Formen und Ursachen von Online-Abhängigkeit sowie Hinweise für

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Formen und Ursachen von Online-Abhängigkeit sowie Hinweise für
Formen und Ursachen von
Online-Abhängigkeit
sowie Hinweise für
Betroffene und Angehörige
Ein großer Dank geht an Familie Hirte
und die Helfer von
aktiv-gegen-mediensucht .de,
die mich stets unterstützt haben.
Inhaltsverzeichnis
Vorwort..................................................................................III
Literaturverzeichnis.............................................................V
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit.......................1
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5
Internet in Deutschland......................................................1
„Geburtsstunde“ der Online-Abhängigkeit..........................3
Erste Forschungen.............................................................4
Aktueller Stand der Wissenschaft.......................................6
Online-Abhängigkeit als eigenständige Krankheit?..........12
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt...........................17
2.1
2.2
2.3
2.4
2.5
Sucht und Abhängigkeit....................................................17
Belohnungszentrum und Dopamin...................................19
Vom Hobby zur Sucht.......................................................23
Wege in die Sucht............................................................27
Co-Abhängigkeit...............................................................34
3. Mögliche Folgen von Online-Abhängigkeit.................37
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
soziale Folgen..................................................................39
körperliche Folgen............................................................39
volkswirtschaftliche Folgen...............................................39
zivilrechtliche Bewertung..................................................39
strafrechtliche Bewertung.................................................40
Extremfälle.......................................................................40
4. Formen der Online-Sucht...............................................42
4.1 Online-Spielsucht.............................................................42
4.2 Online-Sexsucht...............................................................42
4.3 Chat-Sucht/soziale Netzwerke.........................................43
I
Vorwort
Vor etwa zwei Jahren sah ich mich veranlasst, mich dem Problem
„Online-Sucht“ zu stellen. Eine mir nahestehende Person verbrachte täglich mehr Zeit am Computer, vernachlässigte Freundschaften und Kontakte zu ihrer
Familie. Sie ging immer selteUnser Gehirn ist nicht dafür
ner vor die Tür, kümmerte sich
gebaut, dauernd glücklich zu sein.
Aber es ist süchtig danach, nach
lieber um ihr Spiel, ein OnlineGlück zu streben.
Rollenspiel.
Manfred Spitzer
Ich bekam den sozialen Abstieg unmittelbar mit. Kontakte
zu Freunden brachen ab, ehemalige Hobbys wurden aufgegeben,
die Kontakte zu den Eltern beschränkten sich auf Themen des
Spiels. Eine ganze Familie ist hier zugrunde gegangen.
Die gereizte Stimmung dieser Person brachte Probleme im Beruf
und ihrer Beziehung mit sich. Die krankheitsbedingten Fehltage
nahmen zu. Schließlich begann sie, Geld für virtuelle Gegenstände
im Spiel auszugeben und kannte dabei keine Grenze. Die tägliche
Spielzeit stieg kontinuierlich an, die Schulden wuchsen ihr über
den Kopf. Trotz aller Probleme spielt sie nach wie vor.
Alle Versuche, diesen Menschen zum Nachdenken und zur Veränderung zu bewegen, scheiterten. Ob mit bösen Worten oder Verständnis, nichts fruchtete. Ich musste ihn sehenden Auges seinem
Schicksal überlassen, immer noch hoffend, dass eines Tages ein
Wendepunkt kommt.
Aus zahlreichen Berichten von Betroffenen, Abhängigen und Aussteigern weiß ich, dass jeder Spieler irgendwann auf den Boden
der Tatsachen zurückkommt. So wie jeder Seemann an Land zurückkehrt – auch wenn das Land 5.000 Meter unter dem Meeresspiegel liegt. Es gibt nur zwei Möglichkeiten, ins wahre Leben zurückzukehren: Durch Einsicht oder Absturz.
III
Dieses Martyrium, die lange Zeit der Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung treiben mich an, zumindest für andere Menschen in vergleichbarer Lage etwas zu tun.
Ich selbst bin langjähriger Spieler von Computer- und Konsolenspielen, meine ersten Erfahrungen sammelte ich vor über 20 Jahren. Seitdem haben mich Spiele stets begleitet. Ich besitze zahlreiche Konsolen, habe LAN-Parties besucht, online gespielt. Es ist
ein geliebtes Hobby. Immer noch, immer gewesen.
Mein Anliegen mit diesem Werk kann daher nicht sein, Computerspiele zu verteufeln oder der Branche zu schaden. Wirtschaftlicher
Umsatz ermöglicht erst neue und kreative Spielkonzepte.
Ich möchte aber einen Beitrag zur Aufklärung leisten. Wenn ein
Hobby zur Sucht wird und dadurch die wirklich wichtigen Dinge im
Leben vernachlässigt werden, ist dies bedenklich. Jeder Menschen hat seinen Platz in der Welt – in
der realen Welt.
Am 7. November 1997
entwickelt SkyNet ein
eigenes Bewusstsein.
Das Netz ist nützlich und hilfreich, es
kann unterhalten, informieren, Spaß
Aus: Terminator 2 – Tag
machen. Das Netz an sich ist harmlos,
der Ab rechnung
es ist ein Werkzeug, das uns das Leben leichter machen soll. Nie zuvor in
der Menschheitsgeschichte war es so leicht, globales Wissen abzurufen, mit fremden Menschen in Kontakt zu treten und sich anderen mitzuteilen.
Wenn aber der Mensch die Technik nicht mehr beherrscht, sondern ihr Sklave wird, läuft was falsch. Ich möchte da nicht tatenlos
zusehen. Dies ist mein Beitrag dazu. Und ich werde noch mehr
leisten, meine eigenen Erfahrungen sollen anderen helfen, es nicht
nur anders, sondern auch besser zu machen.
~
April 2010
IV
Literaturverzeichnis
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237-244
VII
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
1.1 Internet in Deutschland
Das Internet als weltweites Netzwerk zum Datenaustausch ging
aus dem in den 1960er Jahren entwickelten und zum Teil militärisch genutzten Arpanet hervor, das durch seine dezentrale Struktur Stabilität und Zuverlässigkeit gewährleisten sollte. Knappe
Rechnerkapazitäten der angeschlossenen Hochschulen erforderten einen solchen Ansatz.
Der Grundgedanke einer offenen Systemarchitektur fand sich auch
im späteren Internet wieder. Das Internet bietet eine Vielzahl verschiedener Dienste, einer der ersten und wichtigsten war die EMail, die bereits in den 1970er Jahren genutzt wurde und in den
1980er Jahren ihren Durchbruch erlebte.
Als erste deutsche Einrichtungen probierten in den 1980er Jahren
die Universitäten Karlsruhe und Dortmund Möglichkeiten der Datenübertragung über große Strecken. An der Universität Karlsruhe
wurde im Jahr 1984 die erste deutsche E-Mail empfangen, 1989
wurde eine Standleitung von Dortmund nach Amsterdam in Betrieb
genommen.
Im selben Jahr wurde an der Kernforschungseinrichtung CERN in
der Schweiz ein Ansatz entwickelt, wissenschaftliche Daten miteinander zu vernetzen. Dies erfolgte mittels Hypertext, bei dem zwischen den einzelnen Texten Querverweise auf andere, thematisch
ähnliche Texte eingefügt wurden. Tim-Berners Lee, der das Hypertext-Prinzip entwickelte, ist zugleich der Entwickler des WorldWideWeb (WWW). Das WWW nahm 1991 seinen weltweiten Betrieb
auf. Bereits ein Jahr zuvor wurde das Arpanet abgeschaltet.
Ende der 1980er Jahre wurden in Deutschland die ersten digitalen
Telefonleitungen (ISDN) in Betrieb genommen. Anfang der 1990er
Jahre kam auch in Deutschland das Bewusstsein auf, dass die
weltweite Vernetzung zunehmend an Bedeutung gewinnt und daher entsprechende Technologien einzurichten seinen. Nach einer
1
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
langen Diskussion über die technische Umsetzung, insbesondere
die zu verwendenden Datenübermittlungsprotokolle, begann die
Realisierung.
Die ehemals universitären Netze in Dortmund und Karlsruhe wurden privatisiert, die ersten kommerziellen Internet-Anbieter traten
ab 1994 auf. Der Zugang zum Netz war anfangs noch recht kostenintensiv, Standleitungen waren für Privatkunden nahezu unbezahlbar, die Einwahl über das Telefonnetz war mit hohen Gebühren verbunden.
Ende der 1990er Jahre boten einige Anbieter Flatrate-Tarife an, bei
denen nicht mehr nach Nutzungsdauer abgerechnet wird, sondern
ein Pauschalpreis zu entrichten ist. Für die Anbieter stellte dies jedoch ein Geschäftsrisiko dar, weil diese die Anschlüsse selbst für
Minutenpreise einkaufen mussten.
70,0%
60,0%
50,0%
40,0%
30,0%
20,0%
10,0%
0,0%
1997
1998
1999
2000
2001
2002
2003
2004
2005
2006
2007
2008
2009
Abbildung 1: Online-Nutzung in Deutschland1
Die dem ISDN zugrunde liegende Übertragungstechnik wurde weiterentwickelt und zunehmend als DSL angeboten. Die schnellen
Datenübertragungswege ermöglichten völlig neue Möglichkeiten
wie z.B. das Ansehen von Videos in Echtzeit und andere Multimedia-Anwendungen über das Datennetz. Zunehmend änderte sich
1
2
ARD-Onlinestudie 1997, ARD/ZDF-Onlinestudien 1998–2009, zitiert nach: Eimeren/Frees, Der Internetnutzer 2009, S. 335
1.1 Internet in Deutschland
auch das Nutzungsverhalten der Anwender, die mehr und mehr
aus der Rolle des Konsumenten in die des Anbieters schlüpften
und selbst Inhalte im Netz gestalten. Diese Form der Teilhabe wird
als Web 2.0 bezeichnet.
Heute gibt es zahllose Möglichkeiten, das weltweite Datennetz zu
nutzen und mit anderen Personen zu interagieren. Foren, Chats,
soziale Netzwerke, Wikis, Blogs, Video-Plattformen oder OnlineSpiele laden ein, mit anderen Nutzern in Kontakt zu treten und zu
kommunizieren.
1.2 „Geburtsstunde“ der Online-Abhängigkeit
Die erste Erwähnung von Online-Abhängigkeit erfolgte im Jahr
1995. Dr. Ivan Goldberg, ein US-amerikanischer Psychiater, erwähnte in einer Mailingliste unter dem Begriff „internet addiction
disorder“ (IAD) eine neue Form der Sucht, die sich auf Online-Aktivitäten beziehe. Goldberg listete eine Reihe von Kriterien auf, anhand derer IAD zu identifizieren sei.
Er leitete seine Kriterien aus dem DSM-IV ab, die dort für Glücksspielsucht angeführt waren. Goldberg wollte sich jedoch nur einen
Scherz erlauben und ironisch auf die zunehmende Zahl von Suchterkrankungen hinweisen, was er kritisierte. Seiner Ansicht nach
würden zu viele Verhaltensauffälligkeiten schnell zur Sucht erklärt.
So „erfand“ er die Internet-Sucht als weitere Suchtform. Er selbst
fand den Gedanken lächerlich, dass das Internet süchtig machen
könnte.
Doch sein Scherz wurde missverstanden. Anstatt sich mit Goldbergs Kritik auseinanderzusetzen, wurde sein Vorstoß ernst genommen. In der Folge meldeten sich bei ihm zahlreiche Personen
per E-Mail, die angaben, unter dem von Goldberg beschriebenen
Problem IAD zu leiden. Sie baten ihn um Hilfe und um Ratschläge
zu Behandlungsmöglichkeiten. Kurz darauf berichtete die „New
York Times“ über IAD und so wurde die Thematik auch außerhalb
des Internets bekannt.
3
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
Irritiert gründete Goldberg die „Internet Addiction Support Group“,
eine Art Online-Selbsthilfegruppe. Später distanzierte er sich vom
Begriff „addiction“ und wählte die Terminologie „pathological Internet-use disorder“. Wenn jedes von der Norm abweichende Verhalten als Sucht eingestuft würde, so Goldberg, dann müsse man
auch von Menschen sprechen, die süchtig nach Büchern, Jogging
oder anderen Menschen sind.
1.3 Erste Forschungen
Die Äußerungen Goldbergs wurden von der US-amerikanischen
Psychologin Kimberly S. Young aufgegriffen. Sie befragte 605 Internetnutzer zu ihrem Nutzungsverhalten. Anhand eines AchtPunkte-Kriterien-Kataloges wollte sie feststellen, ob die Befragten
internetsüchtig sind. Bei fünf erfüllten Kriterien wurden die Nutzer
als süchtig eingestuft. Es ergaben sich 496 verwertbare Ergebnisse, bei 396 Personen wurde Internetsucht festgestellt.2
Youngs Fragebogen (Diagnostic Questionnaire, DQ) enthielt folgende Fragestellungen:
1. Fühlen Sie sich gedankenverloren im Hinblick auf das Internet (denken Sie an ihre letzte Online-Aktivität oder im
Voraus an die nächste)?
2. Spüren Sie das Bedürfnis, das Internet immer länger zu
nutzen, um damit zufrieden sein zu können?
3. Haben Sie wiederholt erfolglos versucht, ihre Zeit im Internet zu kontrollieren, einzuschränken oder den Internetgebrauch zu beenden?
4. Fühlen Sie sich ruhelos, launisch, deprimiert oder reizbar,
wenn Sie Ihren Internetgebrauch zu reduzieren oder zu beenden versuchen?
5. Bleiben Sie länger online als ursprünglich beabsichtigt?
2
4
Young, K.S., Internet Addition: Emergence
1.3 Erste Forschungen
6. Haben Sie wegen des Internets bereits den Verlust bedeutsamer Beziehungen, ihrer Arbeitsstelle oder Bildungs- bzw.
Karrierechancen riskiert oder aufs Spiel gesetzt?
7. Haben Sie Angehörige, Therapeuten oder andere über das
Ausmaß Ihres Internetgebrauchs belogen?
8. Nutzen Sie das Internet als eine Möglichkeit, Problemen
aus dem Weg zu gehen oder zur Erleichterung schlechter
Stimmungen (z.B. Gefühle von Hilflosigkeit, Schuld, Angst
und Niedergeschlagenheit)?
Neben der Abhängigenquote von etwa 80% ermittelte Young, dass
die Abhängigen das Internet durchschnittlich 38,5 Stunden wöchentlich nutzten, die Personen, die als nicht-abhängig eingestuft
worden jedoch im Durchschnitt nicht einmal fünf Stunden pro Woche online waren. Ferner ergab die Untersuchung Youngs, dass
unter der Gruppe der Abhängigen jeweils über die Hälfte Beeinträchtigungen in den Bereichen Bildung, Beziehung, Finanzen und
Beruf erlebt hatte, die auf die Internet-Nutzung zurückzuführen waren.
Youngs Untersuchung wurde jedoch in methodischer Hinsicht kritisiert. Insbesondere wurde bezweifelt, dass die ausgewählten Personen tatsächlich einen Querschnitt aller Internetnutzer darstellten,
also ob die Stichprobe auch repräsentativ war. Young rief nämlich
gezielt „eifrige Internetnutzer“ auf, an ihrer Studie teilzunehmen. 3
Auch wurde bemängelt, dass Youngs Fragebogen aus den Kriterien des DSM-IV für Glücksspielsucht abgeleitet wurde, obwohl zwischen dieser und der Internetsucht gravierende Unterschiede bestünden.
Sicher vermag Youngs Ergebnis nicht die wahren Verhältnisse wiederzugeben, aber immerhin ist es ihrer Pionier-Studie zu verdanken, dass die Wissenschaft auf die Problematik aufmerksam wurde und zunehmend weitere Forschungen unternommen wurden.
Aus dem Diagnostic Questionnaire entwickelte Young zwei Jahre
3
Widyanto/Griffiths, Internet addiction, S. 33
5
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
nach ihrer ersten Studie den „internet addiction test“ (IAT)4, einen
20 Fragen umfassenden Fragebogen.
2001 wurde Youngs Diagnostic Questionnaire von den Psychologen Keith Beard und Eve Wolf aufgegriffen. Sie forderten, dass die
ersten fünf Punkte des Tests unbedingt kumulativ erfüllt sein müssten, von den letzten drei Punkten müsse zusätzlich mindestens einer erfüllt sein.5
Die fortschreitende Beschäftigung der Forscher mit der Thematik
führte nicht nur dazu, dass ein Streit um die „richtigen“ Diagnosekriterien geführt wurde, sondern auch zu einer unüberschaubaren
Begriffsvielfalt: „Internet-Sucht“, „Online-Sucht“, „Internet-Abhängigkeit“, „pathologischer Internetgebrauch“6 und andere Termini
waren plötzlich gebräuchlich.
1.4 Aktueller Stand der Wissenschaft
Insbesondere Jugendliche scheinen sich sehr für Online-Aktivitäten zu interessieren, was nicht verwundern kann, da diese Personen zur ersten Generation gehören, die in eine Welt geboren wurde, in der das Internet nahezu flächendeckend, verbindungsschnell und zunehmend auch mobil verfügbar ist. Aus diesem
Grund konzentrieren sich die Studien zur Online-Abhängigkeit
auch überwiegend auf die Gruppe der Jugendlichen.7
In den vergangenen Jahren wurden sowohl international als auch
in Deutschland Studien durchgeführt, die Prävalenzraten bewegen
sich im Bereich von unter 2% bis zu 15%. 8 Diese stark divergierenden Ergebnisse sind nicht nur auf die unterschiedlichen Testmethoden zurückzuführen, sondern auch auf die untersuchten Alters4
5
6
7
8
6
Young,
K.S.,
Caught
in
the
net,
S. 31;
online
unter
http://www.netaddiction.com
Beard/Wolf, Modification
Übersicht zu den Begrifflichkeiten: Petersen, K.U. u.a., Zwischenbericht an
das BMG, S. 7; siehe auch: Hahn/Jerusalem, Reliabilität und Validität, S. 167
kritisch zu dieser Beschränkung: DHS, Stellungsnahme, S. 3
Petersen, K.U. u.a., Zwischenbericht an das BMG, S. 9; KFN, Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter, S. 11
1.4 Aktueller Stand der Wissenschaft
gruppen und die jeweilige Internet-Zugänglichkeit in den untersuchten Ländern. Schließlich ist zu berücksichtigen, dass derartige
Studien mit der Zeit an Aussagekraft verlieren. Studien vor dem
Jahr 2005 können beispielsweise die Auswirkungen des MMORPG
„World of Warcraft“ noch gar nicht berücksichtigt haben, da es erst
in diesem Jahr erschien. Auch kamen etwa zu dieser Zeit die ersten sozialen Netzwerke im Netz wie Facebook (2004) und
MySpace (2005) auf.
2001 haben André Hahn und Matthias Jerusalem von der Berliner
Humboldt-Universität folgende Kriterien vorgeschlagen, um Internet-Abhängigkeit feststellen zu können.9
▪ über längere Zeitspannen wird der größte Teil des Tageszeitbudgets zur Internetnutzung verausgabt (hierzu zählen auch
verwandte Tätigkeiten wie beispielsweise Optimierungsarbeiten am Computer) (Einengung des Verhaltensraums),
▪ die Person hat die Kontrolle über ihre Internetnutzung weitgehend verloren bzw. Versuche, das Nutzungsausmaß zu reduzieren oder die Nutzung zu unterbrechen,
▪ bleiben erfolglos oder erst gar nicht unternommen (obwohl das
Bewusstsein für dadurch verursachte persönliche oder soziale
Probleme vorhanden ist) (Kontrollverlust); im zeitlichen Verlauf
ist eine Toleranzentwicklung zu beobachten, d.h. die “Verhaltensdosis” zur Erreichung der angezielten positiven Stimmungslage muss gesteigert werden
▪ es treten Entzugserscheinungen als Beeinträchtigungen psychischer Befindlichkeit (Unruhe, Nervosität, Unzufriedenheit,
Gereiztheit, Aggressivität) und psychisches Verlangen (“craving”) nach der Internetnutzung als Folge zeitweiliger, längerer
Unterbrechung der Internetnutzung,
▪ wegen der Internetaktivitäten sind negative soziale Konsequenzen in den Bereichen Arbeit und Leistung sowie soziale Bezie9
Hahn/Jerusalem, Reliabilität und Validität, S. 166
7
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
hungen (z.B. Ärger mit Freunden oder Arbeitgeber) eingetreten.
Sie gingen dabei von dem Ansatz aus, Internet-Abhängigkeit mit
Suchterkrankungen zu vergleichen, die stoffgebunden sind, z.B.
Nikotin, Alkohol, Heroin oder Kokain. Sie wiesen aber auch ausdrücklich darauf hin, dass ihre Kriterien rein beschreibend sind und
keine Schlüsse auf Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zulassen.
Daher sei auch ihr Begriff „Internetsucht“ zulässig, weil es nicht
zwingend das Netz sei, dass die Sucht verursache.
Aus den fünf oben genannten Merkmalen leiteten Hahn und Jerusalem einen Katalog mit 20 Aussagen ab (Internetsuchtskala), bei
denen die Teilnehmer auf einer vierstufigen Likert-Skala angeben
sollen, ob die Aussage auf sie zutrifft. So konnte ein Punktwert
zwischen 20 und 80 Punkten erreicht werden. Ab 50 Punkten wurde der Teilnehmer als „gefährdet“ angesehen, ab 60 Punkten als
„internetsüchtig“. Der Fragekatalog wurde mit rund 6.400 Personen durchgeführt. Die Wissenschaftler ermittelten, dass 6,6% der
Personen „gefährdert“ und weitere 3,2% „internetsüchtig“ sind. Sie
schätzen diese Werte aber selbst als zu gering ein. Etwa ein Prozent der Süchtigen könne mit dem Verfahren nicht identifiziert werden, weil manche Teilnehmer zugunsten sozial erwünschter Antworten die Fragen nicht ehrlich beantworteten. Die Gruppe der
Süchtigen verbringt nach dieser Studie durchschnittlich fast 35
Stunden pro Woche im Internet, ein Viertel der Süchtigen sogar
über 53 Stunden.
Einen ähnlichen Ansatz wie der „internet addiction test“ von Young
und die Internetsuchtskala von Hahn und Jerusalem verfolgt der
„Kurzfragebogen zu Problemen beim Computergebrauch“ (KPC)
von Jörg Petry.10 Auch dieser Fragebogen umfasst 20 Aussagen,
die anhand einer vierstufigen Likertskala zwischen „trifft gar nicht
zu“ (Punktwert 0) und „trifft genau zu“ (Punktwert 3) zu bewerten
sind.
10 Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 168
8
1.4 Aktueller Stand der Wissenschaft
Der deutsche Fachverband Medienabhängigkeit e.V. hat im Herbst
2009 eigene Kriterien entwickelt, die in drei Abschnitte eingeteilt
sind, wobei der dritte Abschnitt ein Ausschlusskriterium ist:11
A) Zeitliche Persistenz der Symptomatik
Die Symptomatik der Computerspielabhängigkeit muss über
einen Zeitraum von mindestens 3 Monaten kontinuierlich bestanden haben.
B) Diagnostik
B1) Primäre Kriterien: Abhängigkeitsverhalten
1. Einengung des Denkens und Verhaltens
2. Kontrollverlust
3. Toleranzentwicklung
4. Entzugserscheinungen
5. Dysfunktionale Stimmungsregulation
6. Ängstliche Vermeidung realer Kontakte zugunsten virtueller
Beziehungen
7. Fortsetzung des Spielens trotz bestehender oder drohender
negativer Konsequenzen
B2) Sekundäre Kriterien: Negative Konsequenzen
1. Körperliche Konsequenzen im Bereich Körperpflege, Ernährung und Gesundheit
2. Soziale Konsequenzen im Bereich Familie, Partnerschaft
und Freizeit
3. Leistungsbezogene negative Konsequenzen im Bereich Ausbildung, Arbeit und Haushalt
11 Fachverband Medienabhängigkeit, Protokoll 1. Symposium, S. 17
9
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
C) Ausschluss
Pathologisches Computerspielverhalten lässt sich nicht durch
eine Manie oder Zwangserkrankung erklären.
Nicht ganz klar wird bei dem Kriterien-Katalog, ob er sich, wie die
Wortwahl vermuten lässt, allein auf „Computerspielabhängigkeit“
bezieht, was sowohl Online- als auch Offline-Spiele einschließen
würde. Möglicherweise hat der Katalog aber auch alle Formen von
Internet-Abhängigkeit im Blick, weil das Kriterium „ängstliche Vermeidung realer Kontakte zugunsten virtueller Beziehungen“ bei
Offline-Spielen leerlaufen würde, beispielsweise bei exzessiver
Nutzung von Chats, sozialen Netzwerken oder Internetforen wiederum zu beachten wäre. Diesen Punkt will der Fachverband weiter diskutieren.
Ebenfalls im Jahr 2009 legte das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen die Ergebnisse seiner bundesweiten Schülerbefragung vor.12 An der Befragung nahmen 44.610 Schülerinnen und
Schüler der neunten Klassen teil. Über einen 31-seitigen Fragebogen wurde das Computerspielverhalten der Jugendlichen erfasst,
ein Drittel der Teilnehmer erhielt einen weiteren Fragebogen mit
Vertiefungsfragen zum Bereich Internetgebrauch und Computerspielabhängigkeit.
Der Bogen mit den Vertiefungsfragen enthielt 14 Thesen, die den
Bereichen „Einengung des Denkens und Verhaltens“ (4), „Negative
Konsequenzen“ (4), „Kontrollverlust“ (2), „Entzugserscheinungen“
(2) sowie „Toleranzentwicklung“ (2) zugeordnet waren. Die Antworten waren nach einer vierstufigen Likert-Skala zwischen „stimmt
nicht“ und „stimmt genau“ anzugeben. Dieser Fragebogen (Computerspielabhängigkeitsskala, KFN-CSAS-II) ist die Weiterentwicklung eines Fragebogens, der bereits 2005 bei einer Schülerbefragung eingesetzt wurde.
Die Erhebung kam zu dem Ergebnis, dass in der Gruppe der 15Jährigen 2,8% gefährdet und 1,7% als abhängig einzustufen sind.
12 KFN, Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter
10
1.4 Aktueller Stand der Wissenschaft
Dies wären bundesweit rund 23.600 Jugendliche allein aus diesem
Altersjahrgang. Dabei sind Jungen deutlich mehr betroffen als
Mädchen.
Inzwischen sind auch die politischen Entscheidungsträger auf die
Problematik pathologischen Computer- und Internetgebrauchs aufmerksam geworden. Im April 2008 führte der Ausschuss für Kultur
und Medien des Bundestages eine öffentliche Anhörung zum Thema „Online-Sucht“ durch. Im Mai 2009 erschien der erste Drogenund Suchtbericht der Drogenbeauftragten der Bundesregierung, in
dem Computerspiel- und Internetsucht überhaupt Erwähnung findet.13 Die Ausführungen in dem Bericht beschränken sich auf etwas über drei Seiten, es ist aber wahrscheinlich, dass das Thema
künftig mehr Aufmerksamkeit erhalten wird.
Es gibt in Deutschland rund 1,4 bis 1,9 Millionen Menschen, die
medikamentenabhängig sind, glücksspielsüchtig sind etwa
100.000 Bundesbürger.14 Geht man bei der Online-Abhängigkeit
von vorsichtigen Schätzungen anhand der bisher vorliegenden
Forschungsergebnisse aus, dass etwa 2-3% der Bevölkerung betroffen sind, so entspricht dies rund 2 Millionen Menschen und damit sind von Online-Abhängigkeit mehr Personen betroffen als von
Glücksspiel- und Medikamentensucht zusammen.
Im Juni 2009 stellten eine Reihe Abgeordneter und die Fraktionen
der CDU/CSU und SPD einen Antrag, dass der Bundestag sich
dafür einsetzen möge, Medien- und Onlinesucht weiter zu erforschen und Aufklärung und Prävention zu fördern.15 Der Beschluss
wurde mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen von
Bündnis 90/Die Grünen angenommen, FDP und Die Linke haben
sich enthalten.16
13
14
15
16
Drogenbeauftragte, Drogen- und Suchtbericht 2009, S. B88 ff.
Drogenbeauftragte, Drogen- und Suchtbericht 2009, S. B49, B83
Deutscher Bundestag, Drucksache 16/13382
Stenografischer Bericht zur 227. Sitzung des Bundestages vom 18.06.2009,
S. 25311 f.
11
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
1.5 Online-Abhängigkeit als eigenständige Krankheit?
Ein äußerst umstrittener Punkt ist die Frage, ob Online-Abhängigkeit selbst eine Krankheit ist, oder nur Ausdruck oder Symptom anderer, bereits vorhandener Störungen. Termini wie “Online Addiction”, “Internet Addiction Disorder”, “Pathological Internet Use” oder
“Cyberdisorder” erweckten den falschen Eindruck, dass das Internet selbst die Ursache des Suchtverhaltens sei.17
Meines Erachtens muss man differenzieren: es gibt Erscheinungsformen der Online-Abhängigkeit, die grundsätzlich auch außerhalb
des Internets denkbar sind und vorkommen und das Internet als
Medium benutzt wird.18 Ein pathologischer Glücksspieler, der statt
an Spielautomaten oder im Casino seine Abhängigkeit auslebt, ist
nach meinem Verständnis nicht online-abhängig, wenn er Glücksspiel im Internet betreibt. Er verlagert lediglich den Austragungsort
der eigentlichen Sucht. Ebenso wenig erscheint mir ein Sex-Süchtiger plötzlich online-süchtig, der bisher Bordelle und Sexkinos besucht hat und nun im Internet nach erotischen Angeboten Ausschau hält. Gleiches gilt für Kaufsüchtige, wenn sie ihr Suchtverhalten in Internet-Shops ausleben.
Andererseits bieten sich im Netz Möglichkeiten, die im realen Leben kaum als Suchtverhalten vorstellbar sind. Fälle von Gesprächssucht oder Kontaktsucht dürften offline selten sein, es gibt
aber zahlreiche Personen, die exzessiv mit anderen Menschen
chatten oder viel Zeit in sozialen Netzwerken verbringen. Rollenspiele gibt es auch außerhalb der Online-Welt in Form von
Pen & Paper-Rollenspielen oder LARPs, von Abhängigen dieser
Spielformen hört man jedoch nichts. Exzessives Computerspielen
kommt jedoch auch offline vor.
Diese Unterscheidung ist meiner Ansicht nach bedeutsam, um die
Frage beantworten zu können, welchen Einfluss das Internet auf
17 Hahn/Jerusalem, Reliabilität und Validität, S. 167, Seif, Online-Computerspiele, S. 30
18 Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 101; Grünbichler, Lost in Cyberspace?,
S. 51
12
1.5 Online-Abhängigkeit als eigenständige Krankheit?
das Abhängigkeitsverhalten hat. Wenn eine Erscheinungsform der
Online-Abhängigkeit außerhalb der virtuellen Welt nicht oder nur
selten vorkommt, dürften die Besonderheiten des Internets einen
großen Beitrag zur Entwicklung des Suchtverhaltens haben.
Zwar wurde diese Unterscheidung schon früh getroffen 19, die bisherigen Studien behandeln den Problemkomplex „Online-Abhängigkeit“ aber nicht hinreichend differenziert. Angesichts der vielfältigen Erscheinungsformen unter dem Dach „Online-Abhängigkeit“
erscheint hier eine genaue Unterscheidung angezeigt.20
Hierbei muss aber beachtet werden, dass sich die Nutzungsformen nicht immer trennscharf abgrenzen lassen. Personen, die
MMORPGs oder First-Person-Shooter spielen, sind auf Kommunikation angewiesen, um sich mit ihren Mitspielern zu verständigen.
Diese Spiele fördern daher soziale Kontakte, was dazu führt, dass
die Spieler auch außerhalb des Spiel miteinander in Kontakt treten. So geht die Nutzung dieser Spiele häufig mit der Nutzung von
Chats oder Internet-Foren einher. Foren dienen auch dazu, sich für
Spieltermine zu verabreden, Spielstrategien auszutauschen oder
über spielbezogene Themen zu diskutieren. Neben dem eigentlichen Spielen kommen hier also Aspekte wie Pflege der sozialen
Kontakte und Informationsbeschaffung hinzu.
Die Komplexität der Thematik macht es schwer, die bisherigen
Studien und Forschungsergebnisse zu vergleichen, zu bewerten
und zu überprüfen. Hier muss genau darauf geachtet werden, was
Untersuchungsgegenstand ist. Es gibt Studien, die sich allgemein
auf den Internetgebrauch beziehen, andere betrachten nur die
Nutzung von Online-Spielen, wiederum andere untersuchen Computerspiele allgemein, sowohl Online- wie Offline-Spiele.
Es bestehen verschiedene Ansätze, die pathologische Internetnutzung einzustufen:21
19 Young, K.S., Internet Addition: Emergence
20 Mücken, Computerspielsucht, S. 19
21 Fachverband Medienabhängigkeit, Protokoll 1. Symposium, S. 11
13
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
▪ als Symptom bekannter psychischer Störungen
▪ als Impulskontrollstörung
▪ als Persönlichkeitsstörung
▪ als stoffungebundene Abhängigkeitserkrankung
Es kristallisiert sich in der Wissenschaft eine Tendenz heraus, die
pathologische Internetnutzung als Störung der Impulskontrolle einzustufen. Bei solchen Störungen neigt der Betroffene zu unkontollierten, nicht rational begründbaren Handlungen. Das System des
Denkens und Planens, der Motivationsbildung und der Ausführung
von Handlungen ist gestört. Impulskontrollstörungen weisen eine
große Nähe zu Zwangserkrankungen auf.
Bislang ist Internet-Abhängigkeit nicht in die Klassifikationen ICD10 und DSM-IV aufgenommen worden, also nicht als eigenständige Krankheit anerkannt. Im Jahr 2007 wurde eine Aufnahme der
Diagnose in das DSM-IV abgelehnt, steht aber aktuell wieder zur
Debatte. Wird ein Suchtverhalten mit Bezug auf das Internet als
Impulskontrollstörung diagnostiziert, so liegt eine anerkannte Diagnose nach der ICD-10 (F63.8 - Sonstige abnorme Gewohnheiten
und Störungen der Impulskontrolle) vor. Hingenommen werden
muss dabei, dass in diese Kategorie auch Krankheitsbilder wie pathologische Brandstiftung oder Trichotillomanie (Haareausreißen)
fallen.22
Eine ICD-10-konforme Diagnose gewährleistet zumindest, dass
die Übernahme der Kosten für eine Therapie durch die Träger der
Krankenversicherung oder der Rentenversicherungsträger (bei Rehabilitation) möglich ist.23
22 Petersen, S., Internetsucht, S. 10
23 Pfeiffer/Primus/Götzl, MMORPGs 360°, S. 263; Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 135 f.
14
1.5 Online-Abhängigkeit als eigenständige Krankheit?
Gesicherte Erkenntnis ist, dass pathologische Internetnutzung
sehr häufig mit anderen psychischen Krankheitsbildern auftritt.24
Zu diesen gehören unter anderem Depressionen, posttraumatische Belastungsstörungen, Angststörungen, dissoziative Identitätsstörungen, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitäts-Störungen
(ADHS) oder Selbstmordgedanken.25 Diese Zusammenhänge lassen darauf schließen, dass die Internet-Abhängigkeit nur ein Trigger, also eine Art Schalter ist, der die bereits vorhandenen Störungen sichtbar werden lässt.
Man kann die exzessive Internetnutzung aber auch als Selbstbehandlung, als Lösungsversuch eines neurotischen Konfliktes verstehen26. Der Betroffene versucht, im Internet seine Schwächen
und Unsicherheiten zu überwinden und in die reale Welt zu übertragen. Allerdings verstärkt sich das Abhängigkeitsverhalten zunehmend und wird schließlich behandlungsbedürftig.
Ob und in welcher Form die Online-Abhängigkeit konkret Eingang
in die Klassifikationen ICD-10 und DSM-IV findet, wird sich zeigen
müssen. Die wissenschaftlichen Fachleute sind sich aber einig
darin, dass es weiterer repräsentativer Längsschnittstudien bedarf,
um Zusammenhänge zwischen psychischen Erkrankungen und
pathologischem Internetgebrauch zu erkennen27. Erst so lässt sich
untersuchen, welche Problemkreise die Ursache und welche die
Auswirkungen sind.
Des weiteren ist es unerlässlich, die unterschiedlichen DiagnoseInstrumente zu vereinheitlichen, um die Ergebnisse von Untersuchungen vergleichbar zu machen und eine gesicherte Diagnose
treffen zu können. Prävalenzraten zwischen unter 2% und bis zu
24 te Wildt in: Lober, Virtuelle Welten, S. 69; DHS, Stellungsnahme, S. 2; Petersen, K.U. u.a., Pathologischer Internetgebrauch, S. 263; Widyanto/Griffiths,
Internet addiction, S. 40; kritisch dazu: KFN, Computerspielabhängigkeit im
Kindes- und Jugendalter, S. 28 f.
25 Schuhler, Pathologischer PC/Internet-Gebrauch, S. 36
26 te Wildt in: Lober, Virtuelle Welten, S. 70
27 Petersen, K.U. u.a., Pathologischer Internetgebrauch, S. 267; Seif, OnlineComputerspiele, S. 169
15
1. Die Geschichte der Online-Abhängigkeit
15% sind im jedem Fall besorgniserregend, das genaue Ausmaß
der Problematik lässt sich aber derzeit nicht hinreichend genau abschätzen.
Schließlich halte ich es für erforderlich, dass die mit Vorsorge, Behandlung und Therapie betrauten Fachkräfte an die recht neue Situation herangeführt und entsprechend aus- bzw. fortgebildet werFor the uninformed, it's easy
den. Gerade exzessive MMORPGto dismiss the idea of Internet
addiction.
Spieler leben meist in ihrer eigenen
Welt, der Therapeut muss dafür
Kimb erly S. Young
Verständnis aufbringen und ein gewisses Grundwissen über Spielmechanik, „Szene-Jargon“ und psychologische Wirkungsweise der
Spiel-Elemente besitzen. Er muss zumindest im Ansatz die gleiche
Sprache sprechen wie der Betroffene. Gleiches gilt für Angehörige,
Partner und Freunde, die den Betroffenen unterstützen möchten.
Youngs Aussage von 1998 hat leider bis heute ihre Gültigkeit behalten.28
Die virtuelle Welt ist komplex und unterliegt einem ständigen Wandel. Insbesondere Psychologen und Pädagogen müssen mit dieser Entwicklung Schritt halten, damit Prävention und Behandlung
wirksam durchgeführt werden können.
28 Young, K.S., Caught in the net, S. 9
16
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
2.1 Sucht und Abhängigkeit
Der Begriff „Sucht“ geht auf das germanische Wort „siech“ zurück,
was „Krankheit“ bedeutet; die deutschen Wörter „Seuche“ und
„Siechtum“ sowie das englische „sick“ (=krank“) gehören zum gleichen Wortstamm.29 Auch wenn es gern wortspielerisch heißt: „hinter jeder Sucht steckt eine Suche“30, haben diese beiden Begriffe
sprachgeschichtlich jedoch nichts miteinander zu tun. Nicht selten
aber ist Sucht zugleich Flucht.
Die Weltgesundheitsorganisation WHO verwendete den Terminus
„Sucht“ bis 1964 und ersetzte ihn dann durch „Missbrauch“ und
„Abhängigkeit“. Anfangs war Sucht die periodische oder chronische Vergiftung durch Drogen, die für die Gesellschaft und den
Einzelnen schädlich ist. Kennzeichen für eine solche Sucht waren
das unbezwingbare Verlangen, den Konsum fortzusetzen, eine
Neigung, die Dosis zu erhöhen sowie psychische und/oder physische Abhängigkeit. Sucht war ausschließlich auf rauscherzeugende Substanzen beschränkt.31
1968 wurde durch eine Entscheidung des Bundessozialgerichts
auch die Alkoholabhängigkeit endgültig als Suchterkrankung anerkannt.32 Maßgebend war für das Gericht nicht, dass eine solche
Krankheit zwingend körperliche oder psychische Folgeerscheinungen oder eine chronische Alkoholvergiftung erfordere. Entscheidend sei die körperliche sowie psychische Abhängigkeit vom Alkohol, „welche es dem süchtigen Trinker in den meisten Fällen nicht
mehr erlaube, mit eigener Willensanstrengung vom Alkohol loszukommen“. Dieser Verlust der Selbstkontrolle erfordere eine ärztliche Behandlung, die die gesetzliche Krankenversicherung zu
übernehmen habe.
29
30
31
32
Pfeiffer/Primus/Götzl, MMORPGs 360°, S. 256; Lober, Virtuelle Welten, S. 44
Hirschhausen, Glück, S. 217
Sting/Blum, Soziale Arbeit, S. 27
Bundessozialgericht, Urteil vom 18. Juni 1968, Aktenzeichen 3 RK 63/66
17
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
Aktuell sind stoffgebundene Abhängigkeitserkrankungen in der
ICD-10 in den Kategorien F10 bis F19 klassifiziert, wobei diese jeweils eine ganze Familie von Substanzen umfassen (z.B. F11 –
Cannabinoide, F16 – Halluzinogene). Die konkrete Ausprägung
wird durch einen Nachsatz der Form .0 bis .9 ausgedrückt. Diese
Ausprägungen reichen vom akuten Rausch über schädlichen Gebrauch bis zu Abhängigkeit und den (Spät-)Folgen des Konsums.
Stoffungebundene Abhängigkeitsstörungen werden in den medizinischen Klassifikationen nicht unter der Kategorie „Sucht“, sondern
in der Regel als Impulskontrollstörungen eingestuft (ICD-10: F63,
DSM-IV: 312.3x). Bis auf pathologisches (Glücks-)Spiel sind die
verschiedenen Formen von Verhaltenssüchten nicht konkret aufgelistet, sondern werden unter einer Auffangposition „Störung der
Impulskontrolle, nicht näher bezeichnet“ einsortiert.
Wenngleich der Begriff „Sucht“ negativ besetzt ist und in der Wissenschaft der Ausdruck „Abhängigkeit“ bevorzugt wird33, möchte
ich beide Worte gleichbedeutend verwenden. Entscheidend ist für
mich, dass der bisher nicht abschließend erforschte Problembereich „Online-Abhängigkeit“ oftmals behandlungsbedürftig ist. Um
den Betroffenen diese Behandlung zu kommen zu lassen, ist es
meiner Ansicht nach wichtiger, das Phänomen als Krankheit zu akzeptieren als sich über Begrifflichkeiten zu streiten.
Wenn ich den Begriff „Internetsucht“ oder „Online-Abhängigkeit“
verwende, ist damit nichts über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge gesagt.34 Welchen Anteil verborgene Verhaltens- oder Persönlichkeitsstörungen an dem Gesamtbild haben und inwieweit es auf
das Medium „Internet“ zurückzuführen ist, ist Gegenstand der Forschung. Als Praktiker und mittelbar Betroffener betrachte ich die individuellen Wege in die Sucht und die konkreten Auswirkungen
des Suchtverhaltens im sozialen Leben von Abhängigen.
33 Pfeiffer/Primus/Götzl, MMORPGs 360°, S. 259 f.
34 so auch Hahn/Jerusalem, Reliabilität und Validität, S. 167
18
2.2 Belohnungszentrum und Dopamin
2.2 Belohnungszentrum und Dopamin
Vor über einem halben Jahrhundert
sche Psychologen, James Olds und
Ratten durch. Sie verabreichten den
Gehirn kleine Stromstöße. Die Ratten
ße sehr aggressiv und gereizt.
führten zwei US-amerikaniPeter Milner, Versuche mit
Tieren über Elektroden am
reagierten auf die Stromstö-
Bei einem Versuchsdurchlauf brachten die Wissenschaftler jedoch
die Elektroden versehentlich an einer falschen Stelle an. Statt in
Wut zu verfallen verspürten die Ratten Zufriedenheit, schauten
sich um und schnüffelten. Olds und Milner bauten daraufhin eine
Konstruktion mit einem Schalter, den die Ratte selbst betätigen
konnten, um sich die Stromstöße zu verabreichen.
Die Ratten betätigten den Schalter immer wieder, mehrere Tausend Anschläge pro Stunde wurden gemessen, die Ratten setzten
ihr Verhalten über Stunden bis zur totalen Erschöpfung fort. Die
Tiere überquerten sogar elektrisch geladene Gitter und nahmen
die damit verbundenen Schmerzen in Kauf. Sie verweigerten die
Nahrungsaufnahme und paarten sich nicht mehr, weil sie unablässig den Schalter drückten, um die Stromstöße genießen zu können.
Das sogenannte „Belohnungssystem“ oder „Belohnungszentrum“
wird fachlich als mesolimbisches System bezeichnet. Es ist für positive Gefühle wie Freude zuständig. Es wird vermutet, dass sich
das Belohnungssystem im Laufe der Evolution entwickelt hat, um
das Überleben des Individuums sicherzustellen und damit Fortpflanzung und Arterhaltung zu gewährleisten. Das mesolimbische
System fördert die Motivation und spielt eine wichtige Rolle in
Lernprozessen.
Wenn der Mensch Aktivitäten nachgeht, die der Arterhaltung dienen (z.B. Nahrungsaufnahme oder Sexualität) wird Dopamin ausgeschüttet. Dopamin ist ein Neurotransmitter, ein Botenstoff, der
maßgeblich daran beteiligt ist, positive Gefühle zu erzeugen. Über
19
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
die mesolimbische Bahn gelangt Dopamin in den Nucleus accumbens, wo es auf Rezeptoren trifft.
Die mesolimbische Bahn besitzt Angriffspunkte für verschiedene
Suchtstoffe, die die Dopaminausschüttung direkt beeinflussen können. Über eine solche Manipulation lassen sich positive Empfindungen künstlich erzeugen. Das Gehirn unterscheidet dabei nicht,
ob die Wirkung auf dem wiederholten externen Konsum von Drogen oder auf exzessivem Verhalten beruht, beides kann zu Abhängigkeit führen.35
Präfrontaler Kortex
m
oli
m
bis
c
he
m
pa
Do
n
ah
in b
Nucleus
accumbens
es
Abbildung 2: Belohnungssystem
Das System achtet auf Veränderungen und vergleicht die Erwartungen mit den tatsächlichen Ereignissen. Ist ein Erlebnis besser
als erwartet, so feuern die Dopaminneuronen und ein Belohnungsgefühl wird erzeugt. Entspricht das Ereignis der Erwartung, so
bleibt das System ruhig. Wird eine Erwartung aber enttäuscht, so
geht die Feuerrate der Neuronen zurück. Es entsteht ein Gefühl
von Leere, die ausgefüllt werden will.
35 Grüsser u.a., Exzessive Computernutzung im Kindesalter, S. 190; KFN, Computerspielabhängigkeit im Kindes- und Jugendalter, S. 9
20
2.2 Belohnungszentrum und Dopamin
Da das Belohnungssystem wohl das Überleben und die Arterhaltung sichern soll, ist es nicht darauf ausgelegt, ständig positive Gefühle zu erzeugen. Es verfügt über eine Ausgleichsfunktion. Nur
dann, wenn das System in der Balance ist, kann der Mensch durch
die Erinnerung an positive Empfindungen Motivation und Antrieb
entwickeln und nach entsprechenden Handlungen die „Belohnung“
durch Dopaminausschüttung erhalten.
Wird das Belohnungssystem ständig gereizt, so entwickelt es eine
Art Resistenz, um den Gleichgewichtszustand wieder herzustellen.
Eine ständige Dopaminausschüttung führt also dazu, dass die
Schwelle zu positiven Gefühlen erhöht wird. Um solche Gefühle
weiterhin zu erleben, muss mehr Dopamin ausgeschüttet werden.
Dies ist der Punkt, wo Sucht das Belohnungssystem korrumpiert.
Durch fortgesetzten Konsum des Suchtmittels entwickelt das Gehirn eine Toleranz, die Dosis des Mittels
muss immer weiter gesteigert werden,
Der Mensch kann zwar
um überhaupt noch wirken zu können.
tun, was er will, aber er
kann nicht wollen, was
Durch die erhöhte Reizschwelle und daer will.
mit höhere Erwartungen entsteht bei Abstinenz ein Vakuum, eine Leere. Die
Arthur Schopenhauer
durch die Resistenz erhöhte Reizschwelle wird ohne das Suchtmittel unterschritten. Was vor der Sucht der Normalzustand, das Gleichgewicht
war, ist nun ein Zustand von negativen Empfindungen.36
Wenn das System an seine Grenzen stößt, weil auch extremer
Konsum die Reizschwelle nicht mehr überschreiten kann, sind positive Empfindungen nicht mehr möglich. Der Abhängige verfällt in
Anhedonie, wo er nicht mehr in der Lage ist, Glück, Freude oder
Vergnügen zu erleben. Das Suchtmittel kann nur noch dabei helfen, die negativen Empfindungen einigermaßen erträglich zu machen.
36 Mücken, Computerspielsucht, S. 32
21
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
Nutzen
In der Wirtschaftslehre kennt man diesen Sättigungseffekt unter
dem Begriff „abnehmender Grenznutzen“ oder „erstes Gossensches Gesetz“. Je mehr man konsumiert, desto weniger Zusatznutzen erzeugt eine einzelne Konsumeinheit. Bildlich dargestellt:
wer einen Apfel hat, freut sich vielleicht über einen zweiten, wer
aber schon 99 Äpfel besitzt, dem wird der 100. Apfel nur noch äußerst wenig oder gar keinen Zusatznutzen mehr bringen.
Konsummenge
Abbildung 3: Abnehmender Grenznutzen
Der präfrontale Kortex gilt als rationales Kontrollzentrum des Gehirns, wo Sinneseindrücke verarbeitet und mit Erinnerungen und
Gefühlen verknüpft werden. Aus dieser Verbindung entwickelt der
präfrontale Kortex Handlungsmöglichkeiten. Die Ausschüttung von
Dopamin beeinflusst über die mesokortikale Bahn die Prozesse im
präfrontalen Kortex. Dopamin ist erforderlich für Motivation und
Wahrnehmung sowie Prozesse wie Lernen, Planung und Entscheidung. Es wird vermutet, dass ein verschobener Dopaminhaushalt
im Gehirn zur Entstehung von Schizophrenie beitragen kann („Dopaminhypothese“).
Das Belohnungssystem ist einer der ältesten Bereiche des
menschlichen Gehirns, es diente ursprünglich allein dem Überleben, der Fortpflanzung und Arterhaltung. Erst später entwickelte
sich das Gehirn weiter und errichtete im präfrontalen Kortex das
rationale Steuerungszentrum über die uralten Triebe.
22
2.2 Belohnungszentrum und Dopamin
Suchtverhalten stört die Funktionsfähigkeit des präfrontalen Kortex, das rationale Denken und Handeln wird durchkreuzt und von
der Sucht dominiert. Der Abhängige verliert die Kontrolle über sein
Handeln und richtet sein Verhalten auf den weiteren Konsum aus.
Selbst schädliche Folgen werden ignoriert, weil die Regulation
durch rationale Erwägungen nicht mehr funktioniert. Auch die Motivationsbildung und das Erinnerungsvermögen werden gestört,
wenn die Funktionsfähigkeit des präfrontalen Kortex beeinträchtigt
ist.
Ein gewisses Maß von Anhedonie zu entwickeln ist natürlich und
Teil des menschlichen Lern- und Reifungsprozesses. In der Kindheit sind wir in der Lage, uns über Kleinigkeiten zu freuen. Diese
Freude erzeugt Motivation und fördert das Lernen. Mit der Zeit
flacht diese Freude ab. Wer als Kind noch über bunte Schmetterlinge gestaunt hat, wird dies im Erwachsenenalter nicht mehr in
gleichem Ausmaß tun.
Anhedonie lässt sich aber durch ständige Reizüberflutung und
Stress beschleunigen. In einer modernen Zeit, wo Informationen
umfassend und ständig verfügbar sind, ist es schwieriger, sich
über etwas zu wundern, zu staunen, Neugier zu entwickeln und
die Welt eigenständig zu entdecken. Wir verfügen heute über eine
nahezu unbegrenzte Vielfalt an Freizeitgestaltungsmöglichkeiten,
dennoch war die menschliche Gesellschaft nie zuvor derart freudlos. So lässt sich erklären, warum Menschen heute zu Suchtverhalten oder zum Teil selbstgefährdende Handlungen wie Extremsportarten neigen. Unzufriedenheit ist ein natürlicher Brutplatz
für Süchte.37
2.3 Vom Hobby zur Sucht
Computerspiele und das Internet sind faszinierende moderne Phänomene. In den letzten 25 Jahren haben sich die technischen
Möglichkeiten rasant entwickelt, wo damals noch grobe Klötze mit
wenigen Farben über den Bildschirm flackerten, werden heute in
Spielen realistische und komplexe Welten erzeugt, die mit gesto37 Young, K.S., Caught in the net, S. 30
23
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
chen scharfer Grafik, Orchestersound und glasklarer Sprachausgabe aufwarten. Die Bedienung wird immer interaktiver über Lenkräder, bewegungsempfindliche Controller und allerlei anderes Zubehör. Die schnellen Datenverbindungen ermöglichen Interaktion
und Kommunikation mit Millionen Spielern um den Globus herum.
Im Netz finden sich massenhaft Informations- und Unterhaltungsangebote. Über Web-2.0-Anwendungen wie Blogs, Wikis, soziale
Netzwerke oder Internet-Foren kann jeder an der weltweiten Gemeinschaft teilhaben und seine Erfahrungen, Erlebnisse und
Kenntnisse teilen.
Es lässt sich nicht verleugnen, dass die heutige Technik unsere
Lebensqualität enorm gesteigert hat. Wer Informationen sucht, findet sie in Sekundenbruchteilen konsumentenfreundlich aufbereitet
und muss nicht lange in Bibliotheken suchen. Information ist jederzeit verfügbar, untereinander verknüpft, unglaublich aktuell und oft
kostenfrei.
Wir haben alle Möglichkeiten, neue Kontakte zu knüpfen oder alte
Kontakte trotz räumlicher Distanz zu pflegen. Für so gut wie jedes
menschliche Interesse gibt es im Netz Gleichgesinnte, mit denen
wir uns austauschen können. Wer sonst in seinem sozialen Umfeld als „Exot“ belächelt worden wäre, kann seine Vorlieben nun
mit anderen teilen.
Der rasante Wachstum der technischen Möglichkeiten scheint uns
aber manchmal zu überfordern. Innerhalb von nur fünf Jahren hat
das Internet 50 Millionen Nutzer erreicht; das Radio brauchte dafür
etwa 40 Jahre, das Fernsehen 13 Jahre.38 Die gewaltige Flut an
Informationen, Unterhaltungsmöglichkeiten und Gelegenheiten
zum Austausch mit anderen Nutzern kann schnell zu Stress führen
und lähmen.
Neugier und Entdeckungsfreude sind natürliche menschliche Eigenschaften. Ebenso ist es das Spiel. In der Kindheit lernen wir
durch Spiele grundlegende und notwendige Fähigkeiten wie Spra38 Ridder, Onlinenutzung in Deutschland, S. 121
24
2.3 Vom Hobby zur Sucht
che, logisches Kombinieren, Zusammenhänge von Aktion und Reaktion sowie Motorik. Spielen ist daher äußerst nützlich, notwendig
und nicht ohne Grund im Menschen und höheren Tierarten angelegt.
Auch Erwachsene spielen. Wichtiges Merkmal für das Verständnis
des Begriffs „Spiel“ ist die Zweckfreiheit. Ein Spiel verfolgt keinen
bestimmten Zweck, sondern es wird
um seiner Selbst gespielt. Ferner
Der Mensch spielt nur, wo er
erfolgt beim Spiel ein Wechsel des
in voller Bedeutung des
Realitätsbezuges.
Gegenstände,
Wortes Mensch ist, und er ist
Handlungen und Personen können
nur Mensch, wo er spielt.
abweichend von der Realität andeFriedrich Schiller
re Bedeutungen erhalten. Das Spiel
ist dabei meist auf Gegenstände
bezogen, z.B. Spielzeug, Sportgeräte oder Brettspiele. Ferner weisen Spiele etwas Regelhaftes auf und zeichnen sich durch festgelegte Abläufe und Wiederholungen aus.39
So verstanden hat es uns das Spielen erst ermöglicht, eine gesellschaftliche Kultur zu entwickeln. Dichtung, Musik, das Recht, Wissenschaft und andere Bereiche gehen auf die menschliche Lust
und Fähigkeit zum Spielen zurück. 40 Spielen ist also nützlich und
völlig natürlich. Es hilft uns beim Lernen wichtiger Fähig- und Fertigkeiten, es dient zur Zerstreuung und Ablenkung und fördert soziale Kontakte zu anderen Menschen.
Problematisch wird es dann, wenn das spielerische Verhalten außer Kontrolle gerät und das Spiel andere Lebensbereiche dominiert. Viele menschliche Verhaltensweisen können ein schönes
Hobby oder eine Leidenschaft sein. Vernünftigerweise wägen wir
bei unseren Handlungen immer das Kosten-Nutzen-Verhältnis ab.
Wie viel Energie, Kraft und Zeit erfordert eine Handlung und welchen Nutzen, welchen Lustgewinn kann man erzielen?
39 siehe dazu auch Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 45 f.
40 Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 51 f.
25
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
Angewohnheit
(habit)
Vorliebe
(preference)
Neigung
(like)
Besessenheit
(obsession)
Sucht
(addiction)
Abbildung 4: Suchtkreislauf41
Der Übergang vom unbedenklichen Hobby zur Verhaltenssucht
verläuft fließend und unauffällig. Dem Betroffenen und seiner Umwelt wird dieser schleichende Prozess nicht sofort bewusst. Das
Bezugsobjekt, das Suchtmittel erhält einen immer höheren Stellenwert, demgegenüber werden andere Lebensinhalte in ihrer Wertigkeit zurückgestuft. Irgendwann kippt das Kosten-Nutzen-Verhältnis
ins Negative, ein deutliches Kriterium für das finale Stadium des
pathologischen Internetgebrauchs.42 Der Betroffene ist dann aber
bereits so gefangen, dass er dies in Kauf nimmt und nach Rechtfertigungen für sein fortgesetztes Verhalten sucht.
Die Selbstwahrnehmung der Abhängigen unterscheidet sich je
nach Stadium deutlich. Viele Internetnutzer, die deutliche Anzeichen eines pathologischen Gebrauchs zeigen, leugnen und bagatellisieren die Problematik. Auch deutliche negative Folgen werden
verharmlost, das Suchtverhalten gerechtfertigt. Zum Teil wird vehement bestritten, dass es Online-Abhängigkeit überhaupt geben
kann.
Allerdings wird dies zum Teil verständlich, wenn man berücksichtigt, wie leidenschaftliche Computerspieler in der öffentlichen Dis41 Darstellung angelehnt an: Johnson, Mutiplicities, S. 128
42 Six/Gimmler/Schröder in: Renner/Schütz/Machilek, Internet und Persönlichkeit, S. 227
26
2.3 Vom Hobby zur Sucht
kussion teilweise angeprangert werden.43 Insbesondere die zum
Teil unsachliche und oberflächliche Debatte um sogenannte „Killerspiele“ und deren Verbot hat die Fronten zwischen Spielern und
den Verantwortlichen aus Politik und Wissenschaft verhärtet. Viele
Spieler vermuten hinter jedem neuen Diskussionsansatz einen
weiteren Versuch, ihr Hobby zu dämonisieren und sie pauschal als
aggressive, gewalttätige Menschen darzustellen. Dabei gibt es bislang keine belastbaren Nachweise über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge zwischen der Nutzung bestimmter Spielinhalte und
der Entwicklung aggressiven Verhaltens.
Andere Nutzer haben eine erstaunliche Einsichtsfähigkeit und ein
Problembewusstsein entwickelt. Sie erkennen die Aussichtslosigkeit ihrer Situation, möchten etwas ändern und suchen Rat und
Hilfe. Bemerkenswert ist hierbei, dass sich diese Personen selbst
als „süchtig“ oder „abhängig“ bezeichnen und andere vor den Gefahren warnen, obwohl sie selbst noch unter dem Einfluss ihrer Abhängigkeit stehen.
Bei der Beurteilung des Nutzungsverhaltens als Abhängigkeit einer
Person muss das Alter und der Entwicklungsstand berücksichtigt
werden. Die bisher vorliegenden Studien weisen darauf hin, dass
überwiegend Jugendliche einen problematischen Internetgebrauch
aufweisen. Dies kann jedoch ein Teil der Persönlichkeitsentwicklung sein, Heranwachsende zeigen prinzipiell abweichende Verhaltensweisen. Sofern der Internetgebrauch keine deutlichen Anzeichen für eine pathologische und behandlungsbedürftige Dimension
zeigt und die negativen Konsequenzen nicht ausufern, muss davon ausgegangen werden, dass das Verhalten keine dauerhafte
Störung, sondern nur ein vorübergehendes Problem ist.44
2.4 Wege in die Sucht
Die Ursachen für Sucht und insbesondere Online-Abhängigkeit
sind komplex und vielschichtig. Ein einfaches Ursache-Wirkungs43 vgl. Pfeiffer/Primus/Götzl, MMORPGs 360°, S. 240 ff.
44 Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 89 f.
27
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
Gefüge lässt sich nicht aufstellen.45 Weder kann gesagt werden,
dass nur Personen mit bestimmten Charaktereigenschaft suchtgefährdet sind, noch dass bestimmte Suchtstoffe automatisch in die
Sucht führen.
Vielmehr wird der Weg in die Abhängigkeit durch persönliche und
soziale Faktoren sowie die Eigenschaften des Suchtmittels bestimmt. Diese drei Elemente stehen in komplexen Wechselbeziehungen zueinander. Auf die Suchtpotenziale der verschiedenen
Online-Nutzungsmöglichkeiten und insbesondere der Spiele wird
in Kapitel 4 (Seite 42) und Kapitel 5 (Seite 45) näher eingegangen.
Persönlichkeit
Disposition
Entwicklung
Gebrauch

Missbrauch

Abhängigkeit
Suchtmittel
Angebot
Wirkungen
Umwelt
Sozialfeld
Gesellschaft
Abbildung 5: Suchtfaktoren
Die Faktoren lassen sich bei der Online-Abhängigkeit nicht trennscharf abgrenzen. Während bei klassischen Suchtmitteln die Unterscheidung zwischen „Droge“ und „Umwelt“ recht einfach ist,
muss bei Internet-Nutzung beachtet werden, dass die Umwelt, die
Gesellschaft ein Teil der virtuellen Welt und damit des Suchtmittels
selbst ist.
45 Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 97, Petersen, S., Internetsucht, S. 14;
Grünbichler, Lost in Cyberspace?, S. 45
28
2.4 Wege in die Sucht
An dieser Stelle soll betont werden, dass kein Mensch seine Sucht
freiwillig auswählt, sondern selbst zum Opfer wird. Statt einem Abhängigen Vorwürfe zu machen, sollte ihm Verständnis entgegen
gebracht und Hilfe angeboten werden. Abhängigkeit in jeder Form
ist ein Leiden, das den Betroffenen und ihm nahestehende Menschen belastet.
Suchtfaktor Persönlichkeit
Wie bereits dargestellt ist Online-Abhängigkeit in der Regel ein
Hinweis auf bereits vorhandene psychische Störungen (siehe
Kap. 1.5, S. 15). Die Persönlichkeit des Betroffenen selbst ist bei
der Suchtneigung ein wichtiger Faktor. Gewisse Eigenschaften
und Fähigkeiten können die Gefahr, in Abhängigkeit zu verfallen,
erhöhen oder reduzieren.
Viele Menschen, nicht nur Online-Abhängige, nutzen das Netz als
Möglichkeit, dem Alltag zu entfliehen und zu entspannen. Das ist
grundsätzlich unbedenklich, denn diese Funktion erfüllen alle
menschlichen Hobbys und Freizeitaktivitäten. Unterhaltung und
Zerstreuung sind für den inneren Ausgleich sehr wichtig.
Bedenklich wird es dann, wenn das Netz zunehmend als Zufluchtsort genutzt wird, um dauerhaft den realweltlichen Problemen
entgehen zu wollen.46 Dies lässt auf unzureichende Copingstrategien schließen. Der Versuch, Schwierigkeiten dauerhaft zu verdrängen statt sie zu lösen, kann natürlich nicht funktionieren.
Wenn die übermäßige Internetnutzung zu weiteren Problemen
führt, beginnt ein gefährlicher Spiraleffekt.47 Die negativen Konsequenzen im Alltag werden durch zunehmende Internetnutzung weiter verdrängt, die Flucht wird zur Sucht und verfestigt sich immer
mehr. Das Suchtverhalten wiederum erzeugt beim Betroffenen ein
Gefühl von schlechtem Gewissen und Reue, das jedoch nicht an-
46 Mücken, Computerspielsucht, S. 18
47 Six/Gimmler/Schröder in: Renner/Schütz/Machilek, Internet und Persönlichkeit, S. 226
29
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
gemessen verarbeitet, sondern durch weitere Internetnutzung wieder nur verdrängt wird.48
Eng mit diesem Aspekt verknüpft ist der Erklärungsansatz, dass
Online-Abhängige das Netz als Möglichkeit der Selbstbehandlung
nutzen.49 Vorhandene Unsicherheiten und mangelnde soziale
Kompetenzen sollen im Internet überwunden werden, um die Erlebnisse und Erfahrungen dann auf das reale Leben zu übertragen. Allerdings führt der übermäßige Internetgebrauch zur Verkümmerung sozialer und emotionaler Ressourcen, so dass dieser
Versuch der Selbstbehandlung ebenfalls zum Scheitern verurteilt
ist. Die noch vorhandenen Ansätze angemessener Copingstrategien werden nicht mehr genutzt und zunehmend verlernt.50
Bedeutenden Einfluss auf die Entwicklung einer Abhängigkeit haben sogenannte fehlangepasste Kognitionen, also die Wahrnehmung und Informationsverarbeitung. Diese fehlgeleiteten Kognitionen kann man unterscheiden in das Denken über sich selbst und
das Denken über die Umwelt.51 Solche Störungen können zu
Selbstzweifeln und einem geringen Selbstwertgefühl führen. Ferner werden Erfahrungen verallgemeinert, der Betroffene glaubt,
das Internet sei der einzige Ort, wo er respektiert und anerkannt
wird. Bei der Mehrzahl der Online-Abhängigen wurden Depressionen festgestellt.52
Das Internet dient somit einerseits als Zufluchtsort, um realweltliche Probleme und Konfrontationen ausblenden zu können. Andererseits suchen Abhängige im Netz nach Erfahrungen, die sie im
„Real Life“ nicht bekommen, insbesondere nach Bestätigung, Anerkennung und Beachtung. Das Internet fungiert als Ersatzbefriedigung, um grundlegende menschliche Bedürfnisse zu bedienen.
48
49
50
51
Pfeiffer/Primus/Götzl, MMORPGs 360°, S. 289
te Wildt in: Lober, Virtuelle Welten, S. 70; Mücken, Computerspielsucht, S. 33
Mücken, Computerspielsucht, S. 30
Petersen,
S.,
Internetsucht,
S. 43,
Six/Gimmler/Schröder
in:
Renner/Schütz/Machilek, Internet und Persönlichkeit, S. 225
52 Petersen, K.U. u.a., Zwischenbericht an das BMG, S. 11
30
2.4 Wege in die Sucht
Suchtfaktor Umwelt
Dieser Faktor ist bei der Online-Abhängigkeit besonders interessant, weil hier zwei Dimensionen zu betrachten sind. Zum einen
hat der Betroffene eine realweltliche Umwelt, zum anderen seine
Sozialbeziehungen im Internet. Beide Fraktionen sind bemüht, den
Betroffenen auf die jeweilige Seite zu ziehen, wodurch ein Spannungsgefüge entsteht.
Die realweltlichen Kontakte zu Angehörigen, Freunden, Partnern,
Kollegen und der Familie tragen zum Teil mit zur Suchtentwicklung
bei. Auseinandersetzungen und Konflikte mit diesen Personen
werden oftmals nicht angemessen bewältigt und nachhaltig gelöst.
Bekommt der Betroffene von seinem sozialen Umfeld nicht die gewünschte Aufmerksamkeit und Anerkennung, so kann er in die
Versuchung kommen, diese im Netz zu suchen.
Die Umwelt im „Real Life“ sieht den Betroffenen zunehmend in der
virtuellen Welt verschwinden. Menschen, die dem Betroffenen nahestehen, versuchen ihn zu anderen Aktivitäten zu motivieren.
Meist hat sich dann aber schon ein soweit fortgeschrittenes Suchtverhalten entwickelt, dass der Betroffene eher zu Unternehmungen in der virtuellen Welt neigt. Die Fluchttendenzen werden noch
verstärkt, wenn sich die negativen Folgen des übermäßigen Internetgebrauchs zeigen und der Betroffene von seinem Umfeld darauf hingewiesen wird.
Auf der anderen Seite steht die „Peergroup“ im Netz, die soziale
Gruppe anderer, gleichgesinnter Nutzer. Diesen gegenüber fühlt
sich der Betroffene verpflichtet. Lange Offline-Zeiten müssen vor
den Internetkontakten gerechtfertigt werden, insbesondere OnlineSpieler sind einem hohen Erwartungsdruck ausgesetzt, an den Aktivitäten der Gruppe im Spiel regelmäßig teilzunehmen und ihren
Beitrag zum Gruppenerfolg zu leisten.
Je weiter sich ein Betroffener von der realen Welt entfremdet und
in die virtuelle Welt abtaucht, desto mehr vernachlässigt er die Gemeinsamkeiten mit seinem realweltlichen Umfeld. Frühere Hobbys
31
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
und Interessen werden aufgegeben und damit Ansatzpunkte zur
Kommunikation mit den realen Bezugspersonen. Wenn das Internet zum dominierenden Lebensinhalt wird, kann der Betroffene
bald nur noch mit seinen Kontakten im Netz über seine Interessen
sprechen, was zu weiterer Entfremdung vom „Real Life“ führt.
Suchtfaktor Suchtmittel
Auch wenn Online-Abhängigkeit in verschiedenen Formen auftritt,
so lassen sich dennoch Gemeinsamkeiten entdecken, die bei allen
Formen das Suchtpotenzial bestimmen.
Ein wesentliches Merkmal aller Internetangebote ist die Eigenschaft, ständig verfügbar zu sein und sich kontinuierlich fortzuentwickeln. Ob Chat, soziales Netzwerk oder Online-Spiel, die virtuelle Welt schreitet voran, auch wenn der Nutzer nicht online ist. Daraus ergibt sich ein gewisser Druck, denn der Abhängige muss immer mit der Angst leben, etwas zu verpassen.53 Diesem Druck
nachzugeben wird immer einfacher. Universitäten bieten zum Teil
kostenlose Internetzugänge, mobiles Internet ist mittlerweile sehr
preisgünstig und Internetcafés stehen zueinander im Wettbewerb.
Wer will, kann nahezu jederzeit und überall online gehen.
Dies führt zu einem weiteren Merkmal, den Kommunikationsmöglichkeiten im Netz. Je weiter die realweltlichen Kontakte zurückgefahren werden, umso wichtiger werden die Online-Beziehungen.
Dies weist auf eine seltsame Tendenz hin: zwischenmenschliche
Kontakte werden immer seltener, viele Dinge des täglichen Lebens
erledigen wir per Computer oder an Automaten. Das menschliche
Grundbedürfnis nach sozialen Begegnungen besteht aber nach
wie vor. Um dieses zu befriedigen, nutzen wir wiederum Maschinen und suchen nach Kontakten im Netz. Dies hat allerdings zur
Folge, dass der Umgang mit Menschen im „Real Life“ noch weiter
reduziert wird.
53 Grünbichler, Lost in Cyberspace?, S. 54
32
2.4 Wege in die Sucht
Bittere Ironie dieser Entwicklung ist, dass internetsüchtige Menschen einsamer sind als die Nicht-Süchtigen. 54 Dieses Phänomen
ist als „Internet Paradoxon“ bekannt geworden. Die vielfältigen
Kommunikationsmöglichkeiten des Internets führen nicht, wie man
erwarten sollte, zu sozialer Integration, sondern im Gegenteil zu
Ausgrenzung, Einsamkeit und zu zunehmenden Anzeichen von
Depressionen.55
Viele Angebote im Netz sind kostenfrei nutzbar. In der Regel finanzieren sich die Angebote über Werbung, die Anbieter haben daher
ein großes Interesse daran, die Zielgruppe zu locken und zu binden. Neben der Kostenfreiheit spielt daher eine große Rolle, dass
die Angebote einfach zugänglich, optisch ansprechend und komfortabel zu bedienen sind. Dies macht es insbesondere neuen Nutzern leicht, ein Angebot zu verwenden.
Und schließlich trägt die Vernetzung von Inhalten zum Suchtpotenzial bei. Das Internet ist nicht wie ein Film oder ein Buch linear und
endlich, sondern diffus und verzweigt. So kann es geschehen,
dass ein Nutzer auf der zielgerichteten Suche nach bestimmten Inhalten von „seinem Weg abkommt“ und unbemerkt Inhalte betrachtet, die er für sein Anliegen nicht benötigt und ursprünglich
auch nicht ansteuern wollte. Zurückgeführt werden kann ein solches Verhalten auf die menschliche Neugier und die Unsicherheit.56 Eine neuartige, mehrdeutige und komplexe Umwelt erzeugt
im Menschen Unsicherheit, die er dadurch zu reduzieren versucht,
dass er seiner Neugier nachgibt und so viele Informationen wie
möglich aufnimmt.
Ich selbst habe oft die Erfahrung gemacht, dass die Informationssuche z.B. bei Wikipedia ausuferte und ich mich nach einer Weile
in völlig anderen Themenbereichen wiederfand. Ähnliche Verlockungen findet man auf Videoportalen wie Youtube, wo automa54 Petersen, S., Internetsucht, S. 46; Grünbichler, Lost in Cyberspace?, S. 61;
Spitzer, Vorsicht Bildschirm!, S. 228
55 Seif, Online-Computerspiele, S. 50
56 Petry, PC- und Internetgebrauch, S. 37 f.
33
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
tisch „ähnliche Videos“ angeboten werden. Sagt man sich anfangs
„nur noch dieses eine Video“, so verliert man schnell das Zeitgefühl und es gibt keine Werbeunterbrechung, die es einem zurückgeben kann.
Ein weiterer Punkt, der den Reiz des Internets ausmacht, ist die
Anonymität sowie die Möglichkeit, sich hinter einer Art Maske zu
verstecken. Niemand muss mehr Informationen über sich herausgeben als er möchte und jeder kann sich eine virtuelle Persönlichkeit zulegen, die seinem wahren Charakter nicht ansatzweise entsprechen muss.
2.5 Co-Abhängigkeit
Unter Co-Abhängigkeit versteht man die Einbeziehung eines Angehörigen, Partners oder Freundes in das Suchtverhalten des Abhängigen. Abhängige leben zumindest bei Beginn der Sucht selten
allein und isoliert, so dass auch andere Personen die Sucht miterleben und in die Problematik eingebunden sind.
Den Angehörigen wurde lange Zeit zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Erst auf Initiative Helmut Kolitzus', Psychiater und Buchautor, erklärte die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen57 das Jahr
2000 zum „Jahr der Angehörigen Suchtkranker“.58
Co-Abhängigkeit verläuft ähnlich wie die eigentliche Sucht: sie beginnt schleichend, unbemerkt. Allmählich verfestigt sie sich, gräbt
sich tiefer und tiefer, nimmt den Co-Abhängigen immer mehr gefangen. Sie aktiviert in ihm Kräfte, die er zuvor unentdeckt ließ und
richtet alle Energie auf das Ziel aus: „Hilf dem Abhängigen! Opfere
Dich dafür selbst, hilf ihm bis zur Selbstaufgabe!“.
Der Co-Abhängige macht es zu seiner wichtigsten Angelegenheit,
den Süchtigen zu unterstützen und ihm helfen zu wollen. Dadurch,
dass er Verantwortung für einen anderen Menschen übernimmt,
57 gegründet als „Hauptarbeitsgemeinschaft zur Abwehr der Suchtgefahren“,
zwischenzeitlich unter dem Namen „Deutsche Hauptstelle gegen Suchtgefahren“ aktiv
58 Kolitzus, Ich befreie mich, S. 9
34
2.5 Co-Abhängigkeit
gibt er zugleich die Verantwortung für sich selbst ab. Der Abhängige dient dem Co-Abhängigen als Erklärung dafür, dass es ihm
selbst schlecht geht.
Wenn wir im Vertrauen auf die bisherigen Studien und Untersuchungen von Prävalenzraten bei Online-Abhängigkeit um zwei bis
drei Prozent ausgehen, bedeutet dies zugleich, dass ein Großteil
der Internetnutzer einen vernünftigen, zielgerichteten und kontrollierten Umgang mit dem Netz pflegt. Nicht erfasst sind aber die
Zahlen der Co-Abhängigen. Jeder Süchtige zieht andere Menschen mit in seine Sucht.
Co-Abhängigkeit verläuft in Phasen. In der ersten Phase ist der
Co-Abhängige ein Bewahrer und Beschützer. Er unterstützt das
Verhalten des Abhängigen, verteidigt es nach außen und hilft ihm,
es zu verheimlichen, zu verharmlosen und zu rechtfertigen. Zudem
fördert der Co-Abhängige das Ausleben der Sucht, indem er dem
Abhängigen notwendige Aufgaben abnimmt. Insbesondere in einer
Partnerschaft, aber auch im Eltern-Kind-Verhältnis zeigt sich dies
dadurch, dass der Co-Abhängige die Arbeiten im Haushalt weitgehend allein erledigt und dem Abhängigen die Mahlzeiten an den
Computer bringt. Der Angehörige bittet den Abhängigen immer
wieder, das Suchtverhalten einzuschränken, wird aber regelmäßig
enttäuscht. Er macht sich Vorwürfe, dass es ihm nicht gelingt, eine
Besserung zu erreichen, die wiederholten Enttäuschungen mindern das Selbstwertgefühl des Co-Abhängigen.
In einem späteren Stadium erkennt der Co-Abhängige, dass die
Entwicklung der Sucht allmählich bedrohlich wird und die bisherigen Hilfsangebote fruchtlos waren. Er entwickelt Selbstzweifel und
versucht, das Verhalten des Süchtigen zu kontrollieren. Der Abhängige wiederum beginnt auch dem Co-Abhängigen gegenüber,
das Suchtverhalten zu verheimlichen, zu leugnen und über das
wahre Ausmaß zu lügen. Das Verhältnis wird zunehmend angespannter und gereizter. Das Selbstwertgefühl des Co-Abhängigen
wird maßgeblich vom aktuellen Suchtverhalten des Abhängigen
35
2. Wie Sucht entsteht und wie sie wirkt
geprägt. Reduziert dieser sein Suchtverhalten, so steigert sich das
Selbstwertgefühl des Angehörigen.
In der Anklagephase wird dem Abhängigen die Schuld zugewiesen. Der Co-Abhängige macht nicht mehr sich selbst Vorwürfe. Die
bisherigen Enttäuschungen münden in Ablehnung des Süchtigen
und Distanzierung. Zunehmend treten Konflikte auf, der Co-Abhängige sucht Rat und Unterstützung bei Freunden und Bekannten.
Es zeigt sich, dass Co-Abhängigkeit ebenfalls viele Merkmale einer Sucht aufweist.59 Auch als „Helfer-Syndrom“ umschrieben, ist
es in gewisser Weise die Sucht, gebraucht zu werden, für den Abhängigen unentbehrlich zu sein.
Ein Co-Abhängiger nimmt große Einschränkungen auf sich und
vernachlässigt sich selbst, weil er sein Leben nach dem Süchtigen
ausrichtet. Bis ein Co-Abhängiger sein Problem erkennt, hat er
meist schon viel Kraft, Zeit und Energie geopfert. Und statt dem
Süchtigen wirklich geholfen zu haben, hat er dessen Sucht verstärkt und gefördert.
59 Kolitzus, Ich befreie mich, S. 23
36
Glossar
Glossar
Ätiologie
Ursachenlehre, Teil der Medizin, der sich mit Ursache-WirkungsZusammenhängen von Krankheiten befasst und erforscht, welche
Ursachen kausal für welche Krankheit verantwortlich sind.
Avatar
Spielfigur in Computerspielen, der virtuelle Vertreter des Spielers.
Buff
Vorübergehende Verbesserung der Charakterwerte in MMORPGs
durch Zauber.
Chat
Dt.: Plauderei, eine text-, sprach- oder videogestützte Anwendung
zur Kommunikation zwischen Online-Nutzern. Chat-Anwendungen
ermöglichen es, in Echtzeit mit anderen Personen zu kommunizieren. Viele Online-Spiele bieten ein in das Spiel integriertes ChatSystem, es gibt aber auch eigenständige Chat-Anwendungen, die
zum Teil parallel zum Spiel verwendet werden.
Clan
Siehe Eintrag „Gilde“.
Client
Der Client (dt.: Kunde, Nutzer) ist ein Programm, das mit einem
Server kommuniziert und bei diesem Dienste abruft und nutzt. Bei
client-basierten Online-Spielen installiert der Spieler den Spiel-Client auf seinem heimischen Rechner und kann darüber die Spielfunktionen nutzen und mit anderen Spielern in Kontakt treten.
51
Glossar
Coping
Unter Coping (dt.: bewältigen, verkraften, überstehen) versteht
man Bewältigungsstrategien, um mit negativen Erlebnissen oder
Belastungen umgehen zu können. Copingstrategien lassen sich in
adaptive, also auf die nachhaltige Lösung des Problems ausgerichtete und maladaptive, d.h. verdrängende und ablenkende Strategien unterscheiden.
DSM-IV
Das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (dt.:
Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen) ist eine von der American Psychiatric Association herausgegebene Klassifikation zur Einteilung psychischer Störungen.
Zweck ist die Vereinheitlichung der Diagnosen und Erleichterung
der Behandlung. Das DSM-IV kommt neben dem ICD-10 zum Einsatz, wobei aber zu bedenken ist, dass das DSM-IV ein rein US-amerikanisches Werk ist. Eine überarbeitete Fassung (DSM-5) soll
im Mai 2013 veröffentlicht werden. Ursprünglich war sie für Mai
2012 angekündigt, wurde im Dezember 2009 aber um ein Jahr
verschoben.
Ego-Shooter
Siehe Eintrag „First-Person-Shooter“.
First-Person-Shooter
Spielform, bei der der Spieler seine Spielfigur nicht sieht, sondern
„durch ihre Augen“, also aus der Ich-Perspektive, die dreidimensionale Spielwelt betrachtet. Bei diesen Spielen steht die bewaffnete
Auseinandersetzung mit anderen Spielern im Vordergrund. Ein anderer Begriff lautet „Ego-Shooter“. Als Untervariante legen TaktikShooter größeren Wert auf strategische Elemente wie die Abstimmung mit befreundeten Spielern.
52
Glossar
Gilde
Langfristig angelegte Zusammenschlüsse bzw. Vereinigungen von
Spielern, die gemeinsam ein Spiel spielen und gegen andere Gilden antreten, um sich mit diesen zu messen. Der Begriff „Gilde“
wird überwiegend bei MMORPGs verwendet, bei First-Person-Shootern spricht man von Clans. Professionelle Gilden bzw. Clans
sind als Personenvereinigungen registriert und nehmen an großen
Wettbewerben wie Turnieren oder Ligen teil.
ICD-10
Die „International Statistical Classification of Diseases and Related
Health Problems“ (dt.: internationale statistische Klassifikation der
Krankheiten und ähnlicher Gesundheitsprobleme) ist ein System
zur Einteilung von Krankheiten und wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) veröffentlicht. Mit dem System werden diagnostizierte Krankheiten alphanumerisch codiert. Die Codierung ist
in Deutschland gesetzlich vorgeschrieben. In den USA wird für
psychische Erkrankungen neben der ICD-10 das DSM-IV verwendet.
Instant Messaging
Kommunikationsform zur sofortigen Übermittlung von Textnachrichten. Die Mitteilungen werden über einen Client zum Empfänger
geleitet. Neben der reinen Textkommunikation bieten heutige Instant Messenger auch die Möglichkeit, Dateien zu übersenden
oder Sprach- und Videochats zu führen.
Komorbidität
Dieser Begriff bezeichnet das Zusammentreffen mehrerer Krankheitsbilder, weist also auf Mehrfachdiagnosen hin. Hier stellt sich
die Frage, welches Krankheitsbild die Grunderkrankung darstellt
und welche lediglich Symptome sind.
53
Glossar
Korrelation
In der Statistik liegt Korrelation vor, wenn zwei oder mehrere Beobachtungen stets zusammen auftreten oder zusammen ausbleiben.
Daraus allein lässt sich aber noch nicht auf kausale Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge schließen. So kann Beobachtung A Ursache, aber auch Folge von Beobachtung B sein. Ferner ist es möglich, dass A und B voneinander unabhängig sind oder ihnen in
Wahrheit eine bisher unentdeckte Ursache C zugrunde liegt, auf
der A und B beruhen. Bei negativer Korrelation ergibt sich ein Zusammenhang nach dem Schema „je mehr A, desto weniger B und
umgekehrt“.
Lag
Dt.: Verzögerung, Bezeichnung für Behinderungen bei EchtzeitSpielen, die auf eine schlechte Datenverbindung oder überlastete
Server zurückzuführen sind. Durch Lags wird der betroffene Spieler benachteiligt, weil er der wirklichen Spielsituation hinterherhinkt.
Längsschnittstudie
Eine wissenschaftliche Unterschung, die mehrmals in gleichen Abständen wiederholt wird. Im Gegensatz zur Querschnittsstudie lassen sich so Entwicklungen und Zusammenhänge erkennen.
LARP
Live Action Role Playing, eine Rollenspielform, in der die Spieler
selbst die Spielfiguren verkörpern, also „live“ agieren. LARP-Spieler kleiden sich gern in aufwendige Gewänder und tragen ungefährliche Kunststoffwaffen. Ausgetragen werden diese Spiele meist
in Burgkulissen oder Wäldern und sind in ein Fantasy-Szenario
eingebettet.
Level
Ein Level (dt.: Spielstufe oder -abschnitt) bezeichnet einen abgeschlossenen Spielbereich, insbesondere bei Einzelspielerspielen.
54
Glossar
Bei Rollenspielen steht der Begriff für die Erfahrungsstufe der
Spielfigur.
Likert-Skala
Dieses nach dem Soziologen Rensis Likert benannte Messverfahren dient der Ermittlung persönlicher Einstellungen von Personen
zu bestimmten Fragen oder Thesen. Die Person kann auf einer
gestuften Skala angeben, ob sie der These zustimmt oder sie ablehnt bzw. ob die These zutrifft oder nicht zutrifft. Oft haben LikertSkalen vier oder fünf Stufen, wobei eine gerade Anzahl von Stufen
zumindest die Angabe einer Tendenz erzwingt. Eine ungerade Anzahl von Stufen erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass die befragte
Person nicht hinreichend über ihre Einstellung nachdenkt und deshalb die mittlere Stufe („teils-teils“) wählt.
Map
Der Begriff Map (dt.: Landkarte) wird für ein abgegrenztes Spielgebiet verwendet, in dem sich das Spielgeschehen abspielt. Er wird
vor allem bei First-Person-Shootern verwendet.
MMORPG
Massively Multiplayer Online Role-Playing Game (dt.: MassenMehrspieler-Online-Rollenspiel. Über das Internet spielbares Rollenspiel, an dem zum Teil mehrere Tausend Spieler teilnehmen.
Meist sind die Spiele in einem Fantasy- oder Science-Fiction-Szenario angesiedelt und stellen eine umfangreiche Spielwelt zur Verfügung.
Mob
Abgeleitet von „mobile“ bezeichnet der Begriff bewegliche Gegner
in MMORPGs, die nicht von Spielern, sondern vom Programm gesteuert werden.
55
Glossar
NPC
Abkürzung für „Non-player character“, ein Nicht-Spieler-Charakter
in MMORPGs, der vom Spieleprogramm gesteuert wird.
pathologisch
Krankhaft, von der Norm abweichend. Im Zusammenhang mit Internetnutzung wird oft zwischen funktionalem (zielgerichtet, selbstbestimmt und kontrolliert), dysfunktionalem (weniger kontrolliert,
aber ohne typische Anzeichen für Abhängigkeit) und pathologischem (Kontrollverlust, deutlich negative Kosten-Nutzen-Bilanz
und wesentliche Suchtmerkmale) Gebrauch unterschieden.
Pen & Paper-Rollenspiel
Die ursprüngliche Rollenspiel-Form, bei der die Spieler die Handlungen ihrer Figuren verbal beschreiben und der Spielleiter erläutert, welche Auswirkungen die Handlungen haben. Er führt die
Spielhandlung, indem er den Spielern die Umgebung beschreibt
und die NPC agieren lässt. Kämpfe werden durch Würfelwürfe simuliert, wobei die Charakterwerte der Figuren großen Einfluss auf
Sieg oder Niederlage haben. Die Werte seiner Figur vermerkt jeder Spieler auf einem Charakterbogen (pen & paper = dt.: Bleistift
und Papier). Die gesamte Handlung findet in der Fantasie der Teilnehmer statt. Statt messbarer Erfolge steht oft die gemeinsame
Entwicklung einer Handlung und Geschichte im Vordergrund.
Prävalenz
Rate der Krankheitshäufigkeit. Sie gibt an, in welchem Verhältnis
zur Gesamtheit von untersuchten Personen ein bestimmtes Krankheitsbild auftritt.
Querschnittsstudie
Eine wissenschaftliche Studie, die einmalig mit einer Stichprobe
durchgeführt wird. Aus der Stichprobe wird auf die Grundgesamtheit (z.B. Bevölkerung des gesamten Landes) geschlossen. Querschnittsstudien sind Momentaufnahmen eines Zustandes; um Ent56
Glossar
wicklungen einschätzen zu können, müssen Längsschnittstudien
durchgeführt werden.
Quest
Dt.: Suche, ein Auftrag oder eine Mission in einem MMORPG.
Quests werden den Spielern von Nicht-Spieler-Charakteren erteilt,
für die Erledigung der Aufgabe wird der Spieler mit Geld, Ausrüstungsgegenständen oder anderem belohnt.
Raid
Ein Raid (dt.: Überfall, Raubzug) ist die Zusammenarbeit von vielen MMORPG-Spielern, die gemeinsam gegen einen starken Gegner antreten oder andere herausfordernde Aufgaben bewältigen
wollen.
Real Life
Dt.: wirkliches Leben, Abkürzung RL. Wird von Online-Spielern
verwendet, um Ereignisse außerhalb des Spiels, die also im „wahren Leben“ stattfinden, von Erlebnissen innerhalb der Spielwelt abzugrenzen.
Server
Ein Server (dt: Diener) ist ein Programm, das mit anderen Programmen kommuniziert und diesen Dienste und Funktionen bereitstellt. Bei Online-Spielen laufen über den Server die wesentlichen
Spielfunktionen ab. Die mit dem Server kommunizierenden Programme heißen Clients.
Symptom
Ein Krankheitsbild, das auf eine Krankheit hindeutet. Anhand des
Symptoms oder der Symptome wird auf die tatsächlich zu diagnostizierende Krankheit geschlossen.
57
Glossar
Taktik-Shooter
Siehe Eintrag „First-Person-Shooter.
Tank
Ein besonders starker und widerstandsfähiger Charakter in
MMORPGs, der Gegner reizen und auf sich ziehen soll, während
andere Charaktere den Gegner ungestört bekämpfen.
58
Stichwortverzeichnis
Stichwortverzeichnis
A
H
abnehmender Grenznutzen 22
Alkoholabhängigkeit 17
Anhedonie 21
Arpanet 1
B
Belohnungssystem 19
Bewältigungsstrategie 29
Bundessozialgericht 17
C
CERN 1
Co-Abhängigkeit 34
Coping 29
Hahn, André 7
Helfer-Syndrom 36
I
IAD 3
IAT 6
ICD-10 14, 18
Impulskontrollstörung 14, 18
internet addiction disorder 3
Internet Addiction Support Group 4
internet addiction test 6
Internet Paradoxon 33
Internetsuchtskala 8
ISDN 1
J
D
Diagnostic Questionnaire 4
Dopamin 19
Dopaminhypothese 22
DQ 4
Drogenpolitik 37
DSL 2
DSM-IV 3, 14
E
Jerusalem, Matthias 7
K
Killerspiele 27
Komorbidität 15
Kosten-Nutzen-Verhältnis 25
Kostenübernahme 14
L
E-Mail 1
erstes Gossensches Gesetz 22
Eskapismus 29
F
Fachverband Medienabhängigkeit 9
Flatrate 2
G
Glücksspiel 18
Goldberg, Ivan 3
Gossensches Gesetz 22
M
mesokortikale Bahn 22
mesolimbisches System 19
Milner, Peter 19
MMORPG 45
N
Nucleus accumbens 20
Die fett gedruckten Zahlen beziehen sich auf Seitenzahlen
59
Stichwortverzeichnis
O
Olds, James 19
P
Peergroup 31
präfrontaler Kortex 22
Prävalenz 6
Q
R
S
Schutzauftrag 37
Selbstgefährdung 37
Selbstwahrnehmung 26
Spiel 24
stoffungebundene Sucht 14
Suchtfaktoren 28
Suchtkreislauf 26
Suchtpolitik 37
T
Therapiekosten 14
U
V
W
Web 2.0 3, 24
WorldWideWeb 1
WWW 1
Y
Young, Kimberly S. 4
Die fett gedruckten Zahlen beziehen sich auf Seitenzahlen
60
Z

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