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dr. phil. fritz franz vogel bild- und kulturwissenschaft Uni Zürich / KHIST • i-mage: inszenierte Fotografie vor/nach Cindy Sherman • 18.12.2006 9. Die Furie des Somatischen: Pierre Molinier, Orlan, Hannah Wilke, Joel-Peter Witkin, David Nebreda Pierre Molinier Der zeitlebens in Bordeaux ansässige Pierre Molinier (1900–1976) ist ein früher Vertreter einer geradezu obsessiven fetischistischen Selbstinszenierung. Ihn als (alternden) Bürgerschreck, als Faun zu qualifizieren, damit wird man Molinier jedoch nicht gerecht. Viele seiner Inszenierungen gehen über spielerische Maskeraden weit hinaus, weil er in seinem Lebensraum ein intimes Theater inszeniert und mit autosexuellen Handlungen und dafür hergestellten Requisiten ein chimärenhaftes Wesen produziert. Seine Fotografie ist wie ein faustischer Pakt, der sich mit dem Unheimlichen und Sexuellen verbindet und schliesslich ins Selbstzerstörerische mündet. Orlan Die französische Performerin Orlan (*1947) ist vor allem in jüngster Zeit bekannt geworden als Sprachrohr einer fleischlichen Kunst (‹art carnal›) samt Fleischskulpturen als Ergebnissen. Sie stellt ihren Körper als Hardware ins Zentrum ihres Operationstheaters, der je nach pekuniärem Rückhalt individuell ausformuliert und nach Belieben neu konfiguriert werden kann. Unter dem Modediktat wird er zu einer manövrier- und (ent)stellbaren Masse. Der Körper ist nicht mehr etwas Gegebenes, Integres, sondern unterliegt den Vorstellungskräften des Individuums, aber auch den zumeist medial vermittelten Leistungsanforderungen der Gesellschaft. Der Körper ist eine Schnittmenge, zwischen dem, was denkbar, wünschbar, machbar und bezahlbar ist. Der Körper in seiner physischen Präsenz genügt nicht mehr, sondern ist das Produkt von nie abgeschlossenen Projektionen. In ihm spiegelt sich ein neues Bewusstsein für gesellschaftliche Distinguiertheit und Statussymbole: «The body is but a costume», wie es in einem ihrer «Petits reliquaires» (1992) heisst, die ihrerseits wieder mit Transsubstantiation und Inkarnation spielen. Hannah Wilke Die Amerikanerin Hannah Wilke (1940–1993) setzte sich mit Weiblichkeit und Frauenrollen in einer männlich bestimmten Gesellschaft auseinander. Vor allem in den 1970er Jahren gehörte es zur Selbstfindung, sich gegen das patriarchale Establishment aufzulehnen versuchte. Frauen wollten nicht auf Objekte reduziert werden. Der Grundkonflikt der Frauen in dieser Zeit neuer Freiheiten bestand darin, den eigenen Körper vom (Lust)objekt zum Subjekt zu überführen und in dieser Subjektwerdung als Frau und Künstlerin anerkannt zu werden. Der Körper war dabei Ausgangsmaterial, Erfahrungshorizont und -zentrum, den niemand anfechten und beanspruchen konnte. In der Aktionskunst, in BodyArt und Performance konnte der Körper gleichzeitig Subjekt und/oder Objekt sein. Solche Zusammenhänge wollten, wenn auch bloss einem kleinen Publikum, dafür umso wirkungsvoller, gezeigt werden. Joel-Peter Witkin Der amerikanische Fotograf Joel-Peter Witkin (*1939) durchforstet die Kunstgeschichte nach Motiven, um Allusionen an die Fragilität, die Morbidität, die Entstellung und Entsetzlichkeit unseres Lebens zu finden und zu komponieren. Jede menschliche Absonderlichkeit ist ihm gut genug, eigene Höllenvisionen in Boschscher Manier zur traumatischen Paradigmen unserer Zeit zu stilisieren, ja zu potenzieren, ohne die historischen Vorbilder zu verleugnen. Er bedient sich folglich auch aus dem Laden der Pathologie, aus den cadaverbags der Medizin, um seine fixen Ideen zu verwirklichen. Seine chemisch im Labor individuell nachbearbeiteten, ja malerisch durch Tonungen, Lasierungen und intendierte Verletzungen der fotografischen Schicht veredelten Memento mori – und einsiedlerstr. 34 ch – 8820 wädenswil fon/fax: 044 780 07 51 e-post: [email protected] dr. phil. fritz franz vogel bild- und kulturwissenschaft seine konstruierten und inszenierten Bilder gehen weit darüber hinaus – sind nicht mehr gezeichnete oder mit Knochen arrangierte Stillleben, sondern echte menschliche Fleischreste aus dem prämortalen Bereich und aus dem Obduktionssaal. Ein Paradoxon der Zeit: die Schönheit des Hässlichen. Witkin hat als Nachwort in seinem ersten grossen Buch von 1985 unverblümt einen Aufruf erlassen: «I cannot make my images without models (usually nude) or people with unique interests or collections. I ask then for a photo, phone number and brief letter to be sent to me at my permanent address, by all interested people (this is an ongoing request). Models or sources of the completed work receive a finished print made by me as payment. A partial listing of my interests: physical prodigies of all kinds, pinheads, dwarfs, giants, hunchbacks, pre-op transexuals, bearded women, activ or retired side show performers, contortionists (erotic), women with one breast (center), people who live as comic book heroes, Satyrs, twins joined at the foreheads, anyone with a parasitic twin, twins sharing the same arm or leg, living cyclopes, people with tails, horns, wings, fins, claws, reversed feet or hands, elephantine limbs, etc. Anyone with additional arms, legs, eyes, breasts, genitals, ears, nose, lips. Anyone born without arms, legs, eyes, breasts, genitals, ears, nose, lips. All people with unusually large genitals. Sex masters and slaves. Women whose faces are covered with hair or large skin lesions and who are willing to pose in evening gowns. Five androgynies willing to pose together as ‹Les Demoiselles d’Avignon›. Hairless anorexics. Human skeletons and human pincushions. People with complete rubber wardrobes. Geeks. Private collections of instruments or torture, romance; of human, animal and alien parts. All manner of extreme visual perversions. Hermaphrodites and teratoids (alive and dead). A young blonde girl with two faces. Any living myth. Anyone bearing the wounds of Christ.» David Nebreda Der Spanier David Nebreda (*1952) litt bereits mehrfach und in Schüben an Schizophrenie. Er fotografierte sich 1989 und 1990 während diesen Schüben. Es entstanden in seinem kleinen Zimmer, wo er eine Kunstlichtlampe benutzte und ein paar Tücher zur Neutralisierung unruhiger Oberflächen vorhängte, unglaublich eindringliche Fotos mit seinem kranken, völlig ausgelaugten Körper. Diese Bilder übertreffen alles, was bisher an Selbst‹porträts› hergestellt wurde. In seinen mit Selbstauslöser gemachten Bildern erinnert er an einen Hungerkünstler oder einen Schmerzensmann. Nebreda scheint nichts mehr zu spüren von sich, nichts mehr zu riechen. All das Blut, die Selbstverletzung mittels Verbrennungen, das Ritzen der Haut mit Messern und Rasierklingen, aus der aufgrund der somatischen Austrocknung kaum mehr Blut dringt. Er sticht sich ins knappe Fleisch, um einem Fakir gleich Fäden zu ziehen, als ob es darum ginge, sich selber zu flicken. Dann glaubt man, dem Suizid beizuwohnen, wenn er, mit einem Strick um den Hals, ein gewichtiges Buch zum Abschied von der Welt in den Händen hält. Weitere FotografInnen Jo Spence (1934–1992), Helmut Newton (1920–2004), Mat Fraser (19??–) Ausgewählte Literatur Molinier, Pierre: Molinier. Cent photographies érotiques. Paris 1979; Molinier. Winnipeg o.J. [1993]; Pierre Molinier. Valencia 1999; Pierre Molinier, photographe. Une rétrospective. Paris 2000. Nebreda, David: Autoportraits. Paris 2000; Chapitre sur les petites amputations. Paris 2004. Newton, Helmut: Sleepless nights. New York 1978. Orlan: 1964–1996. Rom 1996; Orlan: 1964–2001. Salamanca 2002; Orlan: Carnal art. Paris 2004. Spence, Jo: Putting myself in the picture. A political personal and photographic autobiography. London 1986; Beyond the perfect image. Photography, subjectivity, antagonism. Barcelona 2005. Vogel, Fritz Franz: Der verschämte Blick. Von der Konstruktion des Hässlichen bis zur Verkitschung der Entstellung. Wädenswil 2003. Vogel, Fritz Franz: The Cindy Shermans: inszenierte Identitäten. Fotogeschichten von 1840 bis 2005. Köln 2006. Aktuellste Liste unter www.stagedphotography.ch Witkin, Joel-Peter: Joel-Peter Witkin. Madrid 1988; Gods of earth and heaven. Altadena 1989; Joel-Peter Witkin. Paris 1991; The bone house. Sante Fe 1998; Zögling & Meister. München 2000. einsiedlerstr. 34 ch – 8820 wädenswil fon/fax: 044 780 07 51 e-post: [email protected]