäcker, der ihm zweimal begegnete,
hielt als seinen beherrschenden Eindruck fest: „Kurzweilig war das Gespräch mit ihm
nicht.“ v. Weizsäcker folgte damit einem Bild, das die zeitgenössische Publizistik
schon seit den sechziger Jahren von Ulbrichts langjährigem „Kronprinzen“ und dann
Nachfolger entworfen hatte. Als „eiskalte(n) Bürokrat der Macht“2, als „die verkörperte
Linientreue“ und „das Musterbeispiel des linientreuen, farblosen kommunistischen
Apparatschiks“3 charakterisierte die bundesdeutsche Presse den „nicht eben
1
Der Politruk, in: Die Welt, 12.5.171
2
BStU, MfS HA IX/11, SV 19/77, Bd. 11, Mitschrift von: Henning Frank, Beitrag, in: Deutschlandfunk,
Mittagsecho, 4.5.1971
3
Johannes Zenker, Funktionäre – Figuren –Statisten, in: Ost-West-Kurier, 17.8.1968
1
beliebte(n), als stur verschrieene(n) Alt-Stalinist(en)“4 in den sechziger Jahren, der
als „vollendeter Apparatschik auch über jeden Verdacht erhaben (sei), etwa eigene,
reformkommunistische Gedanken und Ideen zu entwickeln“.5
Entsprechend statten die vorliegenden Biographien das Bild Erich Honeckers
bevorzugt mit den lebensgeschichtlich gleichbleibenden Zügen eines emotional
verarmten,
intellektuell
zurückgebliebenen
Kümmerlings
aus:
„ein
zu
hoch
gestiegener Apparatschik, ideenlos, irgendwie peinlich und vor allem eins:
mittelmäßig. Das Talent zur Selbstdarstellung fehlte ihm fast völlig.“6 Ebenso
wunderte sich Helmut Schmidt nach dem Tod seines innerdeutschen Gegenspielers
„Mir ist nie klar geworden, wie dieser mittelmäßige Mann sich an der Spitze des
Politbüros so lange hat halten können“.7 Schmidt formulierte damit einen
eigentümlichen Widerspruch, den schon zahlreiche Biographen in den letzten
fünfzehn Jahren als das „im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon“8 zu
entschlüsseln versucht haben: „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer Mensch,
ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die
er besaß, erringen und über so viele Jahre sich erhalten?“9
Die Lebensgeschichte eines so charakterisierten Mannes zu schreiben, ist auf den
ersten Blick keine beneidenswerte Aufgabe. Erschwert wird sie dadurch, dass
Honeckers Persönlichkeit kaum greifbar ist; sie kennt buchstäblich von Kindesbeinen
an keine Lebensphase außerhalb des kommunistischen Parteimilieus, und sie
verschwimmt
in
einer
solchen
Weise
mit
dem
von
ihm
repräsentierten
Herrschaftssystem, dass seine 1981 erschienene Autobiographie aus einer in sechs
Wochen erstellten Kompilation der Textbausteine von einem Dutzend schreibender
ZK-Abteilungen
4
bestand.
Entsprechend
diagnostizierte
der
deutsch-deutsche
Ebd.
5
Ulbrichts Linienrichter Honecker. Der Mann der Generallinie, in: Vorwärts, 9.2.1966; Ulbrichts
Kronprinz, in: Industriekurier, 22.9.1966,
6
Lorenzen, 9.
7
Helmut Schmidt, Weggefährten, Berlin 1996, S. 505. Ebenso „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer
Mensch, ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die er besaß, erringen
und über so viele Jahre sich erhalten?“ Pötzl, Erich Honecker, S. 7.
8
„Es ist dieses im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon, das seine Biographie so spannend macht.“
Lorenzen, Erich Honecker, S. 1
9
Pötzl, Erich Honecker, S. 7.
2
Schriftsteller
und
Lektor
Martin
Gregor-Dellin
schon
1971
„eine
totale
Entpersonalisierung der Sprache“ im Redestil dieses „genormten Musterredners“10
Die These, die ich in der geplanten Biographie verfolgen will, lässt sich dahin
zusammenfassen, dass das Bild eines „linientreuen Apparatschiks“11 ohne
Individualität oder gar Charisma in dreifacher Hinsicht revisionsbedürftig ist. Es
beruht erstens in seiner visuellen Repräsentation auf einer retrospektiven Verkürzung
des Honecker-Bildes auf die Ära Honecker der siebziger und achtziger Jahre; es
nimmt zweitens den Schein der kommunistischen Herrschaftsrepräsentation für das
Wesen des Menschen Erich Honecker, und es unterstellt ihm, um den Widerspruch
zwischen seiner Mediokrität und Machtfülle zu erklären, fälschlich zugleich eine
ebenso unheimliche wie verborgene Fähigkeit zur Machtusurpation.
A. Biographische Befunde
1. “ELEGANTER ERICH“
Wie sehr unser heutiges Honecker-Bild ein Klischee darstellt, das die Bildregie des
SED-Staates für die lebensgeschichtliche Realität hält, zeigt das Zeugnis
zeitgenössischer Beobachter aus Honeckers Jugend. Nicht nur wohlgesonnene
Beobachter hatten noch nach Jahrzehnten ganz andere Erinnerungen an Honeckers
mitreißendem Auftreten in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen im
Saarland bewahrt. Ein ungefähr gleichaltriger Widersacher in der katholischen
Jungmännerbewegung, später stellvertretender Chefredakteur der Saarbrücker
Zeitung, versuchte nach Honecker Aufstieg an die SED-Spitze gegen die
Verkennung Honecker anzuschreiben und betonte, „der Honecker Erich [...] war in
der Diskussion allen politischen Gegnern nicht nur gewachsen, er war ihnen
überlegen. Mit 18 oder 20 bereits ein herausragender Redner, spielte er an den
10
„Wenn ‚Stil‘, oder sagen wir vorsichtiger: Sprache so etwas ist wie die Handschrift, der
Charakterspiegel eines Mannes, dann Gnade Gott dem Papier, auf dem Geschichte geschrieben
wird.“ Martin Gregor-Dellin über Honeckers Sprache: Ein Basis- oder Hühnerdeutsch, in: Süddeutsche
Zeitung, 9.5.1971.
11
Joachim Nawrocki, Der Verwalter des Erbes. Ein 58jähriger Funktionär wurde Ulbrichts Nachfolger
– der jüngste der alten Parteigarde. Erich Honecker, der neue Erste Sekretär der SED: ein linientreuer
Apparatschik, in: Die Zeit, 7.5.1971
3
Straßenecken Wiebelskirchens alle aus.“12 In der Erinnerung seines einstigen
Kontrahenten hatte sich Honecker in seinem Heimatdorf zum „unumstrittenen Anund Wortführer“ auch seiner sehr viel älteren Genossen aufgeschwungen, weil er
sich „nicht des typischen Wiebelskirchener Dorfjargons bediente. Seine Sprache war
geschliffen.“13 Der rückblickend von Gleichaltrigen als „überragende Figur“ und
„sauberster Kopf“ der saarländischen Kommunisten charakterisierte Honecker14 „war
immer schon damals gut angezogen, machte einen sehr guten Eindruck, sah
gepflegt aus“15, und „vor allen Dingen war er [...] von dem, was er sagte, selbst
überzeugt“.
16
Andere Zeugnisse von Weggefährten und Widersachern bestätigen die Vermutung,
dass die biographische Blässe Erich Honeckers auf einer nachträglichen
Blickverschiebung beruht – sie ist offenbar kein individuelles Faktum, sondern ein
kollektives Konstrukt. Unschwer lässt sich allein aus dem überlieferten Bestand an
zufällig entstandenen oder selbst inszenierten Porträtaufnahmen das Bild eines
engagierten kommunistischen Nachwuchspolitikers gewinnen, der mit Kraft und
Selbstbewusstsein für seine Sache stritt und im Bewusstsein seiner Ausstrahlung
von dandyhaften Zügen keineswegs frei war.
Gleiches gilt für die private und der Öffentlichkeit bis 1990 verborgene Seite im
Leben Honeckers. Nicht nur die in jüngster Zeit zugänglich gewordenen BNDBeobachtungen der fünfziger Jahre, sondern auch einzelne Zeitzeugenstimmen
zeichneten das Bild eines Mannes, „der unter Jugendfreunden und in Sportlerkreisen
als ‚lockerer Vogel‘“ gehandelt wurde: „Seine Vorliebe zu allerlei Späßen, seine
Standhaftigkeit bei ausgedehnten Gelagen, seine amourösen Affären hatten ihm des
öfteren Ärger mit der Parteispitze eingetragen“, berichtete der Deutschlandfunk 1971
12
Erich Voltmer, Begegnung vor 40 Jahren, in: Saarbrücker Zeitung, 5.5.1971.
13
Ebd.
14
Olaf Ihlau, Als der große Boß die kleine Trommel schlug. Die politischen Anfänge des Erich
Honecker. Saarländische Genossen von einst erinnern sich an die Jugend- und Kampfjahre des SEDVorsitzenden, in: Süddeutsche Zeitung, 8./9.5.1971.
15
BStU, MfS HA IX/11, SV 19/77, Bd. 10, Mitschnitt von: Ernst Steinke, Auf den Spuren eines
saarländischen Kommunisten. Sendung zum 65. Geburtstag Erich Honeckers, 21.8.1977,
Interviewäußerung Erich Voltmer. „Honecker [...] war also kein Brüller, kein Schreier, er hat versucht,
[...] durch Argumente zu überzeugen. Insofern [...] war er eine große Ausnahme gegenüber seinen
anderen jungen kommunistischen Genossen.“ Ebd.
16
Ebd., Interviewäußerung Bier.
4
über den eben ernannten Ersten Sekretär.17 Tatsächlich galt der „elegante Erich“18,
wie ihn ein Rundfunkkommentator 1968 apostrophierte, in der Zeit seines Aufstiegs
in der SED-Hierarchie nicht nur als „bestgekleideter Spitzenfunktionär der SED“19,
sondern auch für einen attraktiven womanizer, der ein affärenreiches Liebesleben
pflegte und gern in Damenbegleitung auf dem Kurfürstendamm flanierte, bis ihn die
dem Politbüro erst abgetrotzte und dann als Zähmungsinstrument eingesetzte Ehe
mit Margot Feist in bürgerliche Bande legte. Auch in den beiläufigsten
Schnappschüssen von Bootsausflügen auf märkischen Seen oder später von
Erholungsurlauben an der Ostsee tritt ein gewinnender und attraktiver Ehemann und
Familienvater hervor, der wenig mit der ältlichen Kleinbürgerlichkeit des durch den
Spreewald
paddelnden
oder
auf
dem
Leipziger
Turnerfest
posierenden
Staatsratsvorsitzenden Ulbricht zu tun hat. Sie präsentieren vielmehr einen
selbstsicheren Mann, der nach überstandener Scheidung von seiner bisherigen
Ehefrau zusammen mit seiner schönen und jungen Gefährtin eine Liebesehe
eingeht, die wie ein provinzielles ostdeutsches Gegenstück zur Glamour-Ehe der
Kennedys erscheint – Vilm an der Ostsee statt Cape Cod am Atlantik.
Diese Fotos eines unbeschwerten Familienglücks waren in der DDR aus gleich
mehreren Gründen nicht vorzeigbar: Die idyllische Bootspartie unternahm ein
Parteifunktionär, der mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 dafür sorgte, dass
auch einfache Segeljollen mit dem Stigma des möglichen Fluchtinstruments
gebrandmarkt waren. Das ungestörte Dünenglück von Vilm entfaltete sich auf einer
Funktionärsinsel,
die
in
empörendem
Gegensatz
zum
kommunistischen
Egalitätsanspruch allein der Erholung der Machtelite vorbehalten und zur Abwehr
von ungebetenen Besuchern auf keiner Landkarte der DDR verzeichnet war.
In ihrer Unbefangenheit sprechen diese Bilder von einer genussorientierten
Leichtigkeit, die sich mit der inszenierten Vorbildrolle des ernsten Parteiarbeiters
nicht gut zur Deckung bringen ließ. Seine Bildbiographie lässt erahnen, wie stark der
Rollendruck war, der Erich Honecker und seine Frau in ihrem politischen Aufstieg
begleitete und beide zu persönlichen Einschränkungen im Tausch mit dem Erwerb
von Macht drängte. Nach und nach wurden die Spielräume der persönlichen
17
BStU, MfS HA IX/11, SV 19/77, Bd. 11, Mitschrift von: Henning Frank, Beitrag, in: Deutschlandfunk,
Mittagsecho, 4.5.1971
18
Horst Büscher, Kommentar, in: Deutschlandfunk, 2.7.1968.
19
Ebd.
5
Entfaltung kleiner und reduzierten sich allmählich auf kleine Rollenfluchten. Ein Foto,
das den schon reiferen Erich Honecker als posierenden Matrosen in kurzen Hosen
zeigten, nahm wie - zahlreiche andere auch - das MfS unter Verschluss, und es
belegt in der verlegenen Haltung des Porträtierten, dass Honecker selbst die
Mesaillance zwischen den beiden Körpern des Königs zunehmend deutlicher
erkannte.20 Fortan zeigte sich Honecker auch bei Schwarzmeerausflügen erkennbar
rollenbewusster - wie etwa 1977, als er zusammen mit seiner Gattin und der
Schauspielerin Vera Oelschlegel gelöst in die Kamera blickte.
6
Seine Flucht aus dem DDR-Alltag hatte er zu dieser Zeit längst in den geschützten
Raum der Jagd verlegt, die ihm aufgrund ihrer naturbedingten Abgeschiedenheit und
zugleich langen diplomatischen Tradition zumindest außerhalb der offiziellen
Staatsjagden jenen Abstand von der rollengerechten Machtrepräsentation bot, den
ihm seine politische Funktion als erster Repräsentant der SED-Herrschaft versagte.
2. BIOGRAPHISCHE ZEITLOSIGKEIT
Angesichts dieses Befundes scheint es mir geboten, die Perspektive umzudrehen:
Die farblose Persönlichkeit Erich Honeckers ist, so mein Argument, nicht der
Ausgangspunkt seiner politischen Karriere, sondern ihr zwischenzeitlicher Endpunkt,
und hinter der vermeintlich blassen Biographie steht in Wirklichkeit die Frage nach
der Geschichte des biographischen Verblassens.
Einen ersten Fingerzeig bietet die kanonisierte Bildersprache der DDR in der Ära
Honecker selbst, die in zahlreichen Publikationen die Lebensgeschichte des
Staatsratsvorsitzenden erzählt. Ihr zentraler Bezugspunkt war das zeitlose
Herrscherporträt, das in der 1981 erschienenen Autobiographie gleich zweimal auf
die Lektüre einstimmt, nämlich einmal auf dem Schutzumschlag und dann noch
einmal zusammen mit der beglaubigenden Unterschrift hinter dem Titelblatt. Ganz im
Sinne
dieses
zeitlosen
Leitbildes
schildert
die
im
Text
dargebotene
Lebensgeschichte die Vita eines sich von Anfang bis Ende treuen puer senex, der
20
Auf eben diese Tradition bezog sich die skandalisierende Überschrift in der Pressemeldung, mit der
die Bild-Zeitung den überraschenden Bilderfund in der BStU mitteilte: „Fotos aus Mielkes
Geheimarchiv So haben Sie Honecker noch nie gesehen. Staatsratsvorsitzender der DDR jetzt mit
nackten Beinen“, in: Bild-Zeitung, 8.6.2010.
sich laut eigener Aussage „an keinem Augenblick in meinem Leben erinnern (kann),
da ich an unserer Sache gezweifelt hätte“.21
Die parallele visuelle Erzählung war zu einer solchen rückblickenden Entzeitlichung
des eigenen Lebens naturgemäß nur begrenzt in der Lage; sie konnte nicht umhin,
der imagninierten Zeitlosigkeit des Herrscherporträts die nicht völlig außer Kurs zu
setzende Narration des Wachsen und Werdens in seiner physiognomisch ablesbaren
Zeitlichkeit gegenüberzustellen. Tatsächlich zeigen gleich mehrere Abbildungen in
seiner Autobiographie Honecker als Jugendlichen im Kreise seiner Familie. Dennoch
zerstört
die
Bilderauswahl
nicht
die
ikonische
Zwingkraft
des
zeitlosen
Herrscherporträts. Denn immer handelt sich um illustrative Bilder von hoher
Zeichenhaftigkeit, die das Narrativ des zeitlosen Repräsentanten der sozialistischen
Gesetzmäßigkeit nur mit wenigen konkreten und immer kontrollierten Zügen
ausstatten: die sorgende Mutter, das Vatervorbild, die kommunistische Sozialisation.
Mit anderen Worten: Die häufig reproduzierten Kindheits- und Jugendbilder
überführen die Zeitlosigkeit des Honecker-Porträts nicht in die Zeitlichkeit des
Alterns, weil sie eine im Grunde nicht wiedererkennbare Person zeigen, die Erich
Honecker heißt, aber visuell nicht mit dem Herrscherporträt identifizierbar ist.
Fast gänzlich sparte Honeckers Selbstdarstellung Bilder aus, die dem kanonisierten
Porträt gerade durch ihre nur leichten Abweichungen von den gewohnten Zügen die
Aura der Zeitlosigkeit hätten nehmen können – so etwa Aufnahmen, die ihn mit
seinen Eltern in den sechziger Jahren zeigen, aber auch Porträtbilder aus den
sechziger Jahren, die den künftigen Generalsekretär in seiner zeitlosen Haltung
bereits erahnen lassen und daher in ihrer nur dezenten Unvertrautheit umso
irritierender auf den Betrachter wirken.
In der kaum spürbaren Verfremdung des vertrauten Herrscherporträts lag daher das
subversive Protestpotential, das 1984 Studenten der Leipziger Hochschule für Grafik
und Buchkunst dem Zwang zur Teilnahme an der jährlichen Demonstration zum
Ersten Mai entgegensetzten. Die folgsame Einreihung in die Marschgruppen der
Leipziger Werktätigen unter dem Bild Honeckers konnten ihnen ihr Rektor Bernhard
Heisig nicht ersparen, aber sie artikulierten ihren Widerstand in einer kaum
merklichen künstlerischen Verfremdung durch Überzeichnung, mit der sie das von
ihnen mitgeführte Honecker-Porträt ins Lächerliche zogen.
21
Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (O) 1981, S. 9.
7
3. WUNSCHBIOGRAPHISCHE STILISIERUNG
Neben die visuelle trat die narrative Bearbeitung des eigenen Lebenslaufs, um die
musterbiographische Vorbildhaftigkeit zu erreichen, in der das Besondere des
individuellen Schicksals mit dem Allgemeinen des gesetzmäßigen Weges zum
Sozialismus
zusammenfällt.
Dabei
lassen
sich
vier
Stilisierungsbereiche
unterscheiden, nämlich zum einen die proletarische Herkunft, zum anderen die
kommunistische Familientradition, drittens die politische Unbeirrbarkeit und viertens
schließlich die private Untadeligkeit. Die Ergebnisse meiner bisherigen Recherche
resümierend, reiße ich zu jedem dieser Bereiche Honeckers mehr oder minder
ausgeprägte selbstbiographische Stilisierung an:
a. Proletarische Herkunft:
Honecker
entstammt
einem
ursprünglich
in
der
Schweiz
beheimateten
Bauerngeschlecht, das sich über mehr als sechs Jahrhunderte zurückverfolgen lässt
und eine ununterbrochene Ahnenreihe erst von landwirtschaftlichen Hofpächtern und
seit dem 19. Jahrhundert von Bergleuten aufweist, nachdem ein Zweig der
Honeckerschen Familie um 1700 vom Zürcher Oberland in das Saarland emigriert
war. Noch sein Vater unterhielt neben dem Bergmannsberuf eine kleine
Landwirtschaft im Hausgarten und auf einer naheliegenden Ackerparzelle, und er
war Eigentümer eines teilvermieteten Zweifamilienhauses, was es ihm, dem
zeitweilig mit Berufsverbot Belegten, in der NS-Zeit möglich machte, seine Familie
zwischen 1935 und 1941, also sechs Jahre lang, ohne jede staatliche Unterstützung
durchzubringen. Erich Honecker selbst, der nach der Schulentlassung zunächst
keine Lehrstelle fand, liebäugelte jahrelang mit der Einheirat in einen pommerschen
Bauernhof von nicht unbeträchtlicher Größe, bevor es ihm nach dem Abbruch einer
zwischenzeitlich begonnenen Dachdeckerlehre gelang, die Parteiarbeit zum Beruf zu
machen.
b. Kommunistische Familientradition:
Die Makellosigkeit einer über Generationen weitergegebenen sozialistischen
Familientradition stellte einen auch schon in der zeitgenössischen Publizistik
anerkennend vermerkten Grundzug der kommunistischen Kontinuitätsbiographie
Erich Honeckers dar. Schon der Großvater habe sein klassenbewusster Bekenntnis
8
offen artikuliert, und die Familie traf 1914 das typische proletarische Schicksal: „Vater
fort, ‚im Felde‘, Mutter in der langen Schlange vor der Bäckerei, Brotkarten, keine
Milch, Kartoffeln knapp, Kohlenmangel, abgetragene Kleider und Schuhe von den
älteren Geschwistern, immer wieder Hunger“.22 Der als Matrose der Kaiserlichen
Marine in Kiel, Wilhelmshaven und Flandern eingesetzte Vater hatte die Trennung
von seiner Familie hinnehmen müssen, aber er wollte gewusst haben, was zu tun
war, als die Zeit reif war: „An der Revolution war er in Kiel beteiligt“23, und nach
Wiebelskirchen kam er als Mitglied der USPD zurück. Mit der Mehrheit der
Unabhängigen wechselte er in später zur KPD, in deren Kindergruppe er auch seine
Kinder schickte, und Wiebelskirchen blieb noch in der Bundesrepublik das rote Dorf,
das es schon zu Weimarer Zeiten war. Doch hält die Kohärenz dieser musterhaft
klassenbewussten Familiengeschichte der genaueren Prüfung nicht in jedem Punkt
stand. Fraglich ist schon, wie weit das sozialistische Engagement der Familie bis in
die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichte; manches spricht dafür, dass der
Vater vor 1914 christlich engagiert war und noch im Kriege seine Kaiserliche
Marineuniform mit Stolz trug, wie ein vermutlich 1915 entstandenes Fotoporträt zu
erkennen gibt. Wilhelm Honecker entging infolge seiner kriegswichtigen Funktion im
Kohleabbau seiner Einberufung bis in die Mitte des zweiten Kriegsjahrs, und er
kehrte auch nicht erst 1918, wie sein Sohn annahm, sondern als sogenannter
„Reklamierter“ schon Ende Juli 1917 wieder nach Wiebelskirchen zurück, nachdem
die OHL 40 000 Bergarbeiter aus der Front herauszuziehen angeordnet hatte, weil
die dramatisch werdende Brennstoffknappheit ihre zivilen Einsatz unter Tage
wichtiger sein ließ als ihren militärischen Dienst als Soldaten.24 Allenfalls mochte er
im ersten Halbjahr 1917 in irgendeiner Weise die ersten aufflackernden
Arbeiterstreiks in Kiel oder die Vorgeschichte der mit den Namen von Max
Reichpietsch und Albin Köbis verknüpften Marinemeuterei in Wilhelmshaven
miterlebt haben; aber an der erst eineinhalb Jahre nach seinem Ausscheiden
ausbrechenden Novemberrevolution 1918 hatte er keinen Anteil, sondern genoss mit
seiner
zweijährigen
und
überwiegend
in
der
Etappe
verbrachten
Kriegsdienstverwendung eine Sonderstellung, die das Los der Honeckers im Krieg
leichter machte als das vieler anderer Familien in dieser Zeit.
22
Honecker, Aus meinem Leben, S. 7.
23
Ebd.
24
Mallmann/Steffens, Lohn der Mühen, S. 114.
9
Noch vehementer beharrte Honecker auf der kommunistischen Familienorientierung
in seiner eigenen Generation: „Wir waren 6, und wir dachten alle an die rote
Fahne.“25: In der Sache stimmte allerdings auch das nicht, denn sein jüngster Bruder
Robert schloss sich ungeachtet der väterlichen Dominanz und des angeblichen
Familienfestigkeit den Nationalsozialisten an, wurde Gefolgschaftsführer in der HJ
und ging nach einer Tischlerlehre mit Begeisterung wie einen Weltkrieg früher sein
Vater zur Kriegsmarine.26 Robert Honecker überstand den zur Nachschubsicherung
für das Deutsche Afrika-Korps geführten Seekrieg im Mittelmeer unverwundet, geriet
aber bei Kriegsende in britische Gefangenschaft und zog sich dort eine tropische
Wurmerkrankung, die Bilharziose27, zu, die ihm die vorzeitige Entlassung nach
Wiebelskirchen zu den Eltern eintrug, wo er nur wenige Monate später starb. Nach
seinem Tod wurde der jüngste Sohn der Honecker-Familie zur Unperson. Als das
schwarze Schaf, das mit seinem Übertritt zu den Nazis das politische Bekenntnis der
Familie durchbrochen hatte, verfiel er einer damnatio memoriae, die seine Schwester
Gertrud noch kurz vor ihrem eigenen Tod 2010 alle Bilder und Briefe ihres Bruders
verbrennen ließ, die sie als kompromittierend empfand. Sie tat es in der bis heute im
Familiengedächtnis gewahrten, wenngleich nach heutigem Wissen falschen
Annahme, dass Robert Angehöriger der SS oder der Waffen-SS gewesen sei.
c. Politische Unbeirrbarkeit:
Einen weiteren Grundzug der Honeckerschen Musterbiographie stellt die politische
Standhaftigkeit dar, die Honecker vom ersten bis zum letzten Tag seines politischen
Lebens auszeichnete. Sie unterscheidet seinen Lebenslauf von dem vieler anderer
Mitglieder der SED-Führungselite, die ihre bürgerliche Herkunft, ihre frühere
Verankerung in der Sozialdemokratie oder sogar ihren zwischenzeitlichen Wechsel
zu den Nazis zu kompensieren hatten. Doch war auch Honeckers Werdegang nicht
frei von Schwächen, die biographische Retuschen erforderte. So verlegte Honecker
den erst 1928, nach der Rückkehr von seinem zweijährigen Aufenthalt in Pommern
vollzogenen Eintritt in den KJVD um zwei Jahre vor auf 1926, um die Pommersche
Episode in ihrer parteibiographischen Bedeutung zu reduzieren. Einen anderen
25
BArch, NY 4167, 651, Erich Honecker, [Aus meinem Leben], Ms., 17.12.1979. In der publizierten
Fassung lautete dieselbe Passage etwas abgeschwächt: „Doch die rote Fahne blieb uns Honeckers
unvergessen. Wir hielten immer an ihr fest.“ Honecker, Aus meinem Leben, S. 7.
26
Staatsanwaltschaft Berlin, 2 Js 6/90, Sonderband E 2, Personendokumentation Erich Honecker
27
Der heute gebräuchliche Fachausdruck lautet Schistosomiasis.
10
heiklen
Punkt
bildeten
die
unüberlegte
Aussagen,
mit
denen
der
Dreiundzwanzigjährige nach seiner Festnahme im Dezember 1935 und unter dem
Schock der Verhaftung der Gestapo den Code der chiffrierten Parteibotschaften
verriet und seine tschechische Kurierin Sarah Fodorowa zunächst erheblich
belastete, bis es ihm später durch ein klügeres Aussageverhalten gelang, seine
Kurierin glaubwürdig zu entlasten. Im Zuchthaus Brandenburg-Görden wurde
Honecker, der nach kürzerer Zeit zum Kalfaktor aufgestiegen war, als unangenehm
genauer Kontrolleur beurteilt, der keine Verbindung zur geheimen Parteizelle
unterhielt und folgerichtig in keinem der Berichte von Brandenburger Häftlingen in
Erscheinung tritt. 1939 und 1942 verstand er sich zu vergeblichen Gnadengesuchen,
die ganz offenkundig in Sklavensprache gehalten und daher ohne eigentlichen
Aussagewert sind. Gleichwohl fand Erich Honecker es angezeigt, in seinen
Memoiren zwar aus der Verweigerung eines Gnadenerweises zu zitieren, die ihm
unbeugsame kommunistische Gesinnung bescheinigten, nicht aber seine eigene
Bitte um Gnade, die er mit dem Bekenntnis motiviert hatte, „daß ich nicht hinter jenen
zurückzustehen möchte, die den Frieden und Zukunft des deutschen Volkes mit der
Waffe verteidigen“.28
d. Persönliche Lebensumstände:
Die schwierigste Zone der kommunistischen Musterbiographie Erich Honeckers aber
bildeten
seine
persönlichen
Lebensumstände,
die
ebenfalls
der
musterbiographischen Formung unterlagen. Eine nachweisbare biographische
Stilisierung liegt darin, dass er seine erste Ehe zeitlebens mit Schweigen überging.
Das mag damit zu tun haben, dass er nur Wochen nach dem überraschenden Tod
seiner Ehefrau Charlotte Honecker, verwitwete Schanuel, im Juni 1947 eine
Beziehung zu Edith Baumann einging, die er im Dezember 1949 heiratete. Die Ehe
28
BArch, Filmnummer Filmnummer: 83 286 / 11, Erich Honecker, Brief an seine Eltern, 1.10.1939. In
seinem ersten Gnadengesuch argumentierte Wilhelm Honecker des weiteren mit der Abstimmungszeit
im Saargebiet, die „für unsere Jugend eine zügellose Periode zumal fremdländische Kräfte am Werk
waren und ihr propagandistisches Unwesen trieben, um die jungen unerfahrenen und unverdorbenen
Kinder als Vorspann für eine fremde Macht zu fangen und dem Kommunismus zuzuführen. Später
sollte aus diesem angeblichen Kommunismus, der nur als Stalins gebraucht wurde, eine (...) zügellose
Verbrecherbande über unser schönes Saarland regieren. Diesen Anstürmungen nichtsnutziger
Elementen [sic!] konnte der junge Erich Honecker nicht wiederstehen [sic!]. Ich als Vater von 59
Jahren konnte den Anstürmungen auch nicht wiederstehen [sic!], sah aber ein, daß das ein
Verbrechen ist.“ Ebd., Wilhelm Honecker, Gnadengesuch an die Generalstaatsanwaltschaft des
Volksgerichtshofs Berlin, 24.10.1939
11
stand unter keinem guten Stern, da Honecker parallel offenbar weitere Beziehungen
unterhielt und wohl auch im Saarland eine engere Bindung geknüpft hatte.
Unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes Erika im März 1950 verließ Honecker seine
Frau wieder, um fortan und zunächst gegen den im Politbüro vorherrschenden Willen
mit Margot Feist zusammenzuleben, während die Ehe mit Edith Baumann noch über
Jahre fortbestand. Wann Erich Honecker und Margot Feist geheiratet haben, ist nicht
bekannt; das allgemein genannte Heiratsdatum 1953 aber nachweislich falsch, da
Honeckers Ehe mit Edith Baumann erst 1955 geschieden wurde. Solche kleineren
Verstöße gegen die Gebote der sozialistischen Moral konnten Honeckers Aufstieg
nicht hemmen, aber die Identität seiner ersten Ehefrau aber hätte ihm schon
gefährlich werden können – bei der neun Jahre älteren Charlotte handelte es sich um
eine lang gediente Wachtmeisterin im preußischen Justizdienst, deren Dienstort sich
im selben Gefängnis befand, in dem Honecker seine beiden letzten Haftjahre
verbrachte. Pointiert gesprochen: Honecker hatte seine eigene Gefängniswärterin
geheiratet, und dies nicht im Sinne des Stockholm-Syndroms unmittelbar nach der
Befreiung, sondern mehr als anderthalb Jahre später am 23. Dezember 1946.29 Aus
der alten Besatzung des Frauengefängnisses Barnimstraße stammten auch die
Trauzeugen, und ein halbes Jahr später war es wiederum die Anstaltsärztin des über
die Zeitenwende fortbestehenden Frauengefängnisses Barnimstraße, die Honecker
mit tröstenden Worten vom Hinscheiden seiner Frau berichtete.
Charlotte Honecker war vielleicht nicht im engeren als NS-Täterin zu einzustufen. Sie
hatte
als
staatliche
Gefängnisaufseherin
engeren
Kontakt
zum
politischen
Langzeitsträfling Honecker getreten; sie hatte zusammen mit ihm nach einem
Bombenangriff zahlreiche verschüttete Gefängnisinsassen gerettet und Honecker
kurz vor Kriegsende sogar auf der Flucht Obdach gegeben. Aber sie war eben auch
nicht gegen ihren Willen in das Gefängnis dienstverpflichtet worden, sondern auf
eigenen Wunsch 1941 vom Krankenschwesterberuf in den Justizdienst gewechselt
und hatte die Aufnahme in die NSDAP beantragt. Zu ihren Aufgaben zählte auch die
Bewachung und Begleitung der weiblichen Opfer der nationalsozialistischen
Terrormaschinerie auf ihrem letzten Weg von der Barnimstraße zum Fallbeil nach
29
„Aus der hier vorliegende Sammelakte zu der Eheschließung Honecker/Baumann geht hervor, dass die Ehe mit
Charlotte Schanuel geb. Drost am 23.12.1946 in Berlin-Mitte geschlossen wurde. Die Ehe ist beim Standesamt
Mitte von Berlin unter der Nummer 926/1946 registriert. Nach hiesiger Aktenlage ist die 1. Frau Honecker am
06.06.1947 in Berlin-Weißensee verstorben. Der Sterbefall ist dort unter der Nummer 1222/1947 registriert.“
Schriftliche Mitteilung M. Guss, Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin, 15.9.2010
12
Plötzensee; besonders die Mitwirkung an der Hinrichtung von Hilde Coppi soll ihr
seelisch sehr zugesetzt haben. Da Charlotte Schanuel von mehreren ehemaligen
Häftlingen positiv beurteilt wurde, konnte sie ihren Dienst im Frauengefängnis
Barnimstraße über das Ende des NS-Staates hinaus fortsetzen. Aber mit einer Frau
verheiratet zu sein, deren dienstliche Funktion in einem gleich gelagerten Fall
ausgerechnet in Brandenburg-Görden zur selben Zeit von der SED-Justiz mit einer
zehnjährigen Haftstrafe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet
wurde, hätte sich für Honecker zu einer schweren, vielleicht untragbaren Belastung
ausgewachsen, wenn er über diese Facette seiner Lebensgeschichte nicht einen
Schleier hätte ziehen können. Konsequenterweise schwieg er über diese erste Ehe
bis zu seinem Lebensende in der Öffentlichkeit.
Soweit die biographischen Befunde. Was lässt sich aus ihnen an weitergehenden
historischen Erkenntnissen gewinnen?
B. Herrschaftsgeschichtliche Schlussfolgerungen
Ich meine, dass sich aus den dargestellten biographischen Befunden Schlüsse auf
den Charakter politischer Herrschaft und ihre Bindungskraft in sozialistischen
Systemen ziehen lassen. Dabei verfolgte ich vier unterschiedliche Wege:
1. BIOGRAPHISCHE WAHRHAFTIGKEIT
Der
erste
Komplex
betrifft
den
Geltungsanspruch
der
parteikonformen
Kontinuitätsbiographie in der sozialistischen Sinnwelt. Sie ersetzte keineswegs
einfach Wahrheit durch Lüge, sondern wahrte die Überzeugungskraft der
glaubwürdigen Wahrhaftigkeit auch des Autors vor sich selbst, ebenso wie wir das
aus vielen der im IML gesammelten Veteranenzeugnisse kennen. Auch Honecker log
sich seine Lebensgeschichte keineswegs platt zurecht, sondern schuf sich seine
Wunschbiographie durch eine plausibilisierende Narration, die im Falle seiner ersten
Ehe die publizierten Zeugnisse Dritter verarbeitete und sogar immer wieder seine
spätere Frau einführt, allerdings aufgespalten in verschiedene Rollen und erkennbar
nur an dem stereotypen Reinigungszusatz der dienstlichen Zwangsverpflichtung.
Ebenso wenig verschwieg Honecker den braunen Bruder, der die Makellosigkeit
seiner Familienbiographie bedrohte, sondern bewältigte die autobiographische
Herausforderung durch eine Kontextverschiebung, die den Bruder zum bloßen Opfer
13
der Verhältnisse machte: „Man wollte ihn (...) zu einem ‚kleinen Führer‘ machen. Das
gelang nicht ganz, denn als mein Bruder Robert in den Gewässern Griechenlands in
englische Gefangenschaft geriet, zog er sich in den heißen Tagen und kühlen
Nächten im Sande Ägyptens eine unheilbare Krankheit zu, an der er nach der
Rückkehr (...) in Wiebelskirchen starb.“30 Das narrative Mittel ist hier die
Zusammenziehung des sachlich Unzusammengehörigen - natürlich hat sein
krankheitsbedingter Tod 1947 nicht das Geringste mit dem Erfolg oder Misserfolg
des nationalsozialistischen Werbens um ihn vor dem Zweiten Weltkrieg zu tun.
Honecker sicherte vielmehr die Glaubwürdigkeit seiner Ich-Erzählung, indem er eine
lebensdidaktische Einsicht in historische Realität verwandelt – dass es nämlich am
Ende besser gewesen sei, im Zuchthaus als Kommunist zu überleben statt als Nazi
für Hitler zu sterben. So deutlich hier der glättende Eingriff fassbar wird, die
Honeckers Lebensgeschichte fugenlos in das entindividualisierte Format der
kommunistischen Musterbiographie einzupassen erlaubte, so stark tritt eben auch
das Bemühen hervor, darin zugleich die persönliche Glaubwürdigkeit zu erhalten –
auch die Lebenslehre von Erich Honecker
konnte in ihrer Vorbildlichkeit nur
allmächtig werden, wenn sie wahr blieb.
2. SINNWELTLICHE GESCHLOSSENHEIT
Die
zweite
Deutungsebene:
Dieselbe
sinnweltliche
Bindungskraft
wie
die
entsubjektivierte Wunschbiographie besaß für Honecker auch der Denk- und
Ordnungshorizont, in dem er politische Realität wahrnahm und herstellte. Die Fabrik
dieses Diskurspanzers lag im linksproletarischen Saarmilieu, das die Studien von
Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul zur kommunistischen Milieueinbindung
der Weimarer Republik erschlossen haben. Die um Honecker versammelte SED-Elite
glaubte, was sie sagte, und sie handelte, wie sie glaubte. Honecker log nicht, als er
Johannes
Raus
Frage
auf
der
Leipziger
Frühjahrsmesse
1989
"Herr
Staatsratsvorsitzender, warum ist eigentlich die Stimmung in Ihrem Land so mies?" o
beantwortete: "Herr Rau, Sie irren sich. Die Einheit der Massen mit der Partei war
noch nie so stark wie heute. Das Volk steht hinter der Partei. Überzeugen Sie sich
selbst, ich lade Sie ein, sich die nächste Demonstration zum 1. Mai mit mir auf der
30
BArch, NY 4167, 651, Erich Honecker, [Aus meinem Leben], Ms., 17.12.1979. Auch hier suchte die
veröffentlichte Fassung die von Honecker gelieferte Vorlage etwas zu glätten und verknüpfte das angeblich
besondere Interesse der „1935 ins Saargebiet eingerückten Faschisten“ an seinem Karl-Robert Honecker mit
dem Umstand, dass der Vater ein stadtbekannter Kommunist war. Honecker, Aus meinem Leben, S. 7.
14
Ehrentribüne anzusehen."31 Nicht anders rühmte Honecker Ende 1981 nach dem
Desaster von Güstrow, als Helmut Schmidt durch eine von Staatssicherheitskräften
gespielte Einwohnerschaft samt Weihnachtsmarkt, aber ohne Frauen und Kinder
zum Dom eskortiert worden war, ganz arglos den herzlichen Empfang, den Güstrow
dem Bundeskanzler bereitet habe, wie Klaus Bölling, Ständiger Vertreter und
Kanzlervertrauter, konsterniert vermerkte.
Honeckers biographisch beglaubigte Sinnwelt überdauerte selbst die Zäsur von
1989. Es ist verblüffend, wie deckungsgleich sich seine lebensgeschichtlichen
Angaben nach 1989 mit denen vor 1989 präsentierten. Anders als etwa Willi Stoph,
dem nach 1989 Wehrmachtszugehörigkeit und publizistisches Hitlerlob jede
autobiographische Kraft raubten32, ließ Honecker sich der gerichtsärztlichen
Untersuchung bereitwillig neue autobiographische Schreibpläne entlocken: „Auf die
Frage, ob er, Herr Honecker, beabsichtige, seine Lebenserinnerungen zu schreiben,
gibt er an, daß er schon dabei sei. Er habe damit in Moskau begonnen.“33 In dieselbe
Richtung einer von außen nicht zu erschütternden Realitätskontinuität weist über die
bekannten ideologischen Versatzstücke hinaus das reflexartige Aufrufen von
lebensgeschichtlichen Ordnungsmustern der eigenen Jugendwelt, das ihn die gegen
ihn
geführten
Ermittlungen
nach
der
Entmachtung
umstandslos
mit
dem
Verfolgungsschicksal unter NS-Diktat gleichsetzen ließ. „Guck mal Erich, wie bei den
Nazis“, quittierte seine Frau die Ankündigung einer ersten Hausdurchsuchung im
Januar 1990. Dass er nun wieder da einsitze, wo ihn 1935 die Gestapo
hingeschleppt habe, stand ihm zwei Jahre später in der Moabiter Untersuchungshaft
so dicht vor Augen, dass er dem Gerichtsarzt offenbarte:. „Von den Nazis sei er zu
zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden, (...) umsomehr treffe es ihn, daß er jetzt
wieder an der gleichen Stelle, in Moabit, in Haft sitzen müsse, er wäre ‚mit Kohl nicht
so verfahren‘.“34
31
Ulrich Schwarz, Unfähig, den Wandel zu begreifen. SPIEGEL-Redakteur Ulrich Schwarz über den
Realitätsverlust der SED-Spitze, in: Der Spiegel 40/1989, 2.10.1989.
32
„Im Gegensatz zu anderen habe er nicht die Absicht, seine ‚Lebenserinnerungen‘ zu Papier zu
bringen.“ Archiv der Staatsanwaltschaft Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 26, Volkmar Schneider an die
Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht, 4.7.1991, S. 3.
33
Ebd., Bd. 28, Volkmar Schneider, Gerichtsärztliche Untersuchung in der Strafsache gegen Honecker
und andere, 26.8.1992, S. 23.
34
Archiv der Staatsanwaltschaft Berlin, 2 Js 26/90, Volkmar Schneider, Gerichtsärztliche
Untersuchung in der Strafsache gegen Honecker und andere, 26.8.1992, S 13.
15
3. BYZANTINISMUS UND BESCHEIDENHEIT:
Die
Stabilität
der
lebensgeschichtlichen
Eigenrealität
kann
–
meine
dritte
Analyseebene - Widersprüche erklären helfen, die die historische Rolle des blassen
Diktators Honecker bislang so schwer greifbar machen. Einer von ihnen ist die
eigentümliche Gleichzeitigkeit von Byzantinismus und Bescheidenheit, die für den
öffentlichen wie im privaten Herrscherhabitus Honeckers wie anderer sozialistischer
Potentaten carakteristisch war. Auf der einen Seite steht dabei der Personenkult der
medialen Inszenierung: Keine staatlich-parteiliche Einrichtung ohne Honecker-Bild an
der Wand, kein Neues Deutschland ohne Foto von ihm und in der Spitze zur
Leipziger Messe sogar mit nicht weniger als 32 Abbildungen des Generalsekretärs.
Für das Wohlbefinden der „führenden Repräsentationen“ sorgte eine nach Hunderten
zählende Armada von dienstbaren und meist dem MfS verpflichteten Geistern, die
ihnen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen hatten. Noch die Brötchen, die
Familie Honecker während ihrer Ostseeurlaube auf der verbotenen und auf keiner
DDR-Karte abgebildeten Insel Vilm verzehrte, wurden über eine Autostafette aus
Wandlitz angeliefert, weil sie den Honeckers besser schmeckten als die an der
Ostsee gebackenen, und die Jagd, auf der sich Honecker am Ende mehrmals
wöchentlich ergötzte, sah ihn als förmlichen Fleischer des Waldes, der noch am 7.
November 1989 nicht weniger als ein halbes Dutzend Rot- und Damhirsche erlegte,
bevor der Volkszorn mit dem wildüberfüllten Sonderjagdgebiet der Schorfheide und
seinen zahlreichen feudalen Jagdsitzen aufräumte.
Derselbe Honecker beharrte bis zu seinem Lebensende darauf, niemals den
bescheidenen Lebensstil seines Wiebelskirchener Herkommens aufgegeben zu
haben, und verwies auf den abgeschabten Teppich im Vestibül seiner Behausung,
die tatsächlich unter den kleineren Häusern des Wandlitzer Luxusghettos rangierte.
Sein Forsthaus Wildfang bei Groß Schönebeck wollte er in Erbpacht erworben und in
Raten abgezahlt haben; zum Frühstück hätten ihm zwei Honigbrötchen und zu Mittag
ein frugales Essen aus der ZK-Kantine gereicht. Tatsächlich ließ er anders als
Ulbricht nie ein Staatsporträt von sich anfertigen, und anders als von Heuß bis
Heinemann
oder
von
Pieck
bis
Ulbricht
zierte
sein
Konterfei
nie
eine
Briefmarkenserie.35 Das panegyrische Herrscherlob, das Jürgen Kuczynski ihm zum
35
Die einzige Briefmarke der DDR, die Honecker abbildete, erschien zu den Olympischen Spielen
1972.
16
Machtantritt zollte, ließ Honecker peinlich berührt sofort unterdrücken, und er achtete
sorgsam darauf, dass seine runden Geburtstage ohne großes Gepränge begangen
wurden.
Wie
stimmen
Bescheidenheit
und
Byzantinismus
in
Honeckers
Herrschaftsauffassung zusammen? Eine erste Erklärung ergibt sich aus dem
kommunistischen Avantgardedenken. Wie sein erster Biograph Heinz Lippmann
überlieferte, fand Honecker schon bei seiner ersten Moskaureise nach dem Krieg
nichts an der privilegierten Versorgung der ostdeutschen Delegation, weil er sich als
Teil einer politischen Elite verstand, die für ihre sorgende Führungstätigkeit Anrecht
auf bessere Versorgung hätte. Entscheidend aber war in meinen Augen wohl auch
hier, dass die byzantinische Privilegienwirtschaft die künstliche Realität einer
sozialistischen Erfolgsgesellschaft nicht dementierte, sondern scheinbar bestätigte.
Die
eine
zum
Besuch
des
Generalsekretärs
in
Greifswald
hergerichtete
Altstadtstraße zeugte von der Leistungsfähigkeit der Planwirtschaft, der eine für
einen Ladenbummel hergerichtete Fleischerladen bestätigte die gute Versorgung der
Bevölkerung, die immer wieder an Honecker vorbeiziehenden Fähnchenwinker
zeigten die gute Stimmung im Lande und die triumphalen Wahlergebnisse die große
Akzeptanz der Führung im Volk. Honecker lebte in einer Potemkinschen Welt, die die
Privilegierung der Mächtigen ständig steigerte und zugleich ihren Augen entzog, weil
sie im Glauben an die Wahrheit der eigenen Propaganda den Mangel aus ihr
verbannt hatte.
4. AUTOKRATIE ALS KONSENSHERRSCHAFT
Gleiches gilt, meine vierte Schlussfolgerung, auch für die seltsame Verbindung von
Autokratie und Kollektivität, die kommunistische Herrschaftspraxis auch in der Ära
Honecker prägte. Faktisch agierte Honecker wie ein Monarch: Sein berühmtes
„Einverstanden, E.H.“ entsprach dem antiken „Roma locuta, causa finita“ und duldete
in der Umsetzung keinen Widerspruch. Selbst im Politbüro gab der Wille des
obersten ZK-Sekretärs jede Entscheidung vor; an Diskussionen in diesem Gremium
konnten sich rückblickend ehemalige Mitglieder wie Günter Schabowski nach
eigenem Bekunden kaum erinnern; zusammen mit Mittag und Mielke beherrschte
Honecker 18 Jahre lang die Republik in einer Machtfülle wie kein anderer Herrscher
in der jüngeren deutschen Geschichte, Ludendorff und Hitler eingeschlossen.
17
Auf der anderen Seite beharrte Honecker nach seinem Sturz nachdrücklich darauf,
dass er nur als Repräsentant einer Kollektivherrschaft agiert habe. Im Politbüro habe
er bewusst immer zuletzt das Wort ergriffen, um die Meinungsbildung der anderen
nicht in seinem Sinne zu beeinflussen; alle wichtigen Konzepte und Vereinbarungen
seien immer erst vorgelegt und beraten worden, bevor eine Entscheidung getroffen
worden sei. Wie tief der kommunistische Konsensglaube reichte, bewies Honecker
nicht nur, als er am 17. Oktober seinem eigenen Rücktritt zustimmte. Aber auch die
Entmachtung und Zurückdrängung Ulbrichts erfolgte im Denkstil einer Einmütigkeit,
der sich Ulbricht aus Altersstarrsinn zeitweilig verweigerte, und wurde nicht nur von
Honecker bis zuletzt als Ausdruck eines kulturvollen Übergangs der Staatsleitung
gepriesen: „Es hörte sich an wie eine Mischung von Ironie und Herausforderung, als
Ulbricht bei seinem Rücktritt vom guten Geist der ‚kollektiven Führung‘ sprach, der
unter ihm immer geherrscht habe“, kommentierte der „Tagesspiegel“ im Mai 1971
den Wechsel an der SED-Spitze.36 Gezielt suchte Honecker die Legitimation für
einen personellen Neustart in der Rückkehr zur Kollektivität, und das galt ebenso für
das Verhältnis zu Moskau wie zur eigenen Bevölkerung. Und er fand dafür auch
publizistische Anerkennung, so seltsam sie uns heute erscheinen mag: „Immer
wieder wurde in der Werner-Seelenbinder-Halle die Kollektivität der Parteiführung
betont, an die sich Ulbricht nicht immer ganz gehalten zu haben scheint“, berichtete
die „Welt“ vom VIII. Parteitag der SED, auf dem Honecker seine neue Politik
erläuterte.37 Gleichviel, ob in den demütigenden Vorsprachen in Moskau zur
Freigabe seiner Bonn-Reise oder in deutsch-deutschen Verhandlungen; stets wich
Honecker
unmittelbaren
Vereinbarungen
aus
und
verwies
auf
die
Entscheidungsbildung im Politbüro.
Wenn man diesen Widerspruch zwischen Alleinherrschaft und Kollektivmacht ernst
nimmt, haben wir es mit einer eigentümlichen politisch-kulturellen Sinnwelt zu tun, in
der noch die Autokratie als Konsensherrschaft erscheinen konnte. Darin sehr ich
mehr als nur eine einfältige Camouflage, mit der ein gestürzter Despot die
Verantwortung von sich wälzen wollte. Wenn sich Honecker in seiner letzten
Politbüro-Sitzung über die zur Sprache gekommenen Wahlfälschungen entrüstet,
weil ihm 60% doch genügt hätten, verbindet sich in seinem Denken eine
36
J.B., Der erste Schub, in: Der Tagesspiegel, 27.5.1971
37
Bernt Conrad, Alter Kurs mit neuen Akzenten, in: Die Welt, 1.6.1971.
18
biographisch
verankerte
Realitätsverkennung
mit
dem
kommunistischen
Konsensideal, in das Honeckers Herrschaft eingelassen war. Es handelt sich in
diesem Kollektivitätsbewusstsein um ein politisch-kulturelles Konstrukt von zunächst
hoher
und
dann
nachlassender
Bindungskraft,
das
in
wichtigen
Entscheidungsmomenten eigene politische Kraft entfalten und sich gegen den
autokratischen Repräsentanten des kollektiven Willens richten konnte. Ich habe für
diese kommunistische Politikkultur den Begriff der Konsensdiktatur geprägt, und ich
möchte ihn gern am Beispiel Honeckers mit biographischem Leben füllen.
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FAZIT
Die Lebensgeschichte Erich Honeckers stellt sich bei näherem Zusehen als weit
weniger schablonenhaft und entindividualisiert dar, wie das kommunistische
Herrscherporträt es vorspiegelt. Ebensowenig aber bedarf sie einer biographischen
Demaskieren, die hinter der Biedermannmaske die verborgene diabolische List und
Machtversessenheit
dingfest
macht,
wie
dies
aus
der
westlichen
Bobachterperspektive oft versucht wurde. Honeckers Biographie lässt sich adäquat
nur in der Verschränkung von Individual- und Systemgeschichte schreiben. Die eine
daraus
erwachsende
Leitfrage
gilt
der
systemischen
Bindungskraft
der
autobiographischen Ich-Erzählung. Die andere zielt darauf, die lebensgeschichtlichen
Dispositive der saarländischen Herkunft wie der stalinistischen Verzauberung zu
rekonstruieren und auf ihre situative Funktionalität in den unterschiedlichen Phasen
und Handlungsräumen der kommunistischen Herrschaftsgeschichte
hin zu
untersuchen. Auf diese Weise hoffe ich die sinnweltliche Geltungskraft der
kommunistischen Ordnung für den Einzelnen ebenso zu veranschaulichen wie den
Beitrag des Einzelnen für die Entwicklung dieser Ordnung.

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