Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht
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Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht
Heimbeck • Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht ISBN 978-3-8487-0440-8 28 BUC_Heimbeck_0440-8.indd 1 Studien zur Geschichte des Völkerrechts 28 Lea Heimbeck Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht Verrechtlichung und Rechtsvermeidung zwischen 1824 und 1907 Nomos 12.03.13 12:29 http://www.nomos-shop.de/20825 Studien zur Geschichte des Völkerrechts Begründet von Michael Stolleis Herausgegeben von Wolfgang Graf Vitzthum Juristische Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen Bardo Fassbender Universität der Bundeswehr München Institut für Öffentliches Recht und Völkerrecht Miloš Vec Universität Wien Institut für Rechts- und Verfassungsgeschichte Band 28 BUT_Heimbeck_0440-8.indd 2 04.04.13 08:28 http://www.nomos-shop.de/20825 Lea Heimbeck Die Abwicklung von Staatsbankrotten im Völkerrecht Verrechtlichung und Rechtsvermeidung zwischen 1824 und 1907 Nomos BUT_Heimbeck_0440-8.indd 3 04.04.13 08:28 http://www.nomos-shop.de/20825 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Zugl.: Frankfurt am Main, Univ., Diss., 2012 ISBN 978-3-8487-0440-8 D30 1. Auflage 2013 © Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden 2013. Printed in Germany. Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der photomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. BUT_Heimbeck_0440-8.indd 4 04.04.13 08:28 http://www.nomos-shop.de/20825 Inhalt Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 I. Schutz durch Verrechtlichung und Rechtsvermeidung. . . . . . . . II. Staatsanleihen und Staatsbankrotte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Völkerrecht durch Globalisierung? – Weltwirtschaftliche Beziehungen als rechtliches Steuerungselement . . . . . . . . . . . . IV. Völkerrechtliche Fragmentierung, Rechtsentstehungspluralismus und Rechtlosigkeitspluralismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Staatliche Normierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Nationale Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Nicht-Staatliche Normierungsinstrumente . . . . . . . . . . . . . . 3. Globalisierung und Lokalisierung von Recht. . . . . . . . . . . . V. Souveränität als Interventionsschranke . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Thesen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII. Vier Fallstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. .. 1 5 .. 7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 9 9 10 12 13 14 15 15 16 Griechenland, 1824–1878: Fehlendes Problembewusstsein und bewusste Rechtsvermeidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 TEIL I Private Abwicklung aufgrund eines völkerrechtlichen Vakuums I. II. Beginn des internationalen Anleihehandels . . . . . . . . . . . . . . . ,Leere‘ in der Lehre – Ausbleibende Diskussion eines wachsenden Problemfelds . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Fehlende Normierung von Interventionsgrundsätzen zur Schuldeneintreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Britische Seeblockaden und Handelsembargos . . . . . . . . . . 2. Militärische Drohungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Erfolglose Besatzungspolitik zur Durchsetzung finanzieller Forderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zivilrechtliche Einigung nach gescheiterter völkerrechtlicher Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Stagnation des Völkerrechts? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23 .. 25 .. .. .. 41 42 48 .. 50 .. .. 52 59 http://www.nomos-shop.de/20825 VI Inhalt TEIL II Instrumentalisierung der Insolvenzabwicklung durch die Völkerrechtswissenschaft Ägypten, 1862–1904: Einfluss zwischenstaatlicher Insolvenzabwicklungsmechanismen auf das Völkerrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die ägyptische Schuldenverwaltung in der völkerrechtlichen Interventionslehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Schuldenverwaltungen in der Völkerrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Das Defizit in Staatenpraxis und Völkerrechtslehre bis 1876 . 2. Rezeption und Funktionalisierung der Schuldenverwaltung in der Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Die Gemischten Gerichte im zeitgenössischen Völkerrecht . . . . 1. Fehlende Diskussion in der Lehre bis 1876 . . . . . . . . . . . . 2. Die Relevanz der Gemischten Gerichte im Prozess völkerrechtlicher Justizialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Etablierung und Stabilisierung des Völkerrechts als selbstständige Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Militärische Intervention zur Beendigung zunehmender politischer Spannungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Gewaltmaßnahmen durch die Gläubigerstaaten . . . . . . . . . . . . VII. Die britische Okkupation Ägyptens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Okkupation als Instrument zur Durchsetzung von Vertragsschulden? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Präzedenzfall Ägypten? – Handlungsfreiheit und Sparprinzip als Hindernis der Verrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VIII. Völkerrechtliche Entrechtlichung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IX. Insolvenzabwicklungsmaßnahmen als völkerrechtliche Rechtfertigungsnarrative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 I. .. 66 .. .. 75 75 .. .. .. 79 94 96 .. 97 .. 114 .. .. .. 118 120 125 .. 127 .. .. 129 135 .. 138 Das Osmanische Reich, 1854–1907: Private Anleger als Co-Autoren völkerrechtlicher Normierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 I. II. Völkerrechtliche Rechtsvermeidung: Das Mouharrem-Dekret von 1881 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einrichtung der transnationalen Schuldenverwaltung . 2. Funktionalisierung der Schuldenverwaltung als völkerrechtliches Rechtfertigungsnarrativ . . . . . . . . . . . . Nationalstaatlicher und privater Anlegerschutz . . . . . . . . . . 1. Nationalstaatliche Normierungsebene . . . . . . . . . . . . . . .... .... 146 154 .... .... .... 155 159 160 http://www.nomos-shop.de/20825 VII Inhalt 2. Der Zusammenschluss zu Gläubigerschutzvereinigungen . . . . . 3. Vertragliche Schutzmechanismen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Völkerrechtliche Rechtsvermeidung aufgrund politischer Interessen 160 162 162 TEIL III Verrechtlichung und Rechtsvermeidung als Ordnungsinstrumente internationaler Finanzbeziehungen Venezuela, 1902–1907: Von der Drago-Doktrin zur Drago-Porter-Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I. Die Venezuela-Krise und ihre völkerrechtliche Bedeutung. . . . . . . 1. Die Drago-Doktrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ablehnung durch die Völkerrechtswissenschaft . . . . . . . . . . . . II. Interamerikanische und transatlantische Verrechtlichungsbestrebungen in der Staatenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Zweite Panamerikanische Konferenz (1901/02): Justizialisierungsversuche in Amerika . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Dritte Panamerikanische Konferenz (1906): Kein amerikanischer Alleingang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zweite Haager Friedenskonferenz (1907): Die Drago-Porter-Konvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Die Drago-Porter-Konvention. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Evaluierung des Abkommens in der Völkerrechtswissenschaft III. Regionale Initiative zur globalen Kodifikation. . . . . . . . . . . . . . . 167 169 175 176 183 184 188 191 191 196 200 Fazit: Simultane Kodifizierung, Rechtsvermeidung und faktische De-Regulierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Anhang I. Historische Zeittafeln . . . . . . . . . . 1. Griechenland, 1824–1878 . . . . . 2. Ägypten, 1854–1904 . . . . . . . . 3. Osmanisches Reich, 1862–1907 . 4. Venezuela, 1902–1907 . . . . . . . II. Historische Umrechnungskurse. . . . . . . . . . 217 217 219 222 225 227 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . http://www.nomos-shop.de/20825 VIII British Parliamentary Papers . I. Griechenland . . . . . II. Ägypten . . . . . . . . III. Osmanisches Reich. IV. Venezuela . . . . . . . Inhalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 257 257 260 261 Akten des Auswärtigen Amtes zur Zweiten Haager Friedenskonferenz . . . 263 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 http://www.nomos-shop.de/20825 Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2012 von der Juristischen Fakultät der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main als Dissertation angenommen. Sie entstand zwischen 2009 und 2012 im Rahmen der Projektgruppe „Das Völkerrecht und seine Wissenschaft, 1789–1914“ am MaxPlanck-Institut für europäische Rechtsgeschichte unter der Leitung von Prof. Dr. Miloš Vec. Die dortigen großartigen institutionellen Arbeitsbedingungen haben die erfolgreiche Fertigstellung dieser Dissertation erst ermöglicht. Sie wäre jedoch nie ohne die professionelle und private Unterstützung einer Vielzahl von Menschen entstanden, denen ich zu tiefstem Dank verpflichtet bin. Ein herzlicher Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Miloš Vec. Er hat die Arbeit von Anfang an eng begleitet, kritisch diskutiert, Thesen hinterfragt und wertvolle Tipps gegeben. Parallel dazu durfte ich an vielen seiner Projekte teilhaben, so dass sich mir viele neue Aspekte und Forschungsfragen der Völkerrechtsgeschichte eröffnet haben. Weitere entscheidende Impulse hat Herr Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Michael Stolleis dieser Arbeit gegeben, der auch Zweitgutachter dieser Dissertation war. Die regelmäßige Präsentation des Forschungsstandes in seinem Oberseminar machte es immer wieder erforderlich, die eigenen Gedanken zu ordnen und bisherige Arbeitsschritte, Fragestellungen und Thesen kritisch zu überdenken. Vor allem hat er jedoch durch seine schier unerschöpfliche Kenntnis historischer Quellen, Ereignisse und Anekdoten einen der Grundsteine zur Fertigstellung dieser Arbeit gelegt. Beiden bin ich für ihre fantastische Betreuung sehr dankbar. Diese Dissertation hätte auch dann nicht ihre jetzige Form, wenn sie nicht im Rahmen der Projektgruppe „Das Völkerrecht und seine Wissenschaft, 1789– 1914“ verfasst worden wäre. Auf diese Weise wurde sie von Anfang an in einem interdisziplinären Forschungsrahmen diskutiert und erhielt dadurch Impulse aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Für diese großartige Hilfe meiner MitDoktoranden vor allem aber für die schöne gemeinsame Zeit möchte ich mich bei Nina Keller, Friederike Kuntz, Dr. Stefan Kroll und Dr. Kristina Lovrić-Pernak von ganzem Herzen bedanken. Für die schöne gemeinsame Zeit danke ich ferner meinen Mit-Doktoranden Dr. Elisabetta Fiocchi Malaspina, Dr. Christian Lange, Ulrike Meyer, Osvaldo R. Moutin und Ulrike Schillinger. Ein großer Dank gilt ferner einigen Menschen, die durch ihre Anregungen, Ideen und ehrliche Kritik entscheidend zur Fertigstellung der Arbeit beigetragen haben: Herr Jürgen Heimbeck, Frau Anne Höhne, Herr Dr. Stefan Kroll sowie http://www.nomos-shop.de/20825 X Danksagung Herr Dr. Michael Waibel. An dieser Stelle möchte ich ebenfalls Frau Mary Josephine Migliozzi danken, die alle englischen Artikel und Vorträge unermüdlich korrigiert hat. Sie hat unsere Freundschaft nicht nur nicht beendet, sondern sich lachend für ihre dergestalt gewonnenen Kenntnisse im internationalen Wirtschaftsvölkerrecht bedankt. Herr Heiko Menken hat mir ferner über alle technischen Katastrophen im Rahmen der Fertigstellung dieser Arbeit hinweg geholfen. Merci beaucoup! Ferner möchte ich mich beim Rothshild Archive, London für die sehr gute Betreuung und Hilfe bei der Recherche vor Ort bedanken. Zu guter Letzt möchte ich einen „institutionellen“ Dank aussprechen für die maßgebliche professionelle Unterstützung, die ich am Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte erfahren habe. Dieser gilt insbesondere dem Bibliotheksteam, der IT, der Redaktion und der Verwaltung, letztlich aber allen, die diese Zeit so bereichernd und schön gemacht haben. Schließlich gilt mein besonderer Dank meinen Eltern, Christine und Jürgen Heimbeck, die von Anfang an an mich geglaubt, mir durch Motivationslöcher geholfen und sich schließlich mit mir gefreut haben. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. Lea Heimbeck Bremen, im August 2012 http://www.nomos-shop.de/20825 Einleitung „Gleichwerte von geringem Anfang, aus sich selbst, der Seidenwurm sein glänzendes Grab schließt, so spannen sich Anleihen aus Anleihen um den Staat.“ 1 Verrechtlichung und Rechtsvermeidung – ein Korrelat, das insbesondere im Rahmen der Abwicklung von Staatsbankrotten besondere Bedeutung erlangte. Im 19. Jahrhundert gebrauchten beteiligte Akteure nach staatlichen Insolvenzen Recht in verschiedener Weise auf diversen Normierungsebenen: dem nationalen Recht, dem Völkerrecht sowie privaten Rechtsregimen. Diese Funktionalisierung erfolgte jedoch nicht lediglich durch die Schaffung von Normen, sondern ebenfalls dadurch, dass die Parteien es bewusst unterließen, Rechtsnormen – sei es auf einer bestimmten oder allen Ebenen – zu generieren. Die Heterogenität der involvierten Parteien und die Vielzahl berührter Rechtsordnungen im Kontext von Staatsbankrotten sind somit Voraussetzung und Folge für die Instrumentalisierung von Recht für politische, wirtschaftliche oder juristische Zwecke. I. Schutz durch Verrechtlichung und Rechtsvermeidung Private Rechtssubjekte, die im internationalen Raum agieren, sind besonders schutzbedürftig. Ihnen stehen weniger juristische Konfliktlösungsmechanismen zur Verfügung als auf nationaler Ebene bzw. diese sind oftmals kaum erfolgversprechend. Eine Verrechtlichung grenzüberschreitender Transaktionen wie der Ausgabe von Staatsanleihen außerhalb des emittierenden Staates sowie der Folgen, die ein Scheitern solcher Geschäfte auslösten, scheint daher dem gesteigerten Schutzbedürfnis der Parteien zu dienen. Im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert entstanden indes nur wenige völkerrechtliche Normen, die spezifisch derartige Auseinandersetzungen regelten. Im Gegenteil: Akteure bedienten sich vielfach des Mittels der Rechtsvermeidung. Dadurch wollten sie einerseits ihre Profitchancen erhöhen, andererseits ihre wirtschaftlichen und/oder politischen Handlungsspielräume im Fall der Insolvenz eines staatlichen Schuldners wahren. Freilich gewährt gerade die Existenz der Völkerrechtsordnung derartige Handlungsspielräume innerhalb derer die Akteure sich entscheiden können, ob 1 Sulzer: Völkerglück (1828), S. 93. http://www.nomos-shop.de/20825 2 Einleitung sie ihre Beziehungen rechtlich konkretisieren oder nicht. Eine derartige Konkretisierung – durch die Schaffung eines internationalen Insolvenzrechtsregimes – unterließen sie indes. Innerhalb eines rechtlich geregelten Rahmens schufen sie vielmehr einen spezifischen, rechtsfreien Raum, indem sie die Abwicklung von Staatsbankrotten nicht näher ausgestalteten. Handelt es sich bei den Mechanismen der Verrechtlichung/ Rechtsvermeidung jedoch um eine Antithese? Die These dieser Arbeit lautet, dass im Rahmen der Abwicklung von Staatsbankrotten alle involvierten Parteien (Investoren, Banken, Börsen, Gläubiger- und Schuldnerstaaten) die Instrumente der Verrechtlichung und der Rechtsvermeidung kombinierten. Verrechtlichung und Rechtsvermeidung schlossen sich nicht automatisch aus. Sie ergänzten sich vielmehr, wirkten sich aufeinander aus bzw. waren voneinander abhängig. Diese wechselseitigen Einflüsse und Interdependenzen fanden zwischen und innerhalb unterschiedlicher Rechtsordnungen statt: dem Völkerrecht, nationalen Rechtsordnungen sowie Selbstregulierungsregimen juristischer Personen des Privatrechts. Auf diese Weise kam es nicht nur zu einem Rechtsentstehungs-, sondern auch zu einem Rechtlosigkeitspluralismus. Diese Tatsachen begründen den multidimensionalen Charakter globalen Rechts – unabhängig davon, ob Recht geschaffen wird oder nicht. Es ereignete sich allerdings nicht nur eine Globalisierung von Recht. Die partielle Regelung grenzüberschreitender Sachverhalte führte vielmehr gleichzeitig zu einer damit verbundenen Lokalisierung von Recht (sog. „Glokalisierung“). 2 In Ermangelung einer umfassenden internationalen Insolvenzrechtsordnung wuchs somit die Bedeutung verschiedener Rechtsregime im Rahmen der Abwicklung von Staatsbankrotten. Diese These stützt sich auf vielfältiges historisches Material, das neben der Staatenpraxis auch die zeitgenössische Völkerrechtslehre umfasst. Dazu gehören Originaldokumente beteiligter Parlamente, der Banken sowie privater Gläubigerschutzvereinigungen ebenso wie völkerrechtliche, ökonomische und historische Primär- und Sekundärliteratur. In dieser Arbeit wird untersucht, welcher Mittel sich die Akteure bei der Liquidation staatlicher Insolvenzen im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert bedienten. Es geht darum, ob durch diese Maßnahmen völkerrechtliche Normen in der Staatenpraxis entstanden oder in der Völkerrechtswissenschaft als solche rezipiert worden sind. Dieser Fragestellung wird auf der Grundlage von vier historischen Fallstudien nachgegangen. Diese intrikate Verknüpfung von Verrechtlichung und Rechtsvermeidung wird im Rahmen der Abwicklung von Staatsbankrotten im 19. Jahrhundert sehr deutlich. Nicht nur die Anzahl, sondern insbesondere das Volumen staatlich 2 Voigt: Weltrecht (2008), S. 376. http://www.nomos-shop.de/20825 I. Schutz durch Verrechtlichung und Rechtsvermeidung 3 emittierter Anleihen erhöhte sich signifikant: Während europäische Staaten zwischen 1794 und 1850 derartige Wertpapiere in Höhe von ca. 75.576.000 Pfund Sterling begaben, betrug das Volumen zwischen 1851 und 1880 bereits ca. 454.107.000 Pfund Sterling. 3 Es stieg allerdings nicht nur die Quantität der ausgegebenen Staatsanleihen, der emittierenden Staaten sowie des Volumens des internationalen Kapitalverkehrs, sondern auch die Anzahl der Staatsbankrotte nahm zu. 4 Dieses in der Finanzpraxis wachsende Problem stellte das (Völker-) Recht vor neue Herausforderungen. Es unterlag einem „Anpassungsdruck“ der Märkte, 5 um den veränderten Bedürfnissen der involvierten Rechtssubjekte gerecht zu werden. Der Terminus der „Verrechtlichung“ wird weder im nationalen noch im Völkerrecht definiert. Begriffe wie Verrechtlichung, Normativierung, Vergesetzlichung und Justizialisierung unterscheiden sich zudem je nach wissenschaftlicher Perspektive: Politikwissenschaftler, Juristen und Soziologen verwenden sie mit verschiedenen Akzentuierungen. 6 Aus juristischer Sicht stellt eine Verrechtlichung sowohl die quantitative Vermehrung von Normen als auch die Verregelung neuer Lebensbereiche dar. 7 Diese Zunahme von Normen erfolgt im Völkerrecht durch den Abschluss bi- oder multinationaler Verträge sowie durch die Entstehung von Völkergewohnheitsrecht. Ferner kam es in der Staatenpraxis des 19. Jahrhunderts zu einer wachsenden Verlagerung politischer Entscheidungs- und Initiativfunktionen auf die Justiz; insbesondere die Bedeutung der Schiedsgerichtsbarkeit nahm erheblich zu. 8 Die Verrechtlichung internationaler Beziehungen kann sich ferner in der Völkerrechtswissenschaft vollziehen. Juristen können sich neuen Materien zuwenden und diese als völkerrechtlich relevant erfassen. Diese Rezeption kann auch dadurch erfolgen, dass ein Tatbestand bzw. seine Rechtsfolgen präzisiert, modifiziert, in anderer Weise verwendet oder in das Völkerrecht eingeordnet werden. 3 Quittner-Bertolasi: Öffentliche Auslandsanleihen (1936), S. 603–5. Den mit Abstand höchsten Anteil an Staatsanleihen emittierten europäische Staaten. Zwischen 1851 und 1880 emittierte Asien (inklusive des Osmanischen Reichs) Anleihen in Höhe von £ 161,838,000; Afrika (inklusive Ägypten) £ 84,172,000 und Südamerika £ 152,064,000 (S. 605). 4 Suter: Schuldenzyklen (1988), S. 89, Tabelle 3.5. Freilich war es auch früher zu Staatsbankrotten gekommen, beispielsweise nach dem Zusammenbruch des sog. Law’schen Systems 1715 in Frankreich. Ferguson: Ascent of Money (2009), S. 127 ff. Da vor dem 19. Jahrhundert die Landwirtschaft Staaten wirtschaftlich stabilisierte, wirkten sich diese Insolvenzen jedoch nicht derartig verheerend aus. Plumpe: Wirtschaftskrisen (2010), S. 42. 5 Voigt: Weltrecht (2008), S. 362. 6 S. kurze Zusammenfassung bei Voigt: Verrechtlichung (1980), S. 16–8. 7 Blichner/Molander: Mapping Juridification (2008), S. 42–3. 8 Vec: Verrechtlichung internationaler Streitbeilegung (2011); Kneisel: ,par amour‘ oder ,par droit‘? (2011). Dieser Vorgang wird als Justizialisierung, einer Form der Verrechtlichung, bezeichnet. Voigt: Verrechtlichung (1980), S. 21–3; Blichner/Molander: Mapping Juridification (2008), S. 45–7. http://www.nomos-shop.de/20825 4 Einleitung Im 19. Jahrhundert schufen Staaten kaum völkerrechtliche Normen zur Abwicklung von Staatsbankrotten. Überwiegend wickelten Gläubiger- und Schuldnerstaaten internationale Liquidationen bi- oder multinational ab, indem sie beispielsweise internationale Schuldenverwaltungen errichteten. Das hatte zur Folge, dass ein umfassendes normatives System fehlte, welches das Verhalten der Parteien im transnationalen Raum gesteuert hätte. Durch die neuen grenzüberschreitenden Verhältnisse sank somit einerseits die Steuerungsfähigkeit von Nationalstaaten hinsichtlich daraus entstehender Rechtsfragen, andererseits entstand kein globales Recht, das eine derartige Steuerungsfunktion ausgeübt hätte. 9 Ein multinationaler Vertrag mit einem relativ umfassenden Regelungsbereich wurde lediglich in Form der Drago-Porter-Konvention (1907) geschlossen. Im Kontext internationaler Finanzbeziehungen handelt es sich daher nicht nur um einen „Raum ohne Rechtsgeometrie“ 10 zwischen einzelnen Teilrechtsregimen, sondern Recht fehlte teilweise völlig. Es handelte sich um einen partiell rechtsfreien Raum, der innerhalb der Völkerrechtsordnung existierte. Niels Petersson betont indes, dass Auslandsinvestitionen trotz eines fehlenden übergeordneten Rechtssystems für Investoren lukrativ waren, eben weil ein großer Teil dieses „Wirtschaftens“ „abseits des Rechts“ stattfand. 11 Ab den 1870er Jahren verschob sich die Aufmerksamkeit der Wissenschaft hin zu neuen Themenkomplexen, die in der Praxis immer mehr an Bedeutung gewonnen hatten; dies kann man ebenfalls als Prozess der Verrechtlichung beschreiben. Völkerrechtliche Lehrbücher enthielten nunmehr Hinweise auf das Problem der Abwicklung von Staatsbankrotten, in der Revue de Droit International et de Législation Comparée erschienen diesbezügliche Artikel und Juristen erörterten die Problematik ausführlich bzw. funktionalisierten sie neuartig. Der Begriff der Rechtsvermeidung findet sich weder in zeitgenössischer völkerrechtlicher noch in aktueller völkerrechtsgeschichtlicher Forschungsliteratur. Die Termini der „Anarchie“ 12 sowie der „Rechtslosigkeit“ 13 passen jedoch nicht. Sie bezeichnen einen Zustand, wohingegen der Begriff der Verrechtlichung einen Prozessverlauf kennzeichnet. Dessen Gegenpol muss daher ebenfalls einen Transformationsverlauf ausdrücken, welcher in der Entscheidung der Akteure, kein Recht zu schaffen, liegt. Dieses voluntative und zugleich dynamische Element beschreibt indes der Terminus der Rechtsvermeidung. Kerngegenstand dieser Arbeit bildet die Frage, welcher Instrumente bzw. in welcher Weise sich die Parteien dieser bedienten, um die Abwicklung von 9 10 11 12 13 Voigt: Weltrecht (2008), S. 364. Amstutz/Karavas: Rechtsmutation (2006), S. 15. Petersson: Handels- und Finanzintegration um 1900 (2012), S. 70. S. Petersson: Anarchie und Weltrecht (2009). Struck: Rechtssoziologie (2011), S. 73. http://www.nomos-shop.de/20825 II. Staatsanleihen und Staatsbankrotte 5 Staatsbankrotten völkerrechtlich zu regeln: des Rechts oder des Nicht-Rechts. Im Rahmen der Liquidation staatlicher Insolvenzen sind zwei Prozesse zu beobachten: Im Hinblick auf substantielle Normen verfolgten die Akteure während des gesamten Untersuchungszeitraums eine Strategie der Rechtsvermeidung. Bezüglich formaler Aspekte staatlicher Bankrotte erfolgte eine Verschiebung von der Rechtsvermeidung zur Entstehung von soft law 14 sowie zu Rechtsnormen. Diese Verschiebung geschah durch die Entstehung gewisser rechtlicher Verpflichtungen sowie die Übertragung von Kompetenzen auf internationale Schuldenverwaltungen bzw. internationale Schiedsgerichte. II. Staatsanleihen und Staatsbankrotte Staatsbankrotte sind freilich schon vor dem 19. Jahrhundert aufgetreten. 15 Ab den 1820er Jahren beruhten sie jedoch oftmals auf der internationalen Ausgabe von Staatsanleihen. Infolgedessen verfügte die Mehrzahl privater Anleger in der Regel nicht über die Staatsangehörigkeit des Schuldnerstaates. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts stellten nur noch wenige Juristen die Insolvenzfähigkeit von Staaten in Frage. Dennoch, um Erwägungen wie dem Bestandsschutz und dem Selbstzweck des Schuldnerstaates zu genügen, unterscheidet sich die Definition eines Staatsbankrotts von ihrem zivilrechtlichen Pendant. 16 Es handelt sich um einen Staatsbankrott, wenn ein Staat sich weigert, seine „rechtlich unzweifelhaften Schuldverbindlichkeiten gegenüber Privatpersonen zu erfüllen, geschehe dies nun aus Unvermögen oder aus Unredlichkeit oder aus beiden Ursachen zugleich“. 17 Eine derartige Zahlungseinstellung beruht nicht nur auf finanziellen, sondern auch auf politischen und sozialen Erwägungen. 18 Nicht jede Beendigung der Tilgungs- oder Zinszahlungen durch den 14 Soft law stellt indes kein Recht im engeren Sinne dar, sondern es besitzt lediglich eine gewisse rechtliche Relevanz. Thürer: Soft Law, in: Rüdiger Wolfrum (Hg.), The Max Planck Encyclopaedia of Public International Law (2008), online edition, [www.mpepil.com], Rdnr. 2. 15 S. z. B. Reinhart/Rogoff: This time is different (2009), S. 87, Tabelle 6.1. 16 Im Privatrecht bezeichnet der Begriff Bankrott die Zahlungsunfähigkeit eines zivilrechtlichen Schuldners in Bezug auf ausstehende Forderungen und laufende Kosten. S. z. B.: Concurs 3 (1846), S. 387–98, Definition auf S. 387–8. Der Begriff des Bankrotts stammt aus dem Italienischen. Die dortigen Kaufleute übten ihr Gewerbe an bankartigen Tischen vor Messen und Märkten aus. Wenn ein Kaufmann seine ausstehenden Verbindlichkeiten nicht mehr tilgen konnte, wurde sein Tisch symbolisch zerbrochen: ,banco rotto‘. Loewy: Staatsbankrotte (1922), S. 9. 17 Pflug-Nürnberg: Staatsbankrott (1898), S. 1. Loewy unterschied zwei Fälle von Staatsbankrotten: den Anleihe- und den Geldbankrott. Ersterer bezeichne ausbleibende Tilgungs- und/oder Zinszahlungen, letzterer eine Verschlechterung des Münz- oder Papiergeldwertes. Loewy: Staatsbankrotte (1922), S. 24–59. Ohler sah hingegen in der bloßen Zahlungsunwilligkeit keinen Fall des Staatsbankrotts. Ohler: Staatsbankrott (2005), S. 593. 18 Reinhart/Rogoff: This time is different (2009), S. 51. Die Mehrheit der völkerrechtlichen Autoren des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts verwendeten beide Termini: Bankrott und Insolvenz. Laut Borchard ist der Begriff des Bankrotts in Kontinentaleuropa, der der Insolvenz im angloamerikanischen Raum gebräuchlich. Im Fall von staatlichen Schuldnern könnten die Bezeichnungen jedoch synonym verwendet werden. Borchard: State Insolvency (1951), S. 117.