Über die Autorin: Justine Hardy wurde 1966 in Henley-on

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Über die Autorin: Justine Hardy wurde 1966 in Henley-on
Über die Autorin:
Justine Hardy wurde 1966 in Henley-on-Thames in Großbritannien geboren. Sie hat vierzehn Jahre lang in Kaschmir gelebt. Heute arbeitet sie als
Journalistin in Neu-Delhi und London. »Haus der Wunder« ist ihr erster
Roman.
Justine Hardy
Haus der Wunder
Roman
Aus dem Englischen
von Ursula Gräfe
KNAUR TASCHENBUCH VERLAG
Die englische Originalausgabe erschien 2005
unter dem Titel »The Wonder House« bei Atlantic Books, London.
Besuchen Sie uns im Internet:
www.knaur.de
Vollständige Taschenbuchausgabe März 2008
Knaur Taschenbuch.
Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt
Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München
Copyright © 2006 für die deutschsprachige Ausgabe
by Pendo Verlag GmbH & Co. KG, München und Zürich
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise –
nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Umschlagabbildung: getty images / Colin Anderson
Satz: Adobe InDesign im Verlag
Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-426-63604-6
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Prolog
Vor den Unruhen. Kaschmir, Nordindien, im September 1975
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ie Vergangenheit zerfiel in eine Reihe einzelner Bilder, wie
Postkarten, die man aufhebt, wie die, die an den Ständen an
der Uferstraße aufgereiht sind: ein Blick, eingefangen und gespeichert. Dort waren seine Fingerspitzen, wo seine Hand gegen die
Rinde neben ihrem Kopf drückte, eine Hand, die sie ihr ganzes
Leben lang gesehen hatte, ohne die Länge ihrer Glieder von den
Knöcheln bis zu den Nägeln zu beachten. Sein Gesicht verdeckte
das Licht, dunkel vor der Sonne. Sie konnte seinen Atem spüren,
vermochte jedoch seine unbeleuchteten Züge nicht zu erkennen.
Alles um sie herum war in Bewegung: Träge und doch reizbar
schlug der Schwanz seiner Mauleselin, dabei bewegte sich ihr Geschirr, die Blätter fingen das Licht ein, das sein Gesicht abhielt,
und flimmerten über ihnen und ließen es wieder frei, der Atem der
Erde in der Hitze, ihr Schwanken, als sie versuchte still zu stehen.
Alles, was am Rand ihres Gesichtsfelds war, wich zurück, als er
seine Wange an ihre legte. Als er sich gegen ihren ganzen Körper
lehnte und sein Beckenknochen sich in die Stelle unter ihrem
Brustkorb schmiegte.
Die Hände, die in das Essen fuhren, das sie gekocht hatte, es in
Brot wickelten, die Finger, die Sternanis aus ihrem pulao* schnipsten und an denen Reiskörner klebten, diese Hände wanderten nun
über ihren Körper. Ihr Rücken glitt am Baumstamm hinab, die
Rinde schob ihre dünne Tunika nach oben, bis sie zu Füßen des
*siehe Glossar, Seite XXXff
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Baumes kauerte. Sie schmeckte den Schweiß in seinen Mundwinkeln, als sein Kopf wieder das Licht aussperrte.
Sie schloss die Augen nicht.
Das Maultier wandte sich zu ihnen, sah zu, war Teil ihrer Kreuzung. Es warf den Kopf zurück, als das Mädchen aufschrie.
Der Schmerz war das Einzige, was sie ihm zu geben hatte, ein
Schmerz, der sie beide durchfuhr. Als er abflaute, lagen sie still
unter der großen Zeder.
Der Baum war gezeichnet. Er sollte gefällt werden. Der Junge
hatte sie hergebracht, damit sie ihn vorher sah. Es war seine Arbeit.
Nach dem Kargil-Krieg, im Oktober 1999
D
ie Wonder House liegt tief im Uferwasser des Naginsees in
Srinagar, der Sommerhauptstadt von Kaschmir. Ein Teil des
Hausbootes besteht aus dem abgelagerten Holz einer kaschmirischen Zeder und ist ein bisschen älter als das, aus dem der Rest
gezimmert ist. Die zum See gewandte Seite des Salons ist damit
getäfelt. Um die Zeit, wenn die Mädchen von der Eve’s Garden
School in ihren lotusblattgrünen Uniformen über den See nach
Hause paddeln, gleitet das Nachmittagslicht durch den Raum und
durchdringt das Holz in seinen Winkeln. Wenn die Mädchen fort
sind, verblassen die Möbel und lösen sich in der unsteten Strahlenbahn auf, die diagonal durch den Salon zurückweicht, bis nur
noch ein kleiner Tisch aus älterem Holz in der Ecke vom letzten
Licht des Tages beschienen wird. In den sinkenden Strahlen ziehen Staubpartikel ihre Kreise.
Lange war der Händler, der das Zedernholz an den Baumeister
der Wonder House verkaufte, seine Ware nicht losgeworden. Er
fürchtete schon, darauf sitzen zu bleiben – zur Strafe, dass er versucht hatte, Geld aus einem gezeichneten Baum zu schlagen.
Stirbt in Kaschmir unter einer der mächtigen Zedern im Wald
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ein Mensch – seien es Aufständische oder Soldaten, die erschossen
werden, oder gewöhnliche Leute, die im Kreuzfeuer fallen –, werden die Bäume mit einem roten Kreuz markiert. Denn die Waldbewohner glauben, dass Holz durchlässig ist und menschliche Gefühle wie Schmerz und Freude aufsaugt. Ein Haus oder ein Boot
aus dem Holz von Bäumen zu bauen, in die der Tod seine Wurzeln
geschlagen hat, ist ein Fluch für die Familie, die mit diesen Schwingungen der Gewalt in der Maserung, den Windungen und Knorren
leben muss, die wie menschliche Narben sind.
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1
G
racie Singh saß inmitten der Schatten ihres Salons. Sie war
eine schwere, massige Frau, und das über ihr Gesicht gleitende Licht unterstrich die erschlafften Konturen ihrer Züge. Ihr
Haar war kurz, von einem farblosen Grau, ehemals blond, und ihre
Garderobe hatte den etwas missglückten Zuschnitt des örtlichen
Schneiders. Ihre Hose lag an den Waden eng an und bauschte sich
über der Wölbung ihres Bauches. Infolge von Abnähern, an denen
noch die Kreidemarkierungen des Schneiders zu sehen waren,
spannte das pfauenfarbene Hemd an genau den verkehrten Stellen
über Gracies hängendem Busen. Sie schlief.
Sie träumt von einem Duft so schwer und vertraut, dass es ihr
die Kehle zuschnürt.
Ein Nebel aus erinnerten Geräuschen hängt über einer lautlosen Melodie. Gracie ist dreizehn Jahre alt und ist sich bewusst,
dass alle im Raum sie beobachten, begutachten, prüfen, ob man
ihr Unterhemd sieht, wenn sie die Arme hochwirft, oder ob ihre
Strümpfe rutschen. Sie hört das Klacken von Steppschuhen auf
den abgenutzten Dielen in der Aula ihrer Schule in der Starbeck
Road in Harrogate, eine fast verkümmerte Erinnerung an Yorkshire. Sie erkennt die Mischung aus Schweiß und dem Lilienduft
des Talkumpuders, den Miss Lane, die Stepplehrerin, so liebt. Sie
sieht, dass Miss Lanes tiefroter Lippenstift wie Blut in die Linien
um ihren Mund sickert, während sie ihre Schülerinnen mit lauter
Stimme über die Kunst des Stepptanzes belehrt. Klappern gehört
zum Fußwerk. Knöchel und stumme Traumtöne, wippendes Haar
und starre Gesichter huschen durch ihr schwankendes Gesichtsfeld.
Gracie Singh strauchelte am Abgrund ihres eigenen Atems,
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dieses Geräusch aus der Wirklichkeit weckte sie. Sie fuhr hoch und
stieß ein fast leeres Glas von dem kleinen Tisch neben ihr. Gintröpfchen rannen die Wand dahinter hinunter, während Gracie
die Luft über sich mit Schlägen traktierte.
Über sechzig Jahre waren vergangen, seit sie das letzte Mal gesteppt hatte. Miss Lanes vom Lippenstift getränkte Falten sah sie
im Traum vor sich, aber an das Gesicht ihrer Mutter konnte sie
sich nur noch wegen der Fotografien erinnern, die sie als eine Art
Wegweiser um sich herum aufstellte, um die Orientierung nicht zu
verlieren. Gänzlich aus Gracies Gedächtnis verschwunden war
hingegen der Klang ihrer Stimme, wenn sie ihre Tochter donnerstags nachmittags um halb fünf mondän in ihrem Kirby Moorside
von Miss Lanes Steppunterricht in der Starbeck Road abholte.
Damit pflegte sie sich zu beweisen, dass sie eine ebenso gute Mutter war wie alle anderen.
Gracie zwinkerte und blickte hinaus auf den Naginsee, der sich
jenseits ihres sich verengenden Horizonts erstreckte. In Abständen wurde das Krachen von Gewehrsalven aus der Stadt über die
Wasserfläche zu ihr herübergetragen, und ein kleines Boot, das die
Form eines aufwärtsgerichteten Pinselstrichs hatte, kreuzte ihr
Blickfeld.
Auf der anderen Seite des Sees, mitten in der Stadt, vor dem
Militärposten am Kupfermarkt, stürzte ein Junge zu Boden. Die
tödliche Kugel war direkt unter seinem Schlüsselbein ein- und
unterhalb seines Adamsapfels wieder ausgetreten. Um seinen
Leichnam herum war die Straße wie ausgestorben, doch hinter den
Sandsäcken übergab sich ein junger Soldat, verborgen vor den Blicken der Händler, die sich gleich stummen Einsiedlerkrebsen hinter ihre Kupferkesseltürme zurückgezogen hatten.
Der See blieb still.
Eine kleine Kaschmirin tauchte in der Tür von Gracies Salon
auf. Ihre hellen Augen folgten den Spuren des an der Holzvertäfelung hinunterrinnenden Gins, sahen das unter einen Stuhl gerollte leere Glas und Gracies von ihrem Nickerchen im Sessel
zerdrücktes flaumiges Haar.
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»Ich habe mein Glas runtergestoßen«, sagte Gracie, während
sie die Umgebung ihres Sessels danach absuchte. »Ich habe wieder
getanzt.« Sie hob es auf und hielt es der Frau, die stumm in der
Türe stand, entgegen.
Suriya schnaubte ein bisschen. Als Gracie sich abwandte,
klatschte die zierliche Frau in die Hände und schlang anschließend ihre kleinen Finger und die Daumen ineinander, während sie
die übrigen Finger wie Blütenblätter um die Handflächen abspreizte. Nach dieser Pantomime trat sie, ohne auf das Glas in
Gracies Hand zu achten, an die Fensterfront. Sie löste ihr Kopftuch, band es neu und schloss die Moskitogitter.
»Es gibt Lotuswurzeln zum Abendessen«, übersetzte Gracie und
schwenkte ihr Glas in die Richtung von Suriyas Rücken. »Kann
ich die auch mit masala gebraten haben?«
Die kleine Frau drehte sich nicht um.
»Der Lotus hat geblüht und ist verwelkt, und ich habe es nicht
mal gesehen. Oder doch, Suriya?«
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er Händler an der Ecke des Zaina-Kadal, des Kupfermarkts,
schickte seinen Sohn mit der Nachricht vom Tod des Jungen
zu dessen Familie. Doch ein Militärlaster fuhr auf den Markt und
wieder davon, hatte die Leiche abtransportiert, noch ehe der Sohn
des Händlers die Hälfte des Weges zum Haus des Toten zurückgelegt hatte.
Gracie, verwitwete Ex-Stepptänzerin, Ex-Engländerin und ExMutter, schien mit den Mogul-Mohnblumen auf der gemusterten
Wand hinter ihr zu verschmelzen. Suriya nahm ihr das Glas ab und
steckte es in die Tasche ihrer geblümten kamiz, einer Tunika, die
über einer mit einer Schnur zugebundenen Baumwollhose getragen wird. Gracie wandte sich zur Fensterseite und blickte hinaus.
»Mit neunzehn habe ich das letzte Mal gesteppt. Im Februar
werde ich achtzig.«
Suriya ging neben ihr in die Knie und streichelte einen von
Gracies Füßen.
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Gracie zupfte an der schlaffen Haut an ihrem Hals. »Einundsechzig Jahre ist das jetzt her. Weißt du, ich hätte nie gedacht, dass
ich so lange lebe. Nie gedacht, dass ich so viel Zeit auszufüllen
hätte.«
Suriya betrachtete den geschwollenen Fuß in ihrer Hand. Sie
konnte ihn sich nicht in einem Steppschuh vorstellen, wie immer
so einer aussehen mochte. Steppschuhe – das Wort klang zierlich
und adrett. Suriya erhob sich und strich über Gracies flaumiges
Haar, ehe sie anfing, ihr den Nacken zu massieren. Gracie schloss
die Augen.
Eine Stunde, nachdem der Junge erschossen worden war, begann vor dem Posten am Zaina-Kadal die Klage der Trauernden.
Das Blut auf der Straße war inzwischen dunkel und klebrig, wie
Kastoröl, und der Soldat hatte sich längst das Erbrochene von den
Stiefeln gewischt.
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rfan Abdallah, Suriyas siebzehnjähriger Cousin, kauerte in den
langen Schatten des Achterdecks unter einem der Stege zwischen der Wonder House und der dunga, dem alten Hausboot, auf
dem Suriya und ihre Tochter Lila lebten und arbeiteten. Er hatte
die Hand unter seinem kurta und wartete stumm, dass die drängende Woge seines Verlangens vom unteren Rücken in seine Lenden schoss.
Immer wieder blickte er sich um, besorgt, dass jemand das Keuchen hörte, das in seinem Kopf brauste. Direkt unter ihm rann ein
dünner Strahl Seifenlauge ins Wasser und zeichnete Inseln auf den
Schatten des Jungen.
Jenseits seiner Spitze beugte sich Lila über ihr Waschbrett und
seifte mit rhythmischen Bewegungen einen nassen Berg Kleider
ein, bis sie bläulich schäumten. Ihr shawl war ihr vom Kopf geglitten, und vor ihrem Gesicht schwang eine Haarsträhne im Takt
ihrer Bewegungen. Lila hob den Kopf und streifte sie mit dem
Handrücken beiseite. Irfan duckte sich.
Ihre Haut sah anders aus, wenn sie nass war, heller und glän11
zend. Forschend ließ er seinen Blick über ihr Gesicht gleiten. Wie
sie bei der Arbeit die Zähne in eine Seite ihrer Unterlippe grub.
Auch Irfan biss sich auf die Lippen. Durch das kalte Wasser hatten
sich ihre Unterarme mit einer leichten Gänsehaut überzogen. Als
Lila sich wieder nach vorn über die Wäsche beugte, glitt ihr Haar
zur Seite und gab ihren Nacken frei. Sein Blick fiel auf die feinen
Strähnen, die sich am Ansatz ihres Zopfes kräuselten, und er begann fester und schneller zu reiben. Er hielt den Atem an, während er ejakulierte, und warf mit geschlossenen Augen den Kopf
zurück.
Behutsam zog er die Hand unter dem kurta hervor und wusch
seinen Samen in Lilas Wäschestrudeln ab, voller Zufriedenheit,
dass etwas von ihm mit ihrer Seifenlauge davongespült wurde – so
war es beinahe eine gemeinsame Leistung.
Irfan wollte jetzt gehen. Seine Beine und sein Kreuz taten weh,
und er fröstelte. Als er aufschaute, fiel gerade wieder die Haarsträhne über ihr Profil. Sein Gefühl der Befriedigung verflog.
Beim Aufstehen strauchelte er. Lila sah hoch und direkt in sein
Gesicht. Er hastete davon, derweil die Scham an den Beinen seiner Hose zerrte.
»Irfan Abdallah, was kriechst du da unter den Laufbrettern
herum wie eine Ratte?«, schrie Lila ihrem Cousin hinterher.
Irfan hörte jedoch nur seine eigenen Schritte und das Keuchen
seines Atems, während er über das nasse Gras schlitterte.
»Irfan Abdallah!«, schrie Lila noch einmal.
Diesmal hörte er sie. Er blieb stehen und streckte ihr, bevor er
weiterrannte, die Zunge heraus. Lila sprang vom Achterdeck und
stopfte sich einen Zipfel ihrer Tunika in den festgeschnürten Hosenbund. Mit ihren nackten Füßen rutschte sie auf dem nassen
Gras nicht so leicht aus wie er in seinen Sandalen. Als sie ihn
beinahe eingeholt hatte, konnte sie ihn keuchen hören.
»Wenn ich dich erwische, gibt’s Prügel«, rief sie.
Er stolperte auf die Holztür in der Mauer zu, die die Uferwiese
vor der Wonder House vom Garten der Abdallahs trennte. Ein
Schauer von Kosmeeblüten, tropfnass vom nachmittäglichen
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Regen, fiel auf ihn nieder, als er die Tür hinter sich zuschlug und
sich dagegenstemmte.
»Und wie willst du das machen?«, flüsterte er, als sie sich mit
ihrem ganzen Gewicht gegen die Holztür warf. Abermals spürte er
den Stachel des Verlangens. Er spuckte in die Kosmeen.
Auf der anderen Seite lehnte sich Lila schweigend gegen die
Tür und betrachtete die wie ein Chinar-Blatt geformte Klinke. Ihr
Großonkel, Irfans Großvater, hatte sie zehn Jahre vor ihrer Geburt
selbst entworfen und gegossen. Sie streckte die Hand aus und berührte das Blatt, denn sie liebte den geschmeidigen Schwung des
Stiels und die sandig-rauhe Oberfläche des Blattes. Während sie
mit dem Finger seine mittlere Ader entlangfuhr, hörte sie, wie
Irfan in die Blumen spuckte. Lächelnd machte sie sich auf den
Weg die Uferwiese hinunter. Gegen einen der steinernen Pfeiler
gelehnt, sah Irfan ihr durch einen Spalt zwischen den beiden mittleren Brettern der Tür nach. Er drückte seinen Mund dagegen.
»Irfan, was hattest du am See zu suchen?«, rief Masud Abdallah, der ältere von Irfans zwei Onkeln. Er stand auf der oberen
Veranda des Hauses, die auf den Garten schaute. »Wer hat dich
geheißen, dort hinunterzugehen? Was hast du da unten gemacht?
Hat Gracie-Madam dich gerufen?«
»Ich sollte Tante Suriya etwas von Mutter ausrichten«, antwortete Irfan, ohne aufzuschauen.
»Sagst du mir auch die Wahrheit?« Masud beugte sich weiter
über das Geländer und rückte seine topi zurecht, während er zu
seinem Neffen hinuntersah. »Was ist los mit dir, Irfan? Komm her,
komm sofort ins Haus. Wenn du mich anlügst …« Er brach ab. Der
Junge war dermaßen widerspenstig, dass man die Nerven verlieren
konnte.
G
racie lebte seit zweiundzwanzig Jahren in Kaschmir. 1939 auf
ihrer Hochzeitsreise hatte sie das Tal zum ersten Mal besucht.
Achtunddreißig Jahre später war sie als Witwe zurückgekehrt, um
sich hier niederzulassen. Die Abdallahs waren Kaschmiren, und
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die Familie ihres Mannes kaufte seit Generationen ihre shawls und
ihren Safran bei ihnen. Gracie kam mit ihnen überein, hinter den
beiden Booten, die die Abdallahs an Touristen verliehen, von
ihnen einen Liegeplatz am Seeufer zu mieten. Sie zahlte gut, und
im Gegenzug kümmerten sie sich um sie.
Masud mochte Gracie, seit er ihr mit sechs Jahren zum ersten
Mal im Arbeitszimmer seines Vaters begegnet war. Damals waren
sie und ihr Mann genau zwanzig Jahre verheiratet gewesen und
hatten ihren Hochzeitstag erneut am See verbracht. Beim Tee
hatte sein Vater ihnen kaschmirische Liebeslieder vorgelesen, die
Masuds Urgroßvater geschrieben hatte, während ihr Mann sichtlich gelangweilt irgendwelche unsichtbare Fussel von seinem shawl
pflückte. Masud hatte zum ersten Mal eine Frau im Rock gesehen
und nie die Form ihrer Beine vergessen.
Achtzehn Jahre später schickte sein Vater ihn zum Flughafen,
um Gracie abzuholen. Er war vierundzwanzig und stolz auf seine
engen Jeans und das Päckchen Wills in seiner Gesäßtasche. Sie
war siebenundfünfzig und trug ein formloses graues Kleid. Von
ihren Beinen war nichts zu sehen. Da er sich genierte, ihr Blumen
mitgebracht zu haben, ließ er sie hinter eine Bank fallen. Auf der
Fahrt vom Flughafen erzählte Gracie ihm vom Tod ihres Mannes,
und Masud bereute, dass er die Blumen fortgeworfen hatte. Sie
rauchten gemeinsam eine Zigarette, und er brachte sie zum Lachen, indem er ihr von seiner Lieblingsbeschäftigung erzählte. Er
führte damals Trekkinggruppen für seinen Vater und mochte es,
hinter den Mädchen die Berge hinaufzusteigen, da er den westlichen Schwung ihres Gangs bewunderte.
In den seither vergangenen zweiundzwanzig Jahren waren Freiheiten wie Jeans, Whisky und der Hüftschwung von Touristinnen
dem Konflikt im Tal zum Opfer gefallen, und Gracie war für Masud
zu einer Brücke zwischen seinem alten und seinem neuen Leben
geworden.
Wieder stützte er sich auf das Verandageländer. Die Touristen
mochten verschwunden sein, aber zumindest Gracie und Zigaretten der Marke Wills waren ihm geblieben. Auf der Wonder House
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konnte er rauchen und, anders als zu Hause bei seiner Familie, frei
sprechen.
Er nahm sich vor, mit Gracie über Irfan zu reden. Der Junge
bereitete ihm Sorgen. Als amtierender Patriarch der Familie war
es seine Aufgabe, sich Sorgen zu machen. Der Junge erinnerte
Masud an sich selbst, als er im gleichen Alter war. Auch er war
ständig hinter Mädchen her und aufsässig gegenüber seinem Vater
und seinen Onkeln gewesen. Allerdings war es in seiner Jugend
ungefährlicher gewesen, sich die Hörner an den Mauern der Autorität abzustoßen. Im Gegensatz zu heute.
Gerade erst hatte man auf dem Markt einen Jungen erschossen,
am Tag zuvor auf der Baramulla Road eine Mutter mit ihrem Sohn,
und am Montag war es in einem Dorf, in dem sie in seiner Kindheit häufig Picknicks veranstaltet hatten, zu einem Blutbad gekommen: zwölf Tote, acht Verletzte.
Masud tastete in der Innentasche seines pheran nach den Zigaretten und rief nach einem der house boys, um ihm zu sagen, dass
er für eine Weile zum See hinuntergehen würde.
Irfan stand am Rand des Gebetsraums für die Frauen neben der
Küche und beobachtete, wie sein Onkel den Pfad hinunter zum
Gartentor ging. Seine Mutter Fahima brachte einen Teller Kekse
aus der Küche. Er machte eine unwirsche Schulterbewegung, so
dass sie mit der Zunge schnalzte und zurückwich.
Lila war an ihr Waschbrett zurückgekehrt und schrubbte erbittert, während Masud durch das nasse Gras schritt, den Saum seines
pheran behutsam zwischen Finger und Daumen haltend, um ihn
vor Wassertropfen zu schützen. Als er näher kam, blickte sie auf.
Sie verbannte die Anspannung aus ihrem Gesicht und setzte eine
sanftere Miene auf, zügelte ihren Zorn und zog ihren shawl weiter
über den Kopf.
»Salaam alaikum, guten Abend, Onkel.«
»Alaikum salaam, es wird dunkel. Du solltest längst im Haus
sein.« Masud sah die Gänsehaut auf ihren Armen.
»Ich gehe hinein, sobald ich mit der Wäsche fertig bin.«
»Gut.« Er zögerte.
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