Dualität, Spiegel und Symmetrie in Stanley Kubricks „The Shining“

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Dualität, Spiegel und Symmetrie in Stanley Kubricks „The Shining“
Dualität, Spiegel und Symmetrie in Stanley Kubricks „The Shining“
Seminararbeit in Technologie- und Medientheorie
im Jänner 2004 bei Prof. Dr. Robert Riesinger
von Ursula Feuersinger
INHALT
1 EINLEITUNG.................................................................................................... 3
2 DUALITÄT IN FIGUREN .................................................................................. 4-6
2.1 Danny und Tony....................................................................................... 4
2.2 The Caretaker .......................................................................................... 5
2.3 Die Grady Sisters ..................................................................................... 6
3 DUALITÄT IM RAUM - DAS LABYRINTH UND DER HOHE RAUM............................ 7
4 DUALITÄT IN DER PERSPEKTIVE - NÄHE UND VERLORENHEIT .............................. 7
5 LABYRINTH ALS SPIEGEL................................................................................... 8
6 DUALITÄT IM SCHNITT ..................................................................................... 9
7 DUALITÄT IN BILD UND SYMBOLIK - WEITERE SPIEGELKONSTRUKTIONEN ...... 9-11
7.1 Frühstück ................................................................................................. 9
7.2 Bar ......................................................................................................... 9
7.3 Zweiseitige Frau in 237 .......................................................................... 10
7.4 Der Gang zur Party ................................................................................ 10
7.5 Murder - Redrum .................................................................................... 10
8 MUSTER - ÄSTHETIK ....................................................................................... 11
9 LITERATUR ..................................................................................................... 13
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1 EINLEITUNG
„Schon immer lag bei Kubrick das Chaos in den Sujets im Widerstreit
mit dem fanatischen Ordnungssinn der Inszenierung. In [..]The Shining
hat diese Spannung Früchte getragen: Schöner, perfekter wurde nie vom
Zusammenbruch der Ordnung erzählt.“ (www.zeit.de, Kilb)
Elemente dieser konstruierten Ordnung - Dualität, Spiegel und Symmetrie
- sind Inhalt dieser Analyse des Films The Shining von Stanley Kubrick.
The Shining entstand nach einem Roman des Autors Stephen King. Es
ist ein Horrorfilm - doch eher im dem Sinne, wie viele Kubrick-Filme (Dr.
Strangelove, 2001, Clockwork Orange und Barry Lyndon) „Horrorfilme“
sind: erschreckend düstere Visionen vom Untergang und den Zerstörungen
des Menschen. Von den dunklen Seiten der Seele. „Eines der Dinge die
Horrorstories erreichen können“, so Stanley Kubrick, „ist beispielsweise,
uns das Urbild des Unbewussten vor Augen zu führen.“ (Vgl. Thissen
1999)
Der Film handelt von einem starken, persönlichen Konfikt im Leben
des Protagonisten, eines selbstquälerischen, zurückgezogen lebenden
Schriftstellers names Jack Torrance (gespielt von Jack Nicholson), der
vergeblich auf einen kreativen Schub wartet. Er übernimmt den Job des
Hausmeisters in dem riesigen, einsam in den Rocky Mountains gelegenen
Overlook Hotel während der Wintermonate. Mit ihm kommen seine Frau
Wendy (Shelly Duvall) und sein fünfähriger Sohn Danny (Danny Lloyd). Der
kleine Danny verfügt über eine spezielle psychische Sensibilität, die ihm
Blicke in Vergangenheit und Zukunft ermöglicht. „Shining“ nennt es der
abreisende schwarze Hotelkoch, der ebenfalls über diese Gabe verfügt
und ihm erklärt, dass Ereignisse der Vergangenheit Spuren hinterlassen
und ihn vor ihren Gefahren warnt. Jack verwandelt sich von einem
Familienvater in einen Familienmörder...
The Shining wurde trotz oder gerade wegen seines kommerziellen
Potentials am Anfang negativ aufgenommen. Empfanden die einen
Kubricks Talente an einen allzu trivialen Stoff vergeudet, so sahen die
anderen (einschließlich des Autors Stephen King selber) den Film als
Verfehlung von Inhalt und Geist seiner Vorlage. Erst Jahre später erkannte
man, dass Kubrick in The Shining villeicht ebenso radikal über das Genre
Horror nach- und hinausgedacht hatte wie in 2001 über die Science
Fiction. Wegen des anfänglichen Misserfolges kürzte Kubrick seinen
Film zunächst zwei Tage nach der Uraufführung in den USA und für die
Auswertung in Europa nahm er noch einmal 22 Minuten aus seinem Film.
(Vgl. Seesslen/Jung 1999, 22)
Diese Arbeit basiert auf der europäischen Version des Films, mit der
Wiedergabezeit von 120 Minuten, im englischen Originalton.
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2 DUALITÄT IN FIGUREN
Das Motiv der Dualtiät erscheint in den Figuren in The Shining. Danny
kann durch Tony in die Vergangenheit und Zukunft blicken („he shines“),
sein Vater Jack erscheint „doppelt“ - als Jack Torrance der Gegenwart und
als der „Caretaker“ der „schon immer“ im Hotel war. Die Grady Sisters
tauchen als symmetrische Horrorvision auf.
2.1 Danny und Tony
In der ersten Sequenz des Films („The Interview“ - Das
Vorstellungsgespräch von Jack im Hotel) werden zwei Szenen im Haus
der Torrances zwischengeschnitten. Sie dienen der Exposition der
Hauptfiguren neben Jack - seine Frau Wendy und Danny. In der zweiten
Szene wird Dannys Gabe des zweiten Gesichts, das Shining (in einer
Spiegelszene) zum ersten Mal sichtbar.
Die Kamera fährt langsam den Gang im Haus der Torrances entlang,
wir sehen Danny über dem Waschbecken lehnen. Sein Kopf ist nicht
sichtbar aber zwei Stimmen aus dem Off sind zu hören. Schnitt. Wir
sehen zwei Dannies - einer der in den Spiegel blickt und die Reflexion, uns
zugewandt. Ein Close-Up auf den Spiegel folgt. Danny spricht mit seinem
„Freund“, der ihm mitteilt, Daddy habe die Stellung schon und werde
gleich anrufen. Und so geschieht es. Danny steht vor dem Spiegel und
bittet Tony ihm zu erklären, warum er nicht mit in das einsame Hotel wolle.
Als Antwort kommt das Bild einer roten Flutwelle, die aus dem Fahrstuhl
heranschwappt, die Lobby überflutet, die Möbel mit sich reißt. Dieses Bild
wird wiederkehren, und jeweils wird der Wahn ein neues Stadium erreicht
haben. Es ist das Leitmotiv des Films. Kurz sehen wir zwei Mädchen,
Hand in Hand, das entsetzte Gesicht Dannys, bis die Blutwelle das Bild
verdunkelt hat.
Was in einer Person verborgen ist, das tritt in ihrem Doppelgänger, ihrer
Spiegelung zutage. Tony, das imaginäre andere Ich des Jungen Danny
sieht, was Danny selbst nicht sehen kann. Und schließlich wird der
Doppelgänger zu einer Instanz der Wahrnehmung; während der eine
eher dem Es zugehörig erscheint - körperlich und handelnd - ist der ander
dem Über-Ich zugewandt, er wird zu einer Instanz des Verbotes und der
Kontrolle. Tony verbietet Danny über gewisse Dinge zu sprechen. (Vgl.
Seesslen/Jung 1999, 41)
Danny verleiht seinem imaginären Begleiter Tony in den Bewegungen
seines Fingers und mit verstellter, krächzender Stimme Ausdruck. Er
verwendet den Zeigefinger (ein Fingerzeig auf die Zukunft?) und seine
zwei Gesichter werden im Spiegel bildmächtig sichtbar. Der Blick des
Kindes offenbart das verborgene Böse des Ortes.
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2.2 The Caretaker
Jack verfällt mehr und mehr dem Wahnsinn. In einer Schlüsselszene (in
der Sequenz „Wednesday“), in der futuristisch anmutenden, rot-weißen
Herrentoilette, spricht er mit Delbert Grady und konfrontiert ihn damit,
dass doch er es sei, der seine Frau und Töchter getötet hat, als dieser (als
Charles Grady) vor einigen Jahren der Hausverwalter des Overlook über
den Winter war.
Grady: “That’s strange, sir. I don’t have any recollection of that all.”
Jack: “Mr. Grady. You were the caretaker here.”
Grady: “I’m sorry to defer with you, sir. But you are the caretaker. You’ve
always been the caretaker. I should know, sir. I’ve always been here.”
Die Kamera wechselt hier zuerst von einer Habtotalen, die beide Personen
zeigt, auf eine Nahaufnahme von Jack, mit rotem Hintergrund. Dann der
Schnitt auf auf eine Nahaufnahme von Grady, er befindet sich vor einem
Spiegel der Herrentoilette, der zwischen zwei Lichtquellen befestigt ist.
Jack steht hier einer Art zweitem Ich, einer Inkarnation gegenüber, wie der
Spiegel mit den Lichtern untermalt. Er erfährt dass er „doppelt“ existiert, in
zwei Zeitebenen.
Zur Organisation von Zeit und Raum in The Shining: „Der ständigen
Abnahme des ‚objektiven‘ Raumes und der objektiven Zeit (von den
Bergen zum Hotel und schließlich zum Labyrinth; von den Monaten zu
Tagen und schließlich zu Stunden) entspricht eine Erweiterung der Zeit und
des Raumes im Subjektiven (Michel Climent). Die Zeiten sind nicht einfach
nur durcheinandergeraten; mehrere Schichten von Biographien und
Historie überlagern sich, in einer Art der inneren Match-Cuts.“ (Seesslen/
Jung 1999, 244)
Grady erinnert Jack dann an seine „Verantwortung“ und macht Jack zum
Mörder, zur Wiederkehr des schwarzen Vaters. Jack ist Caretaker aber
unfähig „to take care“ im positiven Sinn. “I coorected them”, umschreibt
Grady den Mord an seiner Familie.
“Wussten Sie, Mr. Torrance, dass Ihr Sohn im Augenblick versucht, einen
Fremden in diese Angelegenheit zu ziehen? - Enen Nigger!“ Grady wird
zum Ideologen, zum Faschisten in Jacks Seele. (Vgl. Seesslen/Jung 1999,
243)
Kubrick überschneidet übrigens niemals, wie auch in dieser Szene, Bild
und Dialog.
Als Jack Torrance am Ende stirbt, könnte man sagen, dass diese Szene
fortgesetzt wird. Das Ende des Films ist zugleich Spiegelung und
Transition.
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Wir fahren auf eines der Bilder im Salon des Hotels zu, das eine fröhliche
Ballgesellschaft zeigt, und einer der fröhlichsten Besucher ist ein junger
Mann im Vordergrund, mit einem Grinsen. Auf dem Foto steht „Overlook
Hotel, July 4th Ball 1921“. Jack Torrance wird Teil eines Bildes, oder,
anders gesagt: Teil der Geschichte, die nicht mehr vergeht, sondern als
immer wiederkehrendes Zeichen immer ähnliche Automatismen auslösen
wird. Jack erlebt seine Rettung nicht in seiner eigenen Geschichte, er
verschwindet vielmehr aus seiner eigenen Geschichte und taucht in einer
neuen wieder auf. Er muss am Ende seiner Geschichte sterben um dann in
einem Bild aus einer anderen Zeit wieder aufzutauchen.
Das Ende ist gleichzeitig ein Hinweis auf den Independence Day, den
wir nicht nur als „Unabhängigkeit“, sondern auch als Möglichkeit eines
Beginns für jenes Amerika sehen können, das sich im Spiegel des
Overlook-Hotels so radikal demaskierte. (Vgl. Seesslen/Jung 1999, 62)
2.3 Die Grady Sisters
Das Bild der Grady Sisters erscheint Danny in verschiedenen Szenen.
Zuerst sieht er sie flüchtig in seinem ersten Shining-Moment (zu Hause im
Badezimmer), dann als er im Spielraum des Hotels Dartpfeile wirft. Sie
stehen da, sehen Danny an, drehen sich (synchron) um und gehen. Zum
dritten Mal (in der Sequenz Samstag) ist Danny wieder mit dem Dreirad
auf Erkundungstour (auf einer anderen Ebene des Labyrinths - im Keller).
Die Kamera folgt ihm nicht mehr so nahe wie in früheren Szenen, sie droht
ihn fast zu verlieren. Erst in der nächsten Einstellung ist sie wieder bei ihm.
Am Ende des Ganges erwarten ihn die beiden Mächen, die mit hallenden
Stimmen sagen „Hello Danny, Come and play with us. Come and play
with us, Danny.“. Während sie früher nur als kurze Bilder aufflammten,
erscheinen sie nun fast wie real. Dann aber kommt das Bild der Getöteten
in ihrem Blut liegend, vor ihnen liegt eine überdimensionale Axt. Als sie
näher kommen fügen sie hinzu: „for ever, and ever, and ever.“ (In einer
anderen Szene später, sagt Jack zu Danny ebenfalls “I wish we could stay
here for ever, and ever, and ever.” Danny erwidert: “Dad, you will never
hurt mom and me, would you?”).
Entsetzt schlägt Danny die Hände vor die Augen und sieht dann doch
wieder durch die gespreizten Finger - die Mädchen sind verschwunden.
„Tony, I‘m scared.“
Etwas Unnatürliches ist in der Symmetrie der Mädchen - sie sind nicht
identisch. Es scheint als wären sie gezwungen gleich auszusehen, obwohl
sie 8 und 10 Jahre alt sind - also zwei Jahre Unterschied besteht. Diese
gezwungene Symmetrie ist wahrscheinlich beunruhigender als eineige
Zwillinge oder die Präsenz nur eines Mädchens wäre.
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3 DUALITÄT IM RAUM - DAS LABYRINTH
UND DER HOHE RAUM
In The Shining gibt es zwei generelle Raumerfahrungen: das Labyrinth und
der hohe Raum.
Das Labyrinth, das den Menschen in immer raschere Bewegung versetzt
(eine Raumanordnung, die den Menschen buchstäblich zu Tode hetzen
möchte), wie das Hecken-Labyrinth oder die endlosen Gänge im Overlook.
Im Labyrinth beginnt man, je mehr man fürchtet sich zu verirren, zu rennen,
obwohl man wissen muss, dass man damit seine Chancen keineswegs
herhöht, den Ort verlassen zu können. Je labyrinthischer der Ort (und die
Situation), desto schneller die Bewegungen.
Auf der anderen Seite gibt es den hohen Raum, den Saal, in dem der
Mensch nur zum Stillstand kommen kann: die gigantische Empfangshalle
des Hotel Overlook, die sich Jack zu seinem Arbeitsplatz erkoren hat.
Das Labyrinth und der hohe Raum sind einander nur in ihrer
Lebensfeindschaft verwandt; der Übertritt von einen zum anderen bewirkt
nur die Spiegelung der Probleme, was sich im hohen Raum entzieht, das
konzentriert sich im Labyrinth. Wie in der Beziehung zwischen der Trägheit
und der Dynamik und wie in der Beziehung zwischen Determination und
Freiheit, so gibt es auch eine Beziehung zwischen dem geschlossenen und
dem offenen Raum, dem Labyrinth und dem hohen Saal, die eine eigene
Transzendenz hervorbringt: Es ist der Raum, der sich selber ausdeht oder
öffnet. Er ist zum anderern ein sich verengender, saugender Weg, wie
die Gänge des Hotels Overlook, die immer wieder neue überraschende
Wendungen annehmen. (Vgl. Seesslen/Jung 1999, 45)
4 DUALITÄT IN DER PERSPEKTIVE NÄHE UND VERLORENHEIT
Dualität ist auch in der Kameraperspektive in The Shining erkennbar: in
extremer Nähe und extremer Verlorenheit.
Menschen erscheinen winzig, zum Verschwinden verurteilt, gegenüber zB
der erhabenen Berge in The Shining. Sie sind wie kleine, verlorene Punkte.
Am Beginn von The Shining steht die Erkenntnis von der Kleinheit des
Menschen.
„Die Berge lassen einen an die Schönheit der Eisamkeit denken, noch
ohne eine Ahnung von ihrem Schrecken zu geben. In der Eröffnunszene
wird die harmonische Atmosphäre jedoch bald von einer beunruhigenden
Erscheinung gestört: Das winzige Auto von Jack Torrance, auf das man
von weit oben herabblickt, kriecht wie eine Made durch das Paradies auf
ein mächtiges Bollwerk zu: Das Hotel Overlook.“ (Thissen 1999)
Wie Punkte erscheinen auch Wendy und Danny im Labyrinth.
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Gleichzeitig verwendet Kubrick extreme Close-ups von intensiven
emotionalen Gesichtern, sowie Groß- und Nahaufnahmen. Die nahste
Einstellung hat der schwarze Koch Hallorann, als er die die Zukunft von
Jack im Raum 237 sieht.
Wenn ein Mensch in Kubricks Film das Zentrum des Bildes erobert, zerfällt
er auch schon, wird Auge, Schrei oder ähnliches.
Diese „Trademark“ in der Filmsprache Kubricks, der Wechsel von
höchster Distanz und höchster Intimität (wenn seine Menschen von der
Entfernung zur Nähe kommen, erscheint dies immer als verzweifelter
Angriff, ein Angriff auch auf unserern Blick), macht das auch ein
eventuelles Hauptproblem deutlich das Kubrick in einem schönen,
lapidaren Satz erläutert: „Mangelhafte Verständigung ist ein Thema das
sich in einigen meiner Filme wiederfindet.“ (Vgl. Seesslen/Jung 1999 und
www.imdb.com)
5 LABYRINTH ALS SPIEGEL
In Hote Overlook werden die Korridore - ein von Kubrick bevorzugtes
Element zur Bildgestaltung - wie das Sternentor in 2001, zu Übergängen in
eine andere Welt.
In The Shining tragen die langen, leeren und hellen Korridore des
einsamen, eingeschneiten Hotels wesentlich dazu bei, dass die dunklen
Seiten der Seele des Protagonisten ans Licht kommen. Eine wichtige Rolle
spielen auch die verwirrenden Gänge (Korridore) eines riesigen, aus
Hecken gestalteten Labyrinths, das vor dem Hotel liegt. Das englische Wort
für Korridor, „passageway“, macht die Implikationen und Konnaotationen
dieses von Kubrick so häufig visuell verwendeten Topos noch deutlicher: Es
handelt sich oft nicht nur um eine Passage zwischen Räumen, sonder auch
zwischen Zeiten und vor allem zwischen seelischen Zuständen. Das macht
das Labyrinth ferner zu einer Art geistigen Spiegel. (Vgl. Thissen 1999,
177)
„Es ist ein beängstigendes System der Desorienteirung (des Raumes und
der Zeit), der Dissonanz (bestärkt durch die Musik von Bartók, Ligeti und
Pnderecki) und der Distanzierung (des Zuschauers). [...] Mit suggestiven
Kamerafahrten durch das klaustrophobische Kontinuum der Korridore,
durch die Gänge des verschneiten Irrgartens. Eine perfekte Geometrie des
Grauens.“ (Thissen 1999, 178)
(Apropos suggestive Kamera: Die Steadicam-Fahrten des Films wurden
berühmt. Kubrick engagiert dafür eigens Garrett Grown, den Erfinder
der Steadicam. Oft wurde die tragbaren Kamerahalterung, die die
Bewegungen des Kameramanns ausgleicht und lange, elegante Fahrten
erlaubt, etwas niedriger angesetzt, um aus der Perspektive Dannies drehen
zu können. (Vgl. Walker 1999, 287))
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6 DUALITÄT IM SCHNITT
Ein besonderer Schnitt ist im vorher genannten Zusammenhang mit dem
Motiv des Labyrinths auffallend. Durch eine Überblendung erfolgt die
Verknüfung des realen Labyrinths und seines Modells.
Danny und Wendy laufen in das Hecken-Labyrinth vor dem Hotel, zu dem
wir den komplizierten Plan, eine weitere Verdoppelung - vor dem Eingang
sehen. Wir verfolgen sie ein wenig, so wie Danny bei seinen Fahrten. Ihre
Schritte werden langsamer. Eine Überblendung verbindet die Bewegung
der beiden mit der von Jack Torrance, der immer noch mit seinem Ball
die Zeit tot schlägt und schließlich an ein Modell des Labyrinths tritt, das
auf einem Tisch aufgebaut ist. Er sieht von oben hinein, es scheint nun
weitläufiger, als auf dem vertikalen Plan, beinahe endlos. Die Gestalten,
die Jack in dem Modell sieht, laufen gerade im Zentrum umher, rettungslos
verloren.
Jack Torrance sieht auf das Modell des Labyrinths, in dem sich seine Frau
und sein Sohn befinden, wie ein Schachspieler auf das Brett, in bösem
Triumpf, aber zugleich so gebannt, dass er die Spieler nicht mehr sieht.
Nicht das Labyrinth ist so grausam sondern der Blick des potentiellen
Mörders darauf.
7 DUALITÄT IM BILD UND SYMBOLIK WEITERE SPIEGELKONSTRUKTIONEN
The Shining ist außer den bereits genannten Szenen gespickt von Spiegeln.
Kubrick setzt sie im Weiteren oft in in Verbindung mit Jack und auch den
„Geistern“ des Hotels ein.
7.1 Frühstück
Diese Szene in der Sequenz „One Month later“ zeigt eine Form der
Entzweiung: Wir sehen auf den schlafenden Jack, die Kamera fährt in
der bekannten Fahrt zurück; Wendy kommt mit einem Servierwagen ins
Zimmer, aber als sie sehr freundlich sagt „Good morning, honey; your
breakfast is ready!“, wendet sie ihren Kopf in die entgegengesetzte
Richtung und als die Kamera erneut zurückfährt, erkennen wir, dass wir
auf das Spiegelbild von Jack gesehen haben.
7.2 Bar
In der Sequenz „Wednesday“ macht sich Jack auf den Weg in den Salon,
an die erleuchtete, jedoch leere Bar des Hotels, deren Rückwand aus
drei, von Lichtern umrahmten Spiegeln besteht. „Ah.. I‘d give anything
for a drink.. my god damned soul... just a glass of beer...”. Er schlägt
verzweifelt die Hände vors Gesicht - ähnlich der Bewegung Dannys, und
als er sie wieder aufschlägt, scheint er in einer anderen Rolle, in einer
anderen Wirklichkeit (er blickt dabei direkt in die Kamera). Der Barkeeper
steht vor ihm, den er sogleich mit seinem Namen, Lloyd anspricht. Jack
ordert eine Flasche Bourbon.
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7.3 Zweiseitige Frau in 237
Später im Kapitel „Wednesday“ betritt Jack das Zimmer 237. Schon
beim Eintritt wird ein weiterer Spiegel, der einen Teil des Raums reflektiert
sichtbar. Wir gelangen durch das Wohnzimmer ins Badezimmer, dessen
Tür von einer Hand geöffnet wird. Jack sieht hinein: Der Vorhang vor der
Badewanne wird beiseite geschoben, eine nackte junge Frau erhebt sich,
Jacks Gesichtsausdruck verwandelt sich von Anspannung zu Gier. Die
Frau kommt auf ihn zu. Während er sie küsst, blickt er in den Spiegel;
dort erkennt er, dass er nicht eine junge Frau, sondern einen alten,
verfaulenden Körper hält; ein gellendes Lachen ist zu hören. Die tote
Frau liegt (ertrunken?) in der Badewanne. Jack weicht zurück, die alte
Frau hinter ihm her. Es gibt sie offenbar zweimal; als in der Badewanne
liegende Leiche und als Jack verfolgender „Geist“. Es gelingt ihm, die Tür
zu verschließen. Das Lachen gellt nach.
Wenn sich das Paar umarmt, verlieren sie sich aus dem Blick, sie sind an
einem Punkt, an dem sie sich zugleich am nächsten und am fernsten sind.
Die Umarmung der Frau verwandelt sich in die Umarmung des Todes. Dies
ist scheint also das Geheimnis des Raums 237 zu sein: die Begierde des
Vaters und der Tod.
„Das Badezimmer ist eine perfekte Metapher für den vergeblichen Versuch
des Menschen, seinen Körper zu zivilisieren.“ (Seesslen/Jung 1999, 55)
7.4 Der Gang zur Party
Kurz bevor Jack mit Grady dann auf der Herrentoilette spricht, in der
Sequenz „Wednesday“ wird Jack von Stimmen und Musik in den Salon
gelockt, in dem ein rauschendes Fest stattfindet. Der Gang vor dem Saal
ist auf einer Seite mit einer Reihe Spiegel geschmückt.Wir befinden uns zu
Beginn der zwanziger Jahre, in der Gründerzeit des Hotels. Jack trifft zum
zweiten Mal Lloyd, den Barkeeper, diesesmal in einem menschenerfüllten
Raum und bestellt einen „Boubon on the Rocks“.
Wiederum sind die Spiegel hier eine Referenz auf eine Art Zeitsprung. Die
Anzahl der Spiegel verweist unter Umständen auf die vielen „Geister“ die
im Festsaal sichtbar werden.
7.5 Murder - Redrum
In der Sequenz „4 p.m.“ nähert sich Dany dem Bett seiner schlafenden
Mutter; Tony spricht aus ihm: „Redrum“ wiederholt er, „Redrum“. Und
Danny ergreift das Messer, das sich Wendy zur Verteidigung auf den
Nachttisch gelegt hat. Er nimmt, nachdem er sich mit diesem Messer über
den Finger gefahren ist, einen Lippenstift seiner Mutter und schreibt das
spiegelverkehrte „Redrum“ an die Tür.
Auf den Mord, der in der Luft liegt, könnte das ebenso verweisen wie
auf den Red Room, der rote Waschraum, in dem sich die verhängisvolle
Begegnung Jacks mit Grady abspielte.
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Je heftiger Danny das Wort wiederholt, desto mehr verwandelt sich die
Stimme Tonys in die von Danny. Wendy erwacht. Sie blickt auf die Schrift
und liest sie im Spiegel richtig herum: „Murder“. Und da steht Jack vor der
Tür, mit einer Axt.
Der Umsturz der Ordnung beginnt mit Schriftzeichen, die das kommende,
schreckliche Ereignis ausbuchstabieren. Die rote Schrift steht noch dazu im
Querbalken eines Kreuzes. Das Kreuz ergibt sich aus dem Holz-Relief der
Tür, es verweist wiederum auf den Tod.
Generell kann man in Kubricks Gebrauch der Spiegel zwei Unterscheidungen treffen: der Spiegel wird entweder als Hintergrund verwendet, der
meist auf „Geister“ verweist, oder die Kamera filmt direkt das Spiegelbild,
wie die Spiegelszene Dannys (eigentlich Tonys), Jack beim Frühstück oder
die Umarmungszene Jacks mit der Frau im Zimmer 237.
Das Spiegelbild zeigt die zweite Persönlichkeit der Person davor.
Jack begegnet in den Spiegelungen seinem „Schatten“, seinen eigenen
Dämonen. Wir sehen ihn als gewalttätigen Narziss, der sein Spiegelbild
verloren hat und es zu rekonstuieren versucht. Der narzisstische Mensch
hat keine Seele, er ist innerlich so leer wie der angebliche Schriftsteller
Jack. Kubrick macht aus diesem Motiv ein expressives Spiel mit dem Hell
und Dunkel. Die narzisstische Person ist zugleich eine ideale cineastische
Figur; sie scheint automatisch nicht allein ins Zentrum der Handlung zu
streben, wie der „Held“, der seine Aufgabe, seinen Weg und sein Opfer
sucht, sondern im Gegenteil im Zentrum des Bildes jenen Spiegel zu
suchen, in dem sie sich nur erfahren kann. Aber der „Doppelgänger“
ist nicht nur Abwehr und Gegenwart des Todes, nicht nur narzisstische
Selbstvergewisserung eines Menschen, der keine Beziehung von Ich
und Welt zustande bringt, sondern auch Projektion und Schuld und der
verborgene Impulse wie beim berühmten Mr. Hyde des Doktor Jekyll. (Vgl.
Seesslen/Jung 1999, 41, 65)
8 MUSTER - ÄSTHETIK
Omnipräsente Elemente in The Shining sind die Muster in der Einrichtung
des Hotels, sowie natürlich die generelle Ästhetik in diesem Film.
„Der Ästhetizismus bei Kubrick ist kein Selbstzweck, sondern eine
besondere Form der Spiegelung. Ihre Schönheit ist nicht nur Kontrast zur
„schwarzen“ Aussage, sie ist die Erweiterung der Empfindung, der, nach
dem Tod der Götter und nach dem Verschwinden der großen Erzählungen,
einzig verbliebene Raum der Transzendenz.“ (Seesslen/Jung 1999, 44)
Eine Interpretation der am Boden oder an Wänden sichtbaren,
geometrischen, symmetrischen Muster ist der Verweis auf den Boden, auf
den das Hotel Overlook gebaut ist: auf einem Indianerfriedhof.
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The Shining ist demnach eine Geschichte über den Mord der
amerikanischen Ureinwohner und die Konsequenzen dieses Mordes.
Belege dieses Auslegung finden sich zB in den Calumet-Dosen (sie Zeigen
die Büste eines Indianers; Calumet entspricht ferner dem indianisches
Wort für Friedenspfeife), die im Vorratsraum des Hotels aufbewahrt
werden und in einer Einstellung, direkt neben Hallorann, dem schwarzen
Koch, auftauchen. In einer anderen Szene werden diese Dosen neben
Jack sichtbar, als er im Vorratsraum eingesperrt ist. Hallorann entspräche
sozusagen dem „Opfer“ und Jack dem „Täter“.
In der Sequenz „Interview“ erklärt der Manager des Hotels, Stuart Ullman
(auf seinem Schreibtisch befindet sich eine kleine USA-Flagge): „It‘s still
hard for me to believe it actually happened here, but it did.“ Konkret
spricht er hier über den Mord Gradys an seiner Familie, als er früherer
Hausverwalter im Overlook war. Im weiteren Sinne könnte hier von den
Problemen Amerikas mit der Bewältigung seiner Vergangenheit die Rede
sein. (Vgl. www.drummerman.net/shining, Blakemore)
Die verschachtelten, symmetrischen Muster entsprechen ebenso
der Bedeutung des Labyrinths (siehe Labyrinth als Spiegel), in
zweidimensionaler Form, indem die Protagonisten „gefangen“ sind.
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9 LITERATUR
Seesslen, Georg/Jung, Fernand (1999): Stanley Kubrick und seine Filme.
Marburg: Schüren (in Zusammenarbeit mit ARTE Deutschland)
Walker, Alexander (1999): Stanley Kubrick Leben und Werk. Berlin:
Henschel Verlag
Thissen, Rolf (1999): Stanley Kubrick, Der Regisseur als Architekt.
München: Heyne
www.zeit.de/archiv (3. 1. 2004) Kilb, Andreas: Unsägliche Schaulust Verloren in Raum und Zeit, Stanley Kubricks letzter Film „Eyes Wide Shut“.
www.imdb.com (3. 1. 2004): Biography of Stanley Kubrick, Trade mark.
www.drummerman.net/shining (7. 1. 2004) Blakemore, Bill: The Family of
Man. (Copyright 1987, San Francisco Chronicle)
Anmerkung:
Diese Arbeit stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Vielmehr soll sie
einen Überblick über die vielen vielschichtigen Dualitäten, Spiegelungen
und Symmetrien im Film geben.
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