Erfahrungsbericht zum Auslandssemester in Tallinn

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Erfahrungsbericht zum Auslandssemester in Tallinn
Erfahrungsbericht zum Auslandssemester in Tallinn an der Estonian
Academy of Music and Theater von Michael Pirner
Die Idee ein Semester im Ausland zu studieren kam mir bereits im Sommersemester
2011 nach der absolvierten Klavierprüfung. Zuerst hatte ich jedoch Zweifel. Mir war
klar, dass mein Studium ein Semester länger dauern würde als geplant, sollte ich die
Sache wirklich durchziehen. Den entscheidenden Impuls bekam ich nach
Gesprächen mit den an der PH lehrenden Klavierdozenten und Kommilitonen,
welche im früheren Verlauf ihres Studiums ebenfalls ein Auslandssemester absolviert
hatten. Die Gründe die dafür sprachen waren vielseitig und wischten auch die letzten
Zweifel beiseite.
Im Vordergrund standen natürlich die Musik und die Vertiefung bereits vorhandener
Kenntnisse im theoretischen sowie praktischen Bereich, aber auch das akademische
und kulturelle Leben, ebenso der Alltag als Student an einer Musikhochschule.
Weiterhin ausschlaggebend waren Praxiserfahrung in der Fremdsprache und das
Knüpfen von Freundschaften im Ausland. Das bestehende Austauschprogramm
zwischen der PH Heidelberg und der Estonian Academy of Music and Theater in
Tallinn boten mir diese Möglichkeiten.
Die Vorbereitung (Planung, Organisation und Bewerbung bei der Gasthochschule)
wurden
größtenteils
vom
akademischen
Auslandsamt
der
PH
Heidelberg
übernommen. Ich musste vorab lediglich Kurse und Fächer wählen, welche ich gerne
während des Erasmussemesters besuchen würde. Es sei jedoch gesagt, dass es
sich hierbei nicht um die finale Fassung meines Stundenplans handelte. Die
Bewerbung ist reine Formsache.
Die Wohnungssuche stellte sich für meine Kommilitonin und mich als relativ
unkompliziert heraus, da wir hierbei auf die Hilfe einer Freundin bauen konnten,
welche zum gegebenen Zeitpunkt ebenfalls an der Estonian Academy of Music and
Theater ein Erasmussemester absolvierte und uns quasi als Nachfolger an ihre
Vermieterin vermittelte.
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Es ist daher von Vorteil Kontakte zu Freunden und Kommilitonen zu haben, die vor
Ort studieren. Allerdings gibt auch das Erasmus-Department der Hochschule in
Tallinn gerne Auskunft und hilft bei der Suche nach Wohnmöglichkeiten durch das
Herausgeben von Kontakten und Adressen.
Das Studium selbst war super, Dozenten und Mitarbeiter sehr freundlich, hilfsbereit
und kompetent, Ausstattung und Service absolut zufrieden stellend. So ist z.B. jeder
Raum mit ein bis zwei Flügeln ausgestattet, es gibt einen Orgel- und Konzertsaal
sowie ein Aufnahmestudio, aber auch einen komplett ausgestatteten Bandraum
sowie diverse Räume für all die Schlagwerkstudenten. In der Bibliothek findet man
alles was man an Literatur braucht, Computer mit Internetzugang sind reichlich
vorhanden. Auch für das leibliche Wohl ist bestens gesorgt und wem das
Kartenprinzip und die Schlange an den Kopierern zu lästig sind, findet direkt um die
Ecke einen Copyshop.
Das Studium war sehr lehrreich und intensiv, was sich vor allem auf die Dozenten
und das damit verbundene gute Arbeitsklima zurückführen lässt. So sind die
Anforderungen dem akademischem Standart entsprechend zwar hoch, aber dennoch
fühlte ich mich von Seiten der Lehrenden nie unter Druck gesetzt. Im Gegenteil: Die
Dozenten stellen sich auf Persönlichkeit und Fähigkeiten ein und versuchen in
gemeinsamer Erarbeitung mit den Studierenden so viel wie möglich zu erreichen.
Dabei sind sie auch stets offen für eigene Ideen. Auch nach Ende des Semesters
stehen sie offen gebliebenen Fragen Rede und Antwort, auch wenn diese alltägliche
Dinge betreffen, die mit dem Studium an der Akademie nicht viel gemeinsam haben.
Mein Stundenplan sah folgendermaßen aus:
•
Zweimal die Woche Einzelunterricht im individuellen Klavier,
•
Einmal die Woche Einzelunterricht in Arrangement und Accompaniment,
•
Einmal die Woche Unterricht in Improvisation. Auch hier Einzelunterricht,
•
Einzelunterricht im klassischen Gesang ebenfalls einmal die Woche,
•
Kurse in Solfeggio und estnischer Musikgeschichte sowie
•
Sprachkurs in Estisch, ebenfalls zweimal die Woche.
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Die Übungsräume lassen sich jeweils zwei Stunden am Stück mieten, danach muss
bei der Administration eine Verlängerung beantragt werden.
Tallinn, dessen Altstadt 2011 zum Weltkulturerbe erklärt wurde, ist sehr
geschichtsträchtig und kann daher eine große Anzahl an Sehenswürdigkeiten und
Museen aufweisen. Kulturinteressierte kommen hier also voll auf ihre Kosten.
Öffentliche Verkehrsmittel sind sehr billig und bringen einen zuverlässig von einem
Ende der Stadt zum anderen. In 2 ½ Stunden ist man mit der Fähre in Helsinki. Auch
wenn Lebensmittel relativ teuer sind, so kann die Stadt doch mit sehr vielen
preiswerten und studentenfreundlichen Kneipen, Bars und Restaurants aufwarten.
Es lohnt sich daher, sich nach getaner Arbeit auf ein Bier oder einen Burger zu
treffen und den Tag in angenehmer Atmosphäre ausklingen zu lassen. Sollte dann
nachts um zwei Uhr noch festgestellt werden, dass der Kühlschrank leer ist, so
bieten 24h-Shops die Möglichkeit die ganze Woche über rund um die Uhr
einzukaufen. Es gibt zahlreiche der Öffentlichkeit zugängliche, gut gepflegte
Sportplätze mit Rennbahnen, Fitnessgeräten und Bolzplätzen. Wer nicht auf
Wintersport steht, kann auch eines der Hallenbäder aufsuchen welche allerdings
nicht gerade des Geldbeutels Freund sind.
Man darf nicht vergessen, dass Estland der nördlichste der drei Staaten des
Baltikums ist. Das Klima ist im Allgemeinen kühl-gemäßigt mit kalten, frostigen
Wintern und mäßig warmen Sommern auf nordeuropäischem Niveau. Da Tallinn am
Meer liegt, ist das Wetter meistens grau und feucht. Vor allem im Winter schlagen
dieser Umstand, die Kälte und das wenige Tageslicht stark auf das Gemüt. Der
Sommer entschädigt zumindest zum Teil den langen harten Winter, vor allem die
polaren „Weißen Nächte“ sind etwas Besonderes. Ein Witz sagt auch, dass die Esten
aufgrund des Wetters so wenig lachen. Das ist aber natürlich mehr als Klischee zu
betrachten.
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Rückblickend war es ein sehr spannendes Semester. Musikstudenten, die sich mit
dem Niveau der PH unterfordert fühlen und gerne einmal tiefer in die Materie
eintauchen würden, kann ich dieses Austauschprogramm daher wärmstens
empfehlen. Ein Semester ist zwar schnell vorbei aber der Zuwachs an Erfahrung und
Professionalität ist verglichen mit dem Level des Musikstudiums an der PH enorm.
Auch für die Schulpraxis lässt sich einiges mitnehmen. Mein Tipp an Interessenten:
Besucht die Veranstaltungen „Improvisation“ und „Arrangement und Accompaniment“.
Was also den Zuwachs an Können und die Vertiefung bereits vorhandenen Wissens
angeht, wurden meine Erwartungen erfüllt.
Für tiefe Freundschaften ist die Zeit von 4 ½ Monaten allerdings zu kurz. Wer sich
von den nordischen Wetterverhältnissen nicht abschrecken lässt und mehr über
Estland, seine Bewohner und deren Kultur erfahren will, sollte sich dann doch
überlegen ein ganzes Jahr zu bleiben. Ich habe viele nette und liebe Menschen
kennen gelernt aber wirkliche Freundschaft könnte ich nur mit wenigen schließen.
Auch hat mir das gemeinsame Musizieren sehr gefehlt. Das hängt aber sicher auch
mit dem Instrument und dem Department zusammen, in welchem studiert wird. Als
Student des Klaviers im klassischen Department kam ich mir die meiste Zeit dann
doch wie ein Einzelkämpfer vor. Es lohnt sich deswegen dem Chor oder dem
Orchester beizutreten, wenn die Möglichkeit besteht.
Ich hoffe ich konnte dir, der du diesen Bericht vielleicht gerade liest etwas
weiterhelfen. Grundsätzlich ist so ein Semester im Ausland eine feine Sache. Es
bringt Erfahrung, Selbstwert und Professionalitätszuwachszuwachs mit sich und vor
allem Selbsterkenntnis. Für mich war Letzteres und das erfahren persönlicher
Leistungsgrenzen vielleicht das Wichtigste, was ich aus meiner Zeit hier in Tallinn
mitnehmen konnte. Zudem tut es sehr gut auch mal ein Semester vom
pädagogischen Alltagsleben an der Hochschule Abstand zu nehmen, um sich der
Sache voll und ganz hinzugeben, welche man doch am liebsten macht: Musik.
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