Der Sportschuh – Ein bewegendes Stück Kunststoffgeschichte

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Der Sportschuh – Ein bewegendes Stück Kunststoffgeschichte
Heft 2/55 (2006)
Online-Ergänzung
Der Sportschuh – Ein bewegendes Stück Kunststoffgeschichte
Lars Hollensen
Während im gedruckten Teil des Artikels die didaktische Struktur des Themas beschrieben
wird, finden sich in dieser Ergänzung einige Anregungen zu seiner konkreten Umsetzung im
Unterricht. Gibt man Schülern die Gelegenheit, eigene Fragen zum Thema zu formulieren,
wird man feststellen, das sich nur ein kleiner Teil dieser Fragen auf die „Chemie“ des
Sportschuhs bezieht. Dies ist jedoch kein Nachteil, sondern vielmehr der besondere Reiz
dieses Lernkontextes. Im Folgenden werden aus diesem Grund auch fachübergreifende
Aspekte aufgegriffen.
1. Aus welchem Material besteht ein Sportschuh?
Bezüglich der chemischen Zusammensetzung eines Sportschuhs sollten die Schüler zunächst
in Kleingruppen einen alten Sportschuh „sezieren“. Ausgediente Sportschuhe lassen sich per
Aushang in der Schule oder in Sportgeschäften beschaffen. Zum Zerlegen des Schuhs sind
Teppichmesser mit ausziehbarer Klinge besonders gut geeignet. Die Schüler erhalten den
Auftrag, eine maßstabsgetreue Querschnittszeichnung vom Schuh anzufertigen. Anschließend
sollen sie das Material genauer untersuchen.
1.1 Schaftmaterial
Zwei Oberflächenmaterialien dominieren heute das Schaftmaterial: Kunstleder und Mesh.
Mesh ist die Bezeichnung für ein loses Nylon®- oder Polyestervlies, das entsprechend leicht
und luftdurchlässig ist. Es wird nach außen von einer netzartigen, nach innen von einer
dünnen, etwas festeren Gewebeschicht begrenzt, die das Mesh vor der Reibung durch den
Fuß schützt. Aufgrund dieses Aufbaus spricht man auch von Sandwich Mesh (Abb.1).
Abb. 1: Meshgewebe
Quelle: [3]
Ob es sich beim Meshmaterial um Nylon® oder Polyester handelt, lässt sich mit einem
einfachen Versuch herausfinden, der auch als „trockene Destillation“ bezeichnet wird
(Abzug!). Dazu wird dem Sportschuh Meshmaterial entnommen und ein Reagenzglas ca. 1
cm hoch damit gefüllt. Nun wird das Reagenzglas in die Brennerflamme gehalten. Nach
einiger Zeit wird mit der Tiegelzange ein Stück angefeuchtetes Indikatorpapier in die Öffnung
des Reagenzglases gehalten. Bei diesem Versuch werden die überprüften Kunststoffe
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thermisch in feste und gasförmige Produkte zersetzt. Häufige gasförmige
Zersetzungsprodukte sind NH3, Amine (R-NH2), CO, CO2 sowie Terephthalsäure.
Die Schüler haben die Aufgabe, die Strukturformeln von Nylon und Polyester zu
recherchieren und daraus auf mögliche Zersetzungsprodukte zu schließen. Auf dieser
Grundlage kann die Indikatorfärbung (Nylon: blau, Polyester: rot) selbstständig interpretiert
werden.
Der klassische Versuch zur Grenzflächenkondensation von Nylon lässt sich an dieser Stelle
sinnvoll integrieren.
1.2 Mikroskopischer Vergleich von Futter- und Sohlenschaumstoffen
Mit Hilfe einer Rasierklinge und einer Pinzette werden der Zwischensohle sowie dem
Schaumstoff-Futter im Schaft Proben entnommen. Dazu schneidet man zunächst einen Keil
ins Material, um eine saubere, glatte Schnittfläche zu erhalten. Anschließend wird auf dieser
Fläche eine möglichst dünne Schicht geschnitten und auf den Objektträger gelegt. Das
Mikroskopieren erfolgt bei mittlerer Vergrößerung. Die Schüler erhalten den Auftrag, das
mikroskopische Bild zu zeichnen.
Abb. 2: Schaumstoffe unter dem Mikroskop
Futter-Schaumstoff
Sohlen-Schaumstoff
Quelle: [2]
Ein Futterstoff soll weich sein, was durch große Zellen und instabile Seitenwände erleichtert
wird. Die warme, feuchte Luft muss durch das Polster hindurch entweichen können, weshalb
offene Zellen wichtig sind. Ganz anders die Situation beim Sohlenschaumstoff: Die kleinen,
rundherum von Kunststoff umschlossenen und mit Luft gefüllten Zellen zeigen eine gute
Dämpfungseigenschaft. Die geschlossenen Zellen verhindern, dass die Sohle Wasser aufsaugt
und dadurch schwerer wird.
Auf diese Weise lassen sich auch ein selbst hergestellter Desmodur-Desmophen-Schaumstoff
sowie weitere Schaumstoffe aus dem Alltag vor dem Hintergrund ihrer makroskopischen
Eigenschaften mikroskopisch untersuchen.
Natürlich hängen die Eigenschaften verschiedener Schaumstoffe nicht nur von der
Schaumstruktur, sondern auch von der chemischen Zusammensetzung des Kunststoffes ab.
Diese klassische Struktur- Eigenschafts-Beziehung sollte an dieser Stelle bewusst zugunsten
der mikroskopischen Ebene zurückgestellt werden. Es bietet sich dennoch an, diesen Aspekt
anschließend im Unterrichtsgespräch zu thematisieren: Wie verändert sich die Eigenschaft des
PU-Schaums, wenn anstelle eines Diols ein Polyol verwendet wird?
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2. Der „richtige“ Sportschuh
Im Jahre 1960 gewann der Läufer Abebe Bikila barfüßig eine olympische Goldmedaille.
Fünfundvierzig Jahre später hat es den Anschein, dass sich selbst Freizeitsportler ohne das
richtige „Material“ zu keiner befriedigenden Leistung mehr in der Lage sehen oder doch
zumindest gesundheitliche Schäden befürchten. Die Sportartikelindustrie fördert diese
Einstellung aus verständlichen Gründen. Immer neue High-Tech-Innovationen erobern, stets
begleitet von ebenso innovativen Fachausdrücken, den 7 Milliarden Euro schweren deutschen
Sportartikelmarkt. Ein aktueller Höhepunkt der High-Tech-Entwicklung im
Sportschuhbereich stellt der adidas_1® - Laufschuh mit „intelligenter Dämpfung“ dar: Ein
Sensor in der Ferse misst beim Laufen permanent das Kompressionsverhalten der Sohle.
Verändert sich dieses, zum Beispiel durch einen wechselnden Untergrund, wird über einen
Mikroprozessor ein kleiner Motor in Gang gesetzt, der die Elastizität eines
Dämpfungselementes mechanisch an die veränderten Bedingungen anpasst.
Abb. 3: Der adidas_1®
Quelle: [1]
Der Sportschuh der Zukunft? Neuere medizinische Untersuchungen legen die Vermutung
nahe, dass die natürliche mechanische und neuromuskuläre Adaptationsfähigkeit des
menschlichen Körpers dabei nicht nur unterschätzt, sondern zum Teil sogar behindert wurde.
Bei den Sportschuhherstellern zeichnet sich bereits ein Umdenken ab [6]. „Ein optimaler
Laufschuh sollte eine ähnliche Kinematik aufweisen wie der individuelle Barfußlauf, sofern
keine Fehlstellungen oder Funktionsstörungen des natürlichen Abrollvorgangs bestehen“[8] .
Die Schülerinnen und Schüler sollten daher zunächst feststellen (lassen), ob sie selbst
derartige Fehlstellungen aufweisen. Erste Hinweise darauf finden sich z. B. in Form einer
ungleichmäßigen Abnutzung des Straßenschuhs oder bei dem Vergleich der auf ein DIN-A4Blatt gedruckten Fußabdrücke des gesamten Kurses. „Auffälligen“ Schülern sollte empfohlen
werden, einen Orthopäden aufzusuchen. Auch gute Sportschuhgeschäfte können hier mit
einer Laufbandanalyse weiterhelfen.
Beim Kauf eines Sportschuhs sollte die Frage nach dem Verwendungszweck am Anfang
stehen, nicht etwa die optische Attraktivität. Das falsche Sportschuhe das Verletzungsrisiko
erhöhen, kann am Vergleich von Lauf-(Running-)schuhen und Hallen-(Indoor-)schuhen
anschaulich gezeigt werden:
Laufschuhe sind ausschließlich für die Vorwärtsbewegung gedacht. Durch eine relativ stark
dämpfende Zwischensohle soll der starken vertikalen Krafteinwirkung im Fersenbereich
begegnet werden. Zugleich wird eine übermäßige Pronationsbewegung durch stützende
Elemente im Mittelfußbereich verhindert. Bei seitlichen Belastungen (Ballspielen) bietet ein
solcher Schuh jedoch nur wenig Halt, so dass ein erhöhtes Verletzungsrisiko besteht!
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Beim Hallenschuh hingegen wird davon ausgegangen, dass bereits der Hallenboden eine
gewisse Dämpfung bewirkt, so dass die Zwischensohle hier fester ausfällt. Vor allem aber
zeichnet sich der Hallenschuh gegenüber dem Laufschuh durch eine höhere Seitenstabilität
aus, da bei Hallensportarten keine Bewegungsrichtung bevorzugt wird.
3. Markenkult(ur)
Für die immer neuen Rekordumsätze auf dem deutschen Sportartikelmarkt ist unter anderem
eine jugendliche Käuferschicht verantwortlich, die in Sportschuhen schon seit langem mehr
sieht als nur ein Sportgerät. Wer die Webseiten von Adidas, Puma, Nike & Co besucht, sieht
sofort: Hier geht es um Lifestyle. Man wird zum Mitglied einer weltumspannenden
„Community“, mit der man gemeinsame Identifikationsmuster teilt. „Lebe den Flow der
Straße“ wirbt Adidas für seinen neuen a3 – Megaride®. „Die Straße ist ein heißes Pflaster.
Zeit zurückzuschlagen. Verdreht Köpfe und schützt Füße. Wenn du dich nicht wohlfühlst, im
Mittelpunkt zu stehen, lass den Schuh besser zu Hause.“ Je nach Sportart wird an
unterschiedliche Werte appelliert. Die Schülerinnen und Schüler sollten lernen, solche z. T.
sehr subtilen Botschaften zu erkennen und ein selbstbestimmtes Verbraucherverhalten zu
entwickeln.
Im Unterricht könnten sich beispielsweise Arbeitsgruppen mit jeweils einer Sportart
beschäftigen, das mit den entsprechenden Sportartikeln verbundene Produktimage
herausarbeiten und dieses abschließend in eine Kollage aus Bildern und Schlagzeilen
umsetzen. Im Unterricht sollten alternative (kostenlose) Wege besprochen werden, die in der
Werbung vermittelten Ziele zu erreichen.
4. Sportschuhe und Globalisierung
Ein Paar Sportschuhe sind bei deutschen Discountern bereits für 10 Euro erhältlich. Bedenkt
man, dass ihre Herstellung zum größten Teil in Handarbeit erfolgte, sie anschließend um die
halbe Welt transportiert wurden und der deutsche Einzelhandel jährlich steigende
Gewinnmargen im Sportschuhbereich verzeichnet, stellt sich die Frage nach den
Produktionsbedingungen fast zwangsläufig. Die Antwort findet man in asiatischen Schuhund Textilfabriken, die in den letzten Jahren geradezu zum Symbol für den gegenwärtigen
Globalisierungsprozess geworden sind.
Abb. 4: Zusammensetzung der Kosten eines Sportschuhs
Quelle: [4]
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Anhand der Abbildung 4 können die Schüler selbst errechnen, wie wenig vom Gesamtpreis
eines Paars Sportschuhe (z.B. 60,- ) für Material und Herstellung bezahlt werden. Dennoch
stehen die asiatischen Fabriken unter hohem Konkurrenzdruck. Und auch wenn die
westlichen Markenkonzerne mittlerweile sensibilisiert sind (seit 2001 veröffentlicht Adidas
jährlich einen Sozial- und Umweltbericht) - die Kritik an den sozialen und ökologischen
Bedingungen in den asiatischen Produktionsstätten verstummt nicht [5,7]. Die Schülerinnen
und Schüler sollten lernen, dass sie als Verbraucher dafür eine Mitverantwortung tragen.
Allerdings haben sie kaum eine Alternative: Im Gegensatz zu Fußbällen gibt es leider noch
kein Fair-Trade-Segment im Sportschuhbereich.
Literatur:
[1] Adidas-Salomon AG, www.press.adidas.com/de/ (10.02.06)
[2] Elastogran GmbH, mit freundlicher Genehmigung.
[3] L. Hollensen, Chemie des Sportschuhs. In: H. Wambach (Hrsg.), Lernen im Kontext II,
Materialien für den Kursunterricht Chemie, Aulis Verlag, in Druck.
[4] Clean Clothes Kampagne Österreich:
http://www.oneworld.at/cck/marathon/schuhpreisverteilung.jpg (10.02.06)
[5] N. Klein, No Logo! Der Kampf der Global Players um Marktmacht. 5. Aufl., Riemann,
München 2002
[6] M. Marquardt, Freiheit für die Füße. Triathlon 27, 7/8 (2004)
[7] C. Sauer, Made in China. Jogging-Schuhe aus der südchinesischen Industrieregion
Guangdong.
http://www.eed.de/fix/files/doc/eed_as_wanderarbeiterinnen_sauer_05_deu.3.pdf
(10.02.06)
[8] M. Theune, Zusammenhänge zwischen kinetischen und kinematischen Parametern von
Laufschuhen und dem subjektiven Tragekomfort. Dissertation, Würzburg 2003
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