Der blasse Diktator. Erich Honecker als biographische
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Der blasse Diktator. Erich Honecker als biographische
Martin Sabrow Der blasse Diktator. Erich Honecker als biographische Herausforderung Vortrag im Rahmen des Institutskolloquiums des Zentrums für Zeithistorische Forschung am 9. Februar 2012 in Potsdam DAS FORSCHUNGSPROBLEM Erich Honecker war ein unscheinbarer Herrscher, und wer seinen Namen nennt, hat das Bild eines monotonen Silbenverschluckers vor Augen, der nie eine historische Tat vollbrachte, aber auch nie einen theoretischen Gedanken äußerte, der anders als Lenin, Stalin, selbst Ulbricht und Grotewohl nie „Erich Honecker-Werke“ hervorbrachte und dessen intellektuelle Strahlkraft sich in schlichten Weisheiten wie dem Bebelsatz „Den Sozialismus in seinem Lauf halten weder Ochs noch Esel auf“ erschöpfte. Als Ulbricht 1971 stürzte, stellte die „Welt“ seinen Nachfolger schlicht als „Politruk“ vor: „Exponent dieses Funktionärstyps ist der neue Erste Sekretär des ZK der SED, Erich Honecker.“1 Richard von Weizsäcker, der ihm zweimal begegnete, hielt als seinen beherrschenden Eindruck fest: „Kurzweilig war das Gespräch mit ihm nicht.“ v. Weizsäcker folgte damit einem Bild, das die zeitgenössische Publizistik schon seit den sechziger Jahren von Ulbrichts langjährigem „Kronprinzen“ und dann Nachfolger entworfen hatte. Als „eiskalte(n) Bürokrat der Macht“2, als „die verkörperte Linientreue“ und „das Musterbeispiel des linientreuen, farblosen kommunistischen Apparatschiks“3 charakterisierte die bundesdeutsche Presse den „nicht eben 1 Der Politruk, in: Die Welt, 12.5.171 2 BStU, MfS HA IX/11, SV 19/77, Bd. 11, Mitschrift von: Henning Frank, Beitrag, in: Deutschlandfunk, Mittagsecho, 4.5.1971 3 Johannes Zenker, Funktionäre – Figuren –Statisten, in: Ost-West-Kurier, 17.8.1968 1 beliebte(n), als stur verschrieene(n) Alt-Stalinist(en)“4 in den sechziger Jahren, der als „vollendeter Apparatschik auch über jeden Verdacht erhaben (sei), etwa eigene, reformkommunistische Gedanken und Ideen zu entwickeln“.5 Entsprechend statten die vorliegenden Biographien das Bild Erich Honeckers bevorzugt mit den lebensgeschichtlich gleichbleibenden Zügen eines emotional verarmten, intellektuell zurückgebliebenen Kümmerlings aus: „ein zu hoch gestiegener Apparatschik, ideenlos, irgendwie peinlich und vor allem eins: mittelmäßig. Das Talent zur Selbstdarstellung fehlte ihm fast völlig.“6 Ebenso wunderte sich Helmut Schmidt nach dem Tod seines innerdeutschen Gegenspielers „Mir ist nie klar geworden, wie dieser mittelmäßige Mann sich an der Spitze des Politbüros so lange hat halten können“.7 Schmidt formulierte damit einen eigentümlichen Widerspruch, den schon zahlreiche Biographen in den letzten fünfzehn Jahren als das „im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon“8 zu entschlüsseln versucht haben: „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer Mensch, ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die er besaß, erringen und über so viele Jahre sich erhalten?“9 Die Lebensgeschichte eines so charakterisierten Mannes zu schreiben, ist auf den ersten Blick keine beneidenswerte Aufgabe. Erschwert wird sie dadurch, dass Honeckers Persönlichkeit kaum greifbar ist; sie kennt buchstäblich von Kindesbeinen an keine Lebensphase außerhalb des kommunistischen Parteimilieus, und sie verschwimmt in einer solchen Weise mit dem von ihm repräsentierten Herrschaftssystem, dass seine 1981 erschienene Autobiographie aus einer in sechs Wochen erstellten Kompilation der Textbausteine von einem Dutzend schreibender ZK-Abteilungen 4 bestand. Entsprechend diagnostizierte der deutsch-deutsche Ebd. 5 Ulbrichts Linienrichter Honecker. Der Mann der Generallinie, in: Vorwärts, 9.2.1966; Ulbrichts Kronprinz, in: Industriekurier, 22.9.1966, 6 Lorenzen, 9. 7 Helmut Schmidt, Weggefährten, Berlin 1996, S. 505. Ebenso „Wie konnte ein äußerlich so unscheinbarer Mensch, ein intellektuell überforderter und rhetorisch unbegabter Politiker die Machtfülle, die er besaß, erringen und über so viele Jahre sich erhalten?“ Pötzl, Erich Honecker, S. 7. 8 „Es ist dieses im Wesen Honeckers verborgene Paradoxon, das seine Biographie so spannend macht.“ Lorenzen, Erich Honecker, S. 1 9 Pötzl, Erich Honecker, S. 7. 2 Schriftsteller und Lektor Martin Gregor-Dellin schon 1971 „eine totale Entpersonalisierung der Sprache“ im Redestil dieses „genormten Musterredners“10 Die These, die ich in der geplanten Biographie verfolgen will, lässt sich dahin zusammenfassen, dass das Bild eines „linientreuen Apparatschiks“11 ohne Individualität oder gar Charisma in dreifacher Hinsicht revisionsbedürftig ist. Es beruht erstens in seiner visuellen Repräsentation auf einer retrospektiven Verkürzung des Honecker-Bildes auf die Ära Honecker der siebziger und achtziger Jahre; es nimmt zweitens den Schein der kommunistischen Herrschaftsrepräsentation für das Wesen des Menschen Erich Honecker, und es unterstellt ihm, um den Widerspruch zwischen seiner Mediokrität und Machtfülle zu erklären, fälschlich zugleich eine ebenso unheimliche wie verborgene Fähigkeit zur Machtusurpation. A. Biographische Befunde 1. “ELEGANTER ERICH“ Wie sehr unser heutiges Honecker-Bild ein Klischee darstellt, das die Bildregie des SED-Staates für die lebensgeschichtliche Realität hält, zeigt das Zeugnis zeitgenössischer Beobachter aus Honeckers Jugend. Nicht nur wohlgesonnene Beobachter hatten noch nach Jahrzehnten ganz andere Erinnerungen an Honeckers mitreißendem Auftreten in den alltäglichen politischen Auseinandersetzungen im Saarland bewahrt. Ein ungefähr gleichaltriger Widersacher in der katholischen Jungmännerbewegung, später stellvertretender Chefredakteur der Saarbrücker Zeitung, versuchte nach Honecker Aufstieg an die SED-Spitze gegen die Verkennung Honecker anzuschreiben und betonte, „der Honecker Erich [...] war in der Diskussion allen politischen Gegnern nicht nur gewachsen, er war ihnen überlegen. Mit 18 oder 20 bereits ein herausragender Redner, spielte er an den 10 „Wenn ‚Stil‘, oder sagen wir vorsichtiger: Sprache so etwas ist wie die Handschrift, der Charakterspiegel eines Mannes, dann Gnade Gott dem Papier, auf dem Geschichte geschrieben wird.“ Martin Gregor-Dellin über Honeckers Sprache: Ein Basis- oder Hühnerdeutsch, in: Süddeutsche Zeitung, 9.5.1971. 11 Joachim Nawrocki, Der Verwalter des Erbes. Ein 58jähriger Funktionär wurde Ulbrichts Nachfolger – der jüngste der alten Parteigarde. Erich Honecker, der neue Erste Sekretär der SED: ein linientreuer Apparatschik, in: Die Zeit, 7.5.1971 3 Straßenecken Wiebelskirchens alle aus.“12 In der Erinnerung seines einstigen Kontrahenten hatte sich Honecker in seinem Heimatdorf zum „unumstrittenen Anund Wortführer“ auch seiner sehr viel älteren Genossen aufgeschwungen, weil er sich „nicht des typischen Wiebelskirchener Dorfjargons bediente. Seine Sprache war geschliffen.“13 Der rückblickend von Gleichaltrigen als „überragende Figur“ und „sauberster Kopf“ der saarländischen Kommunisten charakterisierte Honecker14 „war immer schon damals gut angezogen, machte einen sehr guten Eindruck, sah gepflegt aus“15, und „vor allen Dingen war er [...] von dem, was er sagte, selbst überzeugt“. 16 Andere Zeugnisse von Weggefährten und Widersachern bestätigen die Vermutung, dass die biographische Blässe Erich Honeckers auf einer nachträglichen Blickverschiebung beruht – sie ist offenbar kein individuelles Faktum, sondern ein kollektives Konstrukt. Unschwer lässt sich allein aus dem überlieferten Bestand an zufällig entstandenen oder selbst inszenierten Porträtaufnahmen das Bild eines engagierten kommunistischen Nachwuchspolitikers gewinnen, der mit Kraft und Selbstbewusstsein für seine Sache stritt und im Bewusstsein seiner Ausstrahlung von dandyhaften Zügen keineswegs frei war. Gleiches gilt für die private und der Öffentlichkeit bis 1990 verborgene Seite im Leben Honeckers. Nicht nur die in jüngster Zeit zugänglich gewordenen BNDBeobachtungen der fünfziger Jahre, sondern auch einzelne Zeitzeugenstimmen zeichneten das Bild eines Mannes, „der unter Jugendfreunden und in Sportlerkreisen als ‚lockerer Vogel‘“ gehandelt wurde: „Seine Vorliebe zu allerlei Späßen, seine Standhaftigkeit bei ausgedehnten Gelagen, seine amourösen Affären hatten ihm des öfteren Ärger mit der Parteispitze eingetragen“, berichtete der Deutschlandfunk 1971 12 Erich Voltmer, Begegnung vor 40 Jahren, in: Saarbrücker Zeitung, 5.5.1971. 13 Ebd. 14 Olaf Ihlau, Als der große Boß die kleine Trommel schlug. Die politischen Anfänge des Erich Honecker. Saarländische Genossen von einst erinnern sich an die Jugend- und Kampfjahre des SEDVorsitzenden, in: Süddeutsche Zeitung, 8./9.5.1971. 15 BStU, MfS HA IX/11, SV 19/77, Bd. 10, Mitschnitt von: Ernst Steinke, Auf den Spuren eines saarländischen Kommunisten. Sendung zum 65. Geburtstag Erich Honeckers, 21.8.1977, Interviewäußerung Erich Voltmer. „Honecker [...] war also kein Brüller, kein Schreier, er hat versucht, [...] durch Argumente zu überzeugen. Insofern [...] war er eine große Ausnahme gegenüber seinen anderen jungen kommunistischen Genossen.“ Ebd. 16 Ebd., Interviewäußerung Bier. 4 über den eben ernannten Ersten Sekretär.17 Tatsächlich galt der „elegante Erich“18, wie ihn ein Rundfunkkommentator 1968 apostrophierte, in der Zeit seines Aufstiegs in der SED-Hierarchie nicht nur als „bestgekleideter Spitzenfunktionär der SED“19, sondern auch für einen attraktiven womanizer, der ein affärenreiches Liebesleben pflegte und gern in Damenbegleitung auf dem Kurfürstendamm flanierte, bis ihn die dem Politbüro erst abgetrotzte und dann als Zähmungsinstrument eingesetzte Ehe mit Margot Feist in bürgerliche Bande legte. Auch in den beiläufigsten Schnappschüssen von Bootsausflügen auf märkischen Seen oder später von Erholungsurlauben an der Ostsee tritt ein gewinnender und attraktiver Ehemann und Familienvater hervor, der wenig mit der ältlichen Kleinbürgerlichkeit des durch den Spreewald paddelnden oder auf dem Leipziger Turnerfest posierenden Staatsratsvorsitzenden Ulbricht zu tun hat. Sie präsentieren vielmehr einen selbstsicheren Mann, der nach überstandener Scheidung von seiner bisherigen Ehefrau zusammen mit seiner schönen und jungen Gefährtin eine Liebesehe eingeht, die wie ein provinzielles ostdeutsches Gegenstück zur Glamour-Ehe der Kennedys erscheint – Vilm an der Ostsee statt Cape Cod am Atlantik. Diese Fotos eines unbeschwerten Familienglücks waren in der DDR aus gleich mehreren Gründen nicht vorzeigbar: Die idyllische Bootspartie unternahm ein Parteifunktionär, der mit dem Mauerbau vom 13. August 1961 dafür sorgte, dass auch einfache Segeljollen mit dem Stigma des möglichen Fluchtinstruments gebrandmarkt waren. Das ungestörte Dünenglück von Vilm entfaltete sich auf einer Funktionärsinsel, die in empörendem Gegensatz zum kommunistischen Egalitätsanspruch allein der Erholung der Machtelite vorbehalten und zur Abwehr von ungebetenen Besuchern auf keiner Landkarte der DDR verzeichnet war. In ihrer Unbefangenheit sprechen diese Bilder von einer genussorientierten Leichtigkeit, die sich mit der inszenierten Vorbildrolle des ernsten Parteiarbeiters nicht gut zur Deckung bringen ließ. Seine Bildbiographie lässt erahnen, wie stark der Rollendruck war, der Erich Honecker und seine Frau in ihrem politischen Aufstieg begleitete und beide zu persönlichen Einschränkungen im Tausch mit dem Erwerb von Macht drängte. Nach und nach wurden die Spielräume der persönlichen 17 BStU, MfS HA IX/11, SV 19/77, Bd. 11, Mitschrift von: Henning Frank, Beitrag, in: Deutschlandfunk, Mittagsecho, 4.5.1971 18 Horst Büscher, Kommentar, in: Deutschlandfunk, 2.7.1968. 19 Ebd. 5 Entfaltung kleiner und reduzierten sich allmählich auf kleine Rollenfluchten. Ein Foto, das den schon reiferen Erich Honecker als posierenden Matrosen in kurzen Hosen zeigten, nahm wie - zahlreiche andere auch - das MfS unter Verschluss, und es belegt in der verlegenen Haltung des Porträtierten, dass Honecker selbst die Mesaillance zwischen den beiden Körpern des Königs zunehmend deutlicher erkannte.20 Fortan zeigte sich Honecker auch bei Schwarzmeerausflügen erkennbar rollenbewusster - wie etwa 1977, als er zusammen mit seiner Gattin und der Schauspielerin Vera Oelschlegel gelöst in die Kamera blickte. 6 Seine Flucht aus dem DDR-Alltag hatte er zu dieser Zeit längst in den geschützten Raum der Jagd verlegt, die ihm aufgrund ihrer naturbedingten Abgeschiedenheit und zugleich langen diplomatischen Tradition zumindest außerhalb der offiziellen Staatsjagden jenen Abstand von der rollengerechten Machtrepräsentation bot, den ihm seine politische Funktion als erster Repräsentant der SED-Herrschaft versagte. 2. BIOGRAPHISCHE ZEITLOSIGKEIT Angesichts dieses Befundes scheint es mir geboten, die Perspektive umzudrehen: Die farblose Persönlichkeit Erich Honeckers ist, so mein Argument, nicht der Ausgangspunkt seiner politischen Karriere, sondern ihr zwischenzeitlicher Endpunkt, und hinter der vermeintlich blassen Biographie steht in Wirklichkeit die Frage nach der Geschichte des biographischen Verblassens. Einen ersten Fingerzeig bietet die kanonisierte Bildersprache der DDR in der Ära Honecker selbst, die in zahlreichen Publikationen die Lebensgeschichte des Staatsratsvorsitzenden erzählt. Ihr zentraler Bezugspunkt war das zeitlose Herrscherporträt, das in der 1981 erschienenen Autobiographie gleich zweimal auf die Lektüre einstimmt, nämlich einmal auf dem Schutzumschlag und dann noch einmal zusammen mit der beglaubigenden Unterschrift hinter dem Titelblatt. Ganz im Sinne dieses zeitlosen Leitbildes schildert die im Text dargebotene Lebensgeschichte die Vita eines sich von Anfang bis Ende treuen puer senex, der 20 Auf eben diese Tradition bezog sich die skandalisierende Überschrift in der Pressemeldung, mit der die Bild-Zeitung den überraschenden Bilderfund in der BStU mitteilte: „Fotos aus Mielkes Geheimarchiv So haben Sie Honecker noch nie gesehen. Staatsratsvorsitzender der DDR jetzt mit nackten Beinen“, in: Bild-Zeitung, 8.6.2010. sich laut eigener Aussage „an keinem Augenblick in meinem Leben erinnern (kann), da ich an unserer Sache gezweifelt hätte“.21 Die parallele visuelle Erzählung war zu einer solchen rückblickenden Entzeitlichung des eigenen Lebens naturgemäß nur begrenzt in der Lage; sie konnte nicht umhin, der imagninierten Zeitlosigkeit des Herrscherporträts die nicht völlig außer Kurs zu setzende Narration des Wachsen und Werdens in seiner physiognomisch ablesbaren Zeitlichkeit gegenüberzustellen. Tatsächlich zeigen gleich mehrere Abbildungen in seiner Autobiographie Honecker als Jugendlichen im Kreise seiner Familie. Dennoch zerstört die Bilderauswahl nicht die ikonische Zwingkraft des zeitlosen Herrscherporträts. Denn immer handelt sich um illustrative Bilder von hoher Zeichenhaftigkeit, die das Narrativ des zeitlosen Repräsentanten der sozialistischen Gesetzmäßigkeit nur mit wenigen konkreten und immer kontrollierten Zügen ausstatten: die sorgende Mutter, das Vatervorbild, die kommunistische Sozialisation. Mit anderen Worten: Die häufig reproduzierten Kindheits- und Jugendbilder überführen die Zeitlosigkeit des Honecker-Porträts nicht in die Zeitlichkeit des Alterns, weil sie eine im Grunde nicht wiedererkennbare Person zeigen, die Erich Honecker heißt, aber visuell nicht mit dem Herrscherporträt identifizierbar ist. Fast gänzlich sparte Honeckers Selbstdarstellung Bilder aus, die dem kanonisierten Porträt gerade durch ihre nur leichten Abweichungen von den gewohnten Zügen die Aura der Zeitlosigkeit hätten nehmen können – so etwa Aufnahmen, die ihn mit seinen Eltern in den sechziger Jahren zeigen, aber auch Porträtbilder aus den sechziger Jahren, die den künftigen Generalsekretär in seiner zeitlosen Haltung bereits erahnen lassen und daher in ihrer nur dezenten Unvertrautheit umso irritierender auf den Betrachter wirken. In der kaum spürbaren Verfremdung des vertrauten Herrscherporträts lag daher das subversive Protestpotential, das 1984 Studenten der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst dem Zwang zur Teilnahme an der jährlichen Demonstration zum Ersten Mai entgegensetzten. Die folgsame Einreihung in die Marschgruppen der Leipziger Werktätigen unter dem Bild Honeckers konnten ihnen ihr Rektor Bernhard Heisig nicht ersparen, aber sie artikulierten ihren Widerstand in einer kaum merklichen künstlerischen Verfremdung durch Überzeichnung, mit der sie das von ihnen mitgeführte Honecker-Porträt ins Lächerliche zogen. 21 Erich Honecker, Aus meinem Leben, Berlin (O) 1981, S. 9. 7 3. WUNSCHBIOGRAPHISCHE STILISIERUNG Neben die visuelle trat die narrative Bearbeitung des eigenen Lebenslaufs, um die musterbiographische Vorbildhaftigkeit zu erreichen, in der das Besondere des individuellen Schicksals mit dem Allgemeinen des gesetzmäßigen Weges zum Sozialismus zusammenfällt. Dabei lassen sich vier Stilisierungsbereiche unterscheiden, nämlich zum einen die proletarische Herkunft, zum anderen die kommunistische Familientradition, drittens die politische Unbeirrbarkeit und viertens schließlich die private Untadeligkeit. Die Ergebnisse meiner bisherigen Recherche resümierend, reiße ich zu jedem dieser Bereiche Honeckers mehr oder minder ausgeprägte selbstbiographische Stilisierung an: a. Proletarische Herkunft: Honecker entstammt einem ursprünglich in der Schweiz beheimateten Bauerngeschlecht, das sich über mehr als sechs Jahrhunderte zurückverfolgen lässt und eine ununterbrochene Ahnenreihe erst von landwirtschaftlichen Hofpächtern und seit dem 19. Jahrhundert von Bergleuten aufweist, nachdem ein Zweig der Honeckerschen Familie um 1700 vom Zürcher Oberland in das Saarland emigriert war. Noch sein Vater unterhielt neben dem Bergmannsberuf eine kleine Landwirtschaft im Hausgarten und auf einer naheliegenden Ackerparzelle, und er war Eigentümer eines teilvermieteten Zweifamilienhauses, was es ihm, dem zeitweilig mit Berufsverbot Belegten, in der NS-Zeit möglich machte, seine Familie zwischen 1935 und 1941, also sechs Jahre lang, ohne jede staatliche Unterstützung durchzubringen. Erich Honecker selbst, der nach der Schulentlassung zunächst keine Lehrstelle fand, liebäugelte jahrelang mit der Einheirat in einen pommerschen Bauernhof von nicht unbeträchtlicher Größe, bevor es ihm nach dem Abbruch einer zwischenzeitlich begonnenen Dachdeckerlehre gelang, die Parteiarbeit zum Beruf zu machen. b. Kommunistische Familientradition: Die Makellosigkeit einer über Generationen weitergegebenen sozialistischen Familientradition stellte einen auch schon in der zeitgenössischen Publizistik anerkennend vermerkten Grundzug der kommunistischen Kontinuitätsbiographie Erich Honeckers dar. Schon der Großvater habe sein klassenbewusster Bekenntnis 8 offen artikuliert, und die Familie traf 1914 das typische proletarische Schicksal: „Vater fort, ‚im Felde‘, Mutter in der langen Schlange vor der Bäckerei, Brotkarten, keine Milch, Kartoffeln knapp, Kohlenmangel, abgetragene Kleider und Schuhe von den älteren Geschwistern, immer wieder Hunger“.22 Der als Matrose der Kaiserlichen Marine in Kiel, Wilhelmshaven und Flandern eingesetzte Vater hatte die Trennung von seiner Familie hinnehmen müssen, aber er wollte gewusst haben, was zu tun war, als die Zeit reif war: „An der Revolution war er in Kiel beteiligt“23, und nach Wiebelskirchen kam er als Mitglied der USPD zurück. Mit der Mehrheit der Unabhängigen wechselte er in später zur KPD, in deren Kindergruppe er auch seine Kinder schickte, und Wiebelskirchen blieb noch in der Bundesrepublik das rote Dorf, das es schon zu Weimarer Zeiten war. Doch hält die Kohärenz dieser musterhaft klassenbewussten Familiengeschichte der genaueren Prüfung nicht in jedem Punkt stand. Fraglich ist schon, wie weit das sozialistische Engagement der Familie bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückreichte; manches spricht dafür, dass der Vater vor 1914 christlich engagiert war und noch im Kriege seine Kaiserliche Marineuniform mit Stolz trug, wie ein vermutlich 1915 entstandenes Fotoporträt zu erkennen gibt. Wilhelm Honecker entging infolge seiner kriegswichtigen Funktion im Kohleabbau seiner Einberufung bis in die Mitte des zweiten Kriegsjahrs, und er kehrte auch nicht erst 1918, wie sein Sohn annahm, sondern als sogenannter „Reklamierter“ schon Ende Juli 1917 wieder nach Wiebelskirchen zurück, nachdem die OHL 40 000 Bergarbeiter aus der Front herauszuziehen angeordnet hatte, weil die dramatisch werdende Brennstoffknappheit ihre zivilen Einsatz unter Tage wichtiger sein ließ als ihren militärischen Dienst als Soldaten.24 Allenfalls mochte er im ersten Halbjahr 1917 in irgendeiner Weise die ersten aufflackernden Arbeiterstreiks in Kiel oder die Vorgeschichte der mit den Namen von Max Reichpietsch und Albin Köbis verknüpften Marinemeuterei in Wilhelmshaven miterlebt haben; aber an der erst eineinhalb Jahre nach seinem Ausscheiden ausbrechenden Novemberrevolution 1918 hatte er keinen Anteil, sondern genoss mit seiner zweijährigen und überwiegend in der Etappe verbrachten Kriegsdienstverwendung eine Sonderstellung, die das Los der Honeckers im Krieg leichter machte als das vieler anderer Familien in dieser Zeit. 22 Honecker, Aus meinem Leben, S. 7. 23 Ebd. 24 Mallmann/Steffens, Lohn der Mühen, S. 114. 9 Noch vehementer beharrte Honecker auf der kommunistischen Familienorientierung in seiner eigenen Generation: „Wir waren 6, und wir dachten alle an die rote Fahne.“25: In der Sache stimmte allerdings auch das nicht, denn sein jüngster Bruder Robert schloss sich ungeachtet der väterlichen Dominanz und des angeblichen Familienfestigkeit den Nationalsozialisten an, wurde Gefolgschaftsführer in der HJ und ging nach einer Tischlerlehre mit Begeisterung wie einen Weltkrieg früher sein Vater zur Kriegsmarine.26 Robert Honecker überstand den zur Nachschubsicherung für das Deutsche Afrika-Korps geführten Seekrieg im Mittelmeer unverwundet, geriet aber bei Kriegsende in britische Gefangenschaft und zog sich dort eine tropische Wurmerkrankung, die Bilharziose27, zu, die ihm die vorzeitige Entlassung nach Wiebelskirchen zu den Eltern eintrug, wo er nur wenige Monate später starb. Nach seinem Tod wurde der jüngste Sohn der Honecker-Familie zur Unperson. Als das schwarze Schaf, das mit seinem Übertritt zu den Nazis das politische Bekenntnis der Familie durchbrochen hatte, verfiel er einer damnatio memoriae, die seine Schwester Gertrud noch kurz vor ihrem eigenen Tod 2010 alle Bilder und Briefe ihres Bruders verbrennen ließ, die sie als kompromittierend empfand. Sie tat es in der bis heute im Familiengedächtnis gewahrten, wenngleich nach heutigem Wissen falschen Annahme, dass Robert Angehöriger der SS oder der Waffen-SS gewesen sei. c. Politische Unbeirrbarkeit: Einen weiteren Grundzug der Honeckerschen Musterbiographie stellt die politische Standhaftigkeit dar, die Honecker vom ersten bis zum letzten Tag seines politischen Lebens auszeichnete. Sie unterscheidet seinen Lebenslauf von dem vieler anderer Mitglieder der SED-Führungselite, die ihre bürgerliche Herkunft, ihre frühere Verankerung in der Sozialdemokratie oder sogar ihren zwischenzeitlichen Wechsel zu den Nazis zu kompensieren hatten. Doch war auch Honeckers Werdegang nicht frei von Schwächen, die biographische Retuschen erforderte. So verlegte Honecker den erst 1928, nach der Rückkehr von seinem zweijährigen Aufenthalt in Pommern vollzogenen Eintritt in den KJVD um zwei Jahre vor auf 1926, um die Pommersche Episode in ihrer parteibiographischen Bedeutung zu reduzieren. Einen anderen 25 BArch, NY 4167, 651, Erich Honecker, [Aus meinem Leben], Ms., 17.12.1979. In der publizierten Fassung lautete dieselbe Passage etwas abgeschwächt: „Doch die rote Fahne blieb uns Honeckers unvergessen. Wir hielten immer an ihr fest.“ Honecker, Aus meinem Leben, S. 7. 26 Staatsanwaltschaft Berlin, 2 Js 6/90, Sonderband E 2, Personendokumentation Erich Honecker 27 Der heute gebräuchliche Fachausdruck lautet Schistosomiasis. 10 heiklen Punkt bildeten die unüberlegte Aussagen, mit denen der Dreiundzwanzigjährige nach seiner Festnahme im Dezember 1935 und unter dem Schock der Verhaftung der Gestapo den Code der chiffrierten Parteibotschaften verriet und seine tschechische Kurierin Sarah Fodorowa zunächst erheblich belastete, bis es ihm später durch ein klügeres Aussageverhalten gelang, seine Kurierin glaubwürdig zu entlasten. Im Zuchthaus Brandenburg-Görden wurde Honecker, der nach kürzerer Zeit zum Kalfaktor aufgestiegen war, als unangenehm genauer Kontrolleur beurteilt, der keine Verbindung zur geheimen Parteizelle unterhielt und folgerichtig in keinem der Berichte von Brandenburger Häftlingen in Erscheinung tritt. 1939 und 1942 verstand er sich zu vergeblichen Gnadengesuchen, die ganz offenkundig in Sklavensprache gehalten und daher ohne eigentlichen Aussagewert sind. Gleichwohl fand Erich Honecker es angezeigt, in seinen Memoiren zwar aus der Verweigerung eines Gnadenerweises zu zitieren, die ihm unbeugsame kommunistische Gesinnung bescheinigten, nicht aber seine eigene Bitte um Gnade, die er mit dem Bekenntnis motiviert hatte, „daß ich nicht hinter jenen zurückzustehen möchte, die den Frieden und Zukunft des deutschen Volkes mit der Waffe verteidigen“.28 d. Persönliche Lebensumstände: Die schwierigste Zone der kommunistischen Musterbiographie Erich Honeckers aber bildeten seine persönlichen Lebensumstände, die ebenfalls der musterbiographischen Formung unterlagen. Eine nachweisbare biographische Stilisierung liegt darin, dass er seine erste Ehe zeitlebens mit Schweigen überging. Das mag damit zu tun haben, dass er nur Wochen nach dem überraschenden Tod seiner Ehefrau Charlotte Honecker, verwitwete Schanuel, im Juni 1947 eine Beziehung zu Edith Baumann einging, die er im Dezember 1949 heiratete. Die Ehe 28 BArch, Filmnummer Filmnummer: 83 286 / 11, Erich Honecker, Brief an seine Eltern, 1.10.1939. In seinem ersten Gnadengesuch argumentierte Wilhelm Honecker des weiteren mit der Abstimmungszeit im Saargebiet, die „für unsere Jugend eine zügellose Periode zumal fremdländische Kräfte am Werk waren und ihr propagandistisches Unwesen trieben, um die jungen unerfahrenen und unverdorbenen Kinder als Vorspann für eine fremde Macht zu fangen und dem Kommunismus zuzuführen. Später sollte aus diesem angeblichen Kommunismus, der nur als Stalins gebraucht wurde, eine (...) zügellose Verbrecherbande über unser schönes Saarland regieren. Diesen Anstürmungen nichtsnutziger Elementen [sic!] konnte der junge Erich Honecker nicht wiederstehen [sic!]. Ich als Vater von 59 Jahren konnte den Anstürmungen auch nicht wiederstehen [sic!], sah aber ein, daß das ein Verbrechen ist.“ Ebd., Wilhelm Honecker, Gnadengesuch an die Generalstaatsanwaltschaft des Volksgerichtshofs Berlin, 24.10.1939 11 stand unter keinem guten Stern, da Honecker parallel offenbar weitere Beziehungen unterhielt und wohl auch im Saarland eine engere Bindung geknüpft hatte. Unmittelbar nach der Geburt ihres Kindes Erika im März 1950 verließ Honecker seine Frau wieder, um fortan und zunächst gegen den im Politbüro vorherrschenden Willen mit Margot Feist zusammenzuleben, während die Ehe mit Edith Baumann noch über Jahre fortbestand. Wann Erich Honecker und Margot Feist geheiratet haben, ist nicht bekannt; das allgemein genannte Heiratsdatum 1953 aber nachweislich falsch, da Honeckers Ehe mit Edith Baumann erst 1955 geschieden wurde. Solche kleineren Verstöße gegen die Gebote der sozialistischen Moral konnten Honeckers Aufstieg nicht hemmen, aber die Identität seiner ersten Ehefrau aber hätte ihm schon gefährlich werden können – bei der neun Jahre älteren Charlotte handelte es sich um eine lang gediente Wachtmeisterin im preußischen Justizdienst, deren Dienstort sich im selben Gefängnis befand, in dem Honecker seine beiden letzten Haftjahre verbrachte. Pointiert gesprochen: Honecker hatte seine eigene Gefängniswärterin geheiratet, und dies nicht im Sinne des Stockholm-Syndroms unmittelbar nach der Befreiung, sondern mehr als anderthalb Jahre später am 23. Dezember 1946.29 Aus der alten Besatzung des Frauengefängnisses Barnimstraße stammten auch die Trauzeugen, und ein halbes Jahr später war es wiederum die Anstaltsärztin des über die Zeitenwende fortbestehenden Frauengefängnisses Barnimstraße, die Honecker mit tröstenden Worten vom Hinscheiden seiner Frau berichtete. Charlotte Honecker war vielleicht nicht im engeren als NS-Täterin zu einzustufen. Sie hatte als staatliche Gefängnisaufseherin engeren Kontakt zum politischen Langzeitsträfling Honecker getreten; sie hatte zusammen mit ihm nach einem Bombenangriff zahlreiche verschüttete Gefängnisinsassen gerettet und Honecker kurz vor Kriegsende sogar auf der Flucht Obdach gegeben. Aber sie war eben auch nicht gegen ihren Willen in das Gefängnis dienstverpflichtet worden, sondern auf eigenen Wunsch 1941 vom Krankenschwesterberuf in den Justizdienst gewechselt und hatte die Aufnahme in die NSDAP beantragt. Zu ihren Aufgaben zählte auch die Bewachung und Begleitung der weiblichen Opfer der nationalsozialistischen Terrormaschinerie auf ihrem letzten Weg von der Barnimstraße zum Fallbeil nach 29 „Aus der hier vorliegende Sammelakte zu der Eheschließung Honecker/Baumann geht hervor, dass die Ehe mit Charlotte Schanuel geb. Drost am 23.12.1946 in Berlin-Mitte geschlossen wurde. Die Ehe ist beim Standesamt Mitte von Berlin unter der Nummer 926/1946 registriert. Nach hiesiger Aktenlage ist die 1. Frau Honecker am 06.06.1947 in Berlin-Weißensee verstorben. Der Sterbefall ist dort unter der Nummer 1222/1947 registriert.“ Schriftliche Mitteilung M. Guss, Bezirksamt Treptow-Köpenick von Berlin, 15.9.2010 12 Plötzensee; besonders die Mitwirkung an der Hinrichtung von Hilde Coppi soll ihr seelisch sehr zugesetzt haben. Da Charlotte Schanuel von mehreren ehemaligen Häftlingen positiv beurteilt wurde, konnte sie ihren Dienst im Frauengefängnis Barnimstraße über das Ende des NS-Staates hinaus fortsetzen. Aber mit einer Frau verheiratet zu sein, deren dienstliche Funktion in einem gleich gelagerten Fall ausgerechnet in Brandenburg-Görden zur selben Zeit von der SED-Justiz mit einer zehnjährigen Haftstrafe wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit geahndet wurde, hätte sich für Honecker zu einer schweren, vielleicht untragbaren Belastung ausgewachsen, wenn er über diese Facette seiner Lebensgeschichte nicht einen Schleier hätte ziehen können. Konsequenterweise schwieg er über diese erste Ehe bis zu seinem Lebensende in der Öffentlichkeit. Soweit die biographischen Befunde. Was lässt sich aus ihnen an weitergehenden historischen Erkenntnissen gewinnen? B. Herrschaftsgeschichtliche Schlussfolgerungen Ich meine, dass sich aus den dargestellten biographischen Befunden Schlüsse auf den Charakter politischer Herrschaft und ihre Bindungskraft in sozialistischen Systemen ziehen lassen. Dabei verfolgte ich vier unterschiedliche Wege: 1. BIOGRAPHISCHE WAHRHAFTIGKEIT Der erste Komplex betrifft den Geltungsanspruch der parteikonformen Kontinuitätsbiographie in der sozialistischen Sinnwelt. Sie ersetzte keineswegs einfach Wahrheit durch Lüge, sondern wahrte die Überzeugungskraft der glaubwürdigen Wahrhaftigkeit auch des Autors vor sich selbst, ebenso wie wir das aus vielen der im IML gesammelten Veteranenzeugnisse kennen. Auch Honecker log sich seine Lebensgeschichte keineswegs platt zurecht, sondern schuf sich seine Wunschbiographie durch eine plausibilisierende Narration, die im Falle seiner ersten Ehe die publizierten Zeugnisse Dritter verarbeitete und sogar immer wieder seine spätere Frau einführt, allerdings aufgespalten in verschiedene Rollen und erkennbar nur an dem stereotypen Reinigungszusatz der dienstlichen Zwangsverpflichtung. Ebenso wenig verschwieg Honecker den braunen Bruder, der die Makellosigkeit seiner Familienbiographie bedrohte, sondern bewältigte die autobiographische Herausforderung durch eine Kontextverschiebung, die den Bruder zum bloßen Opfer 13 der Verhältnisse machte: „Man wollte ihn (...) zu einem ‚kleinen Führer‘ machen. Das gelang nicht ganz, denn als mein Bruder Robert in den Gewässern Griechenlands in englische Gefangenschaft geriet, zog er sich in den heißen Tagen und kühlen Nächten im Sande Ägyptens eine unheilbare Krankheit zu, an der er nach der Rückkehr (...) in Wiebelskirchen starb.“30 Das narrative Mittel ist hier die Zusammenziehung des sachlich Unzusammengehörigen - natürlich hat sein krankheitsbedingter Tod 1947 nicht das Geringste mit dem Erfolg oder Misserfolg des nationalsozialistischen Werbens um ihn vor dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Honecker sicherte vielmehr die Glaubwürdigkeit seiner Ich-Erzählung, indem er eine lebensdidaktische Einsicht in historische Realität verwandelt – dass es nämlich am Ende besser gewesen sei, im Zuchthaus als Kommunist zu überleben statt als Nazi für Hitler zu sterben. So deutlich hier der glättende Eingriff fassbar wird, die Honeckers Lebensgeschichte fugenlos in das entindividualisierte Format der kommunistischen Musterbiographie einzupassen erlaubte, so stark tritt eben auch das Bemühen hervor, darin zugleich die persönliche Glaubwürdigkeit zu erhalten – auch die Lebenslehre von Erich Honecker konnte in ihrer Vorbildlichkeit nur allmächtig werden, wenn sie wahr blieb. 2. SINNWELTLICHE GESCHLOSSENHEIT Die zweite Deutungsebene: Dieselbe sinnweltliche Bindungskraft wie die entsubjektivierte Wunschbiographie besaß für Honecker auch der Denk- und Ordnungshorizont, in dem er politische Realität wahrnahm und herstellte. Die Fabrik dieses Diskurspanzers lag im linksproletarischen Saarmilieu, das die Studien von Klaus-Michael Mallmann und Gerhard Paul zur kommunistischen Milieueinbindung der Weimarer Republik erschlossen haben. Die um Honecker versammelte SED-Elite glaubte, was sie sagte, und sie handelte, wie sie glaubte. Honecker log nicht, als er Johannes Raus Frage auf der Leipziger Frühjahrsmesse 1989 "Herr Staatsratsvorsitzender, warum ist eigentlich die Stimmung in Ihrem Land so mies?" o beantwortete: "Herr Rau, Sie irren sich. Die Einheit der Massen mit der Partei war noch nie so stark wie heute. Das Volk steht hinter der Partei. Überzeugen Sie sich selbst, ich lade Sie ein, sich die nächste Demonstration zum 1. Mai mit mir auf der 30 BArch, NY 4167, 651, Erich Honecker, [Aus meinem Leben], Ms., 17.12.1979. Auch hier suchte die veröffentlichte Fassung die von Honecker gelieferte Vorlage etwas zu glätten und verknüpfte das angeblich besondere Interesse der „1935 ins Saargebiet eingerückten Faschisten“ an seinem Karl-Robert Honecker mit dem Umstand, dass der Vater ein stadtbekannter Kommunist war. Honecker, Aus meinem Leben, S. 7. 14 Ehrentribüne anzusehen."31 Nicht anders rühmte Honecker Ende 1981 nach dem Desaster von Güstrow, als Helmut Schmidt durch eine von Staatssicherheitskräften gespielte Einwohnerschaft samt Weihnachtsmarkt, aber ohne Frauen und Kinder zum Dom eskortiert worden war, ganz arglos den herzlichen Empfang, den Güstrow dem Bundeskanzler bereitet habe, wie Klaus Bölling, Ständiger Vertreter und Kanzlervertrauter, konsterniert vermerkte. Honeckers biographisch beglaubigte Sinnwelt überdauerte selbst die Zäsur von 1989. Es ist verblüffend, wie deckungsgleich sich seine lebensgeschichtlichen Angaben nach 1989 mit denen vor 1989 präsentierten. Anders als etwa Willi Stoph, dem nach 1989 Wehrmachtszugehörigkeit und publizistisches Hitlerlob jede autobiographische Kraft raubten32, ließ Honecker sich der gerichtsärztlichen Untersuchung bereitwillig neue autobiographische Schreibpläne entlocken: „Auf die Frage, ob er, Herr Honecker, beabsichtige, seine Lebenserinnerungen zu schreiben, gibt er an, daß er schon dabei sei. Er habe damit in Moskau begonnen.“33 In dieselbe Richtung einer von außen nicht zu erschütternden Realitätskontinuität weist über die bekannten ideologischen Versatzstücke hinaus das reflexartige Aufrufen von lebensgeschichtlichen Ordnungsmustern der eigenen Jugendwelt, das ihn die gegen ihn geführten Ermittlungen nach der Entmachtung umstandslos mit dem Verfolgungsschicksal unter NS-Diktat gleichsetzen ließ. „Guck mal Erich, wie bei den Nazis“, quittierte seine Frau die Ankündigung einer ersten Hausdurchsuchung im Januar 1990. Dass er nun wieder da einsitze, wo ihn 1935 die Gestapo hingeschleppt habe, stand ihm zwei Jahre später in der Moabiter Untersuchungshaft so dicht vor Augen, dass er dem Gerichtsarzt offenbarte:. „Von den Nazis sei er zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt worden, (...) umsomehr treffe es ihn, daß er jetzt wieder an der gleichen Stelle, in Moabit, in Haft sitzen müsse, er wäre ‚mit Kohl nicht so verfahren‘.“34 31 Ulrich Schwarz, Unfähig, den Wandel zu begreifen. SPIEGEL-Redakteur Ulrich Schwarz über den Realitätsverlust der SED-Spitze, in: Der Spiegel 40/1989, 2.10.1989. 32 „Im Gegensatz zu anderen habe er nicht die Absicht, seine ‚Lebenserinnerungen‘ zu Papier zu bringen.“ Archiv der Staatsanwaltschaft Berlin, 2 Js 26/90, Bd. 26, Volkmar Schneider an die Staatsanwaltschaft bei dem Kammergericht, 4.7.1991, S. 3. 33 Ebd., Bd. 28, Volkmar Schneider, Gerichtsärztliche Untersuchung in der Strafsache gegen Honecker und andere, 26.8.1992, S. 23. 34 Archiv der Staatsanwaltschaft Berlin, 2 Js 26/90, Volkmar Schneider, Gerichtsärztliche Untersuchung in der Strafsache gegen Honecker und andere, 26.8.1992, S 13. 15 3. BYZANTINISMUS UND BESCHEIDENHEIT: Die Stabilität der lebensgeschichtlichen Eigenrealität kann – meine dritte Analyseebene - Widersprüche erklären helfen, die die historische Rolle des blassen Diktators Honecker bislang so schwer greifbar machen. Einer von ihnen ist die eigentümliche Gleichzeitigkeit von Byzantinismus und Bescheidenheit, die für den öffentlichen wie im privaten Herrscherhabitus Honeckers wie anderer sozialistischer Potentaten carakteristisch war. Auf der einen Seite steht dabei der Personenkult der medialen Inszenierung: Keine staatlich-parteiliche Einrichtung ohne Honecker-Bild an der Wand, kein Neues Deutschland ohne Foto von ihm und in der Spitze zur Leipziger Messe sogar mit nicht weniger als 32 Abbildungen des Generalsekretärs. Für das Wohlbefinden der „führenden Repräsentationen“ sorgte eine nach Hunderten zählende Armada von dienstbaren und meist dem MfS verpflichteten Geistern, die ihnen jeden Wunsch von den Lippen abzulesen hatten. Noch die Brötchen, die Familie Honecker während ihrer Ostseeurlaube auf der verbotenen und auf keiner DDR-Karte abgebildeten Insel Vilm verzehrte, wurden über eine Autostafette aus Wandlitz angeliefert, weil sie den Honeckers besser schmeckten als die an der Ostsee gebackenen, und die Jagd, auf der sich Honecker am Ende mehrmals wöchentlich ergötzte, sah ihn als förmlichen Fleischer des Waldes, der noch am 7. November 1989 nicht weniger als ein halbes Dutzend Rot- und Damhirsche erlegte, bevor der Volkszorn mit dem wildüberfüllten Sonderjagdgebiet der Schorfheide und seinen zahlreichen feudalen Jagdsitzen aufräumte. Derselbe Honecker beharrte bis zu seinem Lebensende darauf, niemals den bescheidenen Lebensstil seines Wiebelskirchener Herkommens aufgegeben zu haben, und verwies auf den abgeschabten Teppich im Vestibül seiner Behausung, die tatsächlich unter den kleineren Häusern des Wandlitzer Luxusghettos rangierte. Sein Forsthaus Wildfang bei Groß Schönebeck wollte er in Erbpacht erworben und in Raten abgezahlt haben; zum Frühstück hätten ihm zwei Honigbrötchen und zu Mittag ein frugales Essen aus der ZK-Kantine gereicht. Tatsächlich ließ er anders als Ulbricht nie ein Staatsporträt von sich anfertigen, und anders als von Heuß bis Heinemann oder von Pieck bis Ulbricht zierte sein Konterfei nie eine Briefmarkenserie.35 Das panegyrische Herrscherlob, das Jürgen Kuczynski ihm zum 35 Die einzige Briefmarke der DDR, die Honecker abbildete, erschien zu den Olympischen Spielen 1972. 16 Machtantritt zollte, ließ Honecker peinlich berührt sofort unterdrücken, und er achtete sorgsam darauf, dass seine runden Geburtstage ohne großes Gepränge begangen wurden. Wie stimmen Bescheidenheit und Byzantinismus in Honeckers Herrschaftsauffassung zusammen? Eine erste Erklärung ergibt sich aus dem kommunistischen Avantgardedenken. Wie sein erster Biograph Heinz Lippmann überlieferte, fand Honecker schon bei seiner ersten Moskaureise nach dem Krieg nichts an der privilegierten Versorgung der ostdeutschen Delegation, weil er sich als Teil einer politischen Elite verstand, die für ihre sorgende Führungstätigkeit Anrecht auf bessere Versorgung hätte. Entscheidend aber war in meinen Augen wohl auch hier, dass die byzantinische Privilegienwirtschaft die künstliche Realität einer sozialistischen Erfolgsgesellschaft nicht dementierte, sondern scheinbar bestätigte. Die eine zum Besuch des Generalsekretärs in Greifswald hergerichtete Altstadtstraße zeugte von der Leistungsfähigkeit der Planwirtschaft, der eine für einen Ladenbummel hergerichtete Fleischerladen bestätigte die gute Versorgung der Bevölkerung, die immer wieder an Honecker vorbeiziehenden Fähnchenwinker zeigten die gute Stimmung im Lande und die triumphalen Wahlergebnisse die große Akzeptanz der Führung im Volk. Honecker lebte in einer Potemkinschen Welt, die die Privilegierung der Mächtigen ständig steigerte und zugleich ihren Augen entzog, weil sie im Glauben an die Wahrheit der eigenen Propaganda den Mangel aus ihr verbannt hatte. 4. AUTOKRATIE ALS KONSENSHERRSCHAFT Gleiches gilt, meine vierte Schlussfolgerung, auch für die seltsame Verbindung von Autokratie und Kollektivität, die kommunistische Herrschaftspraxis auch in der Ära Honecker prägte. Faktisch agierte Honecker wie ein Monarch: Sein berühmtes „Einverstanden, E.H.“ entsprach dem antiken „Roma locuta, causa finita“ und duldete in der Umsetzung keinen Widerspruch. Selbst im Politbüro gab der Wille des obersten ZK-Sekretärs jede Entscheidung vor; an Diskussionen in diesem Gremium konnten sich rückblickend ehemalige Mitglieder wie Günter Schabowski nach eigenem Bekunden kaum erinnern; zusammen mit Mittag und Mielke beherrschte Honecker 18 Jahre lang die Republik in einer Machtfülle wie kein anderer Herrscher in der jüngeren deutschen Geschichte, Ludendorff und Hitler eingeschlossen. 17 Auf der anderen Seite beharrte Honecker nach seinem Sturz nachdrücklich darauf, dass er nur als Repräsentant einer Kollektivherrschaft agiert habe. Im Politbüro habe er bewusst immer zuletzt das Wort ergriffen, um die Meinungsbildung der anderen nicht in seinem Sinne zu beeinflussen; alle wichtigen Konzepte und Vereinbarungen seien immer erst vorgelegt und beraten worden, bevor eine Entscheidung getroffen worden sei. Wie tief der kommunistische Konsensglaube reichte, bewies Honecker nicht nur, als er am 17. Oktober seinem eigenen Rücktritt zustimmte. Aber auch die Entmachtung und Zurückdrängung Ulbrichts erfolgte im Denkstil einer Einmütigkeit, der sich Ulbricht aus Altersstarrsinn zeitweilig verweigerte, und wurde nicht nur von Honecker bis zuletzt als Ausdruck eines kulturvollen Übergangs der Staatsleitung gepriesen: „Es hörte sich an wie eine Mischung von Ironie und Herausforderung, als Ulbricht bei seinem Rücktritt vom guten Geist der ‚kollektiven Führung‘ sprach, der unter ihm immer geherrscht habe“, kommentierte der „Tagesspiegel“ im Mai 1971 den Wechsel an der SED-Spitze.36 Gezielt suchte Honecker die Legitimation für einen personellen Neustart in der Rückkehr zur Kollektivität, und das galt ebenso für das Verhältnis zu Moskau wie zur eigenen Bevölkerung. Und er fand dafür auch publizistische Anerkennung, so seltsam sie uns heute erscheinen mag: „Immer wieder wurde in der Werner-Seelenbinder-Halle die Kollektivität der Parteiführung betont, an die sich Ulbricht nicht immer ganz gehalten zu haben scheint“, berichtete die „Welt“ vom VIII. Parteitag der SED, auf dem Honecker seine neue Politik erläuterte.37 Gleichviel, ob in den demütigenden Vorsprachen in Moskau zur Freigabe seiner Bonn-Reise oder in deutsch-deutschen Verhandlungen; stets wich Honecker unmittelbaren Vereinbarungen aus und verwies auf die Entscheidungsbildung im Politbüro. Wenn man diesen Widerspruch zwischen Alleinherrschaft und Kollektivmacht ernst nimmt, haben wir es mit einer eigentümlichen politisch-kulturellen Sinnwelt zu tun, in der noch die Autokratie als Konsensherrschaft erscheinen konnte. Darin sehr ich mehr als nur eine einfältige Camouflage, mit der ein gestürzter Despot die Verantwortung von sich wälzen wollte. Wenn sich Honecker in seiner letzten Politbüro-Sitzung über die zur Sprache gekommenen Wahlfälschungen entrüstet, weil ihm 60% doch genügt hätten, verbindet sich in seinem Denken eine 36 J.B., Der erste Schub, in: Der Tagesspiegel, 27.5.1971 37 Bernt Conrad, Alter Kurs mit neuen Akzenten, in: Die Welt, 1.6.1971. 18 biographisch verankerte Realitätsverkennung mit dem kommunistischen Konsensideal, in das Honeckers Herrschaft eingelassen war. Es handelt sich in diesem Kollektivitätsbewusstsein um ein politisch-kulturelles Konstrukt von zunächst hoher und dann nachlassender Bindungskraft, das in wichtigen Entscheidungsmomenten eigene politische Kraft entfalten und sich gegen den autokratischen Repräsentanten des kollektiven Willens richten konnte. Ich habe für diese kommunistische Politikkultur den Begriff der Konsensdiktatur geprägt, und ich möchte ihn gern am Beispiel Honeckers mit biographischem Leben füllen. 19 FAZIT Die Lebensgeschichte Erich Honeckers stellt sich bei näherem Zusehen als weit weniger schablonenhaft und entindividualisiert dar, wie das kommunistische Herrscherporträt es vorspiegelt. Ebensowenig aber bedarf sie einer biographischen Demaskieren, die hinter der Biedermannmaske die verborgene diabolische List und Machtversessenheit dingfest macht, wie dies aus der westlichen Bobachterperspektive oft versucht wurde. Honeckers Biographie lässt sich adäquat nur in der Verschränkung von Individual- und Systemgeschichte schreiben. Die eine daraus erwachsende Leitfrage gilt der systemischen Bindungskraft der autobiographischen Ich-Erzählung. Die andere zielt darauf, die lebensgeschichtlichen Dispositive der saarländischen Herkunft wie der stalinistischen Verzauberung zu rekonstruieren und auf ihre situative Funktionalität in den unterschiedlichen Phasen und Handlungsräumen der kommunistischen Herrschaftsgeschichte hin zu untersuchen. Auf diese Weise hoffe ich die sinnweltliche Geltungskraft der kommunistischen Ordnung für den Einzelnen ebenso zu veranschaulichen wie den Beitrag des Einzelnen für die Entwicklung dieser Ordnung.