When the pictures come to halt

Transcrição

When the pictures come to halt
when the pictures
come to halt
Julia Lazarus
when the pictures
come to halt
Julia Lazarus
Revolver Publishing
Inhalt
content
6
Bild und Symbol –
Spielarten des Romantischen
66
vida en otro lado
life on the other side
71
Wenn die Bilder stehen lernen –
vier Fragmente zu filmischen Räumen
When the pictures come to halt –
four fragments towards the cinematic range
Claudia Funke
10
Dancing with my loneliness again
17
Image and Sign –
Varieties of Romantisicm
75
Raimar Stange
Claudia Funke
24
It might all come together for
a moment and then just as quickly
it is gone
30
Die Brüchigkeit der Spielerinnenkörper
The fragility of the player’s bodies
36
Shanty Kitchen
42
Eine Kochschule – Essen –
Gastfreundschaft – Migration
A cooking school – Food –
Hospitality – Migration
76
planned environments
80
Forst
Forest
84
Politik der Wahrheit –
Dokumentarismus im Kunstfeld
Politics of Truth –
Documentarism in Arts
85
Hito Steyerl
43
86
a lucia
93
a lucia
Rike Frank
Stéphane Bauer
44
Kosten senken! Wachstum steigern!
Lower the costs! Increase the growth!
47
Fotokunst in Bildern –
die Werte hinter den Fassaden
Photografic art in pictures –
the values behind the facades
49
Vera Tollmann
54
the briefing center
58
Notizen aus der Provinz –
über Motive und Blickwinkel
Memos from the boonies –
on motifs and perspectives
63
94
mobile homes
95
Vita
96
Impressum
Imprint
Abb. / fig. S. / p. 2:
studies in romance no. 2
HDV, 10 min, Loop
Abb. / fig. S. / p. 4:
studies in romance no. 1
HDV, 1 min, Loop
Claudia Wahjudi
5
Bild und
Symbol Spielarten des
Romantischen
Claudia Funke
Im Jahr 2006 übermalt Julia Lazarus eine Fotografie
mit Ölfarben und nennt das Werk Berglandschaft
[Abb. S. 7]. Undeutlich zeichnet sich ein dunkles
Gebilde vor einem dunstigen Hintergrund ab.
Aufgrund seiner formlosen Unbestimmtheit greift es
die Kunst von Mark Rothko und des Minimalismus
auf. Durch das Motiv der Naturdarstellung im Zwielicht der Dämmerung steht es in der Nachfolge der
romantischen Landschaftsmalerei, die von Robert
Rosenblum in seiner Studie “Modern Painting and
the Northern Romantic Tradition – Friedrich to
Rothko” bis in die Kunst des 20. Jahrhunderts
nachgewiesen wurde.1
Es ist eher ungewöhnlich, dass Julia Lazarus zum
Pinsel und zur Farbe greift. Die Künstlerin studierte
in den 1990er Jahren an der Hochschule der Künste
Berlin bei der Medien- und Performancekünstlerin
Valie Export und am California Institute of the Arts
in Los Angeles bei den Filmemachern Hartmut
Bitomsky und James Benning.
Ihre bevorzugten Ausdruckmittel sind die Fotografie und der Film. Ihre Arbeiten kennzeichnet
ein sachlicher Blick auf politisch-gesellschaftliche
Themen, verbunden mit einem minimalistischdokumentarischen Stil, der sich auf wenige und
lange Kameraeinstellungen konzentriert. Oftmals
stehen in ihren Fotografien und Videoarbeiten
Menschen in interaktiven sozialen Situationen
oder in ihrer Vereinzelung und Isoliertheit im
Vordergrund.
6
Für die Serie Kosten senken! Wachstum steigern!,
2009 [S. 44 ff.], fotografierte Lazarus die Außenfassaden der zehn stärksten Aktienunternehmen in
Deutschland – die kühle Konstruktivität der
Architekturen geht einher mit dem distanzierten
Blick der Künstlerin und den menschenleeren
Plätzen vor den Gebäuden.
Im Film Die Brüchigkeit der Spielerinnenkörper,
2011 [S. 30ff.], beobachtet Julia Lazarus das Training
der deutschen Fußballnationalelf der Frauen. Der
betont dokumentarische Charakter dieser Arbeit
eröffnet dem Betrachter die symbolische Situation
des Geschehens vor der Kamera: Die Sportlerinnen
trainieren für ein gemeinsames Ziel. Im Kampf mit
der Kondition des eigenen Körpers bleibt jede auf
sich gestellt und wird als verletzliches Individuum
erkennbar.
In dem einminütigen Loop studies in romance no. 1
[Abb. S. 4] hört man im Hintergrund das Rauschen
des Meeres, während das Bild in einem fast monotonen Grau den Blick auf die Ostsee wiedergibt.
Durch den lichten Nebel ist die Horizontlinie, die
das Wasser vom Himmel scheidet, kaum sichtbar. Die
starke atmosphärische Stimmung, die annähernde
Ununterscheidbarkeit von Luft und Wasser und das
Verschwinden der Konturen rücken diese filmische
Studie in die Nähe einer abstrakten Version des vor
allem in der Romantik beliebten Genres der
Malerei: des Seestücks.2
Seit Gustave Courbets Darstellungen von Meeresbrandungen um 1869/70, die das Motiv von Wasser,
Wellen, Horizont und Himmel unter Verzicht auf
eine menschliche Figur in den Vordergrund stellten,
gibt es einige Bilder, die wie gemalte Vorläufer von
Julia Lazarus’ Filmloop wirken. Sie reichen von
Emil Noldes “Lichte Meerstimmung” von 19013
bis zu Gerhard Richters “Seestück” von 1975.4
Die Filmarbeit von Julia Lazarus bestätigt durch
eine sich wiederholende und meditative Monotonie
den romantischen Topos, geht aber in seiner
dokumentarischen Strenge und dramaturgischen
,Banalität’ gleichzeitig auf kritische Distanz zu
einem mit Gefühlen aufgeladenen Stimmungsbild.
Berglandschaft, Oil on digital print mounted on wood, 30 x 60 cm
Das Gegenstück zu Julia Lazarus Ansicht des
Meeres bei Tage bildet studies in romance no. 2
[Abb. S. 2]. In dem 10 min langen Filmloop ziehen
dunkle Wolken vor dem hell leuchtenden Mond
am Nachthimmel entlang, begleitet von den
melancholisch-sirrenden Klängen des Theremins,
gespielt von Barbara Buchholz. Der nächtliche,
vom Mond beschienene Himmel ist ein in der
Kunst um 1800 ebenso populäres Thema wie die
Darstellung der flüchtigen, sich schnell auflösenden
und immer wieder neu formierenden Wolken.
Aufgrund der spezifischen Eigenschaften des
Mediums Film erscheint der Mond in der Arbeit
von Lazarus wie eine aus sich selbst heraus
leuchtende Lichtquelle, die den HelldunkelKontrast des Bildes verstärkt.
Zur Intensivierung der Lichtmetaphorik der
Mondschein-Bilder nutzten Künstler wie Jakob P.
Hackert und Caspar D. Friedrich Transparentbilder
und Dioramen: „Die Bilder wurden auf durchscheinende Materialien gemalt und im verdunkelten
Raum mit rückseitiger Beleuchtung vorgeführt.
Nicht gemaltes Licht war zu sehen, sondern real und
sinnlich erlebbares Licht einer im Dunkeln lichtspendenden Mondscheinlandschaft.“5 Hackert und
Friedrich stellten ihre Licht-Bilder – dem romantischen Bestreben nach synästhetischen Erfahrungen
entsprechend – mit musikalischer Untermalung aus.
„Die Transparentmalerei war der Versuch, mit
malerischen Mitteln die Gattungsgrenzen der Malerei
zu überschreiten. Strukturell wie rezeptionsästhetisch
zeigt sich eine Affinität zum Film.“6
7
Die Himmelsstudien, die Künstler im beginnenden
19. Jahrhundert schufen, bewegen sich zwischen
naturwissenschaftlichem Forscherdrang und einer
Faszination für das abstrakte Potential der unfassbaren, stets sich unvorhersehbar wandelnden Wolkenformationen. Laut Immanuel Kant oder zuvor
Edmund Burke ist der – nächtliche oder stürmische
– Wolkenhimmel ein Zeichen für das „Erhabene“,
dessen Erfahrung sowohl durch Unbegrenztheit als
auch Formlosigkeit gekennzeichnet ist. 7
In studies in romance no. 2 von Julia Lazarus ziehen
die Wolken unentwegt am Mond vorbei, doch im
Zusammenhang mit der statischen Kameraeinstellung
und der in Lautstärke und Melodie variierenden
Theremin-Musik wirkt der Film bildhaft und verweist
den Betrachter in die Rolle des außenstehenden
Beobachters, der einen distanzierenden Abstand zu
den romantischen Analogien einnimmt. Gleichfalls
bewegungslos sind die ins Filmbild montierten
Wolken in vida en otro lado, 2005 [S. 66ff.]: Sie
zitieren die Wolken aus dem Gemälde „Turmbau zu
Babel“, 1563, von Pieter Bruegel d. Ä. und verharren
im Gegensatz zu den gefilmten Geschehnissen in der
mexikanischen Siedlung regungslos am Himmel.
Demgegenüber suggerieren die dunklen Schatten auf
dem übermalten Foto von Lazarus’ Berglandschaft,
2006, eine Bewegtheit, als befänden sie sich im
Übergang in eine andere Formation.
Der mit musikalischer Begleitung unterlegte nächtliche Wolkenhimmel in studies in romance no. 2
war als Projektion in der Ausstellung It might all
come together for a moment and then just as
quickly it is gone [S. 24ff.] in der Galerie Funke,
Berlin im September/Oktober 2011 zu sehen. Die
Ausstellung richtete den Fokus auf die neuesten
fotografischen Arbeiten von Julia Lazarus aus den
Jahren 2010 und 2011. In ihnen setzt sich die
Künstlerin mit dem Genre der Straßenfotografie in
der Tradition von Henri-Cartier Bresson, Robert
Frank, Lisette Model oder Saul Leiter auseinander.
Der Ausstellungstitel – er zitiert eine Handlungsanweisung eines im Internet ausgeschriebenen
„Street Photography Projects“ – betont das Augenblickliche und Flüchtige einer Zusammenkunft von
8
Menschen auf der Straße, die für die Dauer eines
Momentes ein bildhaftes Arrangement bilden, das
sich sofort wieder auflöst, wenn sie auseinander
gehen. Die Serie der in der Galerie Funke ausgestellten Fotografien nahm Lazarus an einem einzigen Tag
im August 2011 an verschiedenen Orten in Berlin
auf. Es sind Polizisten in der Abenddämmerung zu
sehen, Demonstranten auf dem Alexanderplatz und
Szenen von der Fuckparade.
Das urbane Ambiente in den Fotografien ist nicht
gestellt, sondern authentisch und spontan. Das
Interesse der Künstlerin gilt nicht dem individuellen
Porträt, sondern der Gruppenkonfiguration. Sie
erkennt in der Struktur der Gruppierungen
Kompositionsschemata und damit visuelle Bezüge
zur Malerei, die über das Dokumentarische hinaus
gehen. Einige Fotografien erscheinen aufgrund ihrer
seriellen Sequenzartigkeit wie Ausschnitte aus
einem Film – sie transportieren Aktion und
Beschleunigung, die Lazarus in ihren Filmen eher
ausbremst und verlangsamt. Ihre Straßenfotografien
bewegen sich jenseits der Absicht narrativer oder
didaktischer Repräsentation. Im Sinne von Jacques
Rancières Kritik, dass die „sinnliche Anwesenheit
der Kunst von einem Diskurs über die Kunst
aufgezehrt“ werde,8 fragt Lazarus, die sich mit
Rancières Schrift „Das Unvernehmen“ auseinander
setzte: „Wann fangen Bilder an zu sprechen, so dass
man dafür keinen Text braucht? – Ich möchte mit
meinen Bildern eine bestimmte Stimmung erzeugen,
das ist es, was Bilder auszeichnet – vielleicht geht
diese Grundstimmung in Richtung Dichtung oder
Poesie.“
Die Künstlerin entkommt der Sackgasse abbildender Erzählung durch den metaphorischen und
symbolischen Charakter ihrer Fotografien und
Filme. Sie zielt auf die Abstraktion des Gesehenen
in Richtung sozialer Gegebenheiten und gesellschaftlicher Inhalte. Anne Krause und Vera
Tollmann schreiben 2005 in der Neuen Review
über das Werk von Julia Lazarus: „Die Umgebung
bleibt aber immer nur Kulisse. [Sie] wird – als
Alternative zu gängigen Dokumentationsbildern –
zur symbolischen Bühne.“9
Die Kunst der Romantik verdichtete ihre Bildaussagen zu symbolischen Chiffren. Diese bezogen sich
auf die Einsamkeit und Ängste des nun als vereinzelt
wahrgenommenen Subjekts, das sich vor dem
Hintergrund der Unendlichkeit und Unermeßlichkeit der Natur gespiegelt sah oder auf Sehnsüchte
und Utopien im Hinblick auf Gemeinschaft und
gesellschaftliche Erneuerung.10 Lazarus distanziert
den Betrachter von dem Bildgeschehen ihrer Filme
und Fotografien; er bleibt der außenstehende Beobachter einer nicht für ihn bestimmten, zufälligen
Situation, die sich ihm wie ein Schauspiel darbietet,
dessen Inhalt das Bild als Bild offenbart.
Ihr in einer Diskothek gedrehter Film Dancing
with my loneliness again, 2011 [S. 10ff.], beginnt
mit dem gleichnamigen Song von Schiller. Eine
einzige Kameraeinstellung beherrscht die 16 min
des Films: Der Betrachter blickt in leichter Aufsicht
auf das aus der Perspektive der Kamera rautenförmig-diagonale, farbig aufleuchtende Raster der
quadratischen Platten des Tanzbodens. Die Scheinwerfer tauchen den Raum abwechselnd und in
fließenden Übergängen in rotes, blaues oder grünes
Licht. Die gefilmte Raumstruktur spielt auf die
Inkunabeln der Moderne, der Minimal Art und der
zeitgenössischen Kunst an: Erinnerungen werden
geweckt an Werke von Piet Mondrian, Carl Andre,
Donald Judd, Sarah Morris oder – angesichts des
Dunstes aus der Nebelmaschine der Disko – die
Farb- und Nebelräume von Olafur Eliasson.
Die Tanzfläche ist noch leer. Schiller singen zu der
von Synthesizern dominierten, atmosphärischen
Musik. „I’m dancing with my loneliness again /
slowly to the music from within / I’m dancing with
my loneliness again / feeling it can be my only
friend / … / I’m dancing with my loneliness inside
/ knowing there’s no place where I can hide /…/
I’m dancing romancing.” Erst allmählich füllt sich
der Raum, weitere Keyboard lastige Songs erklingen, vereinzelte Menschen in Turnschuhen und
Stiefeln kreuzen die Tanzfläche – der Betrachter
sieht nur ihre Beine11 – bis die Tanzfläche zum
Schluss von den Besuchern in Gruppen tanzend
eingenommen wird.
Auf der einen Seite beschreibt der Film den alltäglichen Ablauf eines Abends in einer Diskothek. In
chiffreartiger Verdichtung macht er darüber hinaus
eine Aussage über das Thema Vereinzelung und
Gemeinschaft, die sich allein aus den Bildern und
der Musik ableiten lässt. Das diaphane, transluzente
Raster des Tanzbodens hinterlässt durch das Leuchten
der Farben und die Regelmäßigkeit und Reflektion
des Lichtes den Eindruck einer schimmernden
Kristallstruktur. Künstler der Moderne, die Architekten Bruno Taut und Hans Scharoun ebenso wie
Lyonel Feininger oder die Kubisten, referierten auf
die Kristallform „als Ausdruck der ,Allseitigkeit’
der Beziehungen“, der unendlichen Vielzahl ihrer
Lichtbrechungen und Perspektiven. Der transparente,
lichte „Kristalldom“ galt als Zeichen einer dem
Materiellen trotzenden utopischen Vision.12 In Julia
Lazarus Film erscheint der Raum der Diskothek mit
seinen Scheinwerfern als Inszenierung einer Kathedrale der Farben, der Musik und des Lichts. Die
Tanzfläche markiert die Bühne, auf der symbolisch
Theater gespielt wird.
1
vgl. Rosenblum, R. T., Modern Painting and the Northern Romantic Tradition.
Friedrich to Rothko, London 1975 und Rosenblums Aufsatz: The Abstract Sublime, in: Art News, Februar 1961, S. 38 ff.
2
vgl. Faass, M., Krämer. F., Schneede, U. M. (Hg.): Seestücke.Von Caspar David
Friedrich bis Emil Nolde. Ausst.-Kat. Hamburger Kunsthalle 2005, München,
2005, S. 139/140, S. 165
3
Öl auf Leinwand, 65 x 83 cm, Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, Abb. in:
Spielmann und Westheider (Hg.), 2004, S. 230, Kat.-Nr. 288
4
Öl auf Leinwand, 200 x 300 cm, Privatbesitz, Abb. in: Vitali (Hg.), 1995, S. 190,
Kat.-Nr. 390
5
Verwiebe, B.: Transparentmalerei und Romantik. Zur Vorgeschichte moderner
Lichtmedien, in: Vitali (Hg.), 1995, S. 532
6
ebd. S. 535
7
vgl. Hofmann, W.: Wolkenthrone und Wolkendienste, in: Spielmann und Westheider (Hg.), 2004, S. 10-17 und Spielmann, H.: Das physikalische Ich. Physik und
Metaphysik der Wokenmalerei um 1800, S. 18-23
8
vgl. Findeisen, R.: Zweideutig, vorläufig, strittig. Rancière, J. : “Das Unbehagen in
der Ästhetik“, in: artnet, 30. April 2008, www.artnet.de
9
Krause, A., Tollmann,V.: Künstlerinnenporträt – Julia Lazarus, Neue Review, Juli
2005, hg. von Allen, D., Krause, A., Stange, R.
10 vgl. Schulz-Hoffmann, C.: Chiffrenschrift – Symbol und Struktur, in: Vitali (Hg.),
1995, S. 403 und Neidhardt, H. J.: Einsamkeit und Gemeinschaft, S. 442-445
11 Bereits 2010 fotografierte die Künstlerin Menschen beim Tanzen: In der Fotoserie
“Tanzboden“, die ebenfalls in der Ausstellung von Lazarus in der Galerie Funke
2011 gezeigt wurden, sehen wir nur die Füße und Beine der Tanzenden.
12 vgl. Prange, R.: Das Kristalline, in: Vitali (Hg.), 1995, S. 608-615
9
Dancing with my
loneliness again
Videoinstallation – XGA, 16 min, 90° rotated
Farben und Bewegung einer Diskonacht. Scheinwerfer
tauchen die Tanzfläche in fließenden Übergängen
abwechselnd in rotes, blaues oder grünes Licht. Allmählich
füllt sich der Raum, bis die Fläche schließlich von den
Besuchern in Gruppen tanzend eingenommen wird. Die
gefilmte Struktur spielt mit Elementen des Minimalismus.
Doch in seiner chiffreartigen Verdichtung spricht der Film
auch über Vereinzelung und Gemeinschaft. Colors and
movements of a night in a discothek. Spotlights immerse the
dancefloor in colors, alternating smoothly between red, blue or
green. Gradually the room fills with people, until eventually the
floor is occupied by dancing groups of visitors. The filmed
structure hints at minimal art and post-painterly-abstraction.
But in its coded densification the film also makes a statement
on the subject of isolation and community.
S. / p. 11+16
Installation views, Kunstraum Kreuzberg, Berlin 2011
S. / p. 12-15
Video stills
10
11
16
Image and Sign –
Varieties of
Romanticism
The pointedly documentary character of the work
reveals to the viewer the symbolic situation of the
happenings in front of the camera: the sportswomen
train for a common aim. But in the contest with the
stamina of their own bodies each remains by herself and becomes recognizable as the vulnerable
individual.
Claudia Funke
2006 Julia Lazarus repainted a landscape photograph
with oil colors and called the work Mountain view
[fig. p. 7]. A dark amorphous thing looms against a
misty background. Due to its abstractness and shapeless indefiniteness it picks up on the Post-painterlyabstraction of Mark Rothko and the Minimal-Art.
Due to its motive, the depiction of nature in the
twilight of the dusk, it refers to romantic landscape
painting, as established by Robert Rosenblum in
his study "Modern Painting and the Northern
Romantic Tradition - Friedrich to Rothko".1
It is rather unusual that Julia Lazarus reaches for
paintbrush and colours. The artist studied in the
1990s at the College of the Arts Berlin under the
media and performance artist Valie Export and in
the California Institute of the Arts in Los Angeles
with the filmmakers James Benning and Hartmut
Bitomsky. Her preferred means for expression are
photography and film. Her work is characterized
by an objective look at political and sociological
subjects, linked with a minimalist-documentary
style, centered upon few but long shots. In the
foreground of her performative actions, photographs
and videoworks are often people in social situations
or in separation and isolation.
For the series Lower the costs! Increase the growth!,
2009 [p. 44ff.] Lazarus photographed the outer
facades of the ten strongest share enterprises in
Germany – the cool constructiveness of the architectures goes along with the distanced gaze of the artist
and the deserted places in front of the buildings. In
the film the fragility of the player's bodies, 2011 [p.
30ff.], Lazarus observes the women of the national
soccer team of Germany while they are training.
In the one-minute loop studies in romance no. 1
[fig. p. 4], one hears in the background the sound of
the ocean, while the image shows the sea in nearly
monotonous grey. Through the fog, the horizon
line, which divides the water from the sky, is hardly
visible. By its strong atmospheric mood, the near indistinguishability of air and water, and the vanishing
of contours, this cinematic study comes close to an
abstract version of a popular genre in the art of
Romanticism – the sea-piece.2.
Since Gustave Courbet’s portrayals of the sea surf
around 1869/70, featuring the motifs of water, waves,
horizon, and sky without any use of a human figure,
there have been several images, which could be seen
as painted predecessors of Lazarus’ film loops –
ranging from Emil Nolde's “Lichte Meerstimmung”,
19013 to Gerhard Richter's “Seestück”, 1975.4 While
the cinematic work of Lazarus affirms the repetitive
and meditative monotony of the Romantic topoi, it
at the same time by its documentary rigour and
dramatic banality puts itself in critical distance to
atmospheric pictures loaded with feelings.
The counter-piece to the view of the sea at daytime is studies in romance no. 2 [fig. p. 2]. In the
ten minute-long film loop, dark clouds are passing
in front of a bright glowing moon in the night sky,
accompanied by the melancholic sounds of a
theremin, played by Barbara Buchholz. The moonlit night sky is a popular subject in the art of 1800,
as is the depiction of the fleeting, fast dissolving
and ever-regrouping clouds. On the basis of the
specific characteristics of the medium of film, the
moon in the work of Lazarus seems to be a light
source glowing by itself, reinforcing the bright and
dark contrast dominating the image. To intensify the
metaphor of their moonlight-images, artists like
17
Jakob Philipp Hackert and Caspar David Friedrich
used transparencies and dioramas: “The images were
painted on sheer materials and presented in a dark
room with rear illumination. There was no painted
light to be seen, but real light, perceptible to the
senses, of a moonshine landscape shining in the
dark.”5 Hackert and Friedrich exhibited their lightimages – corresponding with the Romantic trend
of synaesthetic experience – with background
music. The diorama was an “attempt to exceed the
boundaries of the genre of painting. Structurally as
well as in terms of aesthetic reception it shows an
affinity to film”.6
The studies of the sky, which artists created in the
19th century, concern a scientific-meteorological
curiosity and the fascination for the abstract potential
of the inconceivable, ever changing unpredictable.
According to Immanuel Kant, and Edmund Burke
some years before, the clouded sky – especially the
dark or stormy one – is a sign for the sublime and
is characterized by its limitless and shapelessness.7
In studies in romance no. 2 the clouds continuously
drift past the moon. But in the combination with
the static camera and the varying volume and
melody of the theremin music the film becomes
pictorial. It expels the viewer to the role of an
outside observer, who adopts a distanced position
to the Romantic analogies. So it is with the clouds
which have been inserted into the image of the video
vida en otro lado, 2005 [p. 66ff.], quoting the clouds
of the painting “Tower of Babel”, 1563, by Pieter
Bruegel the Elder. In contrast to the happenings in
the Mexican settlement the clouds rest motionless
on the sky. While the dark shadows in the painting
mountain view suggest a choppiness, as if they
would be in transition to another formation.
The clouded night sky, accompanied by a musical
score of studies in romance no. 2, was projected in
the exhibition It might all come together for a
moment and then just as quickly it is gone at
Gallery Funke, Berlin, Sept-Okt 2011 [p. 20ff.].
The exhibition focussed on new photographic work
by Lazarus. In these, the artist deals with the genre
18
of street photography in the tradition of Henri
Cartier-Bresson, Lisette Model, Robert Frank and
Saul Leiter. The exhibition title – quoting the
instruction of an online street photography project
– emphasizes the temporality and volatility of the
gathering of human beings. For a short moment
they might form a pictorial arrangement, which
immediately dissolves again, when they separate.
The series of photographs exhibited in the Gallery
Funke were taken by Lazarus on one day in August
at different locations in Berlin. The artist is not so
much interested in the individual portrait but rather
in the set-up of the group. She recognizes
composition rules in the structure of the assembly
and hence draws visual references to painting,
going beyond the documentary. Thanks to their
sequentiality, the photographs appear to be
extracted from a film. Transporting action and
acceleration, whereas Lazarus usually thwarts and
decelerates in her films. Her street photographs are
situated beyond the purpose of narrative or didactic
representation. In the sense of Rancière’s critic,
that the “sensual presence of art is drained by the
discourse about art”8, Lazarus questions: “When do
images start to speak? – I want to create a specific
atmosphere with my images, since that's what
distinguishes the image – maybe this atmosphere
is towards poetry. “
The artist escapes the dead-end of the pictorial
narration with the metaphorical and symbolic
character of her photographs and films. Lazarus
aims at the abstraction of the seen towards social
circumstances and tenors of the society. Anne
Krause and Vera Tollmann write about the work of
Lazarus: “The environment remains just a backdrop.
In contrast to the common documentary images –
it becomes a symbolic stage”.9 The art of Romanticism condensed the messages of the images into
symbolic codes. These referred to the loneliness
and fears of the subject, which was perceived to be
isolated then. This subject saw itself reflected in the
background of infinity and the unfathomability of
nature or in the aspirations and utopias of
community and societal innovations.10
Lazarus dissociates the viewer of the image narrative
of her film and photographs; the viewer remains the
external observer of a random situation not intended
for him, which is presented to him like a spectacle,
whose substance reveals nothing but the image as
image.
Her film Dancing with my loneliness again, 2011,
[p. 10ff.] recorded in a discotheque, starts with a
song by Schiller. A single camera shot dominates
the sixteen minutes of the film: The viewer looks
slightly down on the backlit square tiling of the
dance-floor, which appears as a chromatic rhomboiddiagonal grid. Spotlights immerse the room in
colours, alternating in smooth transitions between
red, blue or green. The filmed spatial structure hints
at the incunabula of modernism, of minimal and
contemporary art: Suggesting memories of works
by Piet Mondrian, Carl Andre, Donald Judd, Sarah
Morris or – considering the haze from the fog
machine of the disco – the colour- and fog-rooms
by Olafur Eliasson. The dance-floor is still empty,
Schiller sing to the atmospheric music dominated
by synthesizers: “I’m dancing with my loneliness
again / slowly to the music from within / I’m
dancing with my loneliness again / feeling it can
be my only friend // …I’m dancing with my
loneliness inside / knowing there’s no place where
I can hide //…I’m dancing romancing.” Gradually
the room fills with people, other keyboard-packed
songs rise, occasionally people in highheels or
sneakers cross the dancefloor– the viewer only sees
their legs11 – until eventually the dance-floor is
occupied by dancing groups of visitors.
form “as manifestation of the all-sidedness of
relations”, the infinite multiplicity of refractions of
light and perspectives. The light, translucent “Crystal
Dome” was seen as sign of an utopian vision, which
defied the material world.12
In Julia Lazarus’ film the space of the discotheque
including its spotlights appears like a mis-en-scène
of a cathedral of colours, music and light. The
dance-floor marks the stage, where the symbolic
theatre takes place.
1
see Rosenblum, R. T., Modern Painting and the Northern Romantic Tradition.
Friedrich to Rothko, London 1975 and Rosenblums essay: The Abstract Sublime,
in: Art News, Februar 1961, p. 38 ff.
2
see Faass, M., Krämer. F., Schneede, U. M. (Ed.): Seestücke.Von Caspar David
Friedrich bis Emil Nolde. Exhibit..-Kat. Hamburger Kunsthalle 2005, München,
2005, S. 139/140, p. 165
3
Oil on canvas, 65 x 83 cm, Stiftung Seebüll Ada und Emil Nolde, Illustr. in: Spielmann und Westheider (Hg.), 2004, S. 230, Kat.-No. 288
4
Oil on canvas, 200 x 300 cm, privately owned, Illustr. in:Vitali (Hg.), 1995, S. 190,
Kat.-No. 390
5
Verwiebe, B.: Transparentmalerei und Romantik. Zur Vorgeschichte moderner
Lichtmedien, in:Vital (Ed.), 1995, p. 532-537
6
ibid. p. 535
7
see Hofmann, W.: Wolkenthrone und Wolkendienste, in: Spielmann und Westheider (Hg.), 2004, p. 10-17 and Spielmann, H.: Das physikalische Ich. Physik und
Metaphysik der Wolkenmalerei um 1800, p. 18-23
8
see Findeisen, R.: Zweideutig, vorläufig, strittig. Rancière, J. : Das Unbehagen in
der Ästhetik, in: artnet, 30. April 2008, www.artnet.de
9
Krause, A., Tollmann,V.: Künstlerinnenporträt – Julia Lazarus, Neue Review, Juli
2005, ed. Allen, D., Krause, A., Stange, R.
10 see Schulz-Hoffmann, C.: Chiffrenschrift – Symbol und Struktur, in:Vitali (Ed.),
1995, p. 403 and Neidhardt, H. J.: Einsamkeit und Gemeinschaft, p. 442-445
11 Julia Lazarus has photographed dancers before: The photoseries „Tanzboden“,
which were shown in the exihibition of Galerie Funke/2011, displayed feets and
legs of dancers on a golden floor.
12 see Prange, R.: Das Kristalline, in:Vitali (Ed.), 1995, p. 608-615
On one side the film describes the daily routine
of an evening in a discotheque. But in its coded
condensation the film makes a statement on the
subject of isolation and community, derived from
the images and the music.The diaphanous, translucent grid of the dance-floor, the glow of the
colours and the reflection of lights and its orderliness leaves the impression of a shimmering crystal
structure. Artists of the modern era, the architects
Bruno Taut and Hans Scharoun as well as Lyonel
Feininger or the Cubists, referred to the crystal
19
23
It might all come together
for a moment and then as
quickly it is gone
Photoseries, size variable
Eine Fotoserie über das Augenblickliche und Flüchtige der
Zusammenkunft von Menschen auf der Straße, die für die
Dauer eines perfekten Momentes kurzfristig ein bildhaftes
Arrangement bilden, das sich sofort wieder auflöst, wenn sie
auseinander gehen. Das Interesse gilt nicht dem individuellen
Porträt, sondern der Gruppenfiguration. In der Struktur der
Gruppierungen, in der Komposition der Figuren werden
visuelle Bezüge zur Malerei hergestellt, die über das Dokumentarische hinaus gehen. A photoserie depicting temporary
and volatile encounters of people on the street. For the length of a
perfect moment they might form a pictoral arrangement, which
immediately dissolves again, when they separate. The interest is not
on the individual portrait but rather on the set up of the group. The
structure of the assembly and the composition of the figures draws
a visual reference to painting which exceeds the documentary.
S. / p. 20-21
Slide series, 1 of 38, size variable,
S. / p. 22-23
Exhibition view, Spör Klübü, Berlin 2010
S. / p. 25
Photo series, 1 of 6, digital print on glossy paper, 100 x 150 cm
S. / p. 26+27
Photo series, 2 of 3, digital print on glossy paper, 77 x 53 cm
S. / p. 28-29
Exhibition view, Galerie Funke, Berlin 2011
24
Die Brüchigkeit der
Spielerinnenkörper
Videoinstallation – HD, 9:20 min
Die Kamera beobachtet in ruhigen Einstellungen das
Training der Fussballnationalmannschaft der Frauen. Der
Fokus liegt auf dem Spannungsverhältnis von persönlichem
Ehrgeiz, Zielbewusstsein und körperlicher Leistungsfähigkeit der Athletinnen. Während die dokumentarische Kamera
die Verbesserung der sportlichen Leistungen beobachtet,
wird sichtbar, dass der Optimierung des Körpers für den
Wettkampf Grenzen gesetzt sind. The camera observes in
steady shots the training of the German woman´s national football
team. The focus is on the stress ratio between personal ambition,
goal-consciousness and physical ability of the athlets. While the
documentary camera observes the improvement of the athletic
capacity, it becomes apparent that the optimisation of the body
for competition has its limits.
S. / p. 31+34
Installation views
andererseits - Künstlerische Einwürfe zur Frauenfußball WM 201, Schwules Museum, Berlin 2011
S. / p. 32-33
Video stills
30
31
32
33
34
35
Shanty Kitchen
Public installation and workshop – fruitboxes, wood,
plastic, pillows, gas rings and various kitchentools
In einer improvisierten Struktur auf einem öffentlichen
Platz wurden Kochworkshops von Immigranten aus der
Magreb-Region angeboten. Über einen Zeitraum von
einer Woche entwickelte sich die Shanty Kitchen zu einem
Treffpunkt von Menschen unterschiedlichster Herkunft.
Eine lebendige Skulptur, die die Diskussionen über
Integration und kulturelle Differenz in den öffentlichen
Raum transferiert hat. In an improvised structure on a public
place immigrants from the Magreb region offered cookingworkshops. Over the time of a week the Shanty Kitchen
developed to a meeting point for people of different origin.
A vivid sculpture, which tranfered the discurs on integration
and cultural difference into the public space.
S. / p. 37 - 41
Installation views
Manifesta 8 – Parallel Events, Murcia 2010
36
41
Eine Kochschule – Essen
– Gastfreundschaft –
Migration
Stéphane Bauer
oft zu einem verbindenden Element von Kulturen
erklärt. Ist es wirklich immer so? Kann hier nicht ein
Missverständnis vorliegen, wenn Essen dazu dient
abzuwerten, Unterschiede zu betonen, Hierarchien
zu bilden oder ausschließlich das ,Exotische’ herauszustellen. Denn damit würden rassistische Grundstrukturen weiter getragen und Ausschließungsmechanismen befördert. Wie konnte es dem Shanty
Kitchen Projekt von Julia Lazarus gelingen nicht in
diese Falle zu geraten und Prinzipien einer Begegnung auf gleicher Augenhöhe und gegenseitiger
Neugierde zu ermöglichen?
Die informelle Architektur, die improvisierte Kochstelle und der Ablauf der Workshops schufen einen
Raum für Begegnung: Nachbarn, Familien, die
In nahezu allen Kulturen gehört das gemeinsame
gerade ihre Kinder von der Musikschule abgeholt
Vorbereiten und Teilen von Essen zu den Elementen hatten und zufällige Passanten haben an den Kursen
von Gastfreundschaft und gegenseitigem Respekt.
teilgenommen, fleißig die ihnen offerierten Speisen
Die in Berlin lebende Künstlerin Julia Lazarus hat
vorbereitet, Rezepte aufgeschrieben und gespannt
auf dem Innenhof des Centro Cultural von Murcia, der Zubereitung zugeschaut.
einem Hauptstandort der Manifesta, eine informelle
Küche mit einladendem großen Tisch aufgestellt.
Wichtig erscheint ebenfalls die Tatsache, dass die
Dort fanden eine Woche lang jeden Abend KochGastgeberin aus Deutschland kam und damit selbst
Workshops statt, bei denen die zubereiteten Gerichte eine ,Fremde’ war, die nur gebrochenes Spanisch
anschließend gemeinsam gegessen wurden. Julia
sprach. Fremdheit war so kein Thema, weil durch
Lazarus hatte als Köche Frauen und Männer
die Zusammenkunft von Gastgeberin-Koch-Gästen
eingeladen, die in erster oder zweiter Generation
nicht klar war, wer nun vor wem fremd sein sollte.
aus Nord- oder West-Afrika stammen. Sie sollten
So konnte ein hybrider ,Dritter Raum’ (Homi K.
Gerichte aus ihren Herkunftsländern vorbereiten
Bhabha) entstehen: ein informeller architektonischer
und die Rezepte den TeilnehmerInnen vermitteln – und sprachlicher Raum.
eine Kochschule von Nachbarn für Nachbarn. Die
Künstlerin selbst fungierte als Moderatorin und
Hinzu kommt, dass auch wenn mit Couscous,
Gastgeberin der Kochschule, ganz im Sinne der
Tagine oder frittierten Kochbananen vermeintlich
bekannten Fernsehkochshows, jedoch mit dem
regionale Spezialitäten serviert wurden, diese
Charme des Improvisierten. Die TeilnehmerInnen
Speisen selber eine ,Hybridität’ und Translokalität
konnten sich anmelden oder spontan dazu stoßen.
ausweisen. Zum würzen und färben wurden
Die Workshops waren im Programm der Parallelos
Zutaten und Gewürze genommen, die sich schon
angekündigt. Entscheidend war jedoch der Standort lange in der Spanischen Küche finden. Allein die
in unmittelbarer Nähe einer Musikschule und eines wechselhafte Geschichte von Safran, das sich in den
sehr lebendigen Wohnquartiers von Murcia.
meisten Gerichten befand, zeigt, wie Kultur sich
jeder Ausgrenzung verweigert – oder wie Essen und
So weit also die Anordnung – das Rezept und die
Speisen Trennendes verflüssigen, aufweichen, öffnen
Zutaten, um in der Sprache des Kochens zu ver– aber nur wenn der Gastgeber die Ingredienzen zu
bleiben. Doch wie hat es „geschmeckt“? Wie haben mischen weiß. Dieses ist dem Projekt gelungen.
diese Ingredienzen zusammengewirkt? Essen wird
42
A Cooking School
Food - Hospitality
- Migration
amplify hierarchical structures. To highlight the
‘exotic’ might as well mean to further promote the
mechanisms of exclusion. So how could the Shanty
Kitchen project of Julia Lazarus succeed in avoiding
these pitfalls and instead allow for an encounter on
equal eye level, based on mutual curiosity?
Stéphane Bauer
The informal architecture, the improvised cookery
and the casual style of the workshop created an
open structure and space for new encounters:
Neighbors, random passers-by, families, who had
just picked up their children from the nearby music
school and youngsters, who cruised on their bicycles
across the plaza, locals and foreigners, all sat down at
the big table and helped with the preparation of the
food, wrote down the recipes and attentively followed the cooking of the meals. And while focusing
on the food, they started to talk with each other and
to exchange their stories and ideas.
The collective preparation and sharing of food is an
essential part in all cultures, a common way to show
hospitality and mutual respect to foreigners. The
Berlin-based artist Julia Lazarus has set up an informal temporary kitchen at the central public square
”Antiguo Cuartel de Artillería” in Murcia, one of the
main locations of Manifesta 8. For a week cooking
workshops took place every night under the open
sky - a public cooking school by neighbors for
neighbors. The participants were gathering around
a big table at the corner of the big square, while
random passers-by were able to spontaneously join
in at any time. Mimicking the informal architecture
of shanty towns, the kitchen, table and chairs were
completely assembled from recycled materials and
colorful plastic boxes, which are widely used in the
region for the distribution of vegetables, grown on
the fertile soil around Murcia. In the end all valuable
materials were returned to the original owners or
given away to be reused for other purposes.
Equally important seems the fact that the hostess
came from Germany and herself was a ‘foreigner’
who only spoke broken Spanish. So foreigness was
not an issue for the cooks only. Everybody came
from different regions and social classes, it was not
clear who exactly would be strange to whom. Thus
a hybrid ‘third space’ (Homi K. Bhabha) was created:
an informal architectural and linguistic space.
Moreover, although ‘regional’ specialties were served,
like couscous, tagine, or fried plantains, the meals
As cooks Julia Lazarus had hired first or second
themselves showed a ‘hybridity’ and translocality. A
generation men and woman from North or West
number of ingredients and spices were used, having
Africa. They were asked to prepare dishes from their already existed in the Spanish cuisine for a long time.
countries of origin and to pass on recipes to the
The changing history of the saffron alone, which
participants. The artist herself served as a presenter
was in most dishes, shows how culture can deny any
and host, in the manner of popular television cooking exclusion - or how food can liquefy and soften the
shows, but with the charm of the informal and
divided. But only if the host knows how to mix the
improvised.
ingredients. The project succeeded at that.
So far for the arrangement - the recipes and the ingredients, to remain in the language of cooking. But
how did it ‘taste’? How did these ingredients work
together? Eating is quickly proclaimed to be the
unifying element of all cultures. But what and how
we eat can also emphasize cultural differences and
43
Kosten senken!
Wachstum steigern!
Photoseries and Installation – plasticsheets, wood, tiles,
water and projection screen
Eine fotografische Untersuchung der unternehmerischen
Wirklichkeit in Deutschland. Die Bilder der Hauptniederlassungen der größten deutschen Aktien-Konzerne stellen
der öffentlich heraufbeschworenen Fata Morgana einer
„Wirtschafts-Krise“ steinerne Fakten gegenüber. A fotographic survey on the entrepreneurial reality in Germany. The
images of the headquarters of Germany´s biggest stock-companies
bring the publically evoked mirage of the economical crisis face
to face to the stone-hard facts.
S. / p. 45+46
Installation views, West-Germany, Berlin 2009
S. / p. 48, 49-52
Photo series, 4 of 52, 34 x 25 cm
44
Fotokunst in
Bildern – die
Werte hinter
den Fassaden
Vera Tollmann
Im 20. Jahrhundert gingen Börsencrashs unter den
Namen Schwarzer Freitag, Dienstag oder Donnerstag in die Geschichte ein. Dunkel wie die Metaphorik dieser Namensgebungen spiegeln sich in
einer Diaprojektion der Berlinerin Julia Lazarus
deutsche Wirtschaftsakteure in einem eigens dafür
installierten Wasserbassin.
Mit der Wahl der Architektur teilt sich das aus der
Werbung bekannte Selbstverständnis der Unternehmen mit. Im Zeitalter von Branding kommt die
Corporate Identity schon durch sozialdemokratische,
neoliberale oder werteorientierte Unternehmensarchitektur zum Ausdruck. Auf dem Gelände der
Autohersteller etwa glänzen Flagship-Museen für
Kundenbindung, und die Versicherung Münchener
Rück residiert getreu ihrer Markenmission im
klassizistischen Herrschaftsbau mit Schmuckhof.
So sollen sich Eigenschaften wie Tradition und
Sicherheit schon im Standort manifestieren.
Besonders viel sagend, wenn auch nicht unerwartet,
sind die Unterschiede zwischen öffentlichem Raum
und privatem Firmengelände. Für die Gestaltung
dieser Grenze verwenden die einen Zäune und Tore,
die anderen bemühen sich um Zugänglichkeit
durch weitläufige Rasenflächen und Spazierwege.
Im Gegensatz zu den statischen Firmenporträts
bringt die Finanz- und Wirtschaftskrise aber auch
Denn um dem immateriellen Kosmos aus Bad Banks, Bewegung in den Markt. Und zwar auf der MikroStaatsanleihen und Verstaatlichung eine Realität
Ebene. Heißt die Finanzkrise also, dass es weniger
entgegenzuhalten, hat die Künstlerin die Architektur Geld für Kunst und Kultur gibt? Nicht unbedingt.
von Unternehmen inspiziert. Lazarus fotografierte
Mancher mag es sogar irrsinnig komisch finden,
die Hauptsitze der zehn größten deutschen Konzerne dass Anfang November ausgerechnet die Stiftung
von BASF bis ThyssenKrupp AG. In der Diaprojekder Hypo Real Estate einen Preis zur Förderung
tion sind diese Bilder zusammen mit den Börsenvon Kultur verliehen hat.
kurven des vergangenen Jahres zu sehen.
Programmatisch war in jedem Fall die Wahl des
Ihren Motiven gegenüber bleibt die Fotografin auf
Standortes, an dem Julia Lazarus' Arbeit Kosten
Distanz. Die Firmenzentralen sind von Parkplätzen, senken! Wachstum steigern!, die Slideshow zur
Grünanlagen oder Straßenrändern aus aufgenommen. Finanzkrise, ausgestellt war. Denn der Ausstellungsraum West Germany befindet sich in der ordentlich
Mit ihrem metallisch unterkühlten Farbspektrum
heruntergekommenen BRD-Architekturvision
imitiert die Fotoserie zwar die Fassaden aus Glas,
Travertinen oder Kupferblech. Aber im Unterschied Neues Kreuzberger Zentrum am Kottbusser Tor in
zu typischen Firmenkatalogbildern treten hier weder Berlin. “Die Deutschland AG existiert noch, und
die Defizite der letzten Wirtschaftskrise werden an
Angestellte auf, noch kommt urbanes Leben vor.
Auf dem Parkplatz der ThyssenKrupp AG verwildert anderer Stelle abgerechnet”, kommentiert dessen
Mitbetreiber und Künstler Ingo Gerken.
der Skater-Parcours. Der Metro-Kundenparkplatz
ist noch leer, und kein Mensch flaniert durch das
Heckenlabyrinth im Hof der E.on AG. Nur vor
dem Stammsitz der Allianz hat sich überraschend
eine bürgerliche Szene eingeschlichen. Auf einem
Sandplatz werden Pferde im Schritt geritten.
47
Photoart in
pictures – the
value behind the
facade
Vera Tollmann
In the 20th century the stock market crashes went
down in history as black friday, tuesday or thursday.
Dark like the methaphors of this naming the German
economic players are reflected in a water basin,
especially installed for the slide projection by the
Berliner artist Julia Lazarus. To hold up facts against
the immaterial cosmos of state bonds, bad banks and
the socialization the artist inspected the architecture
of the corporations and photographed the headquarters of the ten strongest German coorperations
from BASF to ThyssenKrupp AG from the outside.
These images are projected together with the curves
of the stock exchange of the past year.
The photographer keeps distance to her motives.
The corporate headquarters are recorded from the
parking lots, green spaces or roadsides. With her
metallic cold color spectrum the fotoserie imitates
the facades made from glas, travertine or copper plate.
But in difference to the typical coorperate images
neither employees nor urban life appear. On the
parking lot of the ThyssenKrupp AG the skaterparcours becomes overgrown. The customer-parking
lot of metro is still empty and nobody strolls through
the labyrinth of hedges in the yard of the E.on AG.
Only in front of the head office of the Allianz a
surprising bourgois scenary has sneaked in. On the
clay court horses are ridden at walking pace.
With the choice of the architecture the identity of
the coorperation known by advertisements is
communicated. In the age of branding the corporate
identity is given expression in the socialdemocratic,
neoliberal or value-centered corporate architecture.
48
On the grounds of the car manufacturers flagshipmuseum shine for the loyality of the customers, and
the insurance company Münchener Rück resides
faithful to its customer retention in the classical
building with royal yard. That way characteristics as
tradition and security are supposed to manifest
already at the site.
Particularly meaningful, even if not unexpected, are
the differences between the public and the private
corporate grounds. Some use fences and gates, to
structure the border, others attempt to appear
approachable by spacious lawns and promenades.
In opposite to the corporate portraits the financial
and economical crisis puts the market in motion.
Namely on the micro-level. Does it imply that there
is less money for art and culture? Not necessarily. In
fact some might find it humorous, that of all trusts
precisely the Hypo Real Estate Trust awarded a
prize for the promotion of the arts last november.
Programmatic in any case was the choice of the
location where the work by Julia Lazarus Kosten
senken! Wachstum steigern! (Lower the costs!
Increase the growth!), the slideshow for the financial
crisis, was exhibited. Because the exhibition room
“West-Germany” finds itself in a reasonable rundown architectural vision of the FRG, in the new
Kreuzberg Center at the Kottbusser Tor in Berlin.
“The Deutschland AG exists, and the shortcomings
of the last economic crisis are accounted for at
another place“, comments joint manager and artist
Ingo Gerken.
Deutsche Post AG, Charles-de-Gaulle-Str. 20, Bonn
49
Mercedes-Benz AG, Mercedesstraße 1, Stuttgart
50
Thyssen-Krupp AG, Kaiser-Wilhelm-Str. 100, Duisburg
51
Deutsche Bank AG, Theodor-Heuss-Allee 70, Frankfurt am Main
S. / p. 53
Installation view
Deutsche Bank AG, Taunusanlage 12, Frankfurt am Main,
Digital print on canvas, 450 x 310 cm, Victoriabar, Berlin 2009
52
the brief ing center
Documentary Film, HDV, 40 min
Der G8-Gipfel als mediale Großinszenierung: Der Film
beobachtet die aufwändige Vorbereitung der Sicherheitszone,
die den Gipfel von der Öffentlichkeit abschirmen wird, die
Bewegung der Vertreter der Presse, der Sicherheitskräfte, des
Service-Personals sowie der politischen Entscheidungsträger
innerhalb dieser Zone. The G8 summit, an enactment for the
massmedia. The film documents the choreography of the political
bodies at the G8 summit in Heiligendamm. Inside the security area,
enclosed by an eight miles long fence, the camera observes the
movements of members of the press, security guards, service personal
and the political decision makers.
S. / p. 55-57, 60-62
Film enlargements
S. / p. 65
Film stills
54
Notizen aus
der Provinz –
über Motive
und Blickwinkel
Claudia Wahjudi
Von Osten scheint der Mond auf die Steilküste, er
ist fast voll. Sein weißes Licht streift den Buchenhain, der bis fast ans Wasser reicht. Es fällt auf das
Geröll am Ufer und auf die See, die in trägem
Viervierteltakt auf die Feuersteine und Granitkiesel
schlägt. Für Romantik ist es zu kalt. Der Wind
kommt in Böen aus Nordnordwest und bringt
eine erste Ahnung skandinavischer Kälte über das
Meer. Hinter dem Buchenwald, wo der Strand
eine sanfte Bucht formt, brennen Lichter, in weißen
Häusern, von Laternen mondän in Szene gesetzt.
Wer im Hotel dort an seinem Fenster steht und auf
die Ostsee schaut, denkt womöglich an Caspar
David Friedrich. Wer dagegen jetzt aus dem großen
Haus am Buchenwald tritt, denkt eher an den
Heimweg. Es sind Angestellte der Kurklinik
Heiligendamm, vielleicht eine Kardiologin oder
ein Physiotherapeut. Sie eilen zu den wenigen
Autos, die noch auf dem Parkplatz stehen, und
fahren davon.
Romantische Gefühle sind an der Küste zwischen
Rostock und Wismar eine Sache von Auswärtigen.
Von Sommerfrischlern und Herbsturlaubern, die
den Sonnenuntergang fotografieren, von Wochenendausflüglern, die Herzen aus Muscheln in den
Sand legen, von Fotografen und Künstlern, die sich
beruflich mit Romantik befassen und abreisen, wenn
die Arbeit im Kasten ist. Auch Julia Lazarus kam an
die Ostseeküste, 2007, filmte die Vorbereitungen für
58
den G8-Gipfel in Heiligendamm und kam erneut,
um die Nebenschauplätze des Staatstreffens
aufzunehmen. Das Schlussbild des ersten Teiles
ihres Films the briefing center, das die blanke See
zeigt, darf wohl als melancholisch-romantisches
Zitat gesehen werden, präsentiert sich das Meer
hier doch als unbeschriebene Projektionsfläche für
den Betrachter.
Die Einheimischen neigen eher zur Sachlichkeit.
Interessanter als das Spiel des Mondes auf den
Wellen scheinen ihnen Dorschfangquoten und
Wassergüte, Wetteraussichten und Konjunkturprognosen. Buchenwälder bedeuten Arbeitsplätze.
Rund zehn Prozent der Beschäftigten im Land
Mecklenburg-Vorpommern arbeiten laut OstseeZeitung im „Cluster Wald und Holz“. Bäume und
Wellen dienen den Küstenbewohnern nicht als
Projektionsflächen, sondern als Quellen von
Zahlen und Daten. Die Daten stehen im Netz. Die
Menge des Düngemitteleinflusses in die Ostsee, die
Länge der Kreuzfahrtschiffe, die die enge Hafeneinfahrt von Warnemünde ansteuern, das Verhältnis
von Übernachtungen zu Bettenkapazität. Das
steigende Bruttosozialprodukt des Bundeslandes
und die sinkende Arbeitslosenquote, zumindest in
Küstennähe, und nach Polen gelieferte Schlachtschweine. Man ist vernetzt hier oben. Aus dem
russischen Wyborg soll die Ostseepipeline Gas nach
Lubmin bei Greifswald bringen. Stralsund und
Malmö wollen den längsten Tunnel der Welt bauen.
Die berühmteste Frau Mecklenburg-Vorpommerns
geht bei Königen und Präsidenten ein und aus. Im
Juni 2007 lud sie die mächtigsten Männer der Welt
ins Grand Hotel von Heiligendamm wie Putin,
Sarkozy, Brodi, Barosso und George W. Bush. Man
sprach über das Klima, Regeln für die Finanzmärkte
und über Grenzen. Während die Politiker und
Delegierten tagten, sorgten die Ortsansässigen
dafür, dass alles punktgenau funktionierte. Sie
hatten rings um das Hotel jenen Zaun gezogen,
der die Gegendemonstranten stoppte. Sie bezogen
Betten. Sie lieferten Gemüse in die Hotelküche
und wiesen die internationalen Journalisten in das
Kühlungsborner Pressezentrum ein. Für einen
Moment kam in Heiligendamm alles zusammen,
und dann war es zwar schon wieder vorbei, doch
der Kurort steht jetzt auf der Weltkarte. Die
Provinzregionen sind nicht die Provinz, für die
Hauptstädter sie halten.
Globalisierung vor der Haustür
In der Provinz spielen sich die globalen Zeitläufe
vor der Haustür ab. Ihnen entkommt niemand.
Darin unterscheidet sich die Provinz von den großen
Städten mit ihren segregierten Vierteln und den
Mikromilieus unter Medienbeobachtung, die sich
immer feiner ausdifferenzieren. Die Konflikte um
Raum und Geld treffen immer jemanden, den man
kennt. Finanzkrise heißt in der Provinz, dass die
Bank ihre Filiale in X schließt und, so ist beim
Friseur zu hören, Frau Müller nun, die Beraterin,
die den alten Damen immer so nett den Geldautomaten erklärt hat, bis Z pendeln muss. Alles andere
steht mit Foto in der Lokalzeitung. So hat der 61jähriger Betriebswirt Herbert Boldt aus Kröpelin,
laut Ostsee-Zeitung ein Langzeitarbeitsloser, der vor
der Rente noch einmal aus der Hartz-IV-Schleife
wollte, eine Eingabe an den Bundestag geschrieben.
Darin schlug er vor, Langzeitarbeitslosen über 60
einen vorzeitigen, abschlagsfreien Renteneintritt zu
gewähren. Das Arbeitsministerium, so berichtet der
Regionalteil Neubukow und Kröpelin, erteilte
Herbert Boldt eine Absage. Auf dem Foto sieht man
einen Mann mit grauen Schläfen am heimischen
Kaffeetisch, die Hände neben einem Blatt Papier
gefaltet, die Schultern trotzig hochgezogen. Das Kinn
verkriecht sich im Kragen des grauen Troyers, die
Mundwinkel zeigen unter zwei scharfen Falten nach
unten. Arm sind in der Provinz nicht die Anderen,
Armut hat einen Namen und ein Gesicht. Man trifft
sie auf der Strandpromenade und beim Bäcker.
Menschenkette ums Schwimmbad
Die Proteste allerdings finden anderswo statt, in
New York, London, vor der Europäischen Zentralbank in Frankfurt und auf dem Alexanderplatz in
Berlin. In den Metropolen, wo die Soziologin Saskia
Sassen das politisch mündige Subjekt vermutet,
kommen kritische Massen zusammen. Darin unterscheiden sie sich von der Provinz. Selbstverständlich
gibt es an der Ostseeküste Unzufriedenheit und
Kritik. Die Links-Partei organisierte einmal eine
Menschenkette um die Schwimmhalle der Kurstadt
Kühlungsborn, weil sie geschlossen war und der
Stadtrat sie verfallen ließ. Bewohner von Heiligendamm klagten gegen den Hotelbesitzer, der die
Wege durch den Buchenhain sperren lassen wollte.
Doch eine dauerhaft am Ort ansässige kritische
Masse, in Gorleben personifiziert von den Bauern,
die Protestzügen auf Treckern voranfahren, hat sich
nicht formiert. Der Aufruhr jener kurzen Tage im
Juni 2007 ist längst im Schlag der Wellen
verrauscht.
Die Protestierenden, das sind die Anderen - die aus
den großen Städten oder paradoxerweise die mit
Geld und Einfluss. Kritik an der wachsenden Zahl
der Hotels kommt ausgerechnet von Hoteliers.
Einspruch gegen das geplante Atomkraftwerk hinter
der polnischen Grenze kommt von der Landesregierung in Schwerin. Der Installateur und die
Kellnerin dagegen erleben, dass Investitionen Jobs
schaffen. Auf dem Gut Vorder-Bollhagen unterrichtet der Reitlehrer jetzt auch Söhne wohlhabender Geschäftsmänner aus Polen. Der Trickle-DownEffekt, von Ökonomen inzwischen als Schimäre
verworfen: Hier scheint er zu funktioniere, zumindest für den Moment.Vielleicht darf deswegen
der schwedische Investor den nächsten Küstenabschnitt zubauen, vielleicht entstehen deshalb
kurz vor dem Naturschutzgebiet Einfamilienhäuser
im Stil der klassischen Moderne, direkt an der
Steilküste, an der im Winter die Sturmfluten
nagen.
Die Kühlungsborner Schwimmhalle ist übrigens
noch nicht renoviert. Die Technik wurde herausgerissen, in den Fenstern klaffen große Löcher.
Längst haben die Hoteliers ihre eigenen Bäder
gebaut. Und wer den Mond über Heiligendamm
aufgehen sehen will muss Abstand vom Grand
Hotel halten. Nähert er sich der Anlage durch den
Buchenhain, steht er unter den dunklen Bäumen
bald vor einem Zaun.
59
Memos from the
boonies – on
motifs and
perspectives
Claudia Wahjudi
From the east a nearly full moon shines down on
the steep coast. Its white light caresses the beech
grove, which reaches almost to the water. It falls on
the debris on the shore and on the sea pounding the
fire-stones and pebbles in idle four-four time. It is too
cold for romance. The wind comes over the sea in
blasts from north-north-west, bringing with it a first
notion of Scandinavian chill. Behind the beech grove
the shore forms a gentle cove. Lights are on in white
buildings set off glamorously by lanterns. A person
standing at the hotel window looking out onto the
Baltic Sea might be thinking of Caspar D. Friedrich.
Someone else stepping out of the big building at the
beech grove is more likely thinking about the way
home. They might be employees at the wellness clinic
Heiligendamm, a cardiologist perhaps, or maybe a
physiotherapist. They hurry over to the few cars still
on the parking lot and drive away.
At the seaside between Rostock und Wismar
romantic feelings are something for out-of-towners,
for summer visitors and autumnal vacationers who
take pictures of the sunset, for people on weekend
getaways who shape hearts out of seashells in the
sand, for photographers and artists who dwell professionally on romanticism and depart as soon as their
“work is in the can.” In 2007 Julia Lazarus came to
the Baltic Sea, too. She filmed the preparations for
the G8-Summit in Heiligendamm and later returned
to record the summit itself. The last frame of part one
of her film the briefing center, which shows the
open sea, could be considered a melancholicromantic citation, the ocean presenting itself here
like a blank projection surface to the viewer.
The locals, on the other hand, tend towards
pragmatism. They seem to be more interested in
codfish quotas and water quality, weather predictions and economic forecasts than in the moonlight shimmering on the waves. Beech groves imply
jobs. About ten per cent of the employees in the
state of Mecklenburg-Western Pomerania work in
the forestry and timber industry, according to the
newspaper Ostsee-Zeitung. For these coastal
inhabitants, trees and waves don't serve as projection
surfaces, but as a source of figures and data.
The numbers are available on the internet. The
amount of fertilizer that finds its way into the
Baltic Sea, the length of a cruise ship heading for
the narrow port entrance in Warnemünde, the
ratio of overnight stays to bed capacity. The
increasing gross national product of the state and
the decreasing unemployment rate at least in coastal
areas, the number of hogs exported to Poland.
They’ve got internet access up here, too. The Baltic
pipeline is going to start bringing Russian gas
from Wyborg to Ludmin near Greifswald. And
Stralsund and Malmö want to build the world´s
longest tunnel.
Mecklenburg-Western Pomerania´s most famous
daughter is on good terms with kings and presidents.
In June 2007 she invited the most powerful men in
the world to the Grand Hotel Heiligendamm, men
like Putin, Sarkozy, Brodi, Barosso and George W.
Bush. They spoke about borders, rules for the
financial markets and the climate. While the
politicians and the delegates met, local residents
made sure everything worked like clock-work.
They erected a fence around the hotel to hold
back the protesters. They made the beds. They
delivered vegetables to the hotel kitchen and
introduced the international journalists to the
briefing center in Kühlungsborn.
For a moment everything came together in
Heiligendamm, and then it was over again. But
now the seaside resort is on the world-map. The
provincial regions are not the boonies that city
slickers mistake them for.
63
Globalization on the doorsteps
In the province, global transformation is happening
right on our doorsteps. Nobody can escape it. That
is where the provinces differ from the big cities with
their segregated neighbourhoods and ever-more
differentiated micro-milieus under media surveillance. Here on the coast, conflicts about space, money
always affect someone you know. In the province,
financial crisis means the bank has to close down its
branch in X, and, as can be overheard at the hairdresser’s, Mrs. Müller, who used to explain to the old
ladies how the ATM works, now has to commute to
Z. Everything else is in the local newspaper with a photo.
The 61 year-old economist Herbert Boldt from
Kröpelin, according to the newspaper OstseeZeitung, long-term unemployed, wanting to break
out of the vicious circle of Hartz-IV before his
pension, wrote a petition to the German Bundestag
in which he proposed granting the long-term
unemployed over 60 years of age early retirement
without penalty. The Ministry of Labor, as reported
by the regional section of the paper dedicated to
Neubukow and Kröpelin, turned Herbert Boldt
down. In the photograph one sees a man with
greying temples at his coffee table, his hands folded
next to a sheet of paper, his shoulders raised
defiantly, his chin hiding behind the zip-neck
collar of a grey sweater, the corners of his mouth
pointing down-wards behind two sharp lines. In the
province, it’s not those other people who are poor,
in the province; poverty has a name and a face.
One meets them on the beach promenade and at
the bakery.
Human Chain around the Swimming Pool
Just the protests take place elsewhere. In New York,
London, in front of the European Central Bank in
Frankfurt and at the Alexanderplatz in Berlin. In the
metropoles – where the sociologist Saskia Sassen
assumes the political mature subject to be – the
critical masses gather. With this they differ from the
province. Of course there is discontent and critique
64
at the coast of the Baltic Sea. Once the left party
organized a human chain around the indoor
swimming pool of the spa town “Kühlungsborn”,
which was closed and allowed to go to waste by the
city council. Another time residents in Heiligendamm filed a suit against the owner of the hotel,
who wanted to close the pathways through the
beech grove. But no persistent residential critical
mass – in Gorleben personalized by the farmers,
driving ahead of the protest marches – has been
formed. And the turmoil of the short days in
June 2007 has long since gone with the waves.
The protesters, they are the others – the ones from
the big cities or paradoxically the ones with money
and influence. Critic to the growing numbers of
hotels is offered of all people by the hoteliers.
Objection to the planned nuclear plant behind
the polish border is raised by the government of
Schwerin. Instead the plumber and the waiter experience, that investments create jobs. And on the
estate of Vorder-Bollhagen the riding instructor is
training now the sons of well-situated businessman
from Poland. The Trickle-Down-Effect, which has
been rejected as chimera by the economist in the
meantime: It seems to function here, at least for a
moment. Maybe this is why the Swedish investor is
allowed to block the next coastal area, maybe that
is the reason why one-family-homes in the style of
classic modernity are built just ahead of the natural
reserve, directly at the steep coast, which the storm
tides gnaw away in winter.
But the indoor swimming pool in Kühlungsborn
has not been renovated. The technology has been
removed, big holes yawn in the windows. The
hoteliers have long since built their own bathhouses. And if you want to see the moon rise above
Heiligendamm, you have to keep distance to the
Grand Hotel. If you approach the facility through
the beech grove, you will be stopped under the
dark trees by a fence.
65
vida en otro lado – das leben
auf der anderen seite
Videoinstallation – HD, 20 min
Music: Robert Henke, Monolake
Bildnis einer Siedlung in der unmittelbaren Nähe der
Grenzstadt Tihuana, die, geformt durch die babylonische
Geschäftigkeit ihrer Einwohner, sich über mehrere Hügelketten ausbreitet. Die fehlende Stadtplanung in den schnell
wachsenden mexikanischischen Grenzregionen schafft
Freiräume, die eine spontane Siedlungsentwicklung
ermöglichen. The lack of urban management in the fast growing
mexican borderregions, opens up free space, which can be populated
spontanously by loose networks of people. While the video observes
one specific mexican settlement and its living structures, it is also
collecting evidence for the development of a functional anarchy.
S. / p. 67-70
Photo collage and enlargements, photo print, 100 x 35 cm
66
Wenn die
Bilder stehen
lernen – vier
Fragmente zu
den filmischen
Räumen
fortschrittsgläubige (und kapitalistische)3 Vorstellung
von Geschwindigkeit. So thematisiert die Künstlerin
in ihrer Arbeit „die Möglichkeit der lebendigen
Manipulation der Städte“, die statt auf die hektische,
vermeintlich dynamische, mehrwertorientierte
Entwicklung von lukrativen Immobilien auf ein
menschengerechtes, noch einmal in den Worten der
Künstlerin, „Überleben von freien Räumen“ setzt.
Gezielte Langsamkeit, der „unbestimmte, immer
staunenerregende Ausdruck von Allmählichkeit“4
ereignet sich in dieser Videoinstallation nicht nur
durch die Präsentation der montierten Einstellungen
in Echtzeit, sondern auch durch das einkompilierte
Gemälde Bruegels d. Ä. Dieses nämlich bringt den
Aspekt des Gedächtnisses ins Spiel, den André
Raimar Stange
Malraux mit seinem Begriff des „imaginären
Museums“ diskutiert hat. Malraux führt aus, verkürzt
I. Eine mexikanische Siedlung. Gleich über mehrere formuliert, dass Bilder und deren Bedeutung längst
Hügelketten erstreckt sie sich, entwickelt sich
als abrufbare Daten in unserem Gedächtnis
spontan und fortschreitend. Lazarus betrachtet diesen gespeichert sind. Für vida on otro lado bedeutet
dies, dass durch die Einbindung des von Pieter
Lebensraum in ihrer Arbeit vida en otro lado, 2005
(Das Leben auf der anderen Seite, S. 66 ff.) Mit vier Bruegel d. Ä. gemalten Himmels, Konnotationen
fixierten Kameras hat sie die „informelle Siedlung“ hervorgerufen werden, etwa die von historischer
aus der Distanz eines gegenüberliegenden Hügels
Distanz, die allein der Malstil der Wolken heraufgefilmt und anschließend die vier Bilder zu einem
beschwört. Auch dadurch nimmt das Panorama
180 Grad Panorama montiert. Der ,reale’ – genauer: eine Zeitstelle - besser: eine Zeitdauer - ein, die über
der tatsächlich von der Künstlerin gefilmte – Himmel den gefilmten „aktuellen“ Moment hinausgeht.
über der Siedlung wurde schließlich am Computer
II. Eine vehemente Verlangsamung der Wahrnehdurch das dramatische Wolkenszenario aus dem
mung prägt auch das ästhetische Geschehen in
Gemälde „Turmbau zu Babel“, 1563, von Pieter
a lucia, 2001, (S. 88 ff.) einem Kurzfilm, den Julia
Bruegel d. Ä. ersetzt. Das filmische Geschehen
scheint bei vida on otro lado beinahe still zu stehen, Lazarus gemeinsam mit Ben Pointeker in Sizilien
gedreht hat. Der Film zeigt zunächst lange Einerst auf den genaueren, zweiten Blick erkennt der
stellungen von düsteren, menschenleeren und fast
Betrachter einige bewegte Momente, wie z. B.
schon malerisch anmutenden Landschaftsaufnahmen.
fahrende Automobile.
Später geht eine Frau durch ein Feld, die kargen
Landschaftsbilder jedoch kehren wieder, eine Frau
,Entwicklung’ ein Begriff, der für Photographie
sitzt am Steuer eines Wagens, plötzlich stapft ein
und Film eine wichtige Bedeutung im konkreten
Herstellungsprozess, aber auch in dessen Dramaturgie Mann durch das Bild. Leere Straßen evozieren dann
mehrfach den knisternden Moment vor einem
besitzt, gewinnt im Panorama, Dolf Sternberger
„showdown“, doch erneut hineingeschnittene
hat darauf schon hingewiesen, eine Qualität des
„Langhingezogen“-Seins.1 Bei Lazarus entschleunigt Landschaftsbilder verhindern prompt jeden
das beinahe stillstehende Bild, das durch keinen
Spannungsbogen. Dennoch: Am Ende sind die
Schnitt unterbrochen wird, den Zeitverlauf von
Protagonistinnen tot und liegen wie bei einem
2 und kritisiert damit implizit eine
Wahrnehmung
Western oder Kriminalfilm als blutende Leichen
71
auf einer Straße. a lucia ist nicht durch einen kohärenten, gar psychologisch motivierten Erzählfaden
strukturiert, eher als ein semantisch zu füllendes,
noch halbwegs leeres Gerüst. Zu hören ist im Film
dann auch kein sprachlicher Dialog, sondern in
unterschiedlicher Intensität das Grundrauschen
eines 16 mm Lichttons. So wird von den beiden
Künstlern nicht nur der analytische Blick auf
materielle und visuelle Grundbedingungen des
Mediums Film konzentriert, sondern sie spielen
zudem experimentell mit Konventionen des
narrativen Films, insbesondere denen der beiden
besagten Genres. Diese Konventionen, etwa
besagter Spannungsbogen, werden genutzt und
zugleich werden die Erwartungen an sie enttäuscht,
um eine andere Form der Narration zu versuchen.
Dieses gelingt nicht zuletzt durch die Reduzierung
der Geschwindigkeit des filmischen Ablaufes, einer
Geschwindigkeit, die eigentlich für aktionsreiche
Genres wie dem Western oder dem Kriminalfilm
typisch ist.5
nicht als mit Narration aufgeladenen Realismus,8
sondern offen und ehrlich als künstlerische Fiktion
anzubieten.
III. Schon Hito Steyerl hat über den Dokumentarfilm Forst, 2005, (S. 80 ff.) festgestellt, dass er sich
„radikal dokumentarischen Wahrheitspolitiken
verweigert“, weil er „die weitverbreiteten elendsästhetischen Darstellungsformen von Migration
unterläuft“.9 Aber der Reihe nach: Das gemeinsam
mit Ascan Breuer, Wolfgang Konrad, Ursula Hansbauer, Ben Pointeker und wr erarbeitete kollektive
Filmprojekt „erzählt“ von der Lage von MigrantInnen in einem Erstaufnahmelager für AsylbewerberInnen. Das Lager liegt in Jena-Forst, mitten im
Thüringer Wald. Statt der üblichen Dokumentaraufnahmen aus solchen Lagern konzentriert sich der
Film auf die Darstellung des Waldes, nur selten sieht
man Bilder wie die von auf dem Boden liegenden
Gefangenen.
So beginnt der Film mit einem Vorspann, der in einer
gut 4:30 min langen Einstellung einen Wald aus
luftiger Vogelperspektive zeigt. Offensichtlich wurden
diese schwarz-weißen Bilder aus einem Flugzeug
gefilmt, am Bildrand ist dann auch einige Male ein
Schatten des Flugzeuges zu sehen. Nicht nur erzeugt
dieser Schatten ein Gefühl von Räumlichkeit in den
sich langsam bewegenden Bildern, er sorgt auch für
Abwechselung in der ansonsten eher gemächlichen
Abfolge von Baumkronen, Feldern und kleineren
Wegen und lässt so die Zeit der Wahrnehmung für
einen kurzen Moment scheinbar schneller verlaufen.
Die Langsamkeit von a lucia konterkariert genau
Gegen Ende der nicht enden wollenden Einstellung
dieses, betont nämlich die Dauer des einen Bildes
sieht man eine größere Straße mit einem auf ihr
auf Kosten der schnellen Abfolge, die ansonsten im
fahrendem Auto. Dann doch ein Schnitt: für wenige
Bewegungsbild Film zumeist vorherrscht. In der
Sekunden ist der Wagen in Großaufnahme zu sehen.
Distanz zum Spektakel des „rasenden Niestillstandes“, Der 50 min lange Film beginnt anschließend mit
frei nach Paul Virilio, wird Film hier zu einem
einer wieder langsamen Kamerafahrt durch die
Ereignis, das Wahrnehmen nicht als ein so spannungs- dunklen Gänge einer leerstehenden Kaserne, gefolgt
reiches wie als ein das Sehen überrumpelndes Erledurch Bilder von einem nächtlichen Wald, in fast
ben inszeniert, sondern als eine konzentrierte, fast
schon quälender Allmählichkeit gezeigt. Auf der
schon kontemplative Form des Dialoges mit der
Tonspur sind währenddessen die Stimmen der
(Bilder-)Welt behauptet. Genau diese im wahrsten
MigrantInnen zu hören, die von ihrer Situation
Sinne des Wortes ,enttäuschende’ Distanz zum
erzählen: “Sie kamen um sechs Uhr morgens,
Spektakel erlaubt es, dann das eigene Filmbild
während wir noch schliefen.“
„Während in den klassischen Bildmedien von der
Malerei bis hin selbst zur Photographie das Sehen
auf den Blick reduziert wird, der im Bild fixiert
wird [...], suggeriert das Bewegungsbild des Films
ein Zusammenfallen des subjektiven Sehens des
Betrachters und des objektiv präsentierten Bildes“,6
schreibt Michael Wetzel. Ist der Blick auf ein Gemälde oder ein Photo also ein fixierter, ein, wenn
man so will, statischer, so ist der Blick auf einen Film
ein subjektiver, bewegter und „erlebter“.7
72
vida en otro lado, HD 20 min, 2005
Dieses so offensichtliche wie subtile Unterlaufen
der Erwartungen an einen Dokumentarfilm,Volker
Pantenburg hat diese Pointe bereits an der Arbeit
von Pedro Costas beschrieben, macht den Film
aber dann gerade doch zu einem solchen: Costas
„Begriff des ,Dokumentarischen’ meint ein Kino,
das sich bestimmten Konventionen entzieht und
ihnen Widerstand bietet“.10 Diesen Widerstand
generiert in Forst, wie beschrieben, zweierlei: der
Verzicht auf die gängigen Motive zu dem dokumentierten Thema und die extreme Langsamkeit des
filmischen Geschehens. Der vor allem zu sehende
deutsch-(national)e, mythologisch aufgeladene Wald
funktioniert „als symbolische Bühne für die prekäre
Lage der Interviewten“,11 der AsylantInnen also. Der
dunkle Wald als feindliches, kaum zu durchdringendes Gegenüber, als ungastliches Gestrüpp...
Volker Pantenburg bringt übrigens noch einen
weiteren, für Julia Lazarus wichtigen Aspekt,12 der
künstlerischen Produktion auf den Punkt, nämlich
den der kollektiven Arbeit: „Im Prozess der
gemeinsamen Arbeit am Film bildet sich etwas ab,
das anders als die traditionellen Künste bereits in der
Phase der Herstellung die Brücke zwischen
Vereinzelung und Zusammenhang, zwischen
Individuum und Gruppe bildet“13,14
IV. Nicht nur die filmische, sondern auch die
„reale“ Konstruktion von Räumen steht in dem
Film the briefing center, 2008, (S. 54 ff.) im Fokus,
eine tatsächliche Konstruktion zudem, die umschlägt
in eine mediale.15 Er dokumentiert die Vorbereitung
und die Durchführung des G8-Gipfels im Ostseebad
Heiligendamm. Der Film ist aufgebaut wie ein
konventioneller Dokumentarfilm, beginnt mit den
Bauarbeiten des die Politiker später abschirmenden
Stahlzaunes rund um das Tagungsgelände, zeigt die
,Sicherheitsbemühungen’ der Polizei ebenso wie
das Ankommen von Demonstranten, beobachtet
die Organisation der internationalen Pressearbeit
und endet mitten in der laufenden Tagung. Dennoch
unterscheidet sich the briefing center signifikant
von üblichen Dokumentationen. So verzichtet Julia
73
Lazarus in ihrem Film auf einen gesprochenen
Kommentar. Analyse und Kritik an dem Geschehen
äußern sich stattdessen in der Auswahl der Bilder
und ihrem Schnitt. Denn wieder entschleunigt die
Künstlerin das filmische Ereignis, arbeitet kalkuliert
mit langen Einstellungen und einer sich nur sparsam
oder überhaupt nicht bewegenden Kamera. Die
Bewegungen im Bild geraten so in Spannung zu
den kaum vorhandenen Kamerafahrten. Das Resultat
sind u. a. sorgsam komponierte Landschaftsbilder
von schon ,malerischer Anmut’, die allerdings kleine
,Schönheitsfehler’ besitzen, so ist etwa ein störender
Stahlzaun in einen idyllischen Bach zu sehen. Oder
Plastikbahnen, die den neuen temporären Straßenverlauf entlang des Zaunes markieren, durchziehen
die Landschaft - was den Betrachter auch an
Arbeiten von Christo denken lässt.
Die quasi klammheimliche Ästhetisierung inklusive
deren Auflösung ist aber ein Resultat der Kameraarbeit der Künstlerin, ein ebenso wichtiger ist die
Konzentrierung des Blicks auf die Inszenierungen,
die für dieses mediale Großereignis geplant werden.
Der hohe Grad an (freiheitseinschränkender) Reglementierung jeder Bewegung - sei es die von den
Demonstranten, Pressevertretern oder auch die der
Politiker selbst - ist in den sich langsam bewegenden
Bildern präzise ablesbar.
Die Konstruktion dieser Gänge durch den ,realen’
Raum und gleichzeitig durch die gefilmten Bilder
korrespondiert so mit der künstlerischen Konstruktion des Films. Noch einmal sei, abschließend,
Michael Wetzel zitiert: „Insofern sind auch die
Bilder der Dokumentationsfilms als Bilder nicht
eine Dokumentation der Wirklichkeit, sondern
Konstruktionen des Wirklichen, […] die wahr sind,
weil sie sich als Lüge im übertragenen und außermoralischen Sinne zu erkennen geben“. Wie diese
Bilder konstruiert sind, in welcher Auswahl und in
welcher Weise der formalen Präsentation, dieses
kündet dann von der “Partei-Nahme”16 der
Künstlerin, ihrer politisch reflektierten, eben
kritischen Haltung.
74
1
vgl. Sternberger, D., Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, ed. Frankfurt
a. M., 1974, S. 91
2
Einige Referenzpunkte für eine solche künstlerische Praxis: Andy Warhol, Michael Snow, James Benning, Douglas Gordon, Sharon Lockhart und Peter Friedl.
3
Die schnelle Schnittfolge von filmischen Selbstdarstellungen kapitalistischer Unternehmen besitzt eben sehr wohl einen semantischen Gehalt.
4
vgl. Sternberger, D., a. a. O., S. 93
5
Angesichts von Douglas Gordons extrem langsamen Film „24 hour psycho“,
1993, schreibt dann auch der Schriftsteller Don Dellilo in seiner Novelle „Point
Omega“, treffend: „What he was watching seemed pure film, pure time.“, New
York 2010, S. 6
6
vgl. Wetzel, M., Die Wahrheit nach der Malerei, München, 1997, S. 261
7
ebenda
8
Genau dieses war der erklärte Anspruch des „new hollywood“ der Marke Scorcese, Coppola und Spielberg.
9
vgl. Steyerl, H., Politik der Wahrheit – Dokumentarismus im Kunstfeld“, im: Reader zur Ausstellung „Moving on“, NGBK 2005, S. 116 ff.
10 vgl. Pantenburg,V., Ränder des Kinos, Berlin, 2010, S. 91
11 vgl. Krause, A., Tollmann,V., Lazarus, J., in: Neue Review 10, Berlin, 2005, S. 22
12 So arbeitet Julia Lazarus z. B. auch in der Performance „I love the way you lie“,
2010, (Lazarus mit Julia Gläsewald und Sami Eschmann) oder, wie gesagt, bei „a
lucia“ nicht als „autonomer Autor“, sondern gemeinsam mit Kollegen.
13 vgl. Pantenburg,V., a. a. O., S. 103f.
14 Genau diese Herstellung ist dann auch ein Anliegen von Lazarus' Installation
„Shanty Kitchen“, 2010
15 Gehört zu Arbeiten über mediale Großereignisse, z. B. Film „There where to
many ups and downs“, 2009, in dem ein Match zweier professioneller Tennisspielerinnen im Mittelpunkt steht, oder Film „Die Brüchigkeit der Spielerinnenkörper“, 2011, in dem das Training der weiblichen deutschen Fußballnationalmannschaft Thema ist.
16 vgl. Wetzel, M., a.a.O., S. 263
When the pictures
come to halt –
four fragments
towards the
cinematic range
Raimar Stange
I. A Mexican settlement. Stretched across the
hillside it develops spontaneously and progressively.
In her piece vida en otro lado, 2005 (life on the
other side, p. 66ff.). Julia Lazarus presents this
living environment by means of cinematic techniques: with four fixed cameras she filmed the
day-to-day life of the “informal settlement” in one
long shot from the distance of an opposing hill and
later assembled the four images into a 180 degree
panorama. The real – rather: the “really filmed”–
sky over the settlement was eventually replaced by
a dramatic cloud scenario from the painting “The
Tower of Babel”, 1563, by Pieter Bruegel the Elder.
The cinematic happenings of vida en otro lado
almost appear to stand still, only at second glance
does the viewer perceive some living moments, for
instance moving vehicles.
,Development’ is a term which has an important
meaning for photography and film in the production
process as well as in the dramatic composition.
When applied to the panorama, it gains a quality
of “Long-Drawn-Out”, as Dolf Sternberger
suggested already.1 Likewise, the almost still images
and the temporal distance between the edits in
Julia Lazarus' work, decelerate the process of time
and perception2 and thereby implicitly criticize the
belief in progress and the (capitalistic3) notion of
speed. Thus the artist subtly addresses “the possibility of a lively manipulation of the cities”, which,
instead of the hectic, allegedly dynamic, valueorientated development of “profitable” real estate,
relies on a gentle and humane “viability of open
spaces”. Deliberate slowness, the “indefinite, always
astonishing manifestation of gradualness“4 occurs
in this work not only due to the panoramic
composition of the four pictures, but also by the
inclusion of the painting by Breugel the Elder,
bringing the issue of remembrance into effect.
André Malraux, in his concept of the “imaginary
museum” explains, that the images and their
meanings have been stored long ago as retrievable
data in our memory. For vida en otro lado that
implies that specific connotations are evoked by the
mere representation of the sky, painted by Pieter
Bruegel the Elder, for instance of historical distance.
An impression which is provoked by the historycharged painting style of the clouds. So the panorama
occupies a point in time – more precisely: a length of
time – which is beyond the scope of the actual
filmed moment.
II. The vehement deceleration of perception also
characterizes the aesthetic happenings in a lucia,
2001 (p. 88ff.). A short film Julia Lazarus shot
together with Ben Pointeker in Sicily. The film
commences with long takes of dark impressions of
deserted and nearly painterly landscapes. Later a
woman walks through a field, but the barren landscapes reappears. A woman sits at the steering wheel
of a car. Suddenly a man walks through the frame.
Several images of empty roads evoke the cliché of the
sizzling moment before the “showdown”, but again
impressions of landscapes interfere with the arc of
suspense. Nonetheless: In the end the protagonists are
dead, and lie - in the manner of a western or crime
movie - as bloody corpses on the road.
a lucia is not structured by a coherent or psycho-
logical motivated linear narrative, rather it resembles
a still quite empty framework, which is to be charged
semantically. No spoken dialogue is heard in the
film, only the static of the 16 mm optical soundtrack
in varying intensities. Thus the two artists not only
cast an analytical glance on the physical and aesthetic
basics of the the media film, but also play with the
conventions of the feature film, especially of the two
genres mentioned earlier. The conventions, like the
75
planned environments
S./ p. 76
Las Vegas, U.S.A.
Photo series, 1 of 8, 95 x 62cm
S. / p. 77
Valle de las Palmas, Mexico
Photo series, 1 of 8, 95 x 62cm
76
77
arc of suspense, are deployed and at the same time
their anticipations are deceived, in order to attempt
a different kind of narrative. If nothing else, it
succeeds by the reduction of the velocity of the
cinematic sequence, a velocity, which is rather
typical for action-packed genres like western and
crime films.5 “While in the classic image - from
painting to photography – the vision is reduced to
the glance, fixed on the picture [...], the moving
image of the film suggests a concurrence of the
subjective vision of the spectator and the objectively
presented image” Michael Wetzel wrote.6 So while
the gaze at a painting or photograph is fixed, or let’s
say “static”, the gaze at a film is subjective, agitated
and “experienced”.7
the representation of the forest.Very rarely one sees
images - like the scene depicting detainees lying on
the ground. The film begins with a trailer, about
4:30 min long, showing the forest from the bird´seyeview. The black and white images were clearly
filmed out of an airplane, as the shadow of the
airplane can be seen from time to time on the edge
of the screen. This shadow creates not only a feeling
of spatiality in the slowly moving images, it also
provides some change in the rather leisurely
sequence of tree crowns, fields, and small pathways
and thus - for a short moment – it lets the time of
perception slip by apparently faster. Towards the end
of the never-ending scene one sees a road and a car
driving on it. Then finally an edit: for only a few
seconds the car is on view in close-up. And then
The gradualness of a lucia counteracts exactly this,
the 50 min film starts once again with a slow
it highlights the duration of the image at the expense dolly-shot through the dark hallways of vacant
of the fast sequence, which usually prevails in the
barracks followed by images of a nocturnal forest,
movement-image of cinema. In distance to the
shown in almost agonizing gradualness. Meanspectacle of the “racing never-standstill”, freely
while, on the soundtrack, the voices of immigrants
adapted from Paul Virilio,8 film becomes an event,
are heard, talking about their experiences, such us:
which doesn’t stage the perception as an experience, “They came at six o'clock in the morning, while
not so much tension-filled as taking the vision by
we were sleeping.”
surprise, but rather asserts it as a focussed, nearly
contemplative form of dialogue with the world
The subversion of the expectations of a documentary
(of images). Exactly this - in the true sense of the
subtle and obvious at the same time – a punchline
word - “belying” distance to the spectacle, allows
Volker Pantenburg has described before on the basis
presenting the very film image not as realism,
of the work by Pedro Costa – nevertheless precisely
loaded with narration, but open and honestly
renders the film to be just that: “Costa´s ,notion of
as an artistic fiction.
the documentary’ deems a cinema, which evades
specific conventions and stands up against them.”10
This very resistance is generated in forest – as
III. Hito Steyerl has stated already about the documentary film forest, 2005 (p. 80ff.), that it “radically mentioned before – in two different ways: with the
denies the politics of truth in the documentary
renunciation of the established motifs for the docupraxis”. And that this demarcation of its own genre mented topic and with the extreme gradualness of
is accomplished by forest, because it amongst others the cinematic happenings. The German (national),
undermines “the display formats of the aesthetics of mythologically quite loaded forest on view, functions
misery, which is widely-used on migration issues.”9
as “a symbolical stage for the precarious situation of
But one after the other: the collaborative film project, the protagonists, the asylum seekers.”11 The dark
realized together with Ascan Breuer, Wolfgang
forest as hostile, hardly-to-be-penetrated opponent,
Konrad, Ursula Hansbauer, Ben Pointeker and wr,
as inhospitable undergrowth...
talks about the conditions migrants face in a refugee
camp, which is situated in the middle of the Thurin- Volker Pantenburg for that matter cuts right to the
chase of another key aspect of such artistic producgian forest. Rather than feature typical documentary
tions,12 which is important for Julia Lazarus, namely
images of such refugee camps, the film focusses on
78
the aspect of collective work: “The process of the
collective work for a film illustrates something,
which unlike in the traditional arts establishes in the
phase of production a bridge between isolation and
relation, between the individual and the group.”13, 14
IV. Not alone the cinematic, but also the ‘real’
construction of space is the focus of the film the
briefing center, 2008 (p. 54ff.). A factual construction, which turns into a medial one.15 The film
documents the preparation and realization of the
G8-Summit at the German seaside resort ‘Grand
Hotel Heiligendamm’ in the year 2007. The film is
constructed like a conventional documentary film.
It begins with the building work of the fence, which
will later shield the convention center, shows the
‘efforts for security’ of the police as well as the
arrival of demonstrators, observes the organisation
of the international public relations, and ends in
the middle of the ongoing summit.
Nevertheless the briefing center distinguishes itself
significantly from common documentaries. Lazarus
goes without any spoken commentary in her film.
Instead analysis and critique against the event express
themselves in the selection of the images and in the
editing. Again the artist decelerates the cinematic
event and works in an arguably calculated way with
long shots recorded by one camera moving little or
not at all. Thus the movements within the fixed
image are interrelated with the rare tracking shots.
The consequence, among others, is carefully
composed landscape images of “painterly charm”,
which nevertheless have small blemishes. For
example there is an annoying steel fence to be seen
at an idyllic creek. Or long sheets of plastic traverse
the landscape, which mark the new temporary
course of the road alongside the fence – and lead
the viewer to think of works by Christo.
– be it the ones of demonstrators, reporters, or of
the politicians themselves – is accurately legible in
the slowly moving images. The construction of the
pathways through the “real” space corresponds with
the artistic construction of the film. Once again
citing Michael Wetzel: “Insofar as the images of the
documentary film as images are not documentations
of the reality, but constructions of the real. They are
true, because they reveal themselves as being a lie in
the figurative and non-moral sense.” How these
images are constructed, by which choice and in
which mode of formal presentation, this then also
tells of the “Partisan-ship”16 of the artist, her
political reflected, critical attitude.
1
see Sternberger, D., Panorama oder Ansichten vom 19. Jahrhundert, ed. Frankfurt,
a. M., 1974, p. 91
2
The artistic practice refers to Andy Warhol, Michael Snow, James Benning, Douglas Gordon, Sharon Lockhart, Peter Friedl and others.
3
The fast cutting of self-portrait on capitalist companies reveals all the same a semantic meaning.
4
see Sternberger, D., ibid., p. 93
5
Refering to Douglas Gordons extremely slow film „24 hour psycho“, 1993, the
author Don Dellilo writes in his novel „Point Omega“: „What he was watching
seemed pure film, pure time.“, New York 2010, p. 6
6
Wetzel, M., Die Wahrheit nach der Malerei, München, 1997, p. 261
7
ibid.
8
This was the declared intention of the „new hollywood“ , i. e. Marke Scorcese,
Coppola and Spielberg.
9
Steyerl, H., Politik der Wahrheit – Dokumentarismus im Kunstfeld“, in: Reader
zur Ausstellung „Moving on“, NGBK 2005, p. 116 ff.
10 Pantenburg,V., Ränder des Kinos, Berlin, 2010, p. 91
11 Krause, A., Tollmann,V., Lazarus, J., in: Neue Review 10, Berlin, 2005, p. 22
12 In the same way Julia Lazarus worked in her performance „I love the way you
lie“, 2010, (Lazarus with Julia Gläsewald and Sami Eschmann) or as already mentioned in „a lucia“, not as independent author but together with colleagues.
13 Pantenburg,V., ibid. p. 103f.
14 Precisely this making ist he intention oft he installation „Shanty Kitchen“, 2010
15 Makes part of the work on large-scale media event, for ex. „There where to many
ups and downs“, 2009, showing two tennis players or the film „Fragility bodies of
players“, 2011, where the training of the female German football team is the
issue.
16 Wetzel, M., ibid. p. 263
While this clandestine aestheticization including its
denouement is a result of the camera-work by the
artist, not less important is the concentration of the
gaze on the political staging, which was planned for
this mega-media event. The high order of (freedom
constricting) regulation of any kind of movements
79
Forst
Documentary Film – Beta-SP, 50 min
Directed by Ascan Breuer, Ursula Hansbauer, Wolfgang
Konrad, Julia Lazarus, Ben Pointeker and wr
Music: Andreas Berger, Glim
Forst ist ein Portrait. Der Dokumentarfilm erzählt von
einem Wald, der inmitten Europas jenseits von Urbanität und
Zivilisation eine eigenartige Gemeinschaft von Verbannten
beherbergt – eine gestrandete Welt. In Forst verkünden die
Verbannten ihre eigene Wahrheit und erzählen die Geschichte
ihrer Ermächtigung. Denn langsam besinnen sie sich ihrer
Identität als politische Flüchtlinge und beginnen Befreiungspläne zu schmieden. Forst is a portrayal. The documentary film
tells of a forest in the middle of Europe which is home to a peculiar
community of the banished, it is a world for the stranded. In Forst
the banished proclaim their own truth and tell the story of their empowerment. They slowly recall their identity as political refugees and
start to make plans for their escape.
S. / p. 81 + 82
Film enlargement
S. / p. 83
Film stills
80
83
Politik der
Wahrheit –
Dokumentarismus im
Kunstfeld
Hito Steyerl
Eine neuere Arbeit, die die weit verbreiteten elendsästhetischen Darstellungsformen von Migration
unterläuft, ist das Video Forst [...]. Der schwarzweiße Film zeigt vor allem Bilder eines undurchdringlichen und dunklen teutonischen Waldes. Im
Off hören wir Stimmen, die die Erfahrung des
Forstes beschreiben. Der Forst wird zu einer
existentiellen Metapher für Ausgrenzung, Prekarität,
Ausgesetztheit. Nach einiger Zeit vermehren sich
die Hinweise darauf, dass die Off-Stimmen von
Flüchtlingen stammen [...]. Das Gefühl Forst, eine
Mischung aus finsterer Romantik, existentieller
Exponiertheit und Vogelfreiheit bleibt jedoch in der
Schwebe, als universale Metapher, die nicht nur auf
partikularisierbare Gruppen wie Flüchtlinge zutrifft,
sondern eine neue universale conditio humana
darstellt. Im zweiten Teil des Films ändert sich die
Stimmung. Der Wald ist nicht mehr nur eine dunkle
Wüste der Einsamkeit, sondern wird zum Ort, an
dem neue Kollektive entstehen können ebenso wie
neue Solidaritäten.
84
In einer eindringlichen Einstellung kommen durch
den Wald langsam Gestalten in weißen T-Shirts auf
uns zu, deren Gesichter wir nicht richtig erkennen
können. Der Wald ist somit nicht nur Chiffre der
Atomisierung, sondern auch der Ort, an dem sich
Opposition formieren kann. Die neuen Kollektivitäten rufen Erinnerungen an frühere Waldbewohner
hervor: an Robin Hoods Outlaws im Nottingham
Forest, die Titopartisanen in den bosnischen Bergen,
oder an die Gemeinschaft der letzten Bücherleser,
die in Truffauts Film ‚Fahrenheit 451’ Zuflucht in
einem Waldcamp finden. Wiederum handelt es sich
um universale Chiffren oppositioneller Solidaritäten.
Die Flüchtlinge werden nicht in ethnische oder
kulturelle Traditionslinien eingeschrieben, sie sind
keine Sozialfälle, sondern werden einer Tradition des
Freiheitskampfes zugerechnet, für die der Forst die
nötige Abgeschiedenheit bot. Insofern verweigert
sich Forst radikal dominanten dokumentarischen
Wahrheitspolitiken, die das öffentliche Bild von
Migration beherrschen. Das Video lässt sich nicht
auf die ambivalente Umdeutung besetzter
Metaphern ein, sondern öffnet einen Zugang zur
universalen Gültigkeit der Erfahrung von
Flüchtlingen. […]
Textausschnitt aus Hito Steyerl: “Politik der
Wahrheit – Dokumentarismus im Kunstfeld”,
veröffentlicht im Reader (S.116ff.) der Ausstellung
MOV!NG ON: Border Activism – Strategies for
Anti-racist Actions, 13. August-11. September 2005,
in der NGBK Berlin.
Politics of Truth –
Documentarism
in the Arts
Hito Steyerl
A newer work, which dodges the widely spread
representation of the aethetics of poverty, is the
video Forst (forest) (A/D, 2005). The black and
white film primarily shows images of an impenetrable, dark teutonic forest. Off screen we hear
voices, which describe the experience of the forest.
The forest becomes an existential metaphor for
exclusion, precariousness, and abandonment.
Gradually the clues increase that the voices off
screen come from refugees, who live in the camp
"Forst" in East Germany. The feeling of Forst, a
mixture of dark romanticism, existential exposure,
and freedom, remains in the balance, as a universal
metaphor, which does not only apply to particularisable groups such as refugees, but represents a new
universal conditio humana (human condition). In
the second part of the film the atmosphere changes.
The forest is no longer just a dark desert of solitude,
but becomes a place where new collectives and new
solidarity may emerge.
In a forceful shot, figures in white t-shirts come
slowly towards us, we cannot really make out their
faces. The forest is not only a cipher of atomisation,
but also the place where opposition can form. The
new collectives recall memories of earlier forest
inhabitants, Robin Hood as an outlaw in Nottingham Forest, the Tito partisans in the Bosnian
mountains, or the partnership of the last bookreaders in Truffaut’s film Fahrenheit 451. It concerns
universal ciphers of oppositional solidarities. The
refugees are not written into ethnic or cultural
traditional lines, they are not social cases, rather they
count in a tradition of freedom fighting, for which
the forest offered the necessary seclusion. To this
extent, Forst refuses the radical dominant truth
politics of documentary film, which control the
public image of migration. The video does not
admit the ambivalent reinterpretation of occupied
metaphors, rather offers access to universal validity
of the experience of refugees. […]
text-clipping taken from: “Politics of Truth –
Documentarism in Arts”, published in the reader
(S.116ff.) of the exhibition MOV!NG ON: Border
Activism – Strategies for Anti-racist Actions, August
13th – September 11th 2005, at NGBK Berlin.
85
a lucia
16 mm Film, 10 min
Directed by Julia Lazarus and Ben Pointeker
a lucia ist ein Film über die Leere. Innerhalb des Gerüst einer
Narration bewegen sich Körper durch eine karge Landschaft,
die Filmbilder erzeugen mit den ihnen eingeschriebenen
Erinnerungen widersprüchliche Erwartungen. Die letztendlich
toten Körper erzählen jedoch weniger vom Sterben, als von
einer absoluten Leere. In Abwesenheit von Motiven, legt a
lucia das Skelett der Narration frei und öffnet mit dem
Fehlen der Geschichte den Blick auf die Bilder. a lucia is a
film on vacancy. Within the narrative frame bodies move in a barren
landscape, the impressions call variing remembrances and conflicting
expectations. The dead bodys in the end tell less about perishing, but
about the absolut emptiness. In absence of motives a lucia uncovers
the skeleton of the narration and with the lack of a story opens the
gaze for the images.
S. / p. 87-90
Film enlargement
S. / p. 91-92
Film stills
86
91
92
a lucia
Rike Frank
a lucia ist keine Hommage, weder an das Licht der
a lucia is not a homage, neither to the light of
Romantik oder eine konkrete Person noch an eine
film- oder kunsthistorische Tradition; es ist keine
manifestierende Anknüpfung an eine (politische)
Linie, zugleich spricht es überschrieben mit einer
Widmung mitten aus dieser heraus. Rhetorisch
fusioniert der Film die (mögliche) ästhetische
Erfahrung von Schönheit mit (möglichen) Zeichen
einer Herrschaftslosigkeit oder Gesetzlosigkeit
(Anarchie), sei es in der direkten Aufeinanderfolge
des mächtigen, blickversperrenden Bergmassivs
und des Horizontes, durch Verzögerung und Fortbewegung oder singulär auftauchende Personen
und Tod.
romanticism nor to a specific individual nor to a
film or art history tradition; it does not manifest a
connection to a (political) line, likewise though it
speaks - bearing a dedication - from the very midst
of it. The film rhetorically merges (possible) aesthetic
experience of beauty with (possible) symbols of
anarchy, whether in the direct succession of mighty
mountain massifs, obstructing the view, and the
horizon, in delay and locomotion or in the appearance of isolated persons and death.
Die Aufnahmen, zeitverzögerte, sequenziell
geschaltete singuläre Impressionen, produzieren und
visualisieren unterschiedliche Zustandsformen der
Leere, eine idyllische und zugleich nervöse Konzentration der Sinne. Den Bildern eingeschrieben ist
eine stürmische Witterung sowie eine forcierte
Körnung des Materials, während der zeitweise
montierte Ton, ein Knistern und Knacksen, sowohl
eine Dichte als auch Leere unterstützt. Denn die
einzelnen Sujets weisen in sich keine Kausalität auf,
hier werden weniger die Spuren des Hergangs
sondern vielmehr das Ereignis der Darstellung zum
Text. Zugleich brechen sie in sich dieses irreale
Moment einer Offenheit, einer Schönheit frei von
zweckgerichteten Interessen und Systemen, und
lösen in der Präsenz einer Irreversibilität Beklemmung aus.
The scenes - composed of delayed and sequentially
activated singular impressions - produce and visualize
various states of emptiness, a concentration of the
senses, which is at once idyllic and edgy. Inscribed
in the images is a stormy atmospheric condition and
an accelerated grain of the film material, while the
occasionally crackling and rustling soundtrack
supports both: density and emptiness. Because the
isolated subjects do not show causality, the traces of
actions become less dominant than the event of the
depiction. At the same time the film breaks out in
an unreal moment of openness, a beauty which has
been liberated from practical interests and systems,
and triggers anxiety in the presence of irreversibility.
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mobile homes
Photo series, 1 of 6, 30 x 25cm
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Vita
Julia Lazarus
Lebt und arbeitet in Berlin
Lives and works in Berlin
Sie studierte von 1992-98 an der Universität der Künste, Berlin bei Valie
Export und Joachim Sauter und von 1995-96 an der School of Film am
California Institute of the Arts, Los Angeles, Kalifornien, U.S.A. bei
Hartmut Bitomsky, James Benning und Sara Roberts
1992-98 she studied at the University of the Arts, Berlin with Valie
Export and Joachim Sauter and 1995-96 at the School of Film at the
California Institute of the Arts, Los Angeles, California, U.S.A. with
Hartmut Bitomsky, James Benning and Sara Roberts
Preise und Stipendien (Auswahl):
Prizes and Grants (selection):
2006 Projektförderung, Hauptstadtkulturfonds, Berlin
2005 Preis für den besten Dokumentarfilm, Diagonale, Graz
2003 Stipendium, Villa Aurora, Los Angeles
2002 Arbeitsstipendium der Senatskanzlei - Kulturelle Angelegenheiten
- Berlin; Preis für den besten Kurzfilm der ORF Kunst-Stücke
2006 Project funding, Hauptstadtkulturfonds, Berlin
2005 Prize for the best documentary film, Diagonale, Graz
2003 Residency, Villa Aurora, Los Angeles
2002 Grant by the Senate Chancellary - Cultural affairs - Berlin; Prize
for the best short film of the ORF Kunst-Stücke
Ausstellungen und Ausstellungsbeteiligungen (Auswahl):
Exhibitions and Exhibitioncontributions (selection):
2011 Let the rythm hit'em, Kunstraum Kreuzberg, Berlin; It might all
come together for a moment and then just as quickly it is gone, Galerie
Funke, Berlin; Andererseits - künstlerische Einwürfe zur FrauenfussballWM, Schwules Museum, Berlin
2010 MANIFESTA - Parallel Events, Murcia, Spanien
2009 Kosten senken! Wachstum steigern!, West-Germany, Berlin;
Perspektiven des Substituts, Le centre d‘art Neuchâtel, Schweiz
2007 True to Life, Kunsthalle Berlin-Lichtenberg; Riot the 8 Bars, NGBK,
Berlin; Unsere Affekte fliegen aus dem Bereich der menschlichen Wirklichkeit heraus, Galerie Sandra Bürgel, Berlin; Rooftop Screening II,
Zuviel.TV in Kooperation mit dem SLEEK-Magazin, Berlin
2006 Rooftop Screening I, LOOP - Artfair, Barcelona, Spanien; First Play
-Trampoline, HAU, Berlin
2005 Transatlantische Impulse, Martin-Gropius-Bau, Berlin
2003 im forst, Kunstbank, Berlin
2011 Let the rythm hit'em, Kunstraum Kreuzberg, Berlin; It might all
come together for a moment and then just as quickly it is gone, Galerie
Funke, Berlin; On the other side - artistic throw-ins to the FIFA
Women´s World Cup, Schwules Museum, Berlin
2010 MANIFESTA - Parallel Events, Murcia, Spain
2009 Lower the Costs! Increase the growth!, West-Germany, Berlin;
Perspektives of Substitut, Le centre d‘art Neuchâtel, Switzerland
2007 True to Life, Kunsthalle Berlin-Lichtenberg; Riot the 8 Bars, NGBK,
Berlin; Unsere Affekte fliegen aus dem Bereich der menschlichen Wirklichkeit heraus, Galerie Sandra Bürgel, Berlin; Rooftop Screening II,
Zuviel.TV in cooperation with the SLEEK-magazine, Berlin
2006 Rooftop Screening I, LOOP - Artfair, Barcelona, Spain; First Play Trampoline, HAU, Berlin
2005 Transatlantische Impulse, Martin-Gropius-Bau, Berlin
2003 in the forest, Kunstbank, Berlin
Festivalbeteiligungen (Auswahl):
Festivalcontributions (selection):
2009 Globale, Berlin; Filmforum NRW, Köln
2008 rencontres international, Paris/Berlin/Madrid; Globale 08, Berlin
2006 Rotterdam Filmfestival, 3. Dokumentarfilmwoche Hamburg
2005 Diagonale Graz, Istanbul Filmfestival, Kasseler Dok-Fest
2003 Stuttgarter Filmwinter, Windsor Media City, Internationale
Kurzfilmtage Istanbul, Femme Total Dortmund
2002 Diagonale Graz; Int. Film Festival Melbourne, Short Cuts Cologne,
Impakt Utrecht, Regensburger Kurzfilmwoche, Festival Tous Courts:
Paralleles Europe Aix en Provence
2001 Viennale, Wien
2009 Globale, Berlin; Filmforum NRW, Cologne
2008 rencontres international, Paris/Berlin/Madrid; Globale 08, Berlin
2006 Rotterdam Filmfestival, 3. Dokumentarfilmwoche Hamburg
2005 Diagonale Graz, Istanbul Filmfestival, Kasseler Dok-Fest
2003 Stuttgarter Filmwinter, Windsor Media City, Internationale
Kurzfilmtage Istanbul, Femme Total Dortmund
2002 Diagonale Graz; Int. Film Festival Melbourne, Short Cuts Cologne,
Impakt Utrecht, Regensburger Kurzfilmwoche, Festival Tous Courts:
Paralleles Europe Aix en Provence
2001 Viennale, Vienna
Im Vertrieb bei e-flux, Berlin/New York und sixpackfilm, Vienna
In distribution at e-flux, Berlin/New York and sixpackfilm, Vienna
http://www.julialazarus.com
http://www.julialazarus.com
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Impressum
imprint
Konzept/Concept:
Julia Lazarus
Autoren / Authors:
Claudia Funke, Stéphane Bauer, Vera Tollmann, Claudia Wahjudi,
Raimar Stange, Hito Steyerl, Rike Frank.
Lektorat / Copyediting:
Rosemarie Lazarus, Alexander Hattwig
Übersetzungen / Translations
Fred Dewey, Erik Hansen
Gestaltung:
Moira Zoitl, Julia Lazarus
Schrift / Typeface:
Bembo, Univers
Papier / Paper:
Symbol Card 330 g/m²
Profi Silk 135 g/m²
Druck und Gesamtherstellung / Print:
gallery print, Berlin
Fotonachweis / Photo credits:
Falls nicht anderes angegeben / Unless otherwise credited
Julia Lazarus
Ausstellungsansichten / Installation views:
S. / p. 20-21 Matthias Mayer
S. / p. 40-41 Stéphane Bauer
S. / p. 46 Ingo Gerken
S. / p. 53 Kerstin Ehmer
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ISBN 978-3-86895-250-6
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Umschlagabbildung / cover image:
Farb-Dia / color-slide
1. Mai Berlin 2010
ISBN 978-3-86895-250-6