Stadtforschung und Statistik - Schibri
Transcrição
Stadtforschung und Statistik - Schibri
EDITORIAL Sechs, elf – und Gera? Zuerst wollte ich „Pflichtlektüre“ über dieses Editorial setzen und so auf den Hammersen-Aufsatz hinweisen. Denn dieser Beitrag sollte von jedem nicht nur gelesen, sondern auch konsequent umgesetzt werden. Dann aber habe ich es doch bei dem Hinweis auf die Ex-AG belassen. Bei der Premiere in Koblenz waren es sechs, beim zweiten Treffen – in Dresden – wurden daraus elf. Wie viele fahren nach Gera? Damit bin ich bereits auf zwei Artikel eingegangen, die diese Ausgabe umrahmen. Doch auch dazwischen finden Sie Lesenswertes. Vieles, das ich Ihnen ans Herz legen möchte. Hier eine Umfrage unter Opernbesuchern, dort eine unter Häuslebauern. Der demografische Wandel, Bildung und Jugendkriminalität sind weitere Themen. Andere Beiträge gehen auf die Bundestagswahl 2005 ein, werfen den Focus dabei jeweils auf einen Teilbereich und liefern ernüchternde bis erschreckende Erkenntnisse. Und die VZ: Lange Zeit sahen wir viele Fragezeichen. Nun aber scheint sich die gekrümmte Linie in eine gerade, in ein Ausrufzeichen zu verwandeln. Ein triftiger Grund mehr, sich dem Thema zuzuwenden. Diese Ausgabe befasst sich nicht nur mit den großen Problemen der Statistik, sie wirft auch einen kleinen Blick auf den VDSt. Der Wechsel an der Verbandsspitze ist Anlass, das neue Führungsquartett vorzustellen. Immer wieder lesenswert und informativ finde ich das, was einige Neumitglieder über sich berichten. Martin Schlegel, Hagen Stadtforschung und Statistik 1/ 07 1 Stadtforschung und Statistik Zeitschrift des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Ausgabe 1 • 2007 Inhalt Seite Editorial John-Philip Hammersen Uwe Schubert Klaus Boers, Susanne Kunadt, Jost Reinecke Karl-Heinz Reuband Werner Münzenmaier Josef Fischer, Jens Vöckler Sechs, elf – und Gera? 1 Manager-Revolution 4 Skandale – Konflikte - Emotionales Klare Botschaften, kurze Sätze 5 Konkrete Hilfe für unsere Arbeit Ergebnis der Fußball-WM Zahl des Jahres 2006: 3. 8 Die Zahl zum Sommermärchen Umfrage in Neubaugebieten Was bewirkt die neue Wohnung? 9 Buchbesprechung Eigenwillig und Heilsam 10 Ein vorübergehendes Problem? Jugendliches Delinquenzverhalten 11 Buchbesprechung Die Methode muss zur Aufgabe passen 14 Krise der Oper oder des Publikums? Die soziale Stellung der Opernbesucher 15 Gerd Strohmeier 2 Nicht nur für WerderFans Münster und Duisburg Köln und Düsseldorf Gesamtwirtschaftliche Indikatoren 1996 - 2003 Veränderungen in deutschen Großstädten 22 15 Städte im Blick Chico, Groucho, Harpo und Zeppo Marx Brothers 19. August 1977 Enorme Unterschiede zwischen Groß- und Kleinstädten Bundestagswahl 2005 für Städte und Gemeinden Frauen: Schule und Wahlrecht Lothar Eichhorn, Jessica Huter Wer baut warum? Klare Verbindung zwischen Arbeitslosigkeit und Wahlabstinenz Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2005 Plädoyer für ein anderes Wahlrecht Mehrheitswahl statt Königsmacher 25 Detaillierte Analyse 26 32 Vor 100 Jahren r = 0,66 33 Ein besserer Weg? 40 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 INHALT Simon Buhl Volker Hannemann Klaus Marquardt Andreas Baumann, Karsten Stephan Eckart Bomsdorf Tobias Terpoorten Reto U. Schneider Bernhard Schletz Horst-Jürgen Wienen Neuer Versuch – Neuer Weg Der registergestützte Zensus 2011 41 VZ 2006 150 Millionen Einwohner in Nigeria? 46 Erst dagegen – dann ausgewertet Mitgezählt 48 Impressum 49 Rudolf Schulmeyer, Hermann Breuer, Ruth Schmidt, Roland Jeske Kein ungefährlicher Weg Uni-Siegen bietet an: Erhebung und Auswertung räumlicher Daten 50 Servus Bruno 53 Einwohnerprognose im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Realität Ist der demografische Wandel zu stoppen? 54 Analyse amtlicher Schuldaten im Ruhrgebiet Bildung ist kleinräumig 60 Einladungen nach Köln 66 Unwahre Antworten, eine Umfrage-Tatsache Ja. Nein. Weiß nicht. 67 Frühjahrstagung 2007 Willkommen in Thüringen 70 Zweites Treffen der Ex-AG Im Welterbe Dresdner Elbtal Statistische Woche in Dresden Weder Sekt noch Selters Anne-Kristin Detert, Michael Haußmann, Hans-Jürgen Neuhausen, Frank Neumann, Antje Seidel-Schulze Der Weg zur nächsten VZ Ein damaliger VZ-Gegner berichtet Ein Weg zur schnellen Analyse Die klare Antwort: Nein! Erhellende Erkenntnisse eines Nicht-Statistikers Tolles Erlebnis 72 Rückblick 74 Ohne Statistik ist die Welt nur ungefähr Neue geben Einblicke 74 Stabwechsel beim Verband Deutscher Städtestatistiker 76 Das neue Führungsquartett Funktionen und Funktionsträger 79 Weitere Ansprechpartner Autorenverzeichnis 80 Mehr Vielfalt im Verband Fehlt Ihr Name? Stadtforschung und Statistik 1/ 07 3 BEVOR DER ERNST BEGINNT Manager-Revolution Martin Schlegel, Hagen Die rheinische Mittelstadt Turmkirchen hat schon mal Bemerkenswertes geleistet (vgl. „Aqua Romana“ in Stadtforschung und Statistik, Ausgabe 1/2006, S. 4). Mutig, entschlossen und entscheidungsfreudig folgen sie immer wieder dem herrschenden Trend, wie auch das jüngste Beispiel zeigt. „Turmkirchens Politik ist keine Kirchturmspolitik. Wir setzen internationale Standards,“ erklärte der Bürgermeister dem Rat, der ihn daraufhin beauftragte, sichtbar zu machen, dass die Verwaltung keine schlappe Behörde ist, sondern von Managern geleitet wird. Unverzüglich mutierte der Amtsleiter zum „Central-Manager“, der Abteilungsleiter wurde treffend als „Decision-Manager“ bezeichnet und aus dem sprachlich umständlichen „Sachgruppenleiter“ wurde „Team-Manager“. Auch die Sachbearbeiter atmeten auf, wurde für sie doch der „Operating-Manager“ vorgesehen; für die Auszubildenden fiel der Karriere verheißende „Junior-Manager“ ab. Hausmeister, Putzfrauen und die übrigen Arbeiter werden einheitlich als „Front-Manager“ geführt. Es hätte eine Sonderbehandlung bedeutet und wäre inkonsequent – mithin Turmkirchen unähnlich – gewesen, Bürgermeister und Beigeordnete auszusparen. So bekamen die Beigeordneten den Titel „CD-Manager“, wobei CD für Central-Decision steht, und der Bürgermeister ließ sich überreden, der Stadtverwaltung fortan als „Global-Manager“ vorzustehen. Umgesetzt sind diese Änderungen noch nicht, da die Gleichstellungsstelle wegen Unklarheiten bei der weiblichen Schreibweise bislang kein OK gegeben hat. Von diesen fulminanten Einschnitten, dieser regelrechten Manager-Revolution inspiriert, beschloss die Redaktion dieser Zeitschrift, ebenfalls internationale Standards einzuführen. Die Zeitschrift heißt demnächst: „Town-Research And Statistic – Newspaper of the Verband Deutscher Staedtestatistiker“. Großen Wert legen wir auf die Umgestaltung des Inhaltsverzeichnisses. „Table of contents“ wäre korrekt, wir haben uns – weil viel progressiver – für das kurze und knappe „toc“ entschieden. Da wir inhaltsorientiert sind (künftig: content fixed), entspann sich eine längere Debatte bei der Frage, in welcher Sprache die Artikel erscheinen sollen. Der Kompromissvorschlag „The headlines may be in german, aber der Text sollte auf Englisch sein“ war nicht zielführend. Der Beschlussvorschlag: „Sie bleiben in Deutsch.“ erhielt eine knappe Mehrheit, nachdem in die Mitte des Satzes „for the next time“ eingefügt wurde. Die Debatte ist nicht einfach und nicht abgeschlossen, sie verdient eine rege Beteiligung. Denglish droht allerorten. Verfolgen Sie den Fortgang im „VDSt Newsletter“. 4 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 STUTTGARTS WEG ZUR RELIGIONS„UN“ZUGEHÖRIGKEIT Die Arbeit mit den Medien – Skandale, Konflikte, Emotionales Klare Botschaften, kurze Sätze. John-Philip Hammersen, Nürnberg Es ist schon ein Kreuz mit den Medien: Da hat man – aus eigener Sicht, versteht sich – ein spannendes Thema in Arbeit, aber kein Journalist scheint sich dafür zu interessieren. Statistiker haben es in dieser Hinsicht sicherlich besonders schwer: Ihnen haftet das Stigma der „Zahlenquäler“ an, die sich einer besonders trockenen Materie widmen. Nicht sehr verlockend für Journalisten. Dabei lassen sich auch vermeintlich trockene Themen mediengerecht aufbereiten – vorausgesetzt, man beachtet ein paar Regeln. Unabdingbar: Vertrauen Dazu einige grundsätzliche Anmerkungen: Ziel von Presse- und Öffentlichkeitsarbeit sollte es immer sein, ein Produkt, eine Leistung oder auch einen Sachverhalt möglichst positiv in der öffentlichen Meinung zu besetzen. Dafür ist eines unabdingbar: Vertrauen. Zunächst muss ein Journalist seiner Quelle vertrauen, schließlich muss die Öffentlichkeit, also der Leser/ Zuschauer/Hörer, den Medien vertrauen. Dies lässt sich aus Sicht einer Institution, die als Quelle für Medienberichte dient, am einfachsten durch völlige Transparenz herstellen. Wer sich gegenüber den Medien öffnet, der zeigt, dass er nichts zu verbergen hat. Nichts mögen Journalisten weniger als auswendig gelernte Sprachhülsen, Nebelkerzen oder Halb-Informationen. Vertrauen ist aber nicht alles. Ein Journalist kann Ihnen großes Vertrauen entgegen bringen, sich aber dennoch nicht für Ihre Themen interessieren. Warum? Dafür müssen wir uns vor Augen führen, was Medien interessiert und warum. Die Ware Nachricht Journalisten sind auf der Jagd nach Nachrichten. Nachrichten sind die Ware der Journalisten. Eine Nachricht zeichnet sich meist dadurch aus, dass es eine Information ist, die der Konsument wissen muss (um sich eine Meinung zu bilden). Erste Aufgabe einer Institution, die ihre Themen medial verwertet sehen will, ist es also, Nachrichten zu generieren. Eine Nachricht ist kurz, lässt sich verkaufen und ist für sich allein genommen im besten Fall schon die Schlagzeile. Beispiele: „US-Präsident Bush lässt Verteidigungsminister Rumsfeld fallen“ oder „Union und SPD in Umfragen gleichauf“. Nachrichten beschränken sich zunächst auf den Kern der Information, auf die eigentliche Botschaft. Unter Journalisten gibt es in diesem Zusammenhang den Begriff des „Küchenzurufs“: Das Bild geht davon aus, dass ein Paar gemeinsam zuhause ist, einer der beiden sitzt vor dem Fernseher, der andere bereitet in der Küche das Abendessen vor. Die Frage ist nun: Was wird derjenige vor der Glotze seinem Partner in der Küche zurufen, wenn er im Fernsehen etwas Interessantes Stadtforschung und Statistik 1/ 07 sieht? Wird er rufen: „Die Bundesagentur sieht unterschiedliche Entwicklungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmer in West und Ost“ oder „Die BA gibt Ältere im Osten auf“? Wenn Sie also eine Nachricht aus Ihrem Thema herausfiltern wollen, dann beschränken Sie diese auf den absoluten Kern und prüfen Sie die Tauglichkeit auf den „Küchenzuruf“. Dabei gilt: Verständlichkeit und Griffigkeit vor Differenzierung. Schließlich wollen Sie den Journalisten auf Ihr Thema aufmerksam machen und nicht abschrecken. Journalisten brauchen Nachrichten Weniger Details Dabei fällt es vielen Menschen äußerst schwer, ihre tiefen Detailkenntnisse in einem Thema stark zu vereinfachen. „Das kann man so simpel nicht sagen“ ist dann oft zu hören. Folge: Journalisten werden in Pressemitteilungen mit komplexen Darstellungen von noch komplexeren Sachverhalten überhäuft. Und noch mehr: Wenn man sich einmal zum Gang in die Öffentlichkeit entschlossen hat, dann will man auch alles loswerden, was einem am Herzen liegt. Gut gemeint, aber grundfalsch. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie sitzen in einer Runde mit Freunden oder Kollegen, plötzlich wirft Ihnen einer einen Ball zu. Was geschieht? Sie werden ihn auffangen, und zwar ganz unwillkürlich. Was aber passiert, wenn fünf Bälle auf einmal auf Sie geworfen Küchenzuruf Das Ball-Problem 5 KLARE BOTSCHAFTEN, KURZE SÄTZE Statistiker lieben Fakten Anwalt des Lesers Journalisten verlangen Geschichten werden? Sie werden nicht einen einzigen fangen. So verhält es sich auch mit Informationen. Eine gezielte, wohl formulierte Botschaft erreicht ihren Adressaten, die Flut rollt über ihn hinweg. Medien. Und wer sich medienwirksam darstellen will, tut gut daran, diese Gesetze zu beachten, anstatt sie ändern zu wollen. Information und Unterhaltung Was bedeutet dies alles nun für die Praxis? Wie interessiere ich Medien für mein Thema? Für Statistiker gilt: Lösen Sie sich von der reinen Zahl, vom mathematischen Prozess, auch wenn er für Sie als Fachfrau/ Fachmann noch so faszinierend sein mag. Der „Normalmensch“ will wissen, was Ihre Erkenntnisse für ihn bedeuten, was er daraus für sich, für sein Leben ableiten kann. Und da haben Sie als Statistiker einen echten Vorteil: Sie erheben Daten und Zahlen, die Entwicklungen aufzeigen. Sie können ein Stück in die Zukunft sehen. Und: Sie können Fakten liefern. Ihre Ergebnisse sind keine aus der hohlen Hand kommenden Vermutungen, sondern ganz klar belegbar. Was interessiert die Medien noch? Grundsätzlich Skandale, Konflikte, Überraschendes und vor allem: Emotionales. Denn Medien wollen nicht nur informieren, sie wollen und müssen unterhalten, weil sie sich sonst nicht verkaufen lassen. Emotionen spielen dabei eine wichtige Rolle: Trauriges und Lustiges, Themen, die Ängste auslösen und solche, die Mitgefühl oder Empörung hervorrufen. „Die Medien wollen eben doch immer nur schlechte Nachrichten“ – so oder so ähnlich werden Sie jetzt denken. Stimmt. „Bad news are good news“ gilt noch immer und wird weiter gelten. Warum? Weil Medien eine bestimmte Rolle in unserer Gesellschaft haben. Sie sind Anwalt des Lesers/Zuschauers/Hörers – nie Anwalt einer staatlichen Institution. Medien überwachen eher staatliche Institutionen, sehen diesen auf die Finger – und finden im Aufdecken von Skandalen (echten oder vermeintlichen) ihre Rolle als vierte Macht im Staat. Medien sehen sich auch als Übersetzer. Sie machen ihren Konsumenten die komplizierte Welt verständlich. Da geht Einfachheit häufig vor sachlicher Detailtreue. Das kann man gut finden oder nicht – so sind die Gesetze der 6 Akzeptieren Sie also die Regeln der Medien. Warum übersetzen die Medien diese Botschaft auf diese Weise? Antwort: Weil so die nackten Zahlen plötzlich eine Story bekommen, weil so die Nachricht emotional anspricht, versteckte oder auch offene Ängste auslöst. Nun werden Sie sagen: „Es kann nicht unsere Aufgabe sein, emotional anzusprechen.“ Mag sein, aber auch Journalisten sind nur Menschen. Sie lesen jeden Tag hunderte von Pressemitteilungen und Agenturmeldungen. Und sie werden über diejenigen stolpern, die sie auf Anhieb interessant finden, die durch eine starke Schlagzeile ansprechen. Sie sollten wissen: Jeden Tag werden in Deutschland etwa 6000 Pressemitteilungen verschickt, von Verbänden, Parteien, Institutionen, Unternehmen, Vereinen oder Initiativen. Dazu laufen in einer normalen Nachrichtenredaktion täglich gut und gerne 2000 bis 3000 Agenturmeldungen ein. Versetzen Sie sich in die Lage des Journalisten und bedenken Sie: der Wurm muss bekanntlich dem Fisch schmecken, nicht dem Angler. Stories statt Zahlen Aber Journalisten wollen Geschichten erzählen, keine Aufreihung von Zahlen. Also liefern Sie Geschichten. Verknüpfen Sie Ihre Zahlen und Ergebnisse mit einer Story. Nehmen wir die demographische Entwicklung. Da wird eine Pressemitteilung vermutlich so überschrieben: „Zahl der Geburten in der Bundesrepublik Deutschland anhaltend rückläufig“ oder „Demographischer Wandel beschleunigt sich“. In der Zeitung des nächsten Tages liest sich das dann so: „Deutsche sterben aus“ oder „Immer mehr Rentner, immer weniger Beitragszahler“. Journalisten sind aber auch auf andere Weise ganz normale Menschen: Sie brauchen Themen, die sie in ihrer Redaktionskonferenz verkaufen können. Ein Redakteur, der einige Tage hintereinander kein Thema anbieten kann, gilt bei der Chefredaktion ganz schnell als ideenlos. Jeder Redakteur ist also dankbar für gute Themen, gute Informationen, gute Kontakte. Liefern Sie ihm das. Bauen Sie Drähte zu den Medien auf, besuchen Sie Redaktionen. Schlagen Sie Ihre Themen vor, die sie zuvor wie oben beschrieben mediengerecht aufbereitet haben. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 KLARE BOTSCHAFTEN, KURZE SÄTZE Kein Amtsdeutsch Zur mediengerechten Aufbereitung gehört unbedingt auch eine verständliche Sprache. Hier sind Institutionen und Behörden immer in der Gefahr, Experten- oder Amtsdeutsch zu verwenden. Die Folge sind wahre Wortungeheuer. „Die Maßnahme wurde vollumfänglich zur Durchführung gebracht“ soll wohl heißen: Wir haben etwas gemacht. Und „Die konstante Evaluation der erhobenen Daten führt dazu, dass der Grad der Zielerreichung besser beurteilt werden kann“ meint: Wir prüfen anhand unserer Daten laufend, ob wir unsere Ziele erreichen. Worte können, gerade wenn sie besonders gewählt klingen sollen, die eigentliche Botschaft vernebeln. Vor allem führen gestelzte Formulierungen dazu, dass Leser – in diesem Fall Journalisten, die Sie mit einer Pressemitteilung erreichen wollen – aus der Lektüre aussteigen. Vermeiden Sie daher Substantivierungen und Passivformulierungen. TV und Radio Soweit die Empfehlungen vor allem im Umgang mit Printmedien. Was aber ist mit Fernsehen und Radio? Für das Fernsehen gilt Vorstehendes in verschärfter Weise. In einem TVBeitrag lässt sich deutlich weniger Text unterbringen, die Botschaften müssen noch klarer und simpler sein. Zahlen können im TV nur über Grafiken transportiert werden – diese müssen sich auf den ersten Blick erklären. Und noch viel wichtiger: Ein Fernsehredakteur denkt in Bildern, nicht in Fakten. Er recherchiert einen Film, keinen Bericht. Es gilt: Was sich nicht im Bild einfangen lässt, das lässt sich im TV-Beitrag nicht unterbringen, da es zu so genannten TextBild-Scheren käme (im Bild sieht man etwas anderes als das, was der Sprecher aus dem Off erzählt). Wenn Sie also einen Fernsehjournalisten für ihr Thema begeistern wollen, müssen Sie ihm aufzeigen, wie er das in Bilder umsetzen kann. Wer kann gute, klare, verständliche O-Töne vor der Kamera geben? Wie kann eine statistische Erhebung so in eine Story gekleidet werden, dass sie sich am besten an einem Fallbeispiel in einem Film darstellen lässt? Wieder das Beispiel demographischer Wandel: In der XYZ-Straße wohnten 1976 noch 60 Kinder und nur 20 Rentner. Heute hat sich das Verhältnis umgekehrt. Die Kamera kann anhand von Familien und deren O-Tönen und Erinnerungen die Entwicklung einfangen und am Beispiel der XYZ-Straße das Problem greifbar machen. Radio lebt dagegen allein vom gesprochenen Wort. Es gibt keine unterstützenden Bilder, keine Grafiken. Hier kommt es also wesentlich auf klare Aussagen an. Kurze Sätze, kurze Botschaften. Überlegen Sie sich, was der Hörer im Gedächtnis behalten soll und machen Sie sich klar, dass es vermutlich nur ein Fakt oder eine Zahl sein wird – nämlich das Erstaunlichste, Überraschendste oder Emotionalste dessen, was Sie zu sagen haben. Legen Sie den Schwerpunkt darauf. Wenn Sie bis zu diesem Punkt gelesen haben, werden Sie vielleicht sagen: Jetzt wird alles einfacher, jedes Thema Stadtforschung und Statistik 1/ 07 lässt sich so medial verwerten. Langsam. Seien Sie ehrlich: Es gibt Themen, die sind von wissenschaftlichem Interesse, aber für die breite Öffentlichkeit ganz einfach nur langweilig. Machen Sie daher sich selbst und Freunde und Verwandte zum Maßstab: Würde sie das Thema, dass Sie im Kopf haben, als Normalbürger interessieren? Text – Bild – Schere Entscheidungen treffen Daher: Überhäufen Sie Journalisten nicht mit allen möglichen Themen, nach dem Motto: Eines wird er schon fressen. Wählen Sie das Thema aus, dass die besten Chancen hat und bereiten Sie es gut auf. Wenn Sie bei einem Journalisten dauernd abblitzen, wird er irgendwann ein wirklich gutes und starkes Thema von Ihnen nicht mehr erkennen. Vernebelnde Worte TV: Noch klarere Botschaften Über Statistik: Wie das Salz zur Suppe gehören Zahlen zur Rede. Aber wir wissen genau, wie eine versalzene Suppe schmeckt. 7 Auch ein Ergebnis der Fußball-Weltmeisterschaft Zahl des Jahres 2006: 3. Martin Schlegel, Hagen Die Redaktion hat sich die Wahl nicht leicht gemacht, ist nach ausführlicher Debatte aber zu einem einmütigen Ergebnis gekommen: Die Zahl des Jahres 2006 lautet: 3. Genauer: 3. Platz. Denn mit dieser Zahl ist die Position gemeint, den die deutsche Fußballnationalmannschaft bei der WM in Deutschland erreichte. Diese Mannschaft, von der manch einer vor der WM unkte, sie werde die Vorrunde wohl nicht überstehen, wuchs zu einem Team, das frischen Angriffsfußball beherzt in Szene setzte. Spieler und Trainer wirkten ganz entscheidend mit, dass diese WM zu einem begeisternden Erlebnis wurde und Deutschland mancherorts in einen Fußballtaumel fiel. Sie halfen mit, der gesamten Welt vor Augen zu führen, dass Deutschland nicht nur aus den so genannten deutschen Tugenden besteht, sondern dass Begeisterung und Freude auch bei uns dazugehören. Ohne Ausschreitungen, vorbildlich friedlich. In Anerkennung und Würdigung der Leistung dieser jungen Spieler ist die 3 zur Zahl des Jahres 2006 erklärt worden. 8 Andere Vorschläge waren: 1 500 000 000 000 Euro Staatsschulden Mitte 2006 wurde diese Grenze übersprungen, ein Wert, der sich fast jeder Vorstellungskraft entzieht. Möchten wir diesen Schuldenberg abtragen, müsste der Staat als erste Maßnahme keine weiteren Schulden aufnehmen, was schon kräftiges Kürzen bedeutet. Wenn zudem jeder Einwohner pro Monat 10 Euro aufbringt, dann sinken die Staatsschulden Monat für Monat um 820 Mill. Euro. Natürlich muss wirklich jeder mitmachen, auch Säugling und Senior. Nach einem Jahr ist der Berg 10 Mrd. Euro niedriger. Er misst nicht mehr 1 500 000 000 000, sondern nur noch 1 490 000 000 000 Euro. Nach 150 Jahren sind die Schulden endlich bei 0 angekommen. Nach sechs Generationen sind die Schulden weg, die wir in zwei Generationen aufsummiert haben. Wollen wir schneller schuldenfrei werden, muss jeder eben mehr aufbringen. Doch 10 Extra-Euro pro Person und Monat bedeutet für eine vierköpfige Familie bereits 480 Euro im Jahr. 82 800 000 Handys in Deutschland Im August 2006 stieg die Zahl der Handy-Anschlüsse auf diesen Rekordwert. Damit gibt es in Deutschland mehr Mobiltelefone als Einwohner. Die günstige Preisentwicklung und der ungebrochene Trend zum Zweithandy haben nach Angaben der Experten die Entwicklung bewirkt. Trotz der hohen Handy-Dichte ist Deutschland keineswegs Spitzenreiter. In Europa liegt Luxemburg vorne: 138 Handys je 100 Luxemburger. Auch in Italien (123) und Tschechien (115) gibt es mehr Mobil-Telefone als Einwohner. 345 Euro soziale Grundversorgung Hierbei handelt es sich um den Betrag für die Regelleistung zum Lebensunterhalt nach SGB II. Dieses sogenannte sozio-kulturelle Existenzminimum wird oft als offizielle Armutsschwelle herangezogen. Der Betrag von 345 Euro ist eine nicht unumstrittene Größe, die von einigen Sozialverbänden als zu niedrig kritisiert wird. Gerichtlich wurden die 345 Euro aber als vertretbar eingestuft. 2,3% Wachstum/ Verschuldung Dieser Wert tritt gleich doppelt auf. Er entspricht sowohl dem voraussichtlichen Wirtschaftswachstum 2006 als auch der voraussichtlichen Neuverschuldung des Staates. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Umfrage in Neubaugebieten: Ruhe – Gute Luft – Nachbarschaft Was bewirkt die neue Wohnung? Uwe Schubert, Hagen Laut Vorausberechnung des LDS NRW soll sich Hagens Einwohnerzahl von 198 800 am 01.01.2005 auf 168 600 am 01.01.2025 verringern. Hagen würde demnach 30 200 Einwohner verlieren. Ein Ansatzpunkt diese negative Einwohnerentwicklung abzuschwächen, besteht in der Ausweisung von Neubaugebieten. Mit ihnen können Zuzüge angelockt und mit Fortzugsgedanken beschäftigte Hagener gehalten werden. Eine Umfrage sollte helfen, die Motive der Neubaubezieher zu erforschen. Dazu besuchten Interviewer im Mai 2005 insgesamt 416 Haushalte, die sich zwischen Januar 2003 und Februar 2005 für den Bezug eines Neubaues entschieden hatten. 239 von ihnen gaben bereitwillig Auskunft. Dies entspricht einer Antwortquote von 58 %, ein äußerst zufrieden stellendes Ergebnis. ben. Das Schaubild 1 zeigt den Anteil der Haushalte, der sehr gut oder gut urteilte, mit der vorgefundenen Situation also überaus zufrieden ist. Besonders glücklich sind die Haushalte mit dem nachbarschaftlichen Umfeld und der Entfernung bis zum Kindergarten. Mehr als 80 % vergeben die Schulnote 1 oder 2. Auf den Plätzen 3 bis 6 folgen vier Umweltaspekte, die bei mehr als 70 % auf äußerste Zufriedenheit stoßen. Dies sind das Grünflächenangebot, die Luftgüte, die Sauberkeit im Wohnumfeld und die Stille/Ruhe. Bei mehr als 60 % der Befragten trifft die Entfernung zur Schule, die Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr und die Parkplatzsituation auf Zustim- mung. Etwas zurückhaltender werden die Verkehrssituation im Wohngebiet, die Spielmöglichkeiten für Kinder und die Sportmöglichkeiten bewertet. Nur noch knapp jeder zweite Haushalt empfindet sie als sehr gut oder gut. Fragt man nach der Entfernung zur nächsten Einkaufsmöglichkeit für den täglichen Bedarf und der Miethöhe/den Tilgungsraten, erhält man nur noch von 40 % die Antwort sehr gut oder gut. Am Ende der Rangskala trifft man abgeschlagen auf das Freizeitangebot für Jugendliche. Nicht einmal jeder Fünfte vergibt hier Bestnoten. Für eine richtige Einschätzung der heutigen Situation ist es wichtig zu wissen, wie sich die Lage vor dem Umzug darge- Lob für das Umfeld Hausbaumotive Schaubild 1 Der weit überwiegende Teil der Neubaubezieher, nämlich 88 %, ist innerhalb Hagens umgezogen. Nur bei 12 % der befragten Haushalte handelt es sich um Neubürger. Die Neubaugebiete haben also überraschenderweise nur wenige Neubürger angelockt, aber dazu beigetragen, viele Hagener in ihrer Heimatstadt zu halten. Die interviewten Haushalte sollten bewerten, wie sie 15 vorgegebene Aspekte der Lebensqualität angetroffen haben. Dazu sollten sie Schulnoten zwischen 1 und 6 verge- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 9 EIGENWILLIG UND HEILSAM stellt hat. Hat sich die Situation durch den Umzug verbessert, ist sie gleich geblieben oder hat sie sich verschlechtert? Deshalb sollten die Haushalte die 15 Aspekte nicht nur aus Sicht der neuen Wohnung, sondern auch aus dem Blickwinkel der alten Wohnung bewerten. Die Ergebnisse visualisiert das Schaubild 2. Die Items sind dabei nach der Größe der Veränderung geordnet. Oben stehen die positiven Veränderungen, unten die negativen. Insgesamt neun Aspekte haben sich verbessert, vier sind annähernd gleich geblieben und lediglich bei zweien stellt sich die Situation nach dem Umzug schlechter dar. Ruhe, die Verkehrssituation im Wohngebiet und die Parkplatzsituation. Spürbare Verbesserungen um über 15 Prozentpunkte verzeichnen die Sauberkeit im Wohnumfeld und das Grünflächenangebot. Den Beziehern der Neubaugebiete sind diese Faktoren besonders wichtig. Neubauten in Gebieten, die nicht über ein entsprechendes Wohnumfeld verfügen, haben kaum Zukunft. Bei diesem Verbesserungsschub können die anderen Faktoren nicht mithalten, was zum Teil daran liegt, dass sie schon am alten Wohnort eine gute Bewertung erhielten (z.B. Entfernung zum Kindergarten). Um zum Teil weit über 20 Prozentpunkte verbesserte sich die Luftgüte, das nachbarschaftliche Umfeld, die Stille/ Schaubild 2 Bücher, nicht nur für Werder-Fans Eigenwillig und Heilsam Martin Schlegel, Hagen Möchten Sie gerne ein Individualist sein? Möchten Sie ein Mensch sein, der sich durch seine Einzigartigkeit abhebt und dabei auch noch glücklich und lebensfroh ist und nicht in individueller Einsamkeit versinkt? Mit Hilfe der eigenen Lebensphilosophie kann sich jeder Mensch zum Mitarbeiter seines Lebens machen. Die eigene Lebensphilosophie führt zur Distanzierung von der Vermassung und zur Selbstübernahme der Lebensführung. Zudem ermöglicht sie Selbstinterpretation und Selbstentschlossenheit. Das erläutert der praktische Philosoph Prof. Dr. Lutz von Werder 10 und leitet den Leser in drei Schritten zur Entwicklung der eigenen Lebensphilosophie an. In seinem anderen Buch stehen Gefühle im Zentrum. Leid wie Melancholie, Verzweiflung, Depression, Ekel und Angst vor der Einsamkeit, vor Alter und Tod. Diese leidvollen Gefühle erwecken den Wunsch nach Überwindung des Leidens, nach Heilung auch mit Hilfe der philosophischen Therapie. Hier zeigt der Autor, wie die philosophische Lebenskunst von Buddha über Platon, Seneca, de Montaigne, Freud, Jung, Heidegger bis Foucault und Wilber die philo- sophische Therapie von Ängsten, Depressionen, Verzweiflung und Melancholie praktiziert hat Das Buch stellt Übungen und Anwendungsmöglichkeiten der philosophisch-heilsamen Seelenführung vor und ist gleichzeitig das Begleitbuch zum „Philosophischen Radio“ im WDR 5. Lutz von Werder: Eigenwillig – Philosophische Lebenskunst für Individualisten Schibri-Verlag, 264 Seiten, ISBN 3-937895-11-6, 15,- € Lutz von Werder: Heilsam – Philosophie als Psychotherapie. Schibri-Verlag, 280 Seiten, ISBN 3-937895-32-9, 15,- € Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Kriminalität – ein vorübergehendes Phänomen? Jugendliches Delinquenzverhalten Klaus Boers, Münster, Susann Kunadt, Jost Reinecke, Bielefeld Der medialen Darstellung zufolge hat Jugendkriminalität – insbesondere kriminelles Verhalten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund – in den letzten Jahren stark zugenommen. Jedoch begeht der weit überwiegende Teil der Jugendlichen Bagatelldelikte und in den meisten Fällen ist Delinquenz ein vorübergehendes Phänomen. Gerade weil aber viele Straftaten weniger schwerwiegend sind und darum oftmals nicht angezeigt werden ist das so genannte “Dunkelfeld“ polizeilich nicht registrierter Delikte besonders groß. Insgesamt kann allerdings bereits aus den Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik und des justiziellen „Hellfeldes“ keine konstante Zunahme der Jugendkriminalität in den letzten Jahren belegt werden (vgl. dazu auch Boers, Reinecke & Walburg, 2006). Gefährliche und schwere Körperverletzungsdelikte nehmen lediglich in den westdeutschen Bundesländern weiterhin zu, Raub- und Eigentumsdelikte hingegen sind seit Ende der 1990er Jahre bundesweit stabil oder sinken. Zur Erklärung kriminellen Verhaltens existieren bisher viele verschiedene Ansätze, deren Erklärungskraft je nach Standpunkt umstritten ist. Alles in allem herrscht in Deutschland Mangel an umfassenden Dunkelfelduntersuchungen, die auf wiederholten Befragungen basieren und damit zuverlässig die Entwicklung und den Verlauf delinquenten Verhaltens abbilden können. Das Forschungsprojekt Unter Leitung von Prof. Dr. Jost Reinecke (Universität Bielefeld) und Prof. Dr. Klaus Boers (Universität Münster) wird in den westdeutschen Städten Münster und Duisburg eine Längsschnittstudie durchgeführt, bei der Schülerinnen und Schüler1 im Jugendalter jährlich zu ihrem delinquenten Verhalten wiederbefragt werden. Die kriminologisch und jugendsoziologisch orientierte Studie dient zur Strukturanalyse delinquenten Verhaltens im Lebenslauf. Um der Dynamik und Entwicklung im Jugendalter gerecht zu werden, handelt es sich bei ihrer Konzeption um ein kombiniertes Kohortenund Paneldesign: Neben der Beobachtung ein und desselben Jahrgangs über vier bzw. sechs Jahre (in Münster von 2000-2004, in Duisburg von Stadtforschung und Statistik 1/ 07 2002-2007) sind Vergleiche zwischen den Geburtskohorten in den jeweiligen Klassenstufen möglich. Anfang 2000 wurden in Münster Schüler der 7. Jahrgangsstufe (durchschnittlich 13 Jahre alt) an Haupt-, Realschulen, Gymnasien und Sonderschulen befragt (angestrebte Vollerhebung). Die Befragung dieser Schüler wurde in den Jahren 2001, 2002 und 2003 wiederholt. In den vier Querschnittsuntersuchungen sind zwischen 1.816 und 1.947 Personen enthalten. Das Vier-Wellen-Panel besteht aus 813 Schülern. Zu Vergleichzwecken wurden im Jahr 2000 ebenfalls Schüler der 9. und 11. Klassen an Gymnasien und Berufskollegs interviewt. In Duisburg wurde in den Jahren 2002 und 2003 ein paralleles Erhebungsdesign gewählt; Längsschnittstudie in Münster und Duisburg Grafik 1: Kombiniertes Kohortenund Paneldesign: Städtevergleich und zeitliche Entwicklung 11 JUGENDLICHES DELINQUENZVERHALTEN Es wurden Schüler sowohl der 7. bzw. später 8. als auch der 9. bzw. später 10. Klassen befragt (angestrebte Vollerhebung). Die Siebtklässler aus dem Jahr 2002 wurden desweiteren in den Jahren 2004, 2005 und 2006 erneut interviewt. Geplant ist eine letzte Erhebung Anfang 2007. Das momentan vorliegende VierWellen-Panel (2002-2005) für diesen Jahrgang umfasst 1.769 Personen. Zusätzlich liegen Querschnittsdaten von Schülern der Stadt Bocholt (7., 9. und 11. Klasse) aus dem Jahr 2001 vor. Grafik 2: Selbstberichtete Delinquenz in Duisburg: Täteranteile Eigentumsdelikte (Daten gewichtet) Grafik 3: Selbstberichtete Delinquenz in Duisburg: Täteranteile Sachbeschädigungs- und Gewaltdelikte sowie Drogenhandel (Daten gewichtet) Die schriftlichen Befragungen wurden im Klassen- bzw. Kursverband sowie – aufgrund des Verlassens der Schule nach der Jahrgangsstufe Zehn (Haupt-, Real- und teilweise Gesamtschulen) – postalisch in jährlichem Abstand durchgeführt. Die Schüler sollten zu 16 Gewalt-, Sachbeschädigungs-, Eigentums- und Drogendelikten angeben, ob sie diese jemals begangen hatten und wenn ja, wie oft in den letzten zwölf Monaten. Neben den verschiedenen Deliktformen und deren Begehungshäufigkeiten wurden die Schüler um Auskunft zu persönlichen und sozialen Merkmalen gebeten. Genauer: Der der Studie zugrunde liegende theoretische Rahmen zur Erklärung delinquenten Verhaltens beinhaltet drei Untersuchungsebenen: 1. Individuelle Ebene (z. B. Delinquenzverhalten, delinquenzorientierte Einstellungen und Bewertungen) 2. Sozialstrukturelle Ebene (z. B. soziale Lage, Bildungsressourcen, Lebens-, Freizeit- und Medienkonsumstile, soziale Netze und Kontrolle, Lebensraum) 3. Formelle soziale Kontrollebene (z. B. Kriminalisierung durch die Justiz) Auf kleinräumiger Ebene der jeweiligen Städte ermöglicht die differenzierte Erhebung eine Analyse nach Herkunftsortsteil der Täter sowie die Identifikation besonders prekärer, stark belasteter Stadtgebiete.2 Darüber hinaus können die so gewonnenen Befunde mit offiziellen Strukturdaten der Städte und einzelner Stadtteile verbunden und einer simultanen Analyse zur Erklärung delinquenten Verhaltens unterzogen werden. Neben der geschilderten Erfassung selbstberichteter Delin- 12 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 JUGENDLICHES DELINQUENZVERHALTEN quenz wurden die Duisburger Schüler um Einwilligung zur Erhebung ihrer polizeilichen und gerichtlichen Registerdaten gebeten, wodurch ein Abgleich mit den offiziellen „Hellfelddaten“ ermöglicht 3 wird. Alle Befragungen verliefen anonym, so dass die Identifikation und Zuordnung der Fragebögen ein und derselben Person über die Jahre hinweg anhand eines auszufüllenden persönlichen Codes vorgenommen werden muss. Erste Ergebnisse Hinsichtlich der Verbreitung und Entwicklung von Jugendkriminalität in Münster und Duisburg lässt sich bereits folgendes Fazit ziehen: Der allergrößte Teil der Jugendkriminalität ist im Rahmen der Normsozialisation entwicklungstypisch und vor allem durch drei Phänomene gekennzeichnet: Sowie sie im unteren und mittleren Delinquenzbereich relativ weit verbreitet ist (Ubiquität), bleibt Jugendkriminalität in den meisten Fällen episodenhaft und geht von selbst zurück, das heißt ohne formelle Kontrollinterventionen (Spontanbewährung). Intensives Begehen von Straftaten konzentriert sich auf eine Minderheit weniger Mehrfachtäter. Das Meiste “regelt sich also bei den meisten Jugendlichen von allein“.4 Die Grafiken 2 und 3 geben exemplarisch für die Stadt Duisburg die Täteranteile für die jeweils letzten zwölf Monate beginnend mit der 7. Klasse in 2002 bis zur 10. Klasse in 2005 wieder. Das Ausmaß der selbstberichteten Taten ist vor allem ist vor allem zwischen der 7. und der 8. Klasse angestiegen. Bereits in der 9. Klasse konnte jedoch eine weitgehende Stagnation bzw. eine Rückläufigkeit festgestellt werden. Für die 10. Klassen zeigt sich ein weiterer Rückgang der selbstberichteten Taten, zum Teil deutlich unter die Werte aus Klasse 7. Besonders trifft dies für Ladendiebstähle und Sachbeschädigungsdelikte zu. Im Vergleich zum “Hellfeld“ sind die hier dargestellten im “Dunkelfeld“ erhobenen Daten deutlich höher. Betrachtet man die erhobenen Daten auf kleinräumiger Ebene, so ergeben sich hinsichtlich der Gesamtdelinquenzbelastung deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Ortsteilen und Stadtbezirken. Während 29 Prozent aller befragten Schüler aus Duisburg für das Jahr 2004 (2. Halbjahr Klasse 9 und 1. Halbjahr Klasse 10) angaben mindestens eine Straftat begangen zu haben, variiert diese Gesamtprävalenz von Ortsteil zu Ortsteil zwischen 0 (Hochemmerich) und 52 Prozent (Mündelheim). Nicht einmal jeder fünfte Befragte aus Bruckhausen, Beeck, Baerl, Kaßlerfeld und Bissingheim gab an, delinquent gehandelt zu haben; Jedoch liegt die Gesamtprävalenz der Schüler aus Alt-Homberg, Buchholz, Neudorf-Süd und Hochheide bei mindestens 40 Prozent. Die Zahlen deuten darauf hin, dass es in Duisburg Stadtteile gibt, deren Jugendliche (zum Teil deutlich) delinquenter sind als Gleichaltrige aus anderen Distrikten. Tabelle 1 ist die teilweise sehr große Varianz der Prävalenzen innerhalb der sieben Duisburger Stadtbezirke zu entnehmen. Diese ersten Auswertungen auf kleinräumiger Ebene sollten allerdings aufgrund der teilweise sehr kleinen Fall- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Tab. 1: Jahresgesamtprävalenz der 10. Jahrgangsstufe und Ausländeranteil 2004 für Duisburg, differenziert nach Ortsteilen und Stadtbezirken (eigene Daten gewichtet) zahlen mit großer Vorsicht interpretiert werden. Elaboriertere Analysen werden zeigen, ob es sich dabei um signifikante Unterschiede handelt und welche Faktoren dafür verantwortlich sind. 13 DIE METHODE MUSS ZUR AUFGABE PASSEN Des weiteren kann aber anhand der Daten kein Zusammenhang zwischen steigenden Gesamtprävalenzen und steigendem Anteil ausländischer Einwohner in den jeweiligen Ortsteilen und Stadtbezirken belegt werden. Die Auswertungen der Duisburger Daten von Boers, Reinecke und Walburg (2006) bestätigen bereits fehlende signifikante Unterschiede bezüglich der Gesamttäteranteile zwischen verschiedenen Migrantengruppen und einheimischen Befragten (S. 83f.): „Migration spielt in Duisburg überraschenderweise kriminologisch keine größere Rolle. Die männlichen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund unterscheiden sich dort hinsichtlich der selbstberichteten Delinquenz kaum. (…) Vieles spricht da- für, dass die vergleichsweise große ethnische Homogenität in einigen Duisburger Migrantenvierteln mit einem nicht zu unterschätzenden Potenzial an informeller sozialer Kontrolle einhergeht (…).“ Die Daten selbstberichteter Delinquenz aus Duisburg widersprechen also zunächst einmal dem, was in der Öffentlichkeit immer wieder problematisiert wird: Besonders kriminelles Verhalten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Anmerkungen 1) 2) Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden vereinfacht von Schülern, Tätern etc. gesprochen, es sind jedoch immer beide Geschlechter gemeint. Es wurde nach dem Stadtteil gefragt, in dem die Schüler wohnen und nach dem Stadtteil, in wel- chem sie die jeweiligen Delikte begangen haben. 3) Eine detaillierte Darstellung der Stichproben und Erhebungsabläufe findet sich in den jeweiligen Methodenberichten der einzelnen Befragungen, die über die Autoren erhältlich sind. 4) Diese Ergebnisse stehen in Einklang mit den bisherigen Erkenntnissen anderweitiger kriminologischer Forschung (vgl. dazu Kunz, 2004). Literatur Boers, Klaus; Reinecke, Jost & Walburg, Christian (2006). Jugendkriminalität – Keine Zunahme im Dunkelfeld, kaum Unterschiede zwischen Einheimischen und Migranten. Befunde aus Duisburger und Münsteraner Längsschnittstudien, in: Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform, Vol. 89 (2), 63–87. Kunz, Karl-Ludwig (2004). Kriminologie. Eine Grundlegung. Stuttgart, UTB. Buchbesprechung Die Methode muss zur Aufgabe passen Martin Schlegel, Hagen Ein dünnes Buch zu einem Riesen-Thema. Das waren meine ersten Gedanken, als ich „Einführung in das Methodenspektrum sozialwissenschaftlicher Forschung“ in die Hand bekam. Doch auch wenn man statt der 120 Seiten das zehnoder zwanzigfache verfasst hätte, wäre das Thema nicht abschließend behandelt. Zudem gilt: Kurz ist gut – wenn man Wesentliches lesbar vermittelt. Das gelingt den fünf Autorinnen durchgängig, da ist kein Durchhänger, da kommt keine Langeweile auf. Das Ziel, die Lust am Forschen 14 zu vermitteln, wird erreicht, obwohl die Autorinnen die wissenschaftsorientierte Sprache pflegen. Auch der Ansatz, das Buch in zehn eigenständige Beiträge zu teilen, erleichtert den Zugang. So erfahren wir einiges über quantitative Erhebungen und die Auswertung statistischer Daten. Besonders wertvoll sind aus meiner Sicht aber die Ansätze, denen wir Stadtstatistiker bislang eher wenig Raum geben, denen wir uns aber nicht verschließen dürfen. Beispielsweise der Weg, über teilnehmende Beobachtung zu Erkenntnissen zu kommen. Oder die biographische Fallrekonstruktion. Auch die beschriebenen halbstrukturierten Erhebungsmethoden und das Gruppendiskussionsverfahren führen zu sicheren Ergebnissen. Verfasst wurde „Einführung in das Methodenspektrum sozialwissenschaftlicher Forschung“ von: Silke Brigitta Gahleitner, Susanne Gerull, Begona Petuya Ituarte, Lydia SchambachHardtke und Claudia Streblow. Das Buch ist im Schibri-Verlag erschienen, Milow 60, 17337 Uckerland. Preis: 10 Euro. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Krise der Oper oder des Klassikpublikums? – Gebildete Ältere Die soziale Stellung der Opernbesucher Karl-Heinz Reuband, Düsseldorf Untersuchungen des Opernpublikums sind außerordentlich selten in der Bundesrepublik. Deshalb ist auch wenig über die Zusammensetzung des Publikums bekannt. Umfragen unter Abonnenten, die vereinzelt vorliegen, können kein Ersatz dafür sein. Denn sie erfassen nur einen Teil der Besucher. Nicht berücksichtigt bleiben die Personen, welche die Karte im freien Verkauf erwarben, denen die Karte geschenkt wurde und die Mitglieder einer Besucherorganisation, einer Theatergemeinde, sind. Angesichts dessen ist es ungeklärt, ob und wie sehr sich die unterschiedlichen Gruppen von Besuchern in ihrem sozialen und kulturellen Profil unterscheiden und welche Art von sozialer Selektivität mit welcher Gruppe verbunden ist. So gibt es denn mehr offene als geklärte Fragen: Sind Abonnenten, so fragt sich z.B., musikalisch stärker interessiert als andere Besucher und haben sich deshalb für ein Abonnement entschieden? Oder sind die Erwerber von Kaufkarten die „wahren“ Opernfreunde, weil sie sich unabhängig von vorgegebenen Wahloptionen gezielt für den Besuch spezifischer Opernvorstellungen entscheiden? Spiegeln diejenigen, die Karten im freien Verkauf erwerben, eher einen Querschnitt der Bevölkerung wider als die Abonnenten? Und wie verhält es sich mit den Personen, die Mitglied einer Besucherorganisation sind? Im Folgenden wollen wir der Frage der sozialen und kulturellen Differenzierung des Opernpublikums unter Rückgriff auf eine groß angelegte Besucherumfrage nachgehen, die wir in den Opernhäusern der Städte Düsseldorf und Köln durchgeführt haben.1 In einem ersten Schritt wird die soziale Differenzierung anhand der Merkmale Geschlecht und Alter zu untersuchen sein. In einem zweiten Schritt geht es um die soziale Exklusivität, diskutiert am Beispiel von Bildung und Berufsstatus. Und in einem dritten Schritt wird die Frage des musikalischen Interesses und der Häufigkeit des Opernbesuchs zu untersuchen sein. Methodisches Vorgehen Die Befragung der Opernbesucher wurde im Zeitraum zwischen 2003 und 2005 durchgeführt. Die Feldphase wurde über einen längeren Zeitraum gestreckt, um jahreszeitliche Schwankungen auszugleichen und um eine hohe Zahl unterschiedlicher Opernaufführungen zu berücksichtigen. Einbezogen wurden in Düsseldorf 15 Aufführungen (von 13 verschiedenen Opern) mit insgesamt 2.403 Befragten, in Köln 7 Aufführungen (von 4 Opern) mit 1.219 Befragten. Angesichts der umfas- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 senden empirischen Basis dürften die Düsseldorfer Befunde für die Gesamtheit der Düsseldorfer Opernbesucher repräsentativer sein als die der Kölner. Gleichwohl kann man näherungsweise auch die Kölner Befragung als einen Querschnitt durch das Kölner Opernpublikum ansehen und die Befunde in die Diskussion miteinbeziehen. Verteilt wurden die Fragebögen durch studentische Mitarbeiter, die per Namensschild als Vertreter der Universität Düsseldorf zu erkennen waren. Postiert vor den Aufgängen zum Parkett und den Rängen gaben sie, meist mit einem kurzen Kommentar versehen, einer systematischen Zufallsauswahl der Zuschauer – meist an jeden Dritten oder Vierten – den Fragebogen einschließlich Anschreiben und Rücksendeumschlag. Der Fragebogen konnte entweder am Ende der Vorstellung am Hauptausgang in eine Urne geworfen oder portofrei an die durchführende Institution, das Sozialwissenschaftliche Institut der Heinrich-Heine-Universität, gesandt werden. In der Regel wurden je nach Aufführung zwischen 50 und 60 % der verteilten Fragebogen ausgefüllt zugegeben oder zugeschickt. Diese Quote kann als überaus erfolgreich angesehen werden. Der doppelte Zugang – Rückgabe per Urne oder Post – dürfte maßgeblich dazu beigetragen haben. Geringe Kenntnisse der Besucherstruktur Verteilung der Fragebögen Lange Feldphase 15 DIE SOZIALE STELLUNG DER OPERNBESUCHER Abonnement oder Einzelkauf Ältere sind für Abonnements, Jüngere für Einzelkarten Tab. 1: Geschlecht und Alter nach Art des Kartenerwerbs und Opernhaus (in %) 16 Ähnlich wie in anderen deutschen Opernhäusern verfügt die Mehrheit der Zuschauer in Düsseldorf und Köln über ein Abonnement oder ist Mitglied einer Besuchsorganisation. Der Anteil der Erwerber einer Kaufkarte beläuft sich lediglich auf einen Anteil von rund einem Drittel und der Anteil von sonstigen Besuchern mit Personalkarte, Freikarte etc. auf einen Wert von höchstens 5 %.2 Neben diesen Besuchergruppen, gibt es bei jeder Aufführung immer auch Personen, denen die Karte geschenkt wurde (weil der Besitzer der Karte verhindert war, krank oder andere Gründe hatte). Diese Kategorie von Besuchern kann naturgemäß nicht in den Statistiken der Opernhäuser erfasst werden, wohl aber im Rahmen einer Besucherumfrage. Rund 16 – 17 % der von uns befragten Besucher entfielen auf diese Kategorie. Von wem die Karten verschenkt wurden, haben wir in Teilerhebungen unserer Befragungsserie in Düsseldorf erfragt. Danach stammen diese Karten zu 54 % von Personen, welche die Karte im Vorverkauf erwarben, 22 % von Personen mit einem Abonnement und 19 % von Personen mit Mitgliedschaft in einer Theatergemeinde. Der Rest von 5 % entfällt auf sonstige Varianten des Kartenerwerbs. Insgesamt spiegelt diese Zusammensetzung die zuvor erwähnten überwiegenden Arten des Kartenerwerbs wider. Alter und Geschlecht Wie stellt sich nun die soziale Zusammensetzung der Personen je nach Art des Kartenerwerbers dar?3 Wie man Tabelle 1 entnehmen kann, bilden Männer die Mehrheit der Personen, welche die Karten im freien Verkauf erwarben. Frauen sind hingegen mit Werten zwischen 50 und 59 % unter denen anzutreffen, denen die Karte geschenkt wurde, die über ein Abonnement verfügen oder einer Theatergemeinde angehören. Bedenkt man, dass der Frauenanteil in der Bevölkerung bei rund 54 % liegt, erweist sich die mehrheitliche Repräsentativität der Frauen in diesen Besucherkategorien nicht als sonderlich bemerkenswert. Eine nennenswerte Abweichung von der Verteilung in der Bevölkerung ist es nicht. Weitaus stärker als das Geschlecht variiert die Alterszusammensetzung. Danach zählen die Besitzer von Kaufkarten zu den Jüngsten, Abonnenten zu den Ältesten, dicht gefolgt von den Mitgliedern in Theatergemeinden. Mehr als die Hälfte aller Abonnenten und Mitglieder von Theatergemeinden sind 60 Jahre und älter. Errechnet man das Durchschnittsalter, gemessen am arithmetischen Mittel, erhält man in Düsseldorf unter den Befragten mit Kaufkarten einen Wert von 53,0 Jahre, unter Befragten mit Abonnement 60,1 Jahre. In Köln beläuft sich das Durchschnittsalter bei Personen mit Kaufkarte auf 49,0 Jahre, bei denen mit einem Abonnement auf 58,0 Jahre. Zugleich wird deutlich, dass sich die Variation der Werte um den Mittelwert je nach Art des Kartenerwerbs unterscheidet. Gemessen an der Standardabweichung variiert die Alterszusammensetzung jeweils bei den Erwerbern von Kaufkarten stärker als von Karten per Abonnement oder Besucherorganisationen. Am stärksten variieren die Werte bei geschenkten und sonstigen Karten. Errechnet man den Median, der nicht wie das arithmetische Mittel für „Ausreißer“ in der Verteilung anfällig ist und eine genauere Einschätzung ermöglicht (er teilt die Verteilung an dem Punkt, jenseits dessen sich jeweils die Hälfte der Verteilung befindet), erhöht sich überall das Durchschnittsalter: die beschriebenen Unterschiede jedoch bleiben bestehen. Angesichts eines Durchschnittsalters der Bevölkerung von 48 Jahren, gemessen am arithmetischen Stadtforschung und Statistik 1/ 07 DIE SOZIALE STELLUNG DER OPERNBESUCHER Mittel, kommen lediglich die Personen mit einer Kaufkarten der Alterstruktur der Bevölkerung am nächsten. Aber auch sie sind immer noch etwas älter als der Durchschnitt der Gesamtbevölkerung. In diesem Muster eines überhöhten Alters, das alle Opernbesucher kennzeichnet, dürfte sich in maßgeblicher Weise der Zusammenhang der Liebhaber von Opernmusik und indirekt ein Generationseffekt niederschlagen: Die Angehörigen der jüngeren Generationen sind weniger für klassische Musik und Oper aufgeschlossen und gehen deshalb auch seltener in ein klassisches Konzert oder ein Opernhaus. Sie haben einen anderen Musikgeschmack. Und dieser dürfte in dem Maße, wie sie älter werden, weitgehend beibehalten werden.4 Wie sehr die Vorliebe für Opernmusik eine Funktion der Generationszugehörigkeit ist, zeigt sich deutlich auch in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage mit rund 1000 Befragten, die wir 2004 unter Düsseldorfer Befragten mit deutscher Staatsangehörigkeit 18 Jahre und älter durchführten5 : unter denen, die auf eine entsprechende Frage angaben, Opern würden ihnen „sehr gut“ oder „gut“ gefallen, lag das Durchschnittalter bei 57,8 (arithmetisches Mittel) bzw. 61 Jahren (Median). Würde man sich auf die Befragten beschränken, welche Opern als „sehr gut“ einstuften, lagen die jeweiligen Werte gar bei 59,9 bzw. 63 Jahren.6 Wie aus diesen Befunden ersichtlich wird, weicht das hohe Durchschnittsalter des Düsseldorfer Opernpublikums – selbst unter denen mit einem Abonnement – vom Alter der Liebhaber klassischer (Opern-) Musik kaum ab. Würde man innerhalb der Opernbesucher zusätzlich das Ausmaß der Vorliebe für Opermusik berücksichtigen (in der Abstufung „sehr gut“, „gut“, etc.), um den Vergleich noch stringenter durchzuführen, würde sich daran nichts ändern. Nicht viel anders verhält es sich, wenn man die Bewertung klassischer Musik als Maßstab wählen würde. Zwar gibt es in der Bevölkerung mehr Klassikliebhaber als Opernliebhaber, doch ihr Altersmuster der Musikliebhaber erweist sich als ähnlich. So haben diejenigen, die klassische Musik als „sehr gut“ oder „gut“ beurteilen, ein Durchschnittsalter von 52,8 (arithmetisches Mittel) bzw. 53 Jahren (Median). Unter den Befragten, die klassische Musik als „sehr gut“ bewerten, liegt das Durchschnittsalter bei 56,0 (arithmetisches Mittel) bzw. 57 Jahren (Median) dann bereits deutlich niedriger – übrigens auch im Vergleich zum analogen Fall einer Einstufung von Opernmusik als „gut“. Klassische Musik setzt vermutlich niedrigere Hemmschwellen, bewirkt in der Bevölkerung eher eine gewisse Akzeptanz als Opern. Doch wie immer auch die Konfiguration von Klassik- und Opernpräferenz aussehen mag – an dieser Stelle ist in erster Linie bedeutsam, dass das hohe Alter der Düsseldorfer Opernbesucher im Wesentlichen als eine Folge der generationsmäßigen Ausdifferenzierung von Klassikpräferenzen zu begreifen ist. Was bedeutet: es spiegelt sich in der Altersverteilung des Opernpublikums weniger eine Krise der Oper als Institution als eine Krise des klassischen Musikgeschmacks wider. Sollte der Generationseffekt anhalten, droht der Kreis der Liebhaber klassischer Musik – Stadtforschung und Statistik 1/ 07 und damit auch der Kreis der Opernbesucher – zu „vergreisen“. Er ist längerfristig vom „Aussterben“ bedroht. Vom Aussterben bedroht Bildung und beruflicher Status Wie exklusiv ist nun das Operpublikum gemessen an der Bildung und dem Berufsstatus, und welchen Anteil hat daran die Art des Kartenerwerbs? Opernbesuch – ebenso wie der Besuch eines Schauspielhauses – gilt traditionell als ein exklusives Anliegen der höheren Schichten. Pierre Bourdieu hat sogar gemeint, dass er als ein Bestandteil eines Lebensstils anzusehen ist, bei dem die Angehörigen höheren sozialen Schichten versuchen, sich von den unteren Schichten abzugrenzen und ihre eigene Stellung durch die Stilisierung kultureller Kompetenz zu überhöhen.7 Wie berechtigt oder unberechtigt diese „Distinktionsthese“ auch sein mag – sicher ist: Mehr als die Hälfte der Opernbesucher ist in hohem Maße gebildet und verfügt über Abitur. Und die meisten von ihnen haben eine Hochschule besucht. Opernbesucher sind älter… …und gebildeter. Wie Tabelle 2 zeigt, sind die höher Gebildeten am ehesten unter den Personen vertreten, welche die Karten im freien Verkauf erwarben oder denen die Karten geschenkt wurden. Unter den Abonnenten und Mitglieder von Theatergemeinden liegt das Bildungsniveau niedriger. Gleichwohl gibt es auch unter ihnen eine Überrepräsentation der Gebildeten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung. So verfügen in Düsseldorf und Köln rund ein Drittel der Bevölkerung mit deutscher Staatsbürgerschaft im Alter von 18 Jahren an über Abitur. Unter den Opernbesuchern mit 17 DIE SOZIALE STELLUNG DER OPERNBESUCHER Tab. 2: Bildung und Berufsstatus nach Art des Kartenerwerbs und Opernhaus (in %) Theatergemeinden senken die Hemmschwelle 18 einem Abonnement sind es in Düsseldorf immerhin noch 50 % und unter den Mitgliedern von Theatergemeinden, 41 %. In Köln liegen die entsprechenden Anteile unter den Abonnenten und Mitgliedern in Theatergemeinden sogar bei 63 bzw. 54 %. Zu einem Teil ist die im Vergleich zu den Kaufkarten-Erwerbern geschwächte soziale Exklusivität der Abonnenten und Mitglieder von Theatergemeinden eine Folge ihres höheren Lebensalters. Sie gehören nicht den Generationen an, die seit den 60er Jahren die Bildungsexpansion durchliefen. Doch ist dies nicht der einzige Grund: Wie weitere Analysen zeigen, sind Abonnements und Theatergemeinden tatsächlich in der Lage, in überproportionaler Weise schlechter Gebildete, ungeachtet des Alters, für den Opernbesuch zu mobilisieren. Die Hemmschwelle für Opernbesuch ist reduziert: womöglich durch die Verfügbarkeit kostengünstiger Karten und spezifischer Zusatzprogramme, die u.a. Einführungen in die Aufführungen und Erläuterun- gen zu den Inszenierungen bieten.8 Angesichts der Überrepräsentativität besser Gebildeter ist es nicht verwunderlich, dass gemessen an der Berufsverteilung in der Gesamtbevölkerung Angehörige von Berufen mit hohem sozialen Status unter den Opernbesuchern erheblich überrepräsentiert sind. So erreicht der Anteil von Personen mit früherem oder gegenwärtigem Arbeiterberuf im Opernpublikum lediglich Werte um 2 % und weniger (mit Ausnahme der „Sonstigen“ in Düsseldorf), während der entsprechende Anteil in der Bevölkerung (hier gemessen über unsere Bevölkerungsumfrage) bei 18 % liegt. Demgegenüber sind leitende Angestellte und Beamte überrepräsentiert, sie sind mit Werten über einem Drittel unter den Opernbesuchern vertreten, in der Bevölkerung lediglich zu 16 %. Untergliedert man nach Art des Kartenerwerbs, zeigt sich, dass die leitenden Angestellten und Beamten ebenso wie die akademischen freien Berufe nahezu gleich stark auf die unterschiedlichen Besuchergruppen verteilt sind. Lediglich in Düsseldorf scheinen letztere unter den Kartenerwerbern leicht überproportionale vertreten zu sein. Diese Ähnlichkeit muss angesichts der Korrelation zwischen Bildung und Berufsstatus zunächst erstaunen. So hätte man angesichts des niedrigen Bildungsniveaus der Abonnenten dort auch mehr Angehörige mit niedrigem Berufsstatus erwartet. Aber zum einen ist der Zusammenhang zwischen Bildung und Berufsstatus nicht perfekt. Zum anderen ist auch die variierende Alterszusammensetzung ein möglicher Grund: Bildung ist generationsbedingt auch eine Frage des Alters. Und dies wirkt sich auch unabhängig vom beruflichen Status aus. Kulturelle Orientierung und Besuchshäufigkeit Fragt man nach musikalischen Vorlieben und der Bewertung von klassischer Musik und Opernmusik, antworten erwartungsgemäß mehr als 90 % des Opernpublikums mit „sehr gut“ oder „gut“. Beschränkt man sich auf die uneingeschränkt positive Bewertung („sehr gut“), erweisen sich die Abonnenten in ihrem Urteil über klassische Musik ähnlich positiv eingestellt wie die Kaufkartenerwerber (in Düsseldorf 75 bzw. 76 %, in Köln 70 bzw. 72%). Gleiches trifft für die Opernmusik zu. Auch in der Zahl der Schallplatten und CD´s mit klassischer Musik, die sie besitzen, überwiegen Gemeinsamkeiten zwischen ihnen. Wie aber sieht es im Alltag mit der Praxis der Musikrezeption aus? Wir haben in unserer Erhebung den Befragten die Frage gestellt „Wie oft hören Sie Stadtforschung und Statistik 1/ 07 DIE SOZIALE STELLUNG DER OPERNBESUCHER konzentriert – d.h. ohne gleichzeitig andere Dinge zu tun – klassische Musik (über das Radio, Schallplatten oder CD`s)“. Und wir haben sie gefragt, wie häufig sie „nebenher klassische Musik (z.B. während der Autofahrt bei der Arbeit usw.)“ hören. Wie man Tabelle 3 entnehmen kann, geben in Düsseldorf wie in Köln zwischen 12 und 15 % der Befragten an, täglich konzentriert klassische Musik zu hören. 26 bzw. 28 % tun dies mehrmals in der Woche. Fasst man die beiden Häufigkeitsangaben zusammen, kommt man auf etwas mehr als ein Drittel, die mehrmals die Woche konzentriert klassische Musik lauschen. Der Anteil derer, die dies nebenher tun, beläuft sich auf etwas mehr als zwei Drittel. Klassische Musik ist für Opernbesucher offenbar in hohem Maße Bestandteil ihres Alltags. Unterscheidet man nach der Art des Kartenerwerbs, wird deutlich, dass sich Abonnenten und Erwerber von Kaufkarten kaum in der Häufigkeit des Hörens klassischer Musik unterscheiden. In Düsseldorf z.B. sind es 48 % der Kaufkartenerwerber, die täglich oder mehrmals in der Woche konzentriert der Klassik lauschen, unter Abonnenten sind es 44%. Nebenher hören es 71 % der Kaufkartenerwerber und 73 % der Abonnenten. Wenn es eine Gruppe gibt, die in nennenswertem Maße seltener Klassik rezipiert, dann jene, denen man die Karte schenkte und die einer Theatergemeinde angehören.9 kann, zählen Abonnenten, gefolgt von den Mitgliedern von Theatergemeinden zu den eifrigsten Besuchern.10 In Düsseldorf gehen 53 % der Abonnenten mindestens einmal im Monat in das Düsseldorfer Opernhaus. In Köln liegen die entsprechenden Werte zwar niedriger (womöglich auch aufgrund der ausgewählten Opernaufführungen, einer anderen Organisation des Abonnements oder aus anderen Gründen). Doch auch hier zählen die Abonnenten zu den häufigsten Besuchern. Fragt man nicht nach dem allgemein üblichen Opernbesuch, sondern nach der Häufigkeit, mit der in den letzten 12 Monate Aufführungen im Opernhaus in Düsseldorf bzw. Köln besucht wurden, erhält man bei den Befragten mit freien Kartenerwerb in Düsseldorf einen Durchschnitt (arithmetisches Mittel) von 4.7, bei denen mit Abonnement von 8.2 und bei den Mitgliedern einer Theatergemeinde von 7.2. Der niedrige Wert unter den Besuchern mit Kartenerwerb bedeutet nicht notwendigerweise auch eine hohe Opern- abstinenz. In gewissem Umfang wird diese „Abstinenz“ kompensiert durch Opernbesuche an anderen Orten. So geben die Düsseldorfer Befragten an, im Durchschnitt 3.1 mal in einer Oper außerhalb Düsseldorfs gewesen zu sein, unter den Abonnenten liegt die entsprechende Zahl bei 2.1. und unter den Mitgliedern von Theatergemeinden bei 1.0. Die Unterschiede in der Häufigkeit des Opernbesuchs verringern sich also durch die Einbeziehung auswärtiger Opernbesuche. Ungeachtet dessen aber bleiben diejenigen, die ein Abonnement haben oder einer festen Organisation angehören, die häufigsten Besucher von Opernaufführungen. Vertiefende Analysen erbringen, dass die bestehenden Unterschiede in der Häufigkeit des Opernbesuchs je nach Art des Kartenerwerbs nicht durch die subjektive Bedeutung von Musik allein erklärt werden kann. Berücksichtigt man bei der Analyse neben den sozialen Merkmalen auch die Häufigkeit, mit der konzentriert oder nebenher klassische Mu- Käufer von Einzelkarten besuchen andere Städte Tab. 3: Geschlecht und Alter nach Art des Kartenerwerbs und Opernhaus (in %) Welchen Stellenwert aber haben die unterschiedlichen Kategorien von Zuschauern für die Institution der Oper? Wie man der Tabelle entnehmen Stadtforschung und Statistik 1/ 07 19 DIE SOZIALE STELLUNG DER OPERNBESUCHER Überaltertes Stammpublikum Krise des Klassikpublikums 20 sik gehört wird, bleibt der Tatbestand erhalten, dass Abonnenten häufiger das Opernhaus in Düsseldorf bzw. Köln besuchen als die Erwerber von Kaufkarten, Mitglieder einer Theatergemeinde stehen tendenziell zwischen den Abonnenten und den Erwerbern von Kaufkarten. Weiterhin zeigt sich: selbst wenn man die Häufigkeit des Opernbesuchs innerhalb der letzten 12 Monate in anderen Städten berücksichtigt, zählen die Abonnenten nach wie vor zu den häufigsten Operngängern, gefolgt von den Mitgliedern in Theatergemeinden und dann den Erwerben von Kaufkarten. Die Tatsache, dass qua Abonnement sowohl eine feste Zahl als auch ein fester Rhythmus des Opernbesuchs vorgegeben ist, bedingt offenbar, dass Abonnenten die häufigsten Besucher von Opernaufführungen repräsentieren. Sobald jemand erst einmal Mitglied geworden ist, entfaltet die Zugehörigkeit offenbar zwangsläufig eine eigenständige Dynamik. Diese führt den Einzelnen auch dann in das Opernhaus, wenn es für ihn zeitlich ungünstig ist und er anderes lieber täte. Besäße er kein Abonnement und wäre darauf angewiesen eine Karte im freien Verlauf zu erwerben, würde er in einer für ihn ungünstigen Situation häufiger auf einen Besuch verzichten. Die durch feste Vorgaben bestimmte Regelmäßigkeit des Opernbesuchs letztlich auch die Mitglieder von Theatergemeinden. Die Tatsache, dass sie sich seltener in der Praxis der Musikrezeption für klassische Musik aufgeschlossen zeigen als Abonnenten, dürfte bei ihnen die spezifische Wahl des „Abonnements“ mit erklären (Theatergemeinden bieten gewöhnlich Opernaufführung nur als Bestandteil eines umfassenden Angebots von Theatervorstellungen an). Diese Tatsache dürfte auch ihre reduzierte Häufigkeit des Opernbesuchs im Vergleich zu normalen Abonnenten erklären. Gegenüber den Erwerbern von Kaufkarten stellen sie allerdings, auch wenn man das musikalische Interesse berücksichtigt, gleichwohl die etwas häufigeren Operngänger dar. Dies gilt auch dann, wenn man nicht die allgemeine Häufigkeit des Opernbesuchs in Düsseldorf bzw. Köln als Maßstab wählt, sondern auch die Zahl der lokalen und überlokalen Opernbesuche in den letzten 12 Monaten. Die Erwerber von Kaufkarten, mögen sie auch musikalisch interessiert sein, sind als regelmäßige Operngänger weniger verlässlich. Die soziale Zusammensetzung der unterschiedlichen Erwerbergruppen hat nicht zuletzt auch Implikationen für den Zusammenhang zwischen den sozialen Merkmalen und der Häufigkeit des Opernbesuchs. Weil die Befragten mit Abonnement und in Theatergemeinden am häufigsten in das Operhaus am Wohnort gehen und zugleich überproportional alt und niedrig gebildet sind, wird die aus Bevölkerungsumfragen her bekannte Beziehung zwischen Alter und Nutzung des Opernbesuch in den Besucherumfragen reproduziert (je höher das Alter, desto eher kommt es zum Opernbesuch), nicht aber ist dies bei der Beziehung zwischen Bildung und Besuchshäufigkeit der Fall: Innerhalb der Gruppe der Opernbesucher verfügen die häufigen Besucher, die mehrmals im Jahr Aufführungen in der Oper besuchen, nicht über eine über- proportional hohe, sondern über eine überproportional niedrige Bildung.11 Der ausgeprägte Zusammenhang zwischen Häufigkeit des Opernbesuchs und Alter sowie Alter und Bildung bewirkt, dass die engagiertesten Opernbesucher das niedrigste Bildungsniveau unter den Opernbesuchern innehaben. Fazit Das Opernpublikum ist sozial höchst selektiv. Ältere Menschen und Personen mit höherer Bildung sind im Opernpublikum erheblich überrepräsentiert. Am größten ist die Überrepräsentation Älterer unter Abonnenten und Mitgliedern von Theatergemeinden – mithin jenen, die das „Stammpublikum eines Opernhauses“ bilden. Genau diese Besuchergruppe aber ist es zugleich, bei der die Überrepräsentation höher Gebildeter am geringsten ist. Die altersmäßige soziale Homogenität geht mit einer Heterogenität in der Bildung einher. Wie der Vergleich mit einer Bevölkerungsumfrage für Düsseldorf dokumentiert, spiegelt das hohe Alter der Opernbesucher in erster Linie nicht eine Krise der Institution Oper, sondern eine Krise des Klassikpublikums wider. Verantwortlich dafür ist die generationsbedingten Ausdifferenzierung des Musikgeschmacks: je jünger die Menschen sind, desto weniger stehen sie der klassischen Musik aufgeschlossen gegenüber. Gewiss wird ein Teil von ihnen zu einem späteren Zeitpunkt in höherem Alter zur Klassik finden. Andererseits aber gibt es auch genügend Hinweise dafür, dass Generationseffekte in gewissem Umfang auch mit steigendem Alter erhalten bleiben.12 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 DIE SOZIALE STELLUNG DER OPERNBESUCHER Nur wenn es gelingt, in der nachwachsenden Generation eine Vorliebe auch für klassische Musik zu wecken, wird das klassische Musikleben – in Form klassischer Konzerte und Opern – längerfristig überleben. Der Vergleich der Kölner und Düsseldorfer Opernbesucher erbrachte ähnliche Beziehungen zwischen Art des Kartenerwerbs und sozialen und musikalisch-kulturellen Merkmalen. Allenfalls vom absoluten Niveau her unterschieden sie sich im Alter und ihrer Bildung. Die Kölner erwiesen sich als jünger und als besser gebildet. Wie sehr sich darin eine längerfristige Folge des lokalen kulturellen Angebots widerspiegelt oder ein je nach Stadt unterschiedliches Meinungsklima gegenüber klassischer Musik und Opern, ist eine bislang ungeklärte Frage. In Ermangelung entsprechender Daten für Köln können wir darüber nichts aussagen. Aber dass es lokale Unterschiede in der Aufgeschlossenheit für klassische Musik geben kann, daran kann aufgrund anderer Untersuchungen kein Zweifel bestehen.13 3 4 Anmerkungen 1 2 Die Untersuchung ist Teil eines größeren Projekts zur Teilhabe an der Hochkultur und umfasst neben dem Opernbesuch auch andere Formen der Teilhabe an kulturellen Einrichtungen. Sie ist finanziert von der Fritz Thyssen Stiftung (AZ 20.030.080). Nach der Theaterstatistik 2003/ 2004, entfielen in Düsseldorf 25 % der Karrten auf Tageskarten, 19 % auf Platzmieten, 29 % auf Besucherorganisationen, der Rest auf Vorzugskarten, Ehrenkarten, sowie Schüler, Studenten und Jugendkarten. In Köln entfielen 39 % auf Kaufkarten, 19% auf Platzmieten, 23% auf Besucherorganisationen (vgl.Deutscher Bühnenverein, Hg., Theaterstatistik 2003/2004. Köln 2005, S. S. 52ff, eigene Berechnungen.). 5 6 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Ein stringenter Vergleich mit unserer Erhebung ist an dieser Stelle allerdings nicht möglich: (1) weil in in unserer Befragung ebenfalls geschenkte Karten einbezogen sind, die keiner Art des Kartenerwerbs eindeutig zugerechnet werden können (2) in die Statistiken des Bühnenvereins auch andere Veranstaltungen, wie „Kinder- und Jugendstücke“, eingehen. Nicht immer dürfte in unserer Umfrage die Unterteilung in Abonnement und Mitgliedschaft in einer Theatergemeinde völlig trennscharf sein. So dürfte für einige Befragte die Mitgliedschaft in einer Theatergemeinde als eine Art Synonym für Abonnement verstanden worden sein, bedeutet doch die Mitgliedschaft in einer Theatergemeinde, über eine Art von Abonnement zu verfügen. Insgesamt dürfte sich die Gleichsetzung in Grenzen halten und die Befunde nicht beeinträchtigen. Des Weiteren ist zu beachten, dass sich Abonnenten z.T. auch in Aufführungen einfinden, die an kein festes Abonnement vergeben wurden. In diesen Fällen besitzen sie entweder ein Wahlabonnement oder haben ihre im Abonnement erworbene Karte gegen eine andere getauscht. Sie stellen somit einen Kreis derer, die sich bewusst – ähnlich wie die Kaufkartenerwerber – für die spezifische Aufführung entschieden. Vgl. K.-H. Reuband : Musikalische Geschmacksbildung und Generationszugehörigkeit. Klassik-Präferenzen im internationalen Vergleich, in: A. Klein, Hrsg., Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement 2002. Band 6. Baden-Baden 2003, S. 5-17; vgl. auch Sterben die Opernbesucher aus? Eine Untersuchung zur sozialen Zusammensetzung des Opernpublikums im Zeitvergleich, in: A. Klein und T. Knubben, Hrsg., Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement 2003/2004. Band 7. Baden-Baden 2005, S. 123-138 Ausgewählte Ergebnisse zur Nutzung von Hochkultureinrichtungen, einschl. Opernhaus, finden sich dargestellt in K.-H. Reuband: Teilhabe der Bürger an der „Hochkultur“. Über die Nutzung kultureller Infrastruktur und ihre soziokulturellen Determinanten, in: Jahrbuch der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Düsseldorf 2006 Unter denen, welche klassische Musik schätzen, liegt der Altersdurchschnitt niedriger. Unter denen, die klassische Musik „sehr gut“ oder „gut“ einstufen, liegt der Durchschnitt bei 52,8 (arith- 7 8 9 10 11 12 13 metisches Mittel) bzw. 53 Jahren (Median). Unter denen, die sie besonders positiv – mit „sehr gut“ – bezeichnen, liegen die Werte bei 56,0 (arithmetisches Mittel) bzw. 57 Jahren. P. Bourdieu: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. 1982 Der Kostenvorteil könnte vor allem bei den Mitgliedern von Theatergemeinden eine gewisse Bedeutung haben, unter den Abonnenten jedoch wohl nicht. Denn vom Netto-Haushaltseinkommen her gesehen, scheinen diese keineswegs in einer ungünstigeren Lage. Im Gegenteil, sie verfügen sogar über etwas höhere ökonomische Ressourcen. So verfügten in Düsseldorf, wo wir die Frage zum Einkommen stellten, 30 % der Abonnementen über ein Netto-Haushaltseinkommen von 5000 Euro und mehr, unter den Kaufkartenerwerbern waren es 26 %, unter den Mitgliedern von Theatergemeinden lediglich 14 %. Dieses Ergebnis bleibt auch dann bestehen, wenn man der Tatsache Rechnung trägt, dass diese Gruppen alters und bildungsmäßig etwas anders zusammengesetzt als die übrigen Besucher. Dies geschah durch Multiple Klassifikationsanalysen (MCA). Auch die folgenden Analysen, bei denen der Effekt der anderen Variablen berücksichtigt wird und über deren Ergebnisse hier berichtet wird, basieren auf dem gleichen Verfahren. In Köln ist im Vergleich zu Düsseldorf die Stellung der Mitglieder von Theatergemeinden weniger deutlich ausgeprägt, aber dennoch ebenfalls vorhanden. Dies wird deutlich, wenn man auch die übrigen Häufigkeitsangaben berücksichtigt. So haben z.B. in Düsseldorf Personen, die mindestens einmal im Monat in die Oper aufsuchen, zu 49 % eine Gymnasialbildung. Unter denen, die dies mehrmals im Jahr aber nicht monatlich tun, sind es 55 %. Und unter denen, die einmal im Jahr oder seltener in die Oper gehen, sind es 68 %. Vgl. P. Hartmann: Lebensstilforschung. Darstellung, Kritik und Weiterentwicklung. Opladen 1999 So ergaben Umfragen, die wir 2001 in Hamburg und 2002 in Dresden durchgeführt haben, in der Bevölkerung ein breiteres Interesse für klassische Musik als in Düsseldorf. In allen Altersgruppen lag der Anteil von Personen mit positiver Bewertung von Opern und klassischer Musik höher als in Düsseldorf Köln und Düsseldorf: Ähnlichkeiten beim Kartenerwerb Kölner sind jünger und besser gebildet Über Statistik: Eine gute Statistik ist wie ein guter Bikini: Knapp. 21 Gesamtwirtschaftliche Indikatoren 1996 bis 2003 – Städteranking Veränderungen in deutschen Großstädten Werner Münzenmaier, Stuttgart Zu einem umfassenden Städteranking gehört neben dem Niveau geeigneter Indikatoren auch deren Dynamik. Dieser Beitrag ist insofern die Fortsetzung des Artikels in Ausgabe 2/2006 von „Stadtforschung und Statistik“. Wirtschaftlich besonders starke Städte Die genannte Untersuchung hatte unter Anderem zum Er- Abb. 1: Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts je Erwerbstätigen in den 15 größten Städten Deutschlands 1996 bis 2003 22 gebnis, dass die Städte München, Frankfurt am Main, Stuttgart und Düsseldorf bei mindestens einem der vier volkswirtschaftlichen ProKopf-Indikatoren einen 1. oder 2. Platz belegt haben. Entsprechend soll zunächst untersucht werden, welche Entwicklung die Indikatoren in diesen vier Städten genommen haben: Beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen und beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer hat Stuttgart im Untersuchungszeitraum die höchsten absoluten Zunahmen erreicht: Beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen betrug die Zunahme 12.510 Euro je Erwerbstätigen und war damit um mehr als 2.000 Euro je Erwerbstätigen höher als bei den nächstfolgenden Städten, nämlich Dresden und Hamburg (vgl. Abbildung 1); ähnlich groß war der Abstand beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer, wo Stuttgart mit 5.650 Euro je Arbeitnehmer Abb. 2: Entwicklung des Arbeitnehmerentgelts je Arbeitnehmer in den 15 größten Städten Deutschlands 1996 bis 2003 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 VERÄNDERUNGEN IN DEUTSCHEN GROSSSTÄDTEN die nächstfolgende Stadt, nämlich München, beim Zuwachs um fast 1.000 Euro je Arbeitnehmer hinter sich gelassen hat (vgl. Abbildung 2). Bemerkenswert waren auch die prozentualen Veränderungen Stuttgarts, die bei + 20,6 % (Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen) bzw. + 15,4 % (Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer) lagen und lediglich von der sächsischen Landeshauptstadt Dresden wegen der dort 1996 deutlich niedrigeren Ausgangsbasis übertroffen wurden. Beim Primäreinkommen und beim Verfügbaren Einkommen je Einwohner erreichten München und Frankfurt die höchsten absoluten und relativen Zuwächse im Zeitraum 1996 bis 2003. Stuttgart blieb beim Primäreinkommen je Einwohner mit + 4.070 Euro je Einwohner relativ deutlich hinter München (+ 5.340 Euro je Einwohner) bzw. Frankfurt (+ 4.680 Euro je Einwohner) zurück (vgl. Abbildung 3), beim Verfügbaren Einkommen war der Zuwachs Stuttgarts mit 3.420 Euro je Einwohner nur unwesentlich niedriger als derjenige Münchens mit 3.430 Euro je Einwohner, aber höher als derjenige Frankfurts mit 3.020 Euro je Einwohner (vgl. Abbildung 4). In der relativen Veränderung lag Frankfurt bei beiden Einkommensgrößen an der Spitze, Stuttgart und München je einmal auf dem 2. oder 3. Platz. Abb. 3: Entwicklung des Primäreinkommens je Einwohner in den 15 größten Städten Deutschlands 1996 bis 2003 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Insgesamt betrachtet konnte München seine bereits 1996 unter den Großstädten erreichte Spitzenstellung bei beiden Einkommensarten weiter ausbauen. Stuttgart konnte sich weiter vorschieben und nicht zuletzt gegenüber Düsseldorf aufholen. Gleichermaßen hat Frankfurt seine Mitte der 90er Jahre des vorigen Jahrhundert relativ schwache Basis bei den Pro-Kopf-Einkommen durch hohe absolute und relative Zuwächse verbessert. Die nordrhein-westfälische Landeshauptstadt Düsseldorf bewegte sich bei den absoluten Veränderungen überwiegend im oberen Mittelfeld, hat aber – basisbedingt – bei den relativen Veränderungsraten eher unterdurchschnittliche Werte eingenommen. Abb. 4: Entwicklung des Verfügbaren Einkommens je Einwohner in den 15 größten Städten Deutschlands 1996 bis 2003 23 VERÄNDERUNGEN IN DEUTSCHEN GROSSSTÄDTEN Entwicklungen in einzelnen Städten Stuttgart boomt Bremen wächst langsam Köln bleibt in der Mitte Hamburg vor Düsseldorf München und Frankfurt im Plus Dortmund vor Essen 24 Auffallenderweise hat allein Stuttgart bei allen vier Indikatoren im Zeitraum 1996 bis 2003 besonders hohe Zuwächse aufgewiesen, die badenwürttembergische Landeshauptstadt kam bei den Steigerungsraten aller hier untersuchten gesamtwirtschaftlichen Größen absolut und relativ ausschließlich auf die Plätze 1 bis 3. Hierfür hat eine wichtige Rolle gespielt, dass im genannten mittelfristigen Zeitraum beim Verarbeitenden Gewerbe die Bruttowertschöpfung je Erwerbstätigen und noch mehr das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer überdurchschnittlich stark angestiegen sind, wovon Stuttgart strukturbedingt wesentlich profitiert hat. Als Folge der günstigen Entwicklung beim Arbeitnehmerentgelt haben dann auch die Einkommen am Wohnort Stuttgart zwischen 1996 und 2003 überdurchschnittlich stark zugenommen. Zwar hat München beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer und noch mehr bei den beiden Einkommensgrößen je Einwohner besonders hohe, teilweise sogar die höchsten Zuwachsraten aller Großstädte erreicht, bei der Arbeitsproduktivität blieb die bayerische Landeshauptstadt jedoch mit 8. Rang in der absoluten und relativen Entwicklung gerade auf einem mittleren Platz der Veränderungsskala. Insoweit ähnlich war die Situation für Frankfurt am Main, das bei beiden wohnortbezogenen Pro-Kopf-Einkommensgrößen die höchsten relativen Zuwachsraten aufwies und bei den absoluten Zuwächsen gemeinsam mit München bzw. mit Stuttgart an der Spitze lag. Auch beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer hat Frankfurt noch überdurchschnittlich gut abgeschnitten, ist dagegen bei der Entwicklung der Arbeitsproduktivität hinter den meisten anderen Großstädten zurückgeblieben. Teilweise umgekehrt stellt sich die Situation für Bremen dar, wo die dort beschäftigten Arbeitnehmer mit einer deutlich unterdurchschnittlichen Zunahme des Pro-Kopf-Arbeitnehmerentgelts leben mussten, sich dagegen die Arbeitsproduktivität durch hohe Zuwachsraten ausgezeichnet hat und auch bei der Entwicklung der Pro-Kopf-Einkommensgrößen – absolut und relativ – jeweils der 4. Platz eingenommen wurde. Insoweit zum Teil ähnlich war die Situation in Hamburg, wo die Arbeitsproduktivität stark zunahm, das Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer jedoch ungefähr mittlere Zuwachsraten aufwies und gleiches für die beiden Pro-Kopf-Einkommensgrößen gilt. Düsseldorf blieb bei allen hier untersuchten Indikatoren leicht hinter der absoluten Entwicklung Hamburgs zurück bzw. hat wegen des schon erreichten höheren Niveaus im Ausgangsjahr 1996 bei den relativen Veränderungsraten durchweg schlechter abgeschnitten. Vergleichbare Entwicklungen lassen sich für Dortmund feststellen, wo überdurchschnittlichen Produktivitätssteigerungen die niedrigsten Zuwachsraten aller Großstädte beim Pro-Kopf-Arbeitnehmerentgelt gegenüberstanden; bei den Einkommensindikatoren bewegte sich die Entwicklung Dortmunds ebenfalls unter dem Großstädtedurchschnitt. Essen blieb bei den beiden Einkommensgrößen und noch mehr beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen hinter der Entwicklung von Dortmund zurück, lediglich beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer hat es etwas besser abgeschnitten. Im Vergleich zu diesen beiden Ruhrgebietsstädten zeichnet sich Duisburg durch zumeist höhere absolute Zuwächse und vor allem – auch basisbedingt – höhere relative Steigerungsraten aus. Köln erreichte bei den beiden wohnortbezogenen Einkommensgrößen etwa mittlere Wachstumsraten, blieb dagegen beim Arbeitnehmerentgelt hinter dem Durchschnitt der Großstädte zurück und verzeichnete beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen unter allen Großstädten die mit Abstand schlechteste Entwicklung. Insofern vergleichbar war die Situation in Hannover, das beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen die zweitschlechteste Entwicklung aller Großstädte aufwies und bei den Einkommensgrößen sowie beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer durchweg etwas besser abschnitt als Köln. Demgegenüber konnte Nürnberg beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer und beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen, also bei beiden produktionsortbezogenen Größen, absolut und relativ überdurchschnittliche Zuwächse verzeichnen, blieb dagegen bei den Einkommensgrößen hinter der durchschnittlichen Entwicklung der Großstädte zurück. Die schlechteste Entwicklung aller Großstädte hat bei den beiden Einkommensgrößen die Bundeshauptstadt Berlin genommen, und auch beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbtätigen wurde beim Zu- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 MARX BROTHERS wachs gerade der drittletzte Platz erreicht; deutlich besser war dagegen der Zuwachs beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer mit einem ungefähr mittleren Rang unter den Großstädten. Dresden konnte beim Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigen und beim Arbeitnehmerentgelt je Arbeitnehmer hohe Zuwächse verzeichnen, bei den prozentualen Steigerungsraten wurde sogar die beste Entwicklung aller Großstädte gemessen; dagegen blieb die sächsische Landeshauptstadt beim Wachstum des Primäreinkommens je Einwohner – vor Berlin und Leipzig und gemeinsam mit Essen – absolut und relativ am Ende unter den Großstädten, und auch beim Verfügbaren Einkommen waren die absoluten Zunahmen nach Berlin, den Ruhrgebietsstädten und Leipzig - die niedrigsten aller deutschen Großstädte. Leipzig blieb bei fast allen Indikatoren hinter der Entwicklung Dresdens zurück bzw. hat lediglich beim Verfügbaren Einkommen etwas besser abgeschnitten. Hohe Zuwächse wurden im Zuge des Aufholprozesses Ostdeutschlands in beiden Städten beim Pro-KopfArbeitnehmerentgelt erzielt, bei der Arbeitsproduktivität konnte dagegen Leipzig – wohl auch strukturbedingt – die Spitzenentwicklung Dresdens bei weitem nicht erreichen. Dresden wächst stärker als Leipzig Aufholprozess in Ostdeutschland Chico, Groucho, Harpo und Zeppo Marx Brothers Martin Schlegel, Hagen Ich weiß nicht, wie lange es noch hin ist, wenn Sie diese Zeilen lesen. Ich weiß aber, dass es vom Beginn der Geraer Frühjahrstagung an noch 142 Tage sind. Dann, am 19. August, ist der 30. Todestag von Groucho Marx. Uns ist er vorwiegend aus den Filmen bekannt, die er mit seinen Brüdern Chico, Harpo und Zeppo gedreht hat. „A Night at the Opera“, „At the Circus“ oder auch „A Night in Casblanca“ – unvergessbare Werke. 1932/33 bestritten Groucho und Chico – unterstützt durch heute unbekannte Sprecher – eine Radio Show: „Flywheel, Shyster & Flywheel“. Einmal pro Woche schlüpfte Groucho in die Rolle des unverschämten und chaotischen Rechtsanwalts Flywheel und Chico verkörperte seinen unfähigen Assistenten Ravelli. Dafür erhielten beide zusammen 6500 Dollar pro Woche, ein Spitzenhonorar für damalige Zeiten. Eine kleine Kostprobe aus Folge 12, die am 13. Februar 1933 über den Äther ging: Richter: Emmanuel Ravelli, schwören Sie, die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit! Chico: Wollen Sie, dass ich meinen Job verliere? Richter: Ravelli, wann wurden Sie geboren? Chico: Ich wurde nicht geboren. Ich hatte eine Stiefmutter. Richter: Ravelli, teilen Sie dem Gericht Ihren Geburtstag mit. Chico: Warum wollen Sie das wissen, Richter? Sie kaufen mir ja doch kein Geschenk. Groucho: Er hat Recht, Euer Ehren. Seit Ihrem Platz auf dem Richterstuhl haben Sie nichts mehr gekauft. Richter: Das Gericht erachtet diese Bemerkung als absolut überflüssig und ekelhaft. Chico: Hey, Richter. Dazu hat man mich letztes Mal verurteilt. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Richter: Wozu hat man Sie verurteilt? Chico: Zu Ekelhaft. Ich musste mit jemandem in der Zelle sitzen, der Schweißfüße hatte. Richter: Ravelli, nun geben Sie endlich Ihr Alter an. Chico: Ich bin 28. Richter: 28? Aber das haben Sie doch schon vor zwei Jahren zu Protokoll gegeben. Groucho: Na, wenn Ravelli etwas vor Gericht aussagt, dann bleibt er auch dabei. So geht es weiter, Zeile für Zeile, Folge für Folge. Dichtgedrängte Gags. Doch drängt sich schnell die Frage auf, was das alles mit Statistik zu tun habe. Vordergründig nichts – vielleicht mit folgender Ausnahme: Uns wird noch einmal klar, dass vor allem kurze und kurzweilige Texte gelesen werden. Bei statistischern Berichten sollten wir uns das immer wieder vor Augen halten. Über Statistik: „Ich bin auf die Welt gekommen, um zu rechnen, nicht um zu reden“, sagt manch ein Statistiker. Doch wer nur rechnet, also Zahlen produziert, aber nicht redet, also Zahlen präsentiert, der ist ein ziemlich uneffizienter Statistiker. Niemand nimmt wahr, was er tut. 25 Enorme Unterschiede zwischen Groß- und Kleinstädten Bundestagswahl 2005 für Städte und Gemeinden Josef Fischer, Jens Vöckler, Leipzig Der Erstabdruck dieses Beitrags erfolgte im Statistischen Quartalsbericht 3/2006 der Stadt Leipzig Abbildung 1 26 Die Dokumentation und Analyse politischer Wahlen gehört zu den Kernaufgaben städtestatistischer Dienststellen. Dem großen fachlichen und öffentlichen Interesse an Wahldaten trägt auch das Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig seit vielen Jahren durch eine entsprechend umfangreiche Berichterstattung Rechnung. Unter dessen Federführung entstand nach aufwändigen Vorarbeiten des Statistischen Bundesamtes erstmals nach der Bundestagswahl 2002 eine Veröffentlichung der Bundestagswahlergebnisse nach Gemeinden, also nicht nur nach Wahlkreisen oder Bundesländern. Der vorliegende Bericht mit Ergebnissen der Bundestagswahl 2005 ergänzt die Berichterstattung des Statistischen Bundesamtes und anderer. Er basiert wiederum auf Vorarbeiten des Statistischen Bundesamtes, das die Wahlergebnisse für 1 576 Gemeinden mit über 10 000 Einwohnern bereitstellte. Dafür sei dem Bundeswahlleiter vielmals gedankt. Die Bundestagswahl am 18.09.2005 fand ein Jahr vor Ablauf der vierjährigen Legislaturperiode statt. Vor der Wahl änderte die PDS ihren Namen in Die Linke. und stellte auch Bewerber der WASG (Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit) auf. Sie zog mit Fraktionsstärke in den Bundestag ein. Lag 2002 die SPD noch knapp vor der Union, so war das 2005 umgekehrt, wobei aber der Abstand geringer als erwartet war. Die rot-grüne Regierung unter Kanzler Schröder wurde abgelöst, jedoch nicht durch SchwarzGelb, sondern durch eine große Koalition von Union und SPD unter Führung der ersten deutschen Kanzlerin Merkel. Die drei Oppositionsparteien FDP, Die Linke. und GRÜNE verfügen über 166 Sitze, also nur über ein reichliches Viertel der bedingt durch 16 Über- hangmandate insgesamt 614 Sitze. Eines dieser Überhangmandate erzielte die CDU im Dresdener Wahlkreis 160, wo es wegen des Todes einer Direktkandidatin zwei Wochen nach dem eigentlichen Wahltermin zu einer viel diskutierten Nachwahl kam. Die 299 Wahlkreismandate entfielen auf: SPD 145, CDU 106, CSU 44, Die Linke. 3, GRÜNE 1. Die 3 Direktmandate der Linkspartei wurden in Berlin-Ost, das der GRÜNEN ebenfalls in Berlin errungen. Die FDP errang als einzige der Bundestagsparteien kein Direktmandat. Die Tabelle gibt für ausgewählte Großstädte, darunter alle mit über 200 000 Einwohnern, die Wahlergebnisse der Bundestagswahl 2005 auf Basis der Zweitstimmen wieder. Die Reihenfolge der Städte basiert auf den Wahlberechtigtenzahlen, die sich durch die nicht wahlberechtigten Minderjährigen, insbesondere aber wegen der ebenfalls nicht wahlberechtigten Ausländer teilweise deutlich von den Einwohnerzahlen unterscheiden. Obgleich 2005 die Unionsparteien in insgesamt 860 der 1 576 Gemeinden über 10 000 Einwohner die Zweitstimmenmehrheit erzielten, lag die SPD in 60 der 82 Großstädte vorn, am klarsten in den Ruhrgebietsstädten, die Union nur in 21 Großstädten. Gera ist die einzige Großstadt mit Stim- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 BUNDESTAGSWAHL 2005 FÜR STÄDTE UND GEMEINDEN Stadtforschung und Statistik 1/ 07 27 BUNDESTAGSWAHL 2005 FÜR STÄDTE UND GEMEINDEN Tabelle 2 menmehrheit der Linkspartei. In den meisten West-Großstädten liegen die GRÜNEn auf Platz 3 vor der FDP und der Linkspartei. Letztere liegt in den Oststädten meist auf Rang 2 oder 3. Zur Bundestagswahl vom 18.09.2005 gab es in Deutschland rund 12 400 Städte und Gemeinden, davon 1 576 mit über 10 000 Einwohnern. Für Letztere stellte das Statistische Bundesamt dankenswerterweise die Ergebnisse einzeln, für die kleineren Gemeinden zusammengefasst zur Verfügung. Die Gemeindeergebnisse sind die wesentliche Grundlage für die folgende Auswertung. Die 1 576 Städte und Gemeinden über 10 000 Einwohner repräsentierten fast 73 % der Bevölkerung Deutschlands bzw. knapp 72 % der Wahlberechtigten zur Bundestagswahl 2005. Sie sind hier nach 28 der Gemeindegröße zu fünf Gruppen mit jeweils über 10 Mio. Einwohnern untergliedert, wobei die 15 größten deutschen Städte mit über 400 000 Einwohnern eine Gruppe bilden. Knapp 11 000 Gemeinden unter 10 000 Einwohner, in denen insgesamt über 22 Mio. Menschen leben, umfasst die sechste Gruppe, wodurch sie bezüglich der Wahlergebnisse das größte Gewicht hat. Auch die Gemeindeergebnisse dokumentieren den Mehrheitswechsel von SPD zur Union. Zwar gab es in sieben Gemeinden über 10 000 Einwohner 2005 gegenüber 2002 einen Wechsel der Zweitstimmenmehrheit von der Union zur SPD, aber in 80 Gemeinden von der SPD zur Union. Für diese Gruppen gelten im Ergebnis der Bundestagswahl 2005 ähnlich wie bereits bei der Vorwahl von 2002 folgende interessante Aussagen: Je größer die Städte, umso geringer ist der Anteil der Wahlberechtigten an den Einwohnern. In den Städten über 400 000 Einwohner sind 70,9 % der Einwohner wahlberechtigt, in den Gemeinden unter 10 000 Einwohnern 77,9 %. 2002 betrugen die Werte 70,8 bzw. 77,1 %, der Abstand hat sich also noch vergrößert. Er erklärt sich durch die größere Anzahl der Ausländer in Großstädten und die Beschränkung des Wahlrechts auf Deutsche. Die Unterschiede zwischen ostdeutschen Städten und Gemeinden und denen im Altbundesgebiet sind noch deutlicher, da der Ausländeranteil und jener der Jüngeren, noch nicht Wahlberechtigten, im Osten des Landes unterdurchschnittlich ist. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 BUNDESTAGSWAHL 2005 FÜR STÄDTE UND GEMEINDEN Je größer die Städte, umso geringer ist tendenziell die Wahlbeteiligung. In der Gruppe der größten Städte betrug sie 76,8 % (2002: 78,2 %), in der Gruppe der weiteren Großstädte 76,3 % (77,7 %), in der Gruppe der kleinsten Gemeinden waren es 79,0 % (80,1 %). Diese Unterschiede sind nicht so groß wie die zwischen Ostund Westdeutschland (samt Berlin-West) mit 74,3 % bzw. 78,5 %. Sie bestätigen indirekt das soziale Gefälle, denn sozial Schwächere gehen unterdurchschnittlich zur Wahl. In Großstädten ist z.B. der Anteil der Leistungsempfänger deutlich höher als in kleinen Gemeinden. Bemerkenswert ist, dass die Wahlbeteiligung in der Gruppe der kleineren Großstädte am niedrigsten ist. Vielleicht spielt hier eine Rolle, dass von den 15 größten Städten die Mehrzahl Landeshauptstädte mit entsprechendem Regierungs- bzw. Beamtenapparat sind. Je größer die Städte, umso größer ist der Anteil der Briefwähler an den Wahlberechtigten. In den 15 größten Städten wählten 18,2 % (2002: 18,3 %) der Wahlberechtigten per Briefwahl. In den kleinsten Gemeinden waren es 11,9 % (11,8 %). Insgesamt ist der Briefwähleranteil von 14,3 % bei der Wahl 2002 auf 14,5 % gestiegen. In den vier mittleren Städteklassen ist der Anstieg des Briefwähleranteils deutlich ausgeprägt, am stärksten bei den sonstigen Großstädten, wo er sich von 15,5 % auf 16,3 % erhöhte. Bezieht man die Anzahl der Briefwähler auf die der Wähler, so ist auch in den größten Städten der Briefwähleranteil gestiegen. Der Trend zu höherer Briefwahlbeteiligung insbesondere in Großstädten, aber nicht nur dort, hält schon viele Jahre an. Er ist beispielsweise bei den letzten vier Bundestagswahlen nachzuweisen. Er dürfte weniger durch höhere berufliche Einbindung oder hö- here körperliche Gebrechlichkeit begründet sein. Die Briefwahl entwickelt sich immer mehr von einer (geduldeten) Sonderform der Wahl zu einer Standardvariante. Je größer die Städte, umso geringer ist der Anteil der ungültigen Stimmen. Diese Feststellung gilt zumindest für die Bundestagswahlen von 2002 und 2005. Bei beiden Wahlen war das für die Erststimmen stärker ausgeprägt als für die Zweitstimmen. In der Regel führen Mehrfachwahlen zu mehr ungültigen Stimmen. Der Erklärungsansatz kann für 2002 gelten, als mit der Bundestagswahl weitere Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und teilweise in RheinlandPfalz (hier überwiegen jeweils die kleinen Gemeinden) sowie in Hessen durchgeführt wurden. Er kann für 2005 nicht herangezogen werden, da es hier nur in sehr wenigen Fällen weitere Wahlen gab. Abbildung 2 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 29 BUNDESTAGSWAHL 2005 FÜR STÄDTE UND GEMEINDEN Die Union wird stärker in kleineren Gemeinden als in größeren Städten gewählt. Die Stimmenanteile der Unionsparteien CDU und CSU nahmen von den größten Städten zu den kleinsten Gemeinden kontinuierlich zu. Allerdings verzeichneten die Unionsparteien 2005 gegenüber 2002 in allen Gruppen Verluste, am geringsten bei den größten Städten (bei Zweitstimmen –2,6 %) am stärksten bei den kleinen Gemeinden (-4,4 %). Damit hat sich das Stadt-Land-Gefälle der Union bei den Zweitstimmen von 15,0 % auf 13,3 % reduziert. Der Unterschied sowohl bei Erst- als auch Zweitstimmen von den kleinsten Gemeinden bis zu den ganz großen Städten ist dennoch deutlich größer als bei der SPD, wo die größte Differenz 8,9 % beträgt. Die SPD wird stärker in größeren Städten als in kleineren Gemeinden gewählt. Die SPD-Stimmenanteile nahmen sowohl 2002 als auch 2005 mit jeder Gemeindegrößenklasse bis zu den Großstädten zu, bei den größten Städten aber wieder leicht ab. Diese Zunahme bei größeren Gemeinden ist naheliegend, da die SPD den wichtigsten Gegenpol zur Union bildet. Noch stärker als die Unionsparteien büßte die SPD 2005 zur Wahl 2002 in allen Gruppen bei Erst- und Zweitstimmen Anteile ein. Der Rückgang bei den Zweitstimmen betrug in der Gruppe der größten Städte 3,3 %, bei den kleinen Gemeinden 4,8 %. Die FDP hat bezogen auf die Zweitstimmen ein relativ stabiles Potential in allen Städtegruppen. 30 Die Anteile schwanken 2005 nur von 10,2 % in den Städten von 10 000 bis 40 000 bis 9,3 % in den kleineren Großstädten. Bei den Erststimmen gibt es jedoch ein kontinuierliches Gefälle von 5,1 % in den kleinsten Gemeinden bis 4,2 % in den größten Städten, was 2002 nicht so war. Die Wähler von Die Linke differenzieren sich mehr nach Ost-West als nach Größenklassen. Bei den Zweitstimmen hat die Linkspartei ihre Höchstwerte in den Gemeindegruppen am Rand, die niedrigsten Werte bei nicht benachbarten Innengruppen. Der maximale Unterschied in den sechs Gruppen beträgt 2,2 %. Im Wahlgebiet Ost (ohne Berlin-West) betrug der Anteil jedoch 25,3 %, im Wahlgebiet West hingegen 4,9 %, was insgesamt zum Überschreiten der 5-%-Hürde und damit zum Einzug in Fraktionsstärke in den Bundestag reichte. Die GRÜNEN werden stärker in größeren Städten als in kleineren Gemeinden gewählt. Ähnlich wie die SPD verloren die GRÜNEN 2005 zu 2002 in allen Gruppen Stimmenanteile, wobei diese in den größten Städten (12,8 % der Zweitstimmen) deutlich höher lagen als in der Gruppe der kleinen Gemeinden (6,0 %). Ein ähnliches Gefälle gibt es auch bei den Erststimmen. Sonstige werden am stärksten in kleineren Gemeinden und ganz großen Städten gewählt. Die 19 Sonstigen (2002: 18) sind eine sehr inhomogene Gruppe unterschiedlichster Parteien, die zusammen nur 3,9 % (2002: 3,0 %) Zweit- stimmen erhielten, darunter NPD 1,6 %, REP 0,6 %, GRAUE und FAMILIE je 0,4 %. Ihr Ergebnis wird hier nicht weiter interpretiert. Der Vergleich der Erst- mit den Zweitstimmen in Abbildung 3 zeigt, dass es bei den großen Volksparteien SPD und CDU/ CSU deutliche Erststimmenüberhänge (mehr Erst- als Zweitstimmen) gegeben hat, bei GRÜNEn, FDP und neuerdings auch der Linkspartei dagegen Zweitstimmenüberhänge. In den 15 größten Städten gab es sowohl bei Erst- als auch Zweitstimmen zwei Mal eine Unionsmehrheit, zehn Mal eine SPD-Mehrheit, drei Mal unterschiedliche Mehrheiten. Bei den 67 anderen Großstädten dominierte die Union doppelt in 15 Städten, die SPD in 47 Städten, die Linkspartei in einer Stadt, vier Städte haben keine Doppelmehrheit. Je kleiner die Gemeinden werden, umso mehr verschiebt sich auch hier die Dominanz von der SPD zur Union. Bezogen auf alle Gemeinden mit mindestens 10 000 Einwohnern dominierte bei Erst- und Zweitstimmen die Union in 841 Gemeinden, die SPD in 631 Gemeinden und die Linkspartei in neun Gemeinden. In 95 Gemeinden gab es unterschiedliche Mehrheiten, davon war in 64 Städten die Union bei den Erststimmen, die SPD bei den Zweitstimmen vorn. In der Abbildung 4 lässt sich ein Zusammenhang zwischen der Gemeindegrößenklasse und den Erststimmenüberhängen der SPD bzw. den Zweitstimmenüberhänge des früheren Koalitionspartners GRÜNE erkennen. Mit zunehmender Gemeindegröße steigen nicht nur die Stimmenanteile dieser Stadtforschung und Statistik 1/ 07 BUNDESTAGSWAHL 2005 FÜR STÄDTE UND GEMEINDEN Abbildung 3 Abbildung 4 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 31 FRAUEN: SCHULE UND WAHLRECHT Erststimmenüberhänge Grüne vor der FDP Die Linke: Ostdeutschland, Ruhrgebiet und Saarland FDP: Bayern und BadenWürttemberg Parteien, sondern auch die entsprechenden relativen Überhänge der SPD von 2,8 auf 6,1 bei den Erststimmen, bei den GRÜNEN von 1,8 auf 4,0 bei den Zweitstimmen an. Bei CDU/CSU und FDP sind die Überhänge zwischen den Erstund Zweitstimmen größer als bei SPD bzw. GRÜNEN. Ein Anstieg der prozentualen Überhänge mit der Gemeindegröße lässt sich nicht ausmachen, obgleich bei den Unionsparteien ein klares Gefälle der Stimmenanteile von kleinen zu größeren Gemeinden existiert. 2002 hatte die PDS durchgängig leichte Erststimmenüberhänge, am stärksten in der größten Städteklasse mit Berlin, wo zwei Direktmandate gewonnen wurden. 2005 verzeichnet die Partei mit dem neuen Namen Die Linke. generell leichte Zweitstimmenüberhänge. Dies dürfte der veränderten Wählerschaft vor allem im Westen geschuldet sein. Die WASG-Anhänger hatten hier vor allem Zweitstimmen gesammelt, während an Direkt- mandate über die Erststimmen – außer vielleicht im Saarland – nicht zu denken war. Die Dominanz von CDU/CSU und SPD in der deutschen Parteienlandschaft wird dadurch belegt, dass diese Parteien in 1 393 der 1 576 Städte mit über 10 000 Einwohnern jeweils die ersten beiden Plätze in der Rangfolge der Zweitstimmen belegten. In weiteren 123 der betrachteten Gemeinden siegte die SPD vor Die Linke., in 41 Gemeinden die CDU vor Die Linke. Diese 164 Gemeinden sind ebenso wie jene 16 Städte, in denen Die Linke. stärkste Partei nach Zweitstimmen wurde, bis auf eine Ausnahme alle in den neuen Bundesländern gelegen. Die FDP wurde in Grünwald (Bayern) und Königstein im Taunus zweitstärkste Kraft, die GRÜNEN in Tübingen. Drittstärkste Partei wurde in 90 % aller westdeutschen Gemeinden außerhalb des Saarlandes mit mehr als 10 000, aber weniger als 100 000 Einwohnern die FDP. In allen saarländischen Gemeinden bis auf Völklingen wiederum wurde Die Linke. zur drittstärksten Kraft gewählt. In 54 % der ostdeutschen Gemeinden dieser Größenklasse sowie in allen ostdeutschen Städten bis 400 000 Einwohner lag die CDU an dritter Stelle, meist hinter der SPD und Die Linke. In den 15 Großstädten mit über 400 000 Einwohnern und ihrer spezifischen Wählerstruktur konnten sich in 13 Fällen die GRÜNEN vor der FDP behaupten, nur in Dresden und Düsseldorf gelang dies nicht. In Berlin, Dresden, Duisburg und Leipzig wurde Die Linke. jeweils als drittstärkste Partei hinter SPD und CDU gewählt. Der Vergleich der Bundestagswahlergebnisse von 2005 mit denen von 2002 zeigt auch, dass Die Linke ihre Stimmengewinne besonders im Osten sowie im Ruhrgebiet und im Saarland erringen konnte, die FDP besonders in Bayern und Baden-Württemberg. Frauen: Schule und Wahlrecht Martin Schlegel, Hagen Man soll nicht glauben, dass die folgenden Nachrichten erst 100 Jahre alt sind: Am 15. März 1907 erläutert der preußische Kultusminister Konrad von Studt die Reform des Mädchenschulwesens. Er hält die bisherige Ausrichtung auf Gefühl und Ästhetik für einseitig und verlangt, in Zukunft solle mehr Gewicht auf 32 die Förderung des Verstandes gelegt werden. Deswegen verlangt er, den Grammatikunterricht auszudehnen und den einfachen Rechenunterricht durch Mathematik zu ersetzen. Im Mittelpunkt der Mädchen- und Frauenausbildung sollen weiterhin Deutsch und Religion stehen. Bei der Reichstagswahl am 15. März 1907 in Finnland wurden erstmals Frauen in das Parlament gewählt. Die meisten Frauen sind Mitglied der sozialdemokratischen Partei. Im norwegischen Storting wird am 14. Juni 1907 der Gesetzentwurf abgelehnt, der das allgemeine Wahlrecht für Frauen vorsieht. Frauen wird aber das Wahlrecht zuerkannt, wenn sie oder ihr Mann Steuern bezahlt haben. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Klare Verbindung von Arbeitslosigkeit und Wahlabstinenz Nichtwähler bei der Bundestagswahl 2005 Lothar Eichhorn, Jessica Huter, Hannover Im. September 2005 fanden vorgezogene Wahlen zum 16. Deutschen Bundestag statt. Begründet wurden die Neuwahlen mit mangelnder Unterstützung für den politischen Kurs der Bundesregierung bzw. einer angesichts der anstehenden Aufgaben erneuten Bestätigung dieses Kurses. Kernstück dessen war die Umgestaltung der Arbeitsmarktund Sozialpolitik. Angesichts der zum Teil vehementen Proteste gegen diese Neuausrichtung ist das Wahlverhalten bei der Bundestagswahl, die von einigen zu einer Abstimmung bzw. Richtungswahl über „Modernisierung“ contra „Erhalt des Sozialstaats“ hochstilisiert wurde, interessant und soll im folgenden näher betrachtet werden. Die Höhe der Wahlbeteiligung bzw. die der Nicht-Beteiligung ist ein Indikator für die Zustimmung bzw. Ablehnung des politischen Systems: Wer sich von den politischen Parteien nicht repräsentiert fühlt oder gar die parlamentarische Demokratie an sich ablehnt, kann dies durch Stimmabgabe für radikale Parteien, durch bewusste Abgabe eines ungültigen Stimmzettels oder – was häufiger geschieht – Wahlenthaltung zum Ausdruck bringen. Der Grad der Identifikation mit einem politischen System ist von zahlreichen, zum Teil sehr subjektiven Faktoren abhängig. Bedeutsam ist vor allem, dass diejenigen, die für sich im Rahmen des gesell- schaftlichen Systems keine oder nur geringe Lebens- und Entwicklungschancen ausmachen können, eher zu einer Ablehnung des politischen Systems, das ihnen vermeintlich wenig oder nichts zu bieten hat, neigen. Wenn „der Politik“ die Lösungskompetenz für drängende Fragen abgesprochen wird, trägt dies zu einer Entfremdung des Wahlvolks von seinen politischen Repräsentanten bei. Die seit Jahren wohl drängendste Frage in Deutschland, auf die derzeit niemand eine seriöse Antwort zu geben imstande ist, ist die der Massenarbeitslosigkeit. Da der soziale Status, die Teilhabechancen und das Selbstwertgefühl in dieser Gesellschaft stark von der Erwerbsarbeit und vom beruflichen Erfolg geprägt sind, ist eine verfestigte Dauerarbeitslosigkeit ein großes Problem auch für die Legitimationsbasis der parlamentarischen Demokratie. So ergaben z.B. die Ergebnis des ALLBUS, einer großen Repräsentativbefragung, für das Jahr 2000 ein eindeutiges Bild. Den Befragten wurde die These vorgelegt: „Die Demokratie in Deutschland ist die beste Staatsform.“ Dieser These stimmten 80% der West- und 49% der Ostdeutschen zu. Bei den Arbeitslosen sank der Zustimmungsgrad auf 69% im Westen und 40% im Osten – das niedrigste Ergebnis aller sozialen Gruppen 1 . Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Anknüpfend an einen Aufsatz zur Bundestagswahl 20022, sollen die regionalen Unterschiede in der Wahlbeteiligung, der Zusammenhang mit der Höhe der Arbeitslosigkeit und Veränderungen der Wahlbeteiligung gegenüber der letzten Bundestagswahl untersucht werden. Die Ebene ist dabei die der Landkreise und kreisfreien Städte, weil die Arbeitslosenquoten nicht auf Ebene der Bundestagswahlkreise verfügbar sind. Wahlbeteiligung und Arbeitslosigkeit Entwicklung in den Bundesländern In Deutschland insgesamt lag die Wahlbeteiligung 2002 bei 79,7% und 2005 bei 77,7% – ein Rückgang um -1,4%. Entsprechend erhöhte sich der Nichtwähleranteil von 20,9% auf 22,3%. Dabei gab es in West- und Ostdeutschland gegenläufige Bewegungen. In Bayern (-3,6 Prozentpunkte), Bremen (-3,3 Prozentpunkte) und Baden-Württemberg (-2,4 Prozentpunkte) ging die Wahlbeteiligung besonders stark zurück, aber auch in allen anderen westdeutschen Bundesländern sowie in Berlin stiegen die Nichtwähleranteile, während in allen fünf ostdeutschen Flächenländern die Wahlbeteiligung stieg. Das West-Ost-Gefälle der Wahlbeteiligung, das bei der Bundestagswahl 2002 noch klar ausgeprägt war, hat sich damit stark verringert (näheres vgl. Tab. 1). Die Spann- Zentraler Indikator Wahlbeteiligung West-Ost-Gefälle bei der Wahlbeteiligung 33 NICHTWÄHLER BEI DER BUNDESTAGSWAHL 2005 weite der Wahlbeteiligung auf Ebene der Bundesländer reichte 2002 von 68,8% (SachsenAnhalt) bis 81,5 % (Bayern), betrug also 12,7 Prozentpunkte. 2005 reichte sie von 71,0% (Sachsen-Anhalt) bis 79,4% (Niedersachsen und Saarland) und lag damit nur noch bei 8,4 Prozentpunkten. Ähnliches ist bei den ungültigen Zweitstimmen zu beob- achten. Deren Anteil an allen abgegebenen Stimmen stieg bundesweit im Vergleich der Jahre 2002 und 2005 von 1,2% auf 1,6%. Diese Zunahme betraf alle Länder bis auf Mecklenburg-Vorpommern, wo es eine klare Abnahme um -0,5 Prozentpunkte gab. Die Spannweite lag 2002 bei 1,7 Prozentpunkten zwischen den Extremwerten Bayern (0,7%) und Mecklenburg-Vorpommern (2,4%); 2005 betrug sie nur noch 1,4 Prozentpunkte zwischen den Extremwerten 1,1% (Hamburg) und 2,5% (Saarland). Es drängt sich die Vermutung auf, dass dieses Ergebnis auch etwas mit der regionalen Herkunft der Spitzenkandidaten der Union zu tun hat. Der Spit- Tab. 1: Wahlbeteiligung, Nichtwähler und ungültige Zweitstimmen bei den Bundestagswahlen am 22.9.2002 und am 18.9.2005 Tab. 2: Ergebnisse der Bundestagswahlen 2002 und 2005 (Zweitstimmen) in Deutschland 34 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 NICHTWÄHLER BEI DER BUNDESTAGSWAHL 2005 zenkandidat des Jahres 2002, Edmund Stoiber aus Bayern, war seinerzeit offenbar für Wähler im Süden und Südwesten hoch attraktiv, aber für Wähler aus dem Norden und vor allem dem Osten weniger. Die Spitzenkandidatin des Jahres 2005, die jetzige Bundeskanzlerin Angela Merkel, löste anscheinend einen Gegeneffekt mit rückläufigen Werten im Süden aus. Die Partei der Wahlverweigerer Von diesen regional geprägten Besonderheiten abgesehen bleibt natürlich die insgesamt rückläufige Wahlbeteiligung ein großes Problem. Die Tabelle 2 verdeutlicht dies mit einer Gegenüberstellung der gesamtdeutschen Bundestagswahlergebnisse 2002 und 2005 auf Basis absoluter Zahlen der Wähler, Wahlberechtigten, ungültig Stimmenden sowie der Ergebnisse für die im Bundestag vertretenen Fraktionen. Die Zahl der Wahlberechtigten stieg in den drei Jahren um 0,7%, gleichwohl nahm die Zahl der Wähler um -1,1% ab. Die „Partei der Nichtwähler“ nahm, gemessen an den jeweiligen absoluten Zahlen, um 7,6% zu und liegt nun bei 22,3 % bzw. 13,8 Millionen Menschen. Die Zahl der ungültigen Stimmen stieg sogar um 29%. Nun mag sicher die eine oder andere Zweitstimme unabsichtlich ungültig gemacht worden sein – in der Regel dürfte aber die Ungültigmachung des Stimmzettels Ausdruck eines Protestes gegen „die Parteien“ oder „den Staat“ sein. Fasst man Nichtwähler und ungültig Stimmende zur Gruppe der „Wahlverweigerer“ zusammen, so er- gibt dies bundesweit 2005 eine Zahl von fast 14,6 Millionen, 8,5% mehr als 2002. Die „Partei der Wahlverweigerer“ käme auf 23,6% und wäre die zweitstärkste Partei hinter der SPD. Die Tabelle 2 listet weiter die Ergebnisse der im Bundestag vertretenen Fraktionen auf. Danach haben alle Parteien, die in der gegenwärtigen und der letzten Bundesregierung vertreten sind bzw. waren, kräftig an Stimmen verloren. Die Grünen verloren -6,6% ihrer Wähler, die CDU/CSU -10% und die SPD gar -12,4%. Gewinnen konnten die damaligen und heutigen Oppositionsparteien FDP (+31,3%) und „Die Linke.“ (+114,9%), die das seinerzeitige Ergebnis der PDS mehr als verdoppelte; von der höheren Wahlbeteiligung in Ostdeutschland konnte vor allem diese Gruppierung profitieren. Damit haben die zwei Parteien stark gewonnen, die die zentralen Reformen der letzten Legislaturperiode, die Hartz I-IV-Gesetzgebung, von ganz verschiedenen Richtungen aus scharf ablehnten – die einen, weil sie ihnen längst nicht weit genug, die anderen, weil sie ihnen viel zu weit gingen. Die vier Parteien (SPD, CDU, CSU, Grüne), die die Kompromisse der Hartz-Gesetzgebung mittrugen und verantworteten, steckten herbe Verluste ein. Insgesamt gingen ihnen gut 4,4 Millionen Stimmen verloren. Bezieht man die Wahlergebnisse der Fraktionen auf alle Wahlberechtigten – d.h. nicht auf die gültigen abgegebenen Zweitstimmen, wie es üblicherweise zur Ermittlung des Wahlergebnisses und zur Sitzverteilung im Bundestag geschieht – so ergibt sich, dass die CDU/CSU noch 26,9%, die SPD 26,2%, die FDP 7,5%, die Linkspartei 6,7% und die Grü- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 nen 6,2% der Wahlbevölkerung vertreten. Die beiden Fraktionen der derzeitigen Großen Koalition in Berlin vertreten damit 53,1% der Wahlberechtigten, obwohl sie mit 402 von 614 Sitzen im Bundestag im Parlament beinahe eine Zweidrittelmehrheit haben. Ein Gedankenexperiment: Etwa 5 936 100 Ausländer im Alter von über 18 Jahren lebten laut Bevölkerungsfortschreibung Ende 2004 in Deutschland. Diese haben, da dies bei Bundestagswahlen nur deutschen Staatsbürgern über 18 Jahren zusteht, kein Wahlrecht. Wenn man diese zu den ca. 61,9 Mio. Wahlberechtigten hinzunimmt, ergäbe sich für die SPD ein Anteil von 23,9% und für die CDU/ CSU ein Anteil von 24,5% an allen Menschen, die in Deutschland leben und über 18 Jahre alt sind. Die derzeitige Koalition hat zwar eine komfortable Mehrheit im Bundestag, aber – so gesehen – keine Mehrheit im Volk. Große Koalition: Keine Mehrheit im Volk? Arbeitslosigkeit und Wahlenthaltung Das Streudiagramm zeigt den Zusammenhang zwischen der Arbeitslosenquote der abhängigen Erwerbspersonen im September 2005 in Prozent und dem Nichtwähleranteil in Prozent. Jeder Kreis im Diagramm repräsentiert dabei einen Landkreis bzw. eine kreisfreie Stadt. Da nach wie vor gravierende Unterschiede im Niveau der Arbeitslosigkeit zwischen Ost- und Westdeutschland existieren, sind diese farblich unterschieden: westdeutsche Kreise sind hellgrau, ostdeutsche Kreise sind dunkelgrau dargestellt. Auf der x-Achse ist die Arbeitslosenquote (Explanens) abgetragen, auf der y-Achse der Nicht35 NICHTWÄHLER BEI DER BUNDESTAGSWAHL 2005 Schaubild Streuungsdiagramm Streudiagramme und Korrelationsanalyse Aus der Lage der Punkte im Streudiagramm lassen sich erste Erkenntnisse ablesen: Je diffuser die Punkte sich als eine Art Wolke ballen, desto geringer ist der Zusammenhang der beiden dargestellten Merkmale. Je mehr die Punkte entlang einer Linie, der sog. Regressionsgraden, angeordnet sind, desto stärker ist der Zusammenhang. Mit einer solchen Korrelationsanalyse lassen sich Zusammenhänge und ihre Stärke messen – mehr nicht. So kann auch nicht von einem Kausalzusammenhang gesprochen werden. Verlaufen die Punkte tendenziell von links unten nach rechts oben, so liegt eine positive Korrelation vor – je stärker das eine Merkmal ausgeprägt ist, desto stärker ist auch das andere. Bei einer negativen Korrelation verliefe die Linie von links oben nach rechts unten. Der Korrelationskoeffizient „r“ nach Pearson misst Richtung und Stärke eines Zusammenhangs. Er kann Werte zwischen 1 und +1 annehmen. Werte unter Null bedeuten eine negative Korrelation, Werte über Null eine positive Korrelation. Je größer der Betrag von „r“ ist, desto stärker ist der Zusammenhang. Je mehr sich der Betrag dem Wert Null annähert, desto schwächer ist er. wähleranteil (Explanandum). In Form von Linien ist jeweils der Bundesdurchschnitt auf beiden Achsen abgetragen, 36 wodurch das Diagramm in vier Quadranten aufgeteilt wird. Im vorliegenden Streudiagramm ist die Punktwolke klar strukturiert: Die Punkte verteilen sich von links unten nach rechts oben. Es besteht also ein positiver Zusammenhang. Der Korrelationskoeffizient „r“ nach Pearson nimmt einen Wert von +0,66 an. Die ostdeutschen Kreise und kreisfreien Städte befinden sich größtenteils im rechten oberen Quadranten, weisen also sowohl eine überdurchschnittliche Arbeitslosenquote als auch einen überdurchschnittlichen Nichtwähleranteil auf. Aufgrund der im Diagramm entstehenden eindeutigen OstWest-Struktur stellt sich die Frage, ob der Zusammenhang überzeichnet ist und sich dadurch ergibt, dass im Osten nach 40 Jahren DDR und nicht nur positiven Erfahrungen mit „dem Westen“ die Akzeptanz der parlamentarischen Demo- kratie generell geringer ist als im Westen des Landes. Daher wurde der Zusammenhang auch zusätzlich für Ost und West getrennt berechnet: Es ergaben sich Werte von +0,45 für Westdeutschland und +0,48 für Ostdeutschland, also geringer ausgeprägte aber immer noch eindeutige Korrelationen. Eine Überzeichnung des Gesamtergebnisses durch die ostdeutschen Kreise und kreisfreien Städte liegt damit nicht vor. Die Höhe der Wahlbeteiligung korrespondiert also mit der Arbeitsmarktsituation. Ist letztere schlecht, sinkt offenbar die Zustimmung zum politisch-gesellschaftlichen System der Bundesrepublik Deutschland. Die Ursache hierfür dürfte in schwindendem Vertrauen in die Problemlösungsfähigkeit der politischen Führung zu finden sein. Der Vergleich mit dem Ergebnis einer ähnlichen Untersuchung3 zur Bundestagswahl Stadtforschung und Statistik 1/ 07 NICHTWÄHLER BEI DER BUNDESTAGSWAHL 2005 2002 fördert interessante Ergebnisse zu Tage. Bei dieser früheren Untersuchung betrug „r“ +0,86 (+0,57 für Westdeutschland, +0,58 für Ostdeutschland). Der Zusammenhang ist also schwächer geworden, was auf den ersten Blick erstaunlich ist, denn die Arbeitslosigkeit stagnierte ja zwischen 2002 und 2005 auf hohem Niveau. Bemerkenswert ist gegenüber der früheren Untersuchung eine stärkere Durchmischung der Westund Ostgebiete: einige Westkreise weisen sowohl bei der Arbeitslosenquote als auch beim Nichtwähleranteil überdurchschnittliche Werte auf, und Westen und Osten haben sich in beiden Indikatoren einander genähert. Ein Indiz dafür ist auch die sinkende Spannweite der regionalen Nichtwähleranteile in beiden Jahren: Diese betrug im Jahr 2002 22,9 Prozentpunkte, im Jahr 2005 nur noch 17,0 Prozentpunkte. Regionale Veränderung der Wahlbeteiligung Um diese Abschwächung des Zusammenhangs näher zu untersuchen, wird die regionale Veränderung der Wahlbeteiligung in Prozentpunkten näher betrachtet. Diese ist in der thematischen Karte in fünf Größenklassen dargestellt. Die Klassierung ist dabei so gewählt, dass vier von fünf Kategorien die Rückgänge in der Wahlbeteiligung abbilden und für eine gestiegene Wahlbeteiligung nur eine nach oben offene Klasse zur Verfügung steht. Farblich reichen die Kategorien in abgestuften Schattierungen von Hell- bis Dunkelgrau: Klasse 1 (Zunahme, 106 Landkreise und kreisfreie Städte) Klasse 2 (Abnahme um 0 bis 1 Prozentpunkte, 24 Gebiete) Klasse 3 (Abnahme um mehr als 1 bis 2 Prozentpunkte, 85 Gebiete) Klasse 4 (Abnahme um mehr als 2 bis 3 Prozentpunkte, 84 Gebiete) Klasse 5 (Abnahme um mehr als 3 Prozentpunkte, 140 Gebiete). Nahe dem Bundesdurchschnitt von -1,4 Prozentpunkten sind die Gebiete der Klasse 3. Auffällig sind aufgrund ihrer fast einheitlichen Färbung einerseits vor allem die Kreise und kreisfreien Städte der neuen Bundesländer, andererseits die Bayerns und Baden-Württembergs. Mit Ausnahme der Städte Dresden, Schwerin und Berlin und der Landkreise Müritz, Ostprignitz-Ruppin, Hildburghausen und Sonneberg, in denen nur eine leicht negative Veränderung bis hin zu -1 Prozentpunkten festzustellen ist, weisen alle anderen Regionaleinheiten der neuen Bundesländer eine gestiegene Wahlbeteiligung auf. Die thüringischen Kreise Eichsfeld (+0,1 Prozentpunkte im Vergleich zu 2002), Jena (+0,9), Saale-Holzland-Kreis (+1,6) und Greiz (+2,2) und die sächsischen Kreise Stollberg (+3,3), Mittlerer Erzgebirgskreis (+4,4), Weißeritzkreis (+5,2), Meißen (+4,4) und Kamenz (+4,4) sowie die Stadt Potsdam (+1,9) und der Landkreis Potsdam-Mittelmark (+1,2) (Brandenburg) wiesen bereits bei der Bundestagswahl 2002 eine überdurchschnittliche Wahlbeteiligung auf, und diese stieg 2005 noch einmal an. Die maximale Zunahme hat im brandenburgischen Schönebeck mit +7,6 Prozentpunkten stattgefunden. Das Pendant dazu, nämlich das Gebiet mit der höchsten Abnahme der Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Wahlbeteiligung, ist mit -8,9 Prozentpunkten FreyungGrafenau in Bayern. Dass dieser negative Höhepunkt in Bayern zu finden ist, ist kein Zufall: In Bayern hat die Wahlbeteiligung – von den Landkreisen Schweinfurt, Würzburg und Nürnberger Land einmal abgesehen – überall um 3 und mehr Prozentpunkte abgenommen. In keinem anderen Bundesland waren in so vielen Gebieten ähnlich starke Rückgänge zu konstatieren wie dort. Auch Baden-Württemberg weist nahezu überall Rückgänge in der Wahlbeteiligung von 2 und mehr Prozentpunkten auf. Die Stadt Freiburg und der sie umgebende Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald schaffen es mit einem Minus von 2 Prozentpunkten bzw. 1,9 Prozentpunkten noch in die mittlere Kategorie und heben sich damit deutlich vom Rest des Landes ab. Auch der Raum um Stuttgart und der um Mannheim sowie der Kreis Konstanz und der Bodenseekreis weisen vergleichsweise geringere Abnahmen in der Wahlbeteiligung auf. Interessanterweise ergeben sich in diesen beiden Bundesländern, was den Rückgang der Wahlbeteiligung angeht, keine größeren Unterschiede zwischen Stadt und Land. Demgegenüber sind nennenswerte Unterschiede bei der Wahlbeteiligung üblich – mit höherer Beteiligung im ländlichen Raum und geringerer in den Städten. Große Zonen mit einer überdurchschnittlich stark zurückgegangenen Wahlbeteiligung finden sich außerdem in Nordrhein-Westfalen. In SchleswigHolstein, Rheinland-Pfalz, dem Saarland und Hessen finden sich zahlreiche Gebiete der mittleren Kategorie, deren Minus in der Wahlbeteiligung 37 NICHTWÄHLER BEI DER BUNDESTAGSWAHL 2005 38 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 NICHTWÄHLER BEI DER BUNDESTAGSWAHL 2005 also in etwa dem des bundesweiten Durchschnitts von -1,4 Prozentpunkten entspricht. Es ergeben sich aber keine klaren Strukturen. Auffällig ist als einziges hellgrau dargestelltes Gebiet im Westen der hessische Hochtaunuskreis – der einzige Kreis Westdeutschlands, in dem die Wahlbeteiligung gleich blieb. Auch in allen Kreisen Niedersachsens gab es Abnahmen, die geringsten von –1,0 Prozentpunkten in der Stadt Salzgitter und im Ammerland. Die innerhalb Niedersachsens höchste Abnahme gab es im Landkreis Cloppenburg mit -3,9 Prozentpunkten. Hier dürfte eine ähnliche Erklärung greifen wie in Süddeutschland: Dem streng katholischen Oldenburger Münsterland, in dem die Union regelmäßig deutliche Mehrheiten erringt, lag ein Kanzlerkandidat Stoiber eher als die (ostdeutsche, protestantische, kinderlose) Kandidatin Merkel; auch im benachbarten, ebenfalls katholischen Kreis Vechta fiel die Wahlbeteiligung um -2,9 Prozentpunkte. Protestpotential: Nichtwähler plus Linkspartei Ein erstes vorläufiges Zwischenfazit: Der statistische Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Wahlbeteiligung fiel 2005 niedriger aus als 2002, weil die Wahlbeteiligung in Ostdeutschland stieg, während sie im Westen, am stärksten in Bayern, sank. Es gibt aber noch einen weiteren statistisch belegbaren Faktor, der vor allem in Westdeutschland einen hohen Erklärungswert hat, nämlich die Kandidatur der „Linkspartei“. 2002 trat zwar in ganz Deutschland die PDS an, aber diese wurde in den „alten Ländern“ weitgehend als ostdeutsche Regionalpartei angesehen, während sie in Ostdeutschland Wahlergebnisse erzielte, die mit denen von SPD und CDU durchaus vergleichbar waren. 2005 war die Lage völlig anders, weil Teile des linken Randes der SPD sich von dieser aus Protest gegen die als unsozial angesehenen Arbeitsmarktreformen abgespalten und die „Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG)“ gegründet hatten. WASG und PDS kandidierten 2005 gemeinsam als „Die Linke.“, und zwar mit einem ehemaligen Bundesfinanzminister und SPD-Vorsitzenden als Spitzenkandidaten. Damit gab es auch im Westen Deutschlands eine fundamentale und realistische Alternative für Protestwähler. Sieht man den Nichtwähleranteil und den Anteil der „Linkspartei“-Wähler an allen Wahlberechtigten zusammen als Protestpotenzial an, so ergibt sich bei der Korrelationsanalyse mit der Arbeitslosenquote für alle Kreise Deutschlands ein hoher Wert von +0,82 im Vergleich zu +0,66 (wenn man nur die Nichtwähler heranzieht). In den Kreisen Westdeutschlands steigt die Korrelation von +0,45 sogar deutlich auf +0,57. Interessanterweise fällt in den Kreisen Ostdeutschlands die Korrelation mit +0,45 sogar geringer aus als nur der Zusammenhang von Nichtwähleranteil und Arbeitslosenquote (+0,48). Das mag daran liegen, daß in Ostdeutschland die „Die Linke“ zwar erheblich an Stimmen gewann, aber nicht mehr unbedingt als Fundamentalopposition wahrgenommen wird. In den beiden Ländern, wo sie an der Regierung beteiligt ist, Stadtforschung und Statistik 1/ 07 stieg die Wahlbeteiligung nur wenig (+0,6 Prozentpunkte, Mecklenburg-Vorpommern) bzw. ging gar zurück (-0,2 Prozentpunkte, Berlin). Auch die Stimmengewinne der Linkspartei waren in diesen Ländern weniger stark ausgeprägt. Fazit Die Wahlbeteiligung ist von 2002 auf 2005 bundesweit zurückgegangen, wobei sie in nahezu allen westdeutschen Regionen sank und umgekehrt in nahezu allen ostdeutschen Regionen stieg. Zugleich stieg auch der Anteil ungültiger Stimmen. Eine Korrelationsanalyse ergab, dass es einen deutlichen Zusammenhang zwischen der Höhe der Arbeitslosigkeit und der Wahlabstinenz gibt. Die Legitimation der parlamentarischen Demokratie nimmt ab, wenn das politische System die als zentral empfundenen Fragen, vor allem die Arbeitslosigkeit, nicht beantworten kann und keine Lösungen findet. Noch deutlicher wird in Westdeutschland der Zusammenhang, wenn man in die Analyse nicht nur die „Nichtwähler“, sondern auch die Wähler der als Fundamentalopposition angetretenen „Linkspartei“ einbezieht. Anmerkungen 1 2 3 Vgl. Statistisches Bundesamt (Hrsg.), Datenreport 2004, Bonn 2004, S. 652 Vgl. Lothar Eichhorn, Arbeitslosigkeit und Wahlbeteiligung in regionaler Sicht, Statistische Monatshefte Niedersachsen, Heft 12/ 2004, Hannover 2004, S. 640-642. Vgl. Fußnote 2; Untersuchung und Methode sind im Prinzip gleich, 2002 wurde aber die Arbeitslosenquote im Jahresdurchschnitt herangezogen, 2005 die des Wahlmonats September. Der Jahresdurchschnitt stand für 2005 nicht zur Verfügung. Außerdem wurde Berlin 2002 noch dem Westen zugeordnet. Entgegengesetzter Verlauf in Ost und West Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und Wahlbeteiligung Über Statistik: Es stimmt nicht, dass Statistiker festgestellt haben, die Charaktere von Politikern ließen sich auf zwei Grundmuster reduzieren: Die einen wollten die Prioritäten gleichmäßig verteilen und die anderen versprächen allen ein überdurchschnittliches Einkommen. 39 Plädoyer für ein anderes Wahlrecht – Regierbarkeit erhalten Mehrheitswahl statt Königsmacher Gerd Strohmeier, Passau Deutsche Verhältnisse in Österreich? Bessere Regierbarkeit 40 Immer wieder ist im Rahmen der Nationalratswahl in Österreich vor „deutschen Verhältnissen“ gewarnt worden – eben davor, dass die großen Parteien trotz eines klaren „Lagerwahlkampfs“ gezwungen sind, eine Große Koalition zu bilden, die sich dann weniger als „Große Reformkoalition“, sondern mehr als „Große Krisenkoalition“ erweist. Die aktuelle Lage in Österreich erinnert stark an die Situation nach der Bundestagswahl 2005, bei der das deutliche Einziehen der „Linken“ in den Bundestag sowohl eine rot-grüne als auch eine schwarz-gelbe Koalition verhinderte und letztlich eine schwarz-rote Koalition erzwang. Hätten sich CDU/CSU und SPD (wie einige Zeit zu erwarten) nicht auf eine Große Koalition einigen können, wäre es entweder zu einer höchst instabilen Dreiparteienkoalition, einer kaum handlungsfähigen Minderheitsregierung oder sofortigen Neuwahlen (mit vermutlich ähnlichem Ausgang) gekommen. Mit anderen Worten: Deutschland bewegte sich an der Grenze zur Unregierbarkeit – eine Grenze, die nun in kürzester Zeit wieder erreicht und sogar überschritten werden kann. Die schlechte Regierbarkeit und niedrige Reformfähigkeit haben eine Ursache: die Verhältniswahl. Verhältniswahlsysteme verfolgen – über die Wahl von Parteilisten – das Ziel, die bei der Wahl zum Ausdruck gebrachten parteipolitischen Präferenzen der Wähler möglichst exakt im Parlament abzubilden. So erhält z.B. eine Partei für 20% der Wählerstimmen in etwa auch 20% der Parlamentsmandate. Da eine Partei in der Regel keine absolute Mehrheit der Wählerstimmen gewinnt, hängt die Regierungsbildung meist von einer Koalitionsbildung ab. Mehrheitswahlsysteme verfolgen – über die Wahl in Einerwahlkreisen – das Ziel, einer Partei eine absolute Parlamentsmehrheit zu sichern. So erhält z.B. eine Partei für eine relative Mehrheit der Wählerstimmen in der Regel eine absolute Mehrheit der Parlamentsmandate. Auf diese Weise begünstigt die Mehrheitswahl, was die Verhältniswahl behindert: dass eine Partei allein die Regierung stellen und ihr Wahlprogramm umsetzen kann. Infolgedessen führt die Mehrheitswahl in der Regel zu einer besseren Regierbarkeit, höheren Reformfähigkeit sowie in der Folge zu einer größeren Verlässlichkeit und Verantwortlichkeit bzw. Zurechenbarkeit (politischer Entscheidungen) – nach der weit verbreiteten Meinung jedoch auch zu einer größeren Ungerechtigkeit als die Verhältniswahl. Schließlich erhält bei der Mehrheitswahl in der Regel eine große Partei ohne absolute Mehrheit der Wählerstimmen eine absolute Mehrheit der Parlamentsmandate – und zwar hauptsächlich zulasten kleiner Parteien, die sich in den Einerwahlkreisen meist nicht durchsetzen können. Aus diesem Blickwinkel erscheint die Mehrheitswahl als ungerecht. Aber ist die Verhältniswahl gerecht? Ist ein Wahlsystem gerecht, das zu einer Regierung führt, die per Koalitionsvertrag hinter dem Rücken der Wähler, ja sogar gegen den Willen der Wähler gebildet wird? So haben z.B. bei der Bundestagswahl 2005 35,2% die CDU/ CSU und 34,2% die SPD gewählt, allerdings nicht 69,4%, sondern nur 35% der Wähler eine Große Koalition gewollt. Ist ein Wahlsystem gerecht, das die großen Parteien zur Bildung eines „Machtkartells“ zwingt? So ist eine Regierung in Form einer Großen Koalition, die vom Wähler nicht gewählt wurde, nicht gewollt ist und nicht abgewählt werden kann, nur schwer mit demokratischen Grundsätzen zu vereinbaren. Ist ein Wahlsystem gerecht, das kleine Parteien in die Position eines mächtigen „Königsmachers“ bzw. übermächtigen „Mitregenten“ bringt? So hatte z.B. die FDP zur Zeit der sozialliberalen Koalition (1969 – 1982) nur zwischen 5,8% und 10,6% der Wählerstimmen, damit jedoch stets einen weitaus größeren Anteil an Kabinettsmitgliedern, politischer Gestaltungskraft und politischer Verhinderungsmacht – sowie letztlich sogar (wie der Stadtforschung und Statistik 1/ 07 DER REGISTERGESTÜTZTE ZENSUS 2011 Regierungswechsel von 1982 zeigt) die Möglichkeit, einen Regierungswechsel in Form eines Partnerwechsels (d.h. während der Wahlperiode bzw. ohne erneutes Wählervotum) herbeizuführen. Ist ein Wahlsystem gerecht, bei dem eine Partei die Mehrheit der Wählerstimmen gewinnt, schlussendlich jedoch die Wahl – mangels Koalitionsoptionen – verliert? So wurde z.B. bei der Bundestagswahl 1976 die Wahl eindeutig von der CDU/CSU (48,6% der Wählerstimmen; + 3,7%) gewonnen, jedoch die Regierung von den beiden Wahlverlierern, der SPD (42,6% der Wählerstimmen; - 3,2%) und der FDP (7,9% der Wählerstimmen; - 0,5%), gestellt. Was sind die (ernsthaften) Optionen nach der nächsten – vielleicht schon bald stattfindenden – Bundestagswahl? Erstens: erneut eine Große Koalition, die letztlich weder von der CDU/CSU noch von der SPD noch von deren Wählern (mehrheitlich) angestrebt wird. Zweitens: eine „Kleine Koalition“, in der der Einfluss der kleinen Regierungspartei definitiv nicht klein, sondern – gemessen an ihren Wählerstimmen – überproportional groß ist, und die möglicherweise den eigentlichen Wahlgewinner zum faktischen Wahlverlierer macht. Aus diesem Blickwinkel braucht Deutschland die Mehrheitswahl: wegen des Arguments der besseren Regierbarkeit, wegen des Arguments der höheren Reformfähigkeit und wegen – nicht trotz – des Arguments der größeren Gerechtigkeit. Zu empfehlen wäre konkret die Mehrheitswahl mit proportionaler Zusatzliste, da diese – im Gegensatz zur „klassischen Mehrheitswahl“ – nicht nur die Bildung einer Einparteienregierung, sondern auch die parlamentarische Repräsentation kleiner Parteien fördert. Die Große Koalition hätte jetzt die Möglichkeit, die Mehrheitswahl einzuführen – und damit dafür zu sorgen, dass sich die „deutschen Verhältnisse“ von abschreckenden Verhältnissen zu vorbildhaften Verhältnissen entwickeln. Höhere Reformfähigkeit Mehrheitswahlrecht ist jetzt möglich Neuer Versuch – Neuer Weg – Neue Daten Der registergestützte Zensus 2011 Simon Buhl, Düsseldorf Die Europäische Kommission bereitet derzeit einen Entwurf für eine „Verordnung über Volks- und Wohnungszählungen“ vor, die als dauerhafte, verbindliche Rechtsgrundlage geplant ist. Als Termin für die nächste europaweite Zensusrunde ist 2010/2011 vorgesehen. Das Bundeskabinett hat am 29. August 2006 beschlossen, dass sich Deutschland an dieser EU-weiten Volkszählungsrunde mit einem registergestützten Verfahren beteiligen wird. Die heutigen amtlichen Bevölkerungszahlen beruhen auf den Zahlen der letzten Volkszählungen und den seitdem erfolgten Fortschreibungen um Geburten und Sterbefälle sowie um die von den Gemeinden gemeldeten Zu- und Fortzüge. Die letzte Volkszählung fand im Westen Deutschlands 1987, im Osten Deutschlands 1981 statt; somit stellen derzeit 19 bzw. 25 Jahre alte Bevölkerungszahlen die Basis der Bevölkerungsfortschreibung und letztlich auch der amtlichen Einwohnerzahl dar. Die ebenfalls darauf aufbauenden Zahlen zum kommunalen Finanzausgleich, zur Abgrenzung von Wahlkreisen, die Angaben über die Altersstruktur und die Erwerbsbeteiligung der Bevölkerung werden im Laufe der Zeit ständig ungenauer; gleichwohl bilden sie Stadtforschung und Statistik 1/ 07 u.a. eine wichtige Grundlage für politische Entscheidungen. Bedenkt man außerdem, dass in die Zeit seit der letzten Bestandsaufnahme der Bevölkerung noch Ereignisse wie die Wiedervereinigung Deutschlands, die Öffnung der innereuropäischen Grenzen und die EU-Osterweiterung fielen, so erscheint eine Aktualisierung der europäischen und insbesondere der deutschen Bevölkerungszahlen dringend geboten. Verbindliche Rechtsgrundlage Entwicklungen seit 1987 Die letzte Volkszählung in der Bundesrepublik Deutschland fand im Jahr 1987 statt, nach41 DER REGISTERGESTÜTZTE ZENSUS 2011 Alternativen zur traditionellen VZ Verschiedene Modelle Mildere Mittel 42 dem sie eigentlich für das Jahr 1983 vorgesehen war. Das „Volkszählungsurteil“1 des Bundesverfassungsgerichts 1983 stoppte jedoch die ursprünglichen Pläne, sodass die Zählung erst 1987 durchgeführt werden konnte, nachdem sie auf eine neue – gemäß dem Volkszählungsurteil verfassungsmäßige – gesetzliche Grundlage gestellt worden war. Das Urteil von 1983 hatte allerdings nicht nur Konsequenzen für die Volkszählung in den 1980er Jahren. Mit dem Urteil wurden grundlegende Entscheidungen getroffen, die seitdem bei der Planung von Volkszählungen bzw. Zensen in Deutschland von der amtlichen Statistik zu berücksichtigen sind. Beispielhaft sei hier die Forderung an den Gesetzgeber genannt, sich vor einer erneuten Volkszählung mit dem „Stand der Methodendiskussion auseinandersetzen…, um festzustellen, ob und in welchem Umfang die herkömmlichen Methoden der Informationserhebung und -verarbeitung beibehalten werden können.“2 Die Richter forderten, dass die amtliche Statistik für zukünftige Zählungen nach „milderen Mitteln“ gegenüber einer Totalerhebung suchen sollte. Ein zentraler Aspekt des Volkszählungsurteils war zudem das Rückspielverbot, das es untersagt, Einzeldaten aus dem abgeschotteten Statistikbereich an andere staatliche Behörden weiterzugeben. Dadurch konnten in der Zählung 1987 festgestellte Fehler in den Einwohnermelderegistern nicht korrigiert werden, was insbesondere Auswirkungen auf die späteren Überlegungen zu alternativen Zensusmodellen hatte, die Registerdaten der öffentlichen Verwaltung nutzen wollten. Bereits 1991 wurden im Rahmen des „5. Wiesbadener Gesprächs“ zu dem Thema „Volkszählung 2000 – oder was sonst?“ erste Überlegungen zu Alternativen gegenüber einer traditionellen Volkszählung angestellt, u.a. auch zu Auswertungen der Melderegister. Die ausschließliche Nutzung der Register wurde allerdings als problematisch angesehen. Dagegen sprachen der unzureichende Datenkranz, die als zu hoch eingeschätzten Registerfehler und nicht zuletzt die Tatsache, dass die Melderegister von den Gemeinden selbst beeinflusst werden können. Von 1992 bis 1995 wurden durch die Arbeitsgemeinschaft „Künftige Zensen“3 verschiedene Zensusmodelle geprüft; u.a. auch solche, bei denen zuvor eine Registerbereinigung hätte stattfinden sollen. Aufgrund der damaligen Erkenntnisse sprach sich die amtliche Statistik 1995 für eine Kombination aus Vollerhebung und Stichprobe im Rahmen zukünftiger Zensen aus. 1996 wurde von Eurostat ein Vorentwurf einer Zensus-Verordnung vorgelegt. Dieser wurde von der damaligen Bundesregierung ebenso abgelehnt wie die Durchführung einer klassischen Volkszählung; eine solche hielt man aufgrund der zu hohen Kosten und der befürchteten Akzeptanzprobleme in der Bevölkerung als nicht durchführbar. Auf Drängen Deutschlands legte Eurostat statt einer Verordnung nur „Leitlinien für das gemeinschaftliche Programm der Volks- und Wohnungszählung im Jahre 2001“4 vor; diese wurden 1997 im Ausschuss für das Statistische Programm der EU gebilligt. Die Leitlinien wa- ren jedoch nicht rechtsverbindlich sondern ein „Gentlemen’s Agreement“ und so waren Deutschland und Schweden die einzigen EU-Mitglieder, die sich nicht an der EU-weiten Zensusrunde der Jahre 2000/ 2001 beteiligten. Da die Durchführung einer traditionellen Zählung somit aus politischen Gründen nicht mehr möglich war, wurde 1997 in Deutschland die Arbeitsgruppe „Gemeinschaftsweiter Zensus 2001“5 eingerichtet, um die Arbeiten an den damaligen Konzepten der verschiedenen Modelle zur Ersetzung eines traditionellen Zensus fortzusetzen. Ein erstes Modell für einen registergestützten Zensus wurde von der AG 1998 vorgestellt. Die Komplexität des Modells und die Unsicherheit über die Qualität der Melderegister machten jedoch Tests notwendig. Ein solcher „Zensustest“ wurde schließlich im Jahre 2001 durchgeführt.6 In ihm wurden die Verfahren, die bei einem registergestützten Zensus zum Einsatz kommen sollten, getestet und die Qualität der Melderegister sollte ebenso beurteilt werden wie die Validität der Daten aus den verschiedenen untersuchten Quellen. Auf Grundlage der Erkenntnisse aus dem Zensustest wurde das Modell für einen registergestützten Zensus in Deutschland von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder in der Folgezeit weiterentwickelt. Das aktuelle Modell Das Modell für einen registergestützten Zensus besteht aus unterschiedlichen Bausteinen. Grundlage bilden verschiedene existierende Registerdaten der öffentlichen Verwaltung und Stadtforschung und Statistik 1/ 07 DER REGISTERGESTÜTZTE ZENSUS 2011 einige primärstatistische Elemente, die mittels geeigneter Verfahren verknüpft werden. Einen Überblick über die verwendeten Datenquellen und den Ablauf im Modell gibt Abbildung 1. Beim Zensus 2011 ist vorgesehen, Daten aus folgenden Quellen zusammenzuführen: • Melderegisterauszüge sämtlicher gemeldeten Personen aller Gemeinden, • Daten aus erwerbsstatistischen Registern (Daten der Bundesagentur für Arbeit über sozialversicherungspflichtig Beschäftigte, Arbeitslose sowie die Daten von Gebietskörperschaften und sonstigen Behörden über Beamte, Richter etc.), • Gebäude- und Wohnungsdaten aus einer postalischen Befragung der rund 17,5 Mio. Gebäude- und Wohnungseigentümer, • Daten aus einer ergänzenden Haushaltsstichprobe bei ca. 8 % der Bevölkerung sowie • Registerauswertung oder Datenerhebung bei Verwaltern oder Bewohnern von Sondergebäuden wie Gemeinschaftsunterkünften, Anstalten, Wohnheimen und ähnlichen Einrichtungen (für ca. 2 Mio. Personen). Die Melderegistereinträge werden zunächst anhand einer zweiten Melderegisterlieferung, die ca. vier Monate nach dem Zensusstichtag erfolgt, um temporäre Fehler bereinigt (z.B. nachträgliche Ummeldung nach einem Umzug oder Anmeldung vor dem Stichtag Geborener erfolgt erst nach dem Stichtag). Um Doppelzählungen bei einem registergestützten Zensus zu vermeiden, wird der gesamte Regis- Abbildung 1 terbestand auf Mehrfachfälle untersucht und korrigiert. Hierbei können auch Fälle festgestellt und bereinigt werden, bei denen Personen nur mit Nebenwohnsitz, aber nicht mit Hauptwohnsitz gemeldet sind. Den Personen in dem bereinigten Melderegisterbestand werden anschließend Erwerbsangaben zugeordnet, sofern für sie ein entsprechender Datensatz aus den o.g. erwerbsstatistischen Registern vorliegt. Da für die Selbstständigen und andere Erwerbsbeteiligte, wie mithelfende Familienangehörige, keine flächendeckenden Register bestehen, werden die erwerbsstatistischen Merkmale für diesen Personenkreis im Rahmen der Haushaltsstichprobe ermittelt. Angaben zur Erwerbstätigkeit nach dem Konzept der International Labour Organization (ILO), wie sie von der EU gefordert werden, müssen ebenfalls in der Haushaltsstichprobe erhoben werden. Mit Hilfe der Daten aus den Melderegistern und der Befragung der Gebäude- und Wohnungseigentümer werden dann anhand verschiedener Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Kriterien Personen zu Haushalten zusammengeführt und Wohnungen zugeordnet. Die ergänzende Stichprobenerhebung dient in dem Modell zwei Zielen. Zum einen werden mit ihr Fehler in den Melderegistern identifiziert (Überoder Untererfassungen), diese werden gemeindeweise hochgerechnet und schließlich (statistisch) korrigiert. Die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder haben sich dafür ausgesprochen, diese Korrekturen insbesondere in Gemeinden über 10.000 Einwohner durchzuführen. Ausschlaggebend dafür waren die Erkenntnisse aus dem Zensustest von 2001, in dem festgestellt wurde, dass die Fehlerrate der Melderegister mit zunehmender Gemeindegröße ansteigt. Die vergleichsweise kleinen Gemeinden weisen demzufolge genauere Melderegister auf; ein Vorgehen wie in den größeren Gemeinden wäre hier im Verhältnis zum Nutzen zu teuer und zu aufwändig.7 Zum anderen ist die ergänzende Stichprobe notwendig – und dies unabhängig von der Gemeindegröße –, um Daten Ansteigende Fehlerrate 43 DER REGISTERGESTÜTZTE ZENSUS 2011 Zensustest Abbildung 2 44 zu Merkmalen zu erheben, für die keine Angaben aus Registern vorliegen. Dies ist zum Beispiel bei Informationen zur Bildung oder Ausbildung der Bürgerinnen und Bürger der Fall oder – wie bereits erwähnt – bei erwerbsstatistischen Angaben zu Selbstständigen. Wie der Zensustest gezeigt hat, sind die Fehlerraten der Melderegister bei Sondergebäuden, wie zum Beispiel bei Gemeinschaftsunterkünften, Anstalten oder Wohnheimen, sehr hoch. Aufgrund dieser Tatsache werden diese Bereiche gesondert behandelt, um die Fehlerraten durch eine gezielte Erhebung zu minimieren. Zu den Sondergebäuden zählen auch die sog. sensiblen Bereiche, wie bspw. Justizvollzugsanstalten oder Obdachlosenunterkünfte, für die die Daten anonym erhoben werden müssen. Ein weiterer Bereich, der zu den Sondergebäuden zu zählen ist, sind die Gebäude, die von Angehörigen ausländischer Streitkräfte, diplomatischer und berufskonsularischer Vertretungen bewohnt werden. Dieser Personenkreis ist – internationalen Regelungen folgend – beim Zensus nicht zur Wohnbevölkerung Deutschlands zu zählen. Im Ergebnis der Zusammenführungen der verschiedenen Bausteine des registergestützten Zensus erhält man den zensustypischen Datensatz, mit dem verschiedene räumlich und fachlich gegliederte Auswertungen vorgenommen werden können. Ergebnisse 2011 Die Ergebnisse des Zensus 2011 liefern Informationen über die demografische und sozioökonomische Struktur der Bevölkerung, der Erwerbstätigen, der Haushalte und Familien. Daneben werden gleichzeitig auch Daten zu Gebäuden und Wohnungen ausgewiesen, die sich teilweise auch in Verbindung mit den zuvor genannten personenbezogenen Merkmalen kombinieren lassen. Die räumliche und fachliche Gliederung der auszuweisenden Ergebnisse des Zensus 2011 werden sich in erster Linie an den Vorgaben der EUVerordnung orientieren. Dort werden einige Kernmerkmale aufgeführt sein, die in einer bestimmten räumlichen und fachlichen Gliederung ausgewiesen werden müssen. Einen Überblick darüber, in welcher Differenzierung sich die Ergebnisse mit dem Modell des registergestützten Zensus darstellen lassen, gibt Abbildung 2. Aufgrund der verschiedenen Quellen, die im registergestützten Zensus genutzt werden, muss bei der Betrach- tung der Ergebnisse eine Differenzierung erfolgen. So liegen die primärstatistisch ermittelten Gebäude- und Wohnungsangaben wie bei einem herkömmlichen Zensus vor und lassen auch kleinräumliche Auswertungen zu. Anders verhält es sich dagegen bei den demografischen Daten, den Haushaltsdaten und den erwerbsstatistischen Angaben, die auf Registern basieren. Aufgrund der Ungenauigkeiten der zugrunde liegenden Register können unterhalb der Gemeindeebene Verzerrungen auftreten. Auf der Gemeindeebene entsprechen die Ergebnisse in ihrer Qualität denen eines herkömmlichen Zensus, wenn es sich um Gemeinden über 10.000 Einwohner handelt. Wie bereits im vorherigen Abschnitt erwähnt, werden in diesen Gemeinden die im Rahmen der Stichprobe aufgedeckten Registerfehler hochgerechnet und gemeindeweise korrigiert. In den Gemeinden unter 10.000 Einwohner kommt dieses Verfahren nicht zum Einsatz, was aufgrund der tendenziell höheren Qualität der Register auch nicht notwendig ist.8 Erwerbsstatistische Angaben, die nicht in Registern vorhanden sind (Selbstständige, mithelfende Familienangehörige, Erwerbstätigkeit nach ILOKonzept), Angaben zu Berufen, zum Bildungsstand und zur Pendlerstruktur müssen komplett im Rahmen der Stichprobe erhoben werden. Daher sind Ergebnisse auf Gemeindeebene nur für solche ab 10.000 Einwohner verfügbar. In Gemeinden unter 10.000 Einwohner werden diese Merkmale ebenfalls im Rahmen der Haushaltsstichprobe erhoben, allerdings mit einem reduzierten Stichprobenumfang. Daher können die Ergebnisse für die Stadtforschung und Statistik 1/ 07 DER REGISTERGESTÜTZTE ZENSUS 2011 „kleinen Gemeinden“ nur auf Kreisebene ausgewiesen werden.9 Die aufgezeigten fachlichen und räumlichen Gliederungsmöglichkeiten der Ergebnisse stellen letztlich einen Kompromiss aus den Forderungen verschiedener Interessengruppen dar. Sie sind das Ergebnis der methodischen Entwicklungen am Modell des registergestützten Zensus unter der Nebenbedingung der Forderungen nach möglichst hoher Ergebnisqualität und -akzeptanz, bei gleichzeitig möglichst geringen Kosten und möglichst geringer Belastung der Bürger durch Befragungen. Ausblick und Fazit Nach dem Beschluss des Bundeskabinetts vom August 2006, dass sich Deutschland an der 2010/2011 EU-weiten Volkszählungsrunde mit einem registergestützten Verfahren beteiligen wird, müssen nun die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Durchführung des Zensus im Jahr 2011 geschaffen werden. Dazu ist zunächst ein Zensusvorbereitungsgesetz für das Jahr 2007 geplant, in dem der Aufbau eines Adress- und Gebäuderegisters durch die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder ermöglicht wird. Dieses Register dient im eigentlichen Zensus als Adressleitband und Organisationsdatei, als Grundgesamtheit für die Stichprobenziehung und zur Vollzähligkeitsprüfung für die verschiedenen Erhebungsteile. Daneben wird im ZensusVorG der Aufbau einer Gebäudeeigentümerdatei geregelt sein, die die Grundlage für die postalische Gebäudeund Wohnungszählung im Zensus bildet. Die bereits mehrfach erwähnte EU-Verordnung zur Zensusrunde 2010/2011 ist für 2008 geplant. Im Anschluss an deren Inkrafttreten wird dann mit einem nationalen Zensusanordnungsgesetz zu rechnen sein, in dem die konkrete Durchführung für 2011 geregelt sein wird. Nach dem Stichtag, der in Deutschland vermutlich in die erste Jahreshälfte 2011 fallen wird, werden ca. 1,5 bis 2 Jahre benötigt, um alle Daten zu erheben, zu verarbeiten und zusammenzuführen und schließlich Ende 2012/Anfang 2013 erste Ergebnisse präsentieren zu können, die in vielen Bereichen eine deutliche Verbesserung der Datenqualität darstellen werden: • Neuausrichtung der im Jahr 2011 auf 24 bzw. 30 Jahre alten Zahlen beruhenden Bevölkerungszahl, • Aktualisierung der Auswahlgrundlage und des Hochrechnungsrahmens für amtliche und nichtamtliche Stichprobenerhebungen, • detaillierte Angaben zu den Gebäuden und Wohnungen in Deutschland, • Gewinn an aktuellen – teilweise kleinräumlichen – Ergebnissen zu Haushalten, demografischen Merkmalen der Bevölkerung, zur Erwerbssituation abhängig beschäftigter Arbeitnehmer, • zusätzliche Informationen über den Anteil der Bevölkerung in Anstalten und Wohnheimen sowie • Informationen über die Qualität der Melderegister. Anmerkungen 1 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 BVerfG, 65,1 - Volkszählung vom 15. Dezember 1983, In: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.): Entscheidungen des 2 3 4 5 6 7 8 9 Bundesverfassungsgerichts. 65, S. 1-71. Vgl. hierzu und zum Folgenden: BVerfG, 65,1 - Volkszählung vom 15. Dezember 1983, In: Mitglieder des Bundesverfassungsgerichts (Hrsg.): Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. 65, S. 1-71. Diese Arbeitsgruppe setzte sich zusammen aus Vertretern der Statistischen Ämter des Bundes, der Länder und der Gemeinden sowie aus Vertretern der für die Melderegister zuständigen Ressorts. Der Abschlussbericht der Arbeitsgruppe ist zu finden in: Künftige Zensen in Deutschland. Ergebnisse der Untersuchung der Arbeitsgruppe „Künftige Zensen zu Inhalt und Methoden“, Hrsg.: Statistisches Bundesamt, Wiesbaden 1995. Leitlinien für die Volks- und Wohnungszählung 2001, verabschiedet durch den Ausschuss für das statistische Programm auf der 27. Sitzung am 26./27. November 1997 in Luxemburg. In der Arbeitsgruppe waren die Statistischen Ämter des Bundes und der Länder sowie Bundesressorts vertreten. Zur Methode und den Ergebnissen des Zensustests vgl. „Statistische Ämter des Bundes und der Länder: Ergebnisse des Zensustests“; Statistische Analysen und Studien Nordrhein-Westfalen, Band 17/ 2004, S. 28ff. In den Gemeinden unter 10.000 Einwohner sollen jedoch andere Korrekturmechanismen zum Einsatz kommen, die derzeit von den Statistischen Ämtern des Bundes und der Länder entwickelt werden. Vgl. Fußnote 7. Aufgrund der Tatsache, dass in den Gemeinden unter 10.000 Einwohner keine gemeindeweise Korrektur mittels der Stichprobenergebnisse vorgenommen wird, können die Ergebnisse bzgl. der demografischen Daten, den Haushaltsangaben und die erwerbsstatistischen Ergebnisse (ohne Selbstständige) daher Verzerrungen aufweisen. Inwiefern hier jedoch noch Möglichkeiten bestehen Kreisergebnisse dazu zu nutzen, um auch für die Gemeinden mit weniger als 10.000 Einwohnern Ergebnisse nachzuweisen, ist Gegenstand eines Forschungsauftrags. Dieser Forschungsauftrag ist vom Statistischen Bundesamt ausgeschrieben und hat zum Ziel, externen Sachverstand aus der Wissenschaft bei der Optimierung der Haushaltsstichprobe zu nutzen und die Möglichkeiten des Einsatzes sog. Small-Area-Verfahren im Zensus 2011 zu eruieren. Beschluss des Bundeskabinetts Zensusvorbereitungsgesetz 45 Volkszählung 2006 im bevölkerungsreichsten Land Afrikas 150 Mio. Einwohner in Nigeria? Volker Hannemann, Weyhe Historie Ungenauigkeiten und Manipulationen 130 Mill. oder 160 Mill. Einwohner 46 Die ehemalige britische Kolonie Nigeria in Westafrika ist seit 1960 unabhängig. In dieser Bundesrepublik kam es immer wieder zu Gewaltausbrüchen, Bürgerkriegen und Militärdiktaturen. Korruption, Repressionen, Entführungen, Wahlfälschungen sind an der Tagesordnung. Die jetzige (bereits) IV. Republik hat immer noch mit inneren Unruhen, häufig von militanten Bewegungen unterstützt, zu kämpfen. Ursachen dafür sind zu suchen in den bis zu 380 geschätzten unterschiedlichen Ethnien, in der Teilung in einen moslemischen Norden und einen christlichen und animistischen Süden und nicht zuletzt in der völlig unzureichenden Bekämpfung der Armut trotz reicher Erdölvorkommen. Nigeria ist das mit Abstand bevölkerungsreichste Land Afrikas, aber niemand kennt eine annähernd realistische Einwohnerzahl, obwohl Nigeria – leider überwiegend negative – Erfahrungen mit mehreren Volkszählungen hat. 1953 gab es einen ersten Versuch einer Volkszählung mit einer Bevölkerung von 31,6 Mio. Einwohnern. Politische Spannungen, Befürchtungen, dass die Zählung zu Steuerzwecken benutzt würde, logistische Probleme und unzureichend geschulte Zähler führten zu eine geschätzten Untererfassung von 10%. Die Ergebnisse der nächsten Zählung 1962 wurden wegen angeblicher Manipulationen und Übererfassung annulliert. Die Ergebnisse der Wiederholungszählung 1963 mit 55,6 Mio. Einwohnern wurden amtlich anerkannt, obwohl es auch hier zu Ungenauigkeiten, erheblichen Manipulationen und Übererfassungen zum Zwecke regionaler und lokaler politischer Macht kam. Dass die Ergebnisse nicht stimmen konnten, zeigt der Vergleich mit den Zahlen von 1953: ein jährliches Bevölkerungswachstum von 5,8% (auf regionaler Ebene sogar bis zu 13%) ist absolut unrealistisch! Im UN Demographic Yearbook wurde diese Zahl auf 46 Mio. verringert. Die Ergebnisse des nächsten Zensus von 1973 wurden nach heftigen kontroversen Debatten und Diskussionen schließlich annulliert. Der bisher letzte Zensus fand 1991 statt. Um mögliche Unruhen zu vermeiden, wurden Fragen nach Religion und Stammeszugehörigkeit aus den Erhebungsbögen gestrichen und die Öffentlichkeit umfassend informiert und aufgeklärt. An drei Tagen im November mussten die Einwohner von 6 bis 18 Uhr zu Hause bleiben, um von 800 000 Zähler befragt zu werden. Nach Veröffentlichung der Ergebnisse wurden diese vornehmlich von den bevölkerungsärmeren Bundesstaaten abgelehnt und nicht akzeptiert. Amtlich festgesetzt wurde schließlich eine Einwohnerzahl von 88,9 Mio. Vorbereitung In Nigeria wissen die Politiker um die Bedeutung von Einwohnerzahlen insbesondere in Bezug auf Infrastrukturpla- nung und finanzielle Mittelzuweisung. Fehlplanungen (z. B. hoffnungslos überlastete Telefon- und Stromleitungen) auf Grund unzutreffender Einwohnerzahlen werden allerorts beklagt. Verstärkt wurde dieser Effekt zu allen Zeiten zusätzlich durch übertriebene, unrealistische Bevölkerungsprognosen. So ergibt heute die Summe der für die einzelnen Bundesstaaten auf Grund von Prognosen (besser Schätzungen) mit der Basis 1991 angegebenen Bevölkerungszahlen eine Gesamtbevölkerungszahl von etwas mehr als 159 Mio., was jedoch weit über den Schätzungen vieler Statistiker von 130-135 Mio. Einwohnern liegt. Auch um belastbare Daten für die sozioökonomische Planung zu erhalten hatte Nigeria sich entschlossen, vom 21. – 25. März 2006 eine Volkszählung durchzuführen. Bereits in 2004 wurde eine Staatliche Bevölkerungskommission (NPOPC) gegründet, die den Masterplan für die geplante Zählung erarbeitete. Ein kritischer Punkt war die unverzügliche Bezahlung von rund 1,8 Mio. Zählern und Mitarbeitern in einem Land , das fast dreimal so groß ist wie die Bundesrepublik Deutschland und dabei 36 Bundessaaten und 774 örtliche Verwaltungseinheiten hat. Intensive internationale Verhandlungen haben dazu geführt, dass sich die EU mit 121,4 Mio. $ und das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen (UNDP) mit 104 Mio. $ an den Zählungskosten be- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 150 MIO. EINWOHNER IN NIGERIA? teiligten. Unterstützung kam auch von der Behörde für Internationale Entwicklung der USA (USAID), vom Bevölkerungsfond der Vereinten Nationen (UNFPA) und vom Amt für Internationale Entwicklung in Großbritannien (DFID). Der UNFPA hat stark für die Ausbildung von Trainern als Multiplikatoren unterstützt, insbesondere die Schulung von Personal für die anschließende Auswertung und Analyse der Zählungsergebnisse. 70 Journalisten wurden darin unterwiesen, wie man zweckmäßigerweise die Öffentlichkeit über den Zensus informiert. Aufklärung der Öffentlichkeit durch Zeitungen, Rundfunk, TV und Internet wurde intensiv vorbereitet. Auf kritische Fragen nach der Religions- oder Stammeszugehörigkeit wurde verzichtet, um Proteste und Unruhen zu vermeiden. „In den letzten zwei Jahren hat die Staatliche Bevölkerungskommission intensiv und nachhaltig mit allen unterstützenden Partnern, Bundesstaaten und örtlichen Verwaltungen zusammengearbeitet, um eine verlässliche Grundlage für eine genaue, zuverlässige und akzeptierte Zählung zu schaffen“, versicherte der Leiter der Kommission Anfang des Jahres. Verkehrsstaus – waren unheimlich still und frei von Bussen, Taxis und Privatautos. Dafür spielten jetzt dort Kinder lautstark Fußball. Früh am Tage versicherte Präsident Obasanjo landesweit im Rundfunk und Fernsehen, dass die Zählung ein Erfolg würde und kein Geheimplan dahinter stecken würde. Auch betonte er, das die Zählung nicht politisiert werden sollte und daher auch nicht zu einem Wettkampf um politische Macht führen dürfe, obwohl bei vorausgegangenen Zählungen das Vertrauen in den Sinn und Zweck gefehlt habe. Der Zensus diene allein dem Wohle aller und deshalb sei Ruhe nötig. Trotzdem wurden etliche Einwohner ungeduldig, weil sie nicht unverzüglich von den Zählern aufgesucht wurden. Auch gab es in einigen Gebieten Materialengpässe, woanders legten Zähler ihre Arbeit nieder, weil sie noch nicht bezahlt worden waren. Auch wurde beklagt, dass die ersten drei Zählungstage nicht - wie von vielen gefordert - zu nationalen freien Tagen erklärt worden waren. Unter Polizeischutz wurden viele Obdachlose gezählt. Vereinzelt wurden auch Zähler tätlich angegriffen. Die Polizei wurde angewiesen, Bevölkerungsansammlungen zu verhindern. Kurz vor der Zählung kam es zu Gewalttätigkeiten, bei denen 10 Personen getötet und zahlreiche verletzt wurden. Die Polizei verstärkte daraufhin die Sicherheitsmaßnahmen. Am ersten Tag wurden wieder neun Personen, darunter drei Polizisten, bei Unruhen getötet. Auch gab es sechs Verletzte, als Polizisten in eine Menschengruppe feuerten. Der Fragenkatalog beinhaltete Fragen zu Ausbildung, Beruf, Einkommen, Größe des Hauses, Wasserversorgung, Toiletten, Energieversorgung, Besitz von Radio, Telefon und TV. Die gewaltige logistische Herausforderung wurde von vielen thematisiert, aber die größeren Probleme befürchtete man nach Bekanntgabe der Ergebnisse. Allein 42 000 Kontrolleure beaufsichtigten die mehr als 1 Mio. Zähler, um eine korrekte Zählung sicher zu stellen. Sogar Esel und Kamele wurden für Zähler Trans- Polizeischutz 19 Tote Fragenkatalog Durchführung Schon am ersten Tag der Zählung, dem 21. März, glich Nigerias bedeutendste Stadt Lagos einer Geisterstadt, denn die Bevölkerung befolgte die Anordnung der Regierung, aus Anlass der Zählung in der Zeit von 8.00 Uhr bis 16.00 Uhr zu Hause zu bleiben. Alle Märkte, Geschäfte, Einkaufszentren, Restaurants, Tankstellen und Freizeitzentren hatten geschlossen. Die Straßen der Stadt – berüchtigt wegen der Stadtforschung und Statistik 1/ 07 47 MITGEZÄHLT portmittel in abgelegene Gebiete zur Verfügung gestellt. Neueste Technik, z. B. GPS und Satellitenaufnahmen kamen um Einsatz. Weil die Zählung schleppend begann, wurden schnell Stimmen von Zählern laut, die eine Verlängerung des Zählungszeitraumes forderten, um eine vollständige Erfassung der Personen zu gewährleisten. Am dritten Tag, dem 23. März gab Präsident Obasanjo bekannt, dass der Zensus um zwei Tage bis zum Montag verlängert würde. Auch warnte er, dass die Polizei entschlossen gegen jegliche Versuche, die Zählung zu stören oder zu behindern, vorgehen würde. Gleichzeitig appellierte er an alle Arbeitgeber, ihren Beschäftigten frei zu geben, damit sie gezählt würden. Viele kleine Kaufleute und Händler hatten sich darüber beschwert, dass sie keine Einnahmen mehr hätten. Am vierten Tag, dem 24. März kam es vermehrt zu Gewalttätigkeiten, wachsendem Aufruhr und 30 Festnahmen, weil die Zählung verlängert werden sollte. Die Polizei verstärkte ihre Patrouillen und Kontrolleinsätze. Die Volkszählung wurde am Montag, dem 27. März beendet. Ergebnisse Mit Spannung werden nun die Ergebnisse des Zensus erwartet. Angekündigt wurden sie für Ende 2006. Aber Ergebnisse von Volkszählungen waren in Nigeria immer problematisch, weil ethnische und reli- giöse Gruppen versuchten, größere Bevölkerungszahlen für sich zu reklamieren, um ein größeres Stück vom Kuchen der Erdöleinnahmen zu erhalten und über mehr politischen Einfluss zu verfügen. Hinzu kommt erschwerend, dass der muslimische Norden und der christliche und animistische Süden etwa gleich groß sind. Dennoch verspricht sich die Regierung belastbare Daten für ihre Entwicklungsstrategien und -politik in einem Land, wo die meisten Einwohner – trotz der enormen Öleinnahmen – in erbärmlicher Armut leben. Nun hat die staatliche Wahlkommission (INEC) angeregt, die Ergebnisse erst nach der für April 2007 geplanten Wahl zu veröffentlichen... VZ 87: Erst dagegen – dann ausgewertet Mitgezählt Klaus Marquardt, Herne Rechtsschutzfibel 48 Sie stehen noch in meinem Bücherregal: die “Rechtsschutzfibel zur Volkszählung” und der Ratgeber von Verena Rottmann und Holger Strohm, “Was Sie gegen Mikrozensus und Volkszählung tun können”. Ja, ich war dabei, bei den Volkszählungsgegnern, die gegen die Datensammelwut des Staates ihr grundsätzliches Misstrauen unters Volk streuten – na ja, was halt so dabei sein heißt, wenn man in der Universitätsstadt Göttingen überwiegend an seiner Diplomarbeit sitzt und in der Mensa im langen Stau vor Stammessen 2 oder Wahlessen 1 den flugblattverteilenden Kommilitonen nicht ausweichen kann. Zu der einen oder anderen Informationsveranstaltung mag ich auch hingegangen sein, doch das ist mir nicht mehr in Erinnerung. Reines Mitläufertum, so ganz ohne eigene widerständige Energie, kann’s aber auch nicht gewesen sein. Schließlich habe ich – wohl Anfang 1987 – strategisch wohlbedacht aus meinem zweiten Wohnsitz am Studienort meinen einzigen gemacht und meinen Eltern zuhause nicht einmal mehr einen Nebenwohnsitz gegönnt. Denn sie würden, so versicherten sie mir, pflichtbewusst alle notwendigen Angaben zum abwesenden Haushaltsmit- glied machen. Also: ernst war’s mir schon und auf die Abgabe meines Erhebungsbogens musste die Stadt Göttingen so lange warten, bis sie mir den Gerichtsvollzieher zur Vollstreckung des angedrohten Zwangsgeldes vorbei schickte. Das war mir zu teuer. Mit der – falschen – Angabe, ich wohnte nur zur Untermiete, konnte ich mich immerhin um das Ausfüllen des Wohnungsbogens drücken und kam mir dabei nach der Niederlage bei meiner Teilnahmeverweigerung wenigstens ein bisschen subversiv vor. Eine Diplomprüfung, zwei Jahre Berufstätigkeit bei einem entwicklungspolitischen Ver- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 MITGEZÄHLT ein, zwei Jahre Arbeitslosigkeit und anderthalb Kinder später erhielt ich bei der Stadt Herne eine ABM-Stelle: Auswertung der rückübermittelten Daten aus der Volkszählung 1987. Wie einem manchmal das Leben zuzwinkert. Einer Freundin in Berlin vermochte ich sogar zu begründen, dass mir die Ironie zwar bewusst sei, warum ich aber in meiner, schließlich auch manifest-materiellen Gründen geschuldeten, Entscheidung nicht wirklich einen Widerspruch zu meiner Haltung vier Jahre zuvor sehe. Wenn man sich mit der Auswertung der gesammelten Daten so viel Zeit lasse, könne es um die zugrunde liegenden staatlichen Motive nicht ganz so schlimm bestellt sein wie damals vermutet. – Ich konnte sie nicht wirklich überzeugen. Selbstverständlich hat allein der Rollenwechsel durch die Arbeit zunächst für die Statistikstelle, mittlerweile für die Stadtentwicklung meine Einschätzung des Instruments Volkszählung verändert. Aber auch wenn es mir gelänge davon zu abstrahieren, könnte ich dem Großteil meiner damaligen Argumente nicht mehr beistimmen. Ich will mich aber auch nicht von ihnen distanzieren, sie jugendlichem Überschwang oder politischer Unreife unterschieben. Die Volkszählungsgegner haben schließlich mit dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1983 die Formulierung eines Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung und die rechtliche Begründung für abgeschottete kommunale Statistikstellen initiiert, die den Gemeinden eine gewisse Teilhabe an der staatlichen Statistik erst ermöglichen. Wenn ihre Argumente auch überpointiert gewesen sind und den guten Aspekten von staatlicher und kommunaler Planung nicht gerecht wurden (es gibt auch schlechte), so ist ihre Sorge doch keineswegs inaktuell in unserer Zeit: in der die Verknüpfbarkeit aller gesammelten persönlichen Daten von allen Menschen keine technische Schranke mehr hat; in der ich täglich über 100 Spammails erhalte und mein PC dutzende Male von außen auf offene Ports gescannt wird; in der Millionen Kundinnen und Kunden vieler Einzelhandelsketten diesen für ein paar Rabattprozente einen umfassenden Einblick in ihre Konsumgewohnheiten gewähren; in der ein befreundeter Pfarrer, weil er in der falschen Straße wohnt, einen Privatkredit nur zu sehr schlechten Konditionen erhalten hätte, wenn es ihm nicht gelungen wäre, reputierliche Bürgen seiner Zahlungsfähigkeit aufzubieten; in der eine Hamburger Rechtsanwältin, die eigentlich am New-York-Marathon teilnehmen will, am JFK-Airport beiseite genommen und gefragt wird, wie sie denn zum Mandat bei einem PKK-Prozess gekommen sei, und, als sie die Auskunft mit Verweis auf die anwaltliche Schweigepflicht verweigert, den nächsten Retourflug nehmen muss. Ein bisschen mehr der damaligen Sensibilität täte gut. Auswertung der Herner Daten Sorge wegen der Datenverknüpfbarkeit Na ja, die Rechtsschutzfibel kann ich demnächst wirklich mal entsorgen … Über Statistik: „Mein Chef kommt auch ohne Statistiken aus.“ „Ach, muss der keine Entscheidungen fällen?“ Stadtforschung und Statistik 1/ 07 49 IRSI - Uni Siegen bietet an und sucht Partner: Erhebung und Auswertung räumlicher Daten Andreas Baumann, Karsten Stephan, Siegen Leicht zu bedienende Abfrage Kostenfreie Software Das „Informationssystem regionaler sozialwissenschaftlicher Indikatoren“ (IRSI) ist ein kostengünstiges und leicht zu bedienendes System zur Abfrage und Auswertung räumlich bezogener Daten. Es lässt sich über ein internes Netz oder das Internet verwenden. Es wurde an der Universität Siegen im Rahmen des Regionalforschungsprojektes ISIS (Informationssystem sozialwissenschaftlicher Indikatoren Siegen) in Kooperation mit der Stadt Siegen entwickelt und wird zur Regionalforschung und Stadtplanung eingesetzt. Mit IRSI lassen sich z.B. Daten zur Bevölkerung, zu Infrastruktureinrichtungen oder zu anderen spezifischen Themenbereichen nach beliebig gewählten räumlichen Einheiten (z.B. Stadtteile, statistische Bezirke, Straßen) zusammenstellen und auswerten, ohne dass die NutzerInnen dazu spezielle Kenntnisse der internen Datenbankstruktur haben müssen. Die Software basiert auf OpenSource-Komponenten und ist daher kostenfrei einsetzbar. IRSI ist ohne großen Aufwand (Zeit, Schulungen) auf andere Städte oder Kreise übertragbar. Das Projekt sucht derzeit Kooperationspartner, die das Informationssystem einsetzen wollen. Datenauswertung mit Raumbezug In der wissenschaftlichen Regionalforschung und der admi50 nistrativen Regionalplanung werden Informationen benötigt, die sich auf bestimmte räumliche Ebenen beziehen. In der Stadt Siegen sind dies neben Informationen, die sich auf das gesamte Stadtgebiet beziehen, auch solche zu Baublöcken, statistischen Bezirken, Straßenzügen, Stadtteilen oder anderen verwaltungstechnisch relevanten Gebietsebenen. Viele dieser Informationen liegen nicht auf der Ebene der räumlichen Einheit vor, auf der sie benötigt werden. Häufig lassen sich die zugrunde liegenden Daten aber von einer kleineren zu der gewünschten größeren Ebene zusammenfassen. Zum Beispiel lassen sich Daten, die auf der Adressenebene vorliegen, zu statistischen Bezirken oder zu Stadtteilen aggregieren. Diese Aggregationen, kombiniert mit zusätzlichen statistischen Auswertungen, können sehr zeitaufwändig sein und ist für datenbanktechnisch unbedarfte Personen kaum zu leisten. IRSI wurde entwickelt, um diesem Problem zu begegnen. Der Ansatz von IRSI verbirgt die skizzierte Komplexität des Problems vor den AnwenderInnen. Aufgrund der durch das System vorgeschlagenen und möglichen Auswertungen müssen diese lediglich das gewünschte Ergebnis einer Auswertung definieren. Die notwendigen Datenbankoperationen zur Generierung der Ergebnistabelle werden dann automatisch durchgeführt. Die AnwenderInnen haben dabei keinen Zugriff auf die Originaldaten. In den folgenden Abschnitten werden die praktische Anwendung und der technische Hintergrund des Systems näher erläutert. Anwendung des Informationssystems Der Zugang zu IRSI erfolgt mit einem Webbrowser über internes Netz oder das Internet. Vier Schritte sind notwendig: • Anmeldung und Authentifizierung • Auswahl der Gebietsebene mit Auswahl der Gebietseinheiten • Auswahl der zur Verfügung stehenden Informationen und Auswertungsfunktionen • Ausgabe der Ergebnistabelle Anmeldung und Authentifizierung Zur Anmeldung wird die Adresse des IRSI-Servers mit einem Web-Browser über eine verschlüsselte Verbindung angewählt. Der Zugang zum System erfolgt nur nach einer Authentifizierung mittels gültigem Anmeldenamen und Passwort. Über die Einrichtung von Nutzergruppen durch die Systemverwaltung kann auf Basis der Anmeldung festgelegt werden, welche Daten von wem ausgewertet werden dürfen. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 ERHEBUNG UND AUSWERTUNG RÄUMLICHER DATEN Auswahl der Gebietsebene Im zweiten Schritt wird anhand einer vorgegebenen Auswahlliste festgelegt, für welche Gebietsebene die Daten ausgewertet werden sollen (siehe (A) in Abbildung 1). Für die gewählte Gebietsebene können dann (B) entweder die Daten zu einer bestimmten Einheit (z.B. Bezirk „Stadtmitte“) oder die Daten zu allen Einheiten (z.B. „alle“ Bezirke der Stadt) angefordert werden. Im Beispiel werden Daten zu allen Stadtteilen ausgewertet. neriert werden können. Weiterhin werden nur die Auswertungsfunktionen angezeigt, die aufgrund der Art der Daten berechnet werden können. Die Berechnung des „Durchschnitts“ ist beispielsweise für die Variable Alter sinnvoll, nicht aber für die Variable Geschlecht. Generell kann das Informationssystem unter anderem folgende grundlegenden Auswertungsfunktionen anbieten: Zählen, Anteile in Prozent, Summe, Durchschnitt, Standardabweichung. Auswahl der Auswertungsfunktionen Sind Gebietsebene und Gebietseinheiten gewählt, ermittelt das Informationssystem die zur Verfügung stehenden Daten mit den möglichen Auswertungsfunktionen und bietet diese zur Auswahl an. Folgende Auswahlen müssen getroffen werden (siehe Abbildung 1): (C) Freie Benennung der Ergebnisspalte, (D) Objektklasse, (E) Objekteigenschaft, (F) Gültigkeitszeitraum der Daten und (G) Auswertungsfunktion mit (H) eventueller Kategorieangabe. So wird in der vierten Zeile des Beispiels eine Spalte der Ergebnistabelle mit der Überschrift „Anteil Frauen“ angefordert, die den Anteil der Frauen in Prozent im Jahr 2003 beinhalten soll. Dazu ist als Objektklasse der Eintrag „Person“ auszuwählen, als Objekteigenschaft „Geschlecht“, im Zeitfeld das Jahr „2003“, als Auswertungsfunktion „Anteil in %“ und als Kategorieangabe die Eigenschaft „W“ (=weiblich). Ausgabe der Ergebnistabelle Anhand der festgelegten Definition generiert IRSI intern die benötigten Datenbankabfragen und erzeugt die angeforderte Ergebnistabelle in einer HTML-Ansicht (siehe Abbildung 2). Diese kann durch ein- faches „Kopieren und Einfügen“ in Textverarbeitungsprogramme (MS Word, OpenOffice Writer) und in Tabellenkalkulationsprogramme (MS Excel, OpenOffice Calc) übernommen werden. Zusätzlich besteht die Möglichkeit, die Ergebnistabelle in gängige Dateiformate (z.B. CSV) zu exportieren. Weiterhin können die NutzerInnen die Ergebnistabelle lokal speichern. Komplexe Abfragezusammenstellungen können hierdurch standardisiert und leicht verändert wiederholt werden. Interne Datenbankstruktur Alle Informationen des Systems werden in einer MySQL Datenbank gespeichert. Abb. 1: Eingabemaske zur Definition der Ergebnistabelle Im Verlauf der Definition der Ergebnistabelle bietet IRSI nur diejenigen Daten an, die für die gewünschte Gebietsebene zur Verfügung stehen oder geStadtforschung und Statistik 1/ 07 51 ERHEBUNG UND AUSWERTUNG RÄUMLICHER DATEN Abb. 2: Ergebnistabelle Abb. 3: Beispielausschnitt der Gebietszuordnungstabelle Grundsätzlich wird zwischen Datentabellen und Verwaltungstabellen unterschieden. Die Datentabellen enthalten die eigentlichen Daten und deren Zuordnung zu den räumlichen Einheiten. Das bisher erläuterte Auswertungsbeispiel (siehe Abbildung 1) greift intern auf drei Datentabellen zurück. Diese enthalten auf der Adressenebene folgende Informationen: ‚Bevölkerung 2004‘ mit dem Feld ‚Alter‘, ‚Bevölkerung 2003‘ mit dem Feld ‚Geschlecht‘ und ‚Schulen 2003‘ mit dem Feld ‚Schülerzahl‘. 52 Wenn die Informationen auf Adressenebene vorliegen, ist eine räumliche Aggregation und eine Auswertung der Daten auf allen übergeordneten Gebietseinheiten (wie Straße, Baublock, statistischer Bezirk, Stadtteil, Stadt) möglich. Die Verwaltungstabellen organisieren die räumliche Zuordnung und das Anbieten der möglichen Auswertungsfunktionen während der Definition der Ergebnistabelle. Als eine wichtige Verwaltungstabelle ist die Gebietszuordnungstabelle zu nennen (siehe Abbil- dung 3). Ausgehend von Adressen (Straße, Hausnummer, Buchstabe) erfolgt in dieser Tabelle die räumliche Zuordnung der Einheiten zu den höheren Gebietsebenen. Im Siegener Informationssystem wird beispielsweise jeder Adresse die Nummer des entsprechenden Baublocks, die Nummer des statistischen Bezirks, die Nummer des Stadtteils usw. zugeordnet. Die Gebietszuordnungstabelle kann jederzeit verändert oder erweitert werden: So können neue Gebietsebenen ergänzt werden. IRSI integriert diese dann automatisch in das Auswertungssystem. Weiterhin kann durch dieses Konzept IRSI ohne großen Aufwand um übergeordnete Ebenen erweitert werden: z.B. die Kreisebene als höchste Ebene statt der Stadtebene wie im Siegener System. Als eine weitere wichtige Verwaltungstabelle stellt die Inhaltstabelle quasi das Inhaltsverzeichnis des Informationssystems dar. Dort werden die in den Datentabellen enthaltenen Daten beschrieben und damit für das Informationssystem zugänglich gemacht. Neue, in das Informationssystem aufgenommene Datentabellen, stehen dann sofort für die Auswertung zur Verfügung. Das Einstellen der Daten erfordert somit keinen Programmieraufwand, da lediglich die Inhaltstabelle erweitert werden muss. Insgesamt erlaubt die Gesamtkonzeption des Systems auf der Grundlage von Datentabellen, Gebietszuordnungstabelle und Inhaltstabelle eine Übertragung auf andere Städte und Regionen ohne großen Aufwand. Neben dem Einstellen der Datentabellen müssen dazu lediglich die Gebietszuordnungstabelle und die Inhaltstabelle neu er- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 SERVUS BRUNO stellt werden. Das Informationssystem steht dann sofort zur Verfügung. Technische Umsetzung Die technische Umsetzung von IRSI basiert auf php-Programmen, die über einen Apache Webserver auf eine MySQLDatenbank zugreifen. Die Originaldaten verbleiben daher geschützt auf dem zentralen Server. Lediglich die Auswertungsergebnisse werden über das Netz übermittelt. Das Siegener System läuft auf Linux-Servern (Debian Sarge) der Universität Siegen. Ein Einsatz unter MS Windows ist ebenfalls problemlos möglich. Exkurs: IRSI und GIS Räumliche Auswertungen, wie sie mit IRSI erzeugt werden können, lassen sich ebenfalls mit Geographischen Informationssystemen (GIS) erstellen. Die Auswertungsmöglichkeiten von IRSI stellen dabei nur einen kleinen Teil der Möglichkeiten Geographischer Informationssysteme dar. Dennoch bietet der IRSI-Ansatz mehrere Vorteile: • IRSI ist sehr einfach zu bedienen und stellt vorbereitete Auswertungsfunktio- nen zur Verfügung. Der Einsatz von GIS-Software erfordert hingegen wesentlich mehr Fachwissen und Einarbeitungszeit. • Viele Städte bzw. Kreise besitzen bereits die für IRSI zentrale Gebietszuordnungstabelle, so dass ein entsprechendes System sehr schnell implementiert werden kann. • IRSI und GIS schließen sich nicht aus. Auf der einen Seite können die Möglichkeiten Geographischer Informationssysteme im Rahmen des IRSI-Ansatzes genutzt werden. Beispielsweise können neu zu erstellende räumliche Einheiten mit einem GIS definiert und in der von IRSI benötigten Tabellenform verwendet werden. Umgekehrt lassen sich mit IRSI gewonnene Ergebnisse mittels GIS weiterverarbeiten, etwa um thematische Karten zu zeichnen. • Die IRSI Software ist kostenfrei und die IRSI Komponenten basieren ausnahmslos auf Open-Source. Seit einigen Jahren werden zwar ebenfalls offene, lizenzkostenfreie GIS-Systeme entwickelt, diese werden aber bisher in Städten kaum eingesetzt. Bisheriger Einsatz und zukünftige Entwicklung An der Universität Siegen wird IRSI bisher in erster Linie für Stadtforschungszwecke eingesetzt, was an drei kurzen Beispielen erläutert werden soll: Im Rahmen der Magisterarbeit eines der Autoren wurde IRSI verwendet, um den Einfluss der räumlichen Verteilungsstruktur der ausländischen Bevölkerung auf Nachbarschaftsverhältnisse und Einstellungen der deutschen Bevölkerung zu untersuchen. Zweitens wird IRSI derzeit im Rahmen einer Sozialraumanalyse eingesetzt, um die Verteilung verschiedener Bevölkerungsmerkmale wie Alter, Geschlecht, Staatsangehörigkeit und Segregation über das Stadtgebiet zu analysieren. Diese Forschung geschieht im Auftrag der Stadt Siegen sowie verschiedener Migrationsfachdienste. Drittens werden mit IRSI kriminalsoziologische Regionalanalysen erstellt, die die räumliche Verteilung der Kriminalitätsbelastung untersuchen. Weiterhin sucht das Projekt Kooperationspartner in der Regionalforschung oder der kommunalen Verwaltung, die das Informationssystem für ihre Zwecke einsetzen möchten. Einsatz für die Stadtforschung Linux oder Windows Servus Bruno Martin Schlegel, Hagen Er war einer der Ersten, die ich kennen lernte, als ich in den VDSt eintrat – kein schlechter Start. Dieser Heidelberger Diplom-Soziologe mit dem glatten Haupt, der aber ansonsten viele Ecken und Kanten aufweist. Wenn er sich zu Wort meldete und – mit Vorliebe aus der hintersten Reihe – mit kräftiger Stimme loslegte, dann wurde auch der Letzte im Raum hellwach. Denn mit hoher Wahrscheinlichkeit wies Bruno nun den Vorstand in seine Schranken und verlangte energisch Beschlusstreue. Das geschah zwar scharfzüngig, Stadtforschung und Statistik 1/ 07 war aber vielfältig amüsant; zwei triftige Grunde, auf jeden Fall gut zuzuhören. Nun geht Bruno Schmaus demnächst in den Ruhestand. Doch wir müssen nicht auf ihn verzichten; in der Ex-AG sehen wir uns weiter. 53 Einwohnerprognose im Spannungsfeld von Wissenschaft, Politik und Realität Ist der demografische Wandel zu stoppen? Eckart Bomsdorf1 , Köln Schaubild 1 Schaubild 2 Schaubild 3 54 Wir wissen es angeblich alle, aber manche wollen es immer noch nicht wahrhaben: die Veränderung der Altersstruktur der Bevölkerung in Deutschland – und nicht nur dort – wird immer dramatischer. Immer mehr Älteren stehen immer weniger Jüngere gegenüber. Lassen Sie mich anfänglich auf einige vor allem unter Politikern aber auch in der Öffentlichkeit verbreitete Irrtümer hinweisen (Schaubild 1), wobei meines Erachtens einige Fakten von der Politik bewusst ignoriert werden, weil nicht sein kann, was nicht sein darf. An den entsprechenden Stellen wird später die Fehlerhaftigkeit der meisten Aussagen deutlich. In den Medien und in der Politik, aber auch im Bereich der Wissenschaft wird zur Verdeutlichung der Dimensionen des demografischen Wandels in Deutschland gerne der Umfang des Wanderungsüberschusses zitiert, der erforderlich ist, um bis 2050 das Verhältnis der mittleren zur älteren Generation ständig konstant zu halten. Diese auf einer Studie der UN basierende Zahl besagt, dass bis 2050 netto 180 Millionen Menschen nach Deutschland einwandern müssten (Schaubild 2). Eine im Verhältnis zum gegenwärtigen Bevölkerungsumfang von rund 82 Millionen Einwohnern sehr große Anzahl. Diese immer als eine für Deutschland spezielle Situation interpretierte Aussage relativiert sich, wenn andere Länder betrachtet werden, für die hinsichtlich der Konstanz der Altersstruktur dasselbe gelten soll, z.B. die USA oder Japan. In diesen Ländern müssten im genannten Zeitraum netto 590 Millionen beziehungsweise 520 Millionen Menschen einwandern. Vollends fragwürdig wird die praktische Relevanz dieser Zahlen, wenn für Nordkorea ähnliches gefordert wird. In diesem Land müssten nämlich im genannten Zeitraum über 5 Milliarden Menschen einwandern. Würden die genannten Einwanderungen stattfinden (woher sollen diese kommen?), so würde sich für Deutschland für 2050 eine Einwohnerzahl von 299 Millionen ergeben, die entsprechenden Einwohnerzahlen für die USA, Japan und Nordkorea würden 1065 Millionen, 820 Millionen bzw. 6233 Millionen betragen. Diese Zahlen zeigen, dass es sich bei der eingangs genannten Betrachtung letztlich um keine realistische Untersuchung, sondern eher um Zahlenspielereien handelt. Die Fakten Demografischen Wandel hat es immer schon gegeben. Er wurde jedoch solange ignoriert, wie er von einem Zuwachs an Lebensqualität begleitet wurde – oder anders formuliert: Bisher hat der Zuwachs an Lebensqualität zum Stadtforschung und Statistik 1/ 07 IST DER DEMOGRAFISCHE WANDEL ZU STOPPEN? demografischen Wandel beigetragen. Die Entwicklung der Bevölkerungspyramide, die den Altersaufbau der Bevölkerung wiedergibt, weist darauf hin, dass die Veränderung der Altersstruktur in Deutschland ein kontinuierlicher Prozess war und noch ist (Schaubild 3). Dieser ist in den letzten Jahrzehnten nur langsam in das Blickfeld von Politik, Medien und Gesellschaft gerückt. Besonders deutlich wird dies bei Betrachtung der Entwicklung des Durchschnittsalters der Bevölkerung in Deutschland (Schaubild 4). Dieses ist seit 1910 nahezu gleichmäßig gestiegen; die vergangene Entwicklung fordert gerade dazu auf, diese Tendenz in die Zukunft fortzuschreiben. Die einfache visuelle Fortschreibung bis 2050 stimmt näherungsweise durchaus mit den Werten überein, die sich aufgrund umfangreicher Modellrechnungen für die Entwicklung und das Durchschnittsalter der Bevölkerung ergeben. Fertilität, Mortalität und Migration sind die Komponenten der Bevölkerungsentwicklung. Meistens werden in diesem Zusammenhang bei der Fertilität und der Mortalität Perioden- oder Querschnittswerte angegeben, obwohl eine kohortenspezifische, genauer geburtsjahrgangsabhängige Betrachtung sinnvoller wäre. So zeigt die Betrachtung der tatsächlichen Geburtenzahlen der Mütterkohorten seit 1946, dass die Geburtenzahlen der einzelnen Kohorten bereits für den Geburtsjahrgang der Mütter 1946 unter dem für die Reproduktion dieses Jahrgangs erforderlichen Wert von 2,1 Kindern pro Frau bzw. 2100 Kindern je 1000 Frauen liegen (Schaubild 5). Modellrechnun- gen der Geburtenzahlen für die Mütterkohorten bis 1972 zeigen einen weiteren Rückgang und weisen auf eine Stabilisierung der Geburtenzahlen auf einem niedrigeren Niveau hin.2 Die in Schaubild 6 angegebenen Werte für die Lebenserwartung im Jahre 2005 Geborener stellen die Ergebnisse beispielhafter Modellrechnungen dar. Hierbei handelt es sich natürlich um Werte aus einer Generationensterbetafel – nur aus einer solchen Tafel können reale Werte für die Lebenserwartung ermittelt werden. Mit den Werten aus einer Periodentafel würden beispielsweise die Probleme der Alterssicherungssysteme systematisch unterschätzt. Die in Schaubild 7 wiedergegebenen drei Kurven zeigen u.a. wie volatil die Wanderungen sind. Sie weisen auf die Problematik von wissenschaftlich fundierten Bevölkerungsvorausberechnungen hin, die häufig von mittleren Entwicklungen ausgehen. Dabei ist die Migration die am ehesten politisch direkt beeinflussbare Größe. Der demografische Befund ist eindeutig. Seine Grundaussagen haben sich in den letzten Jahren nicht verändert: • Die Fertilität stagniert auf niedrigem Niveau. • Die jüngeren Generationen reproduzieren sich nur zu 2/3. • Die Lebenserwartung steigt. • Der Wanderungssaldo ist meist positiv (Höhe wechselnd). • Das Durchschnittsalter der Bevölkerung nimmt zu. • Der Bevölkerungsumfang nimmt ab. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Schaubild 4 Schaubild 5 Schaubild 6 Schaubild 7 55 IST DER DEMOGRAFISCHE WANDEL ZU STOPPEN? Schaubild 8 Schaubild 9 Schaubild 10 Schaubild 11 56 Der demografische Wandel ist sicher, auch wenn sein Umfang nicht mit Sicherheit vorhergesagt werden kann. Das Problem ist die Veränderung der Altersstruktur, weniger die Veränderung des Umfangs der Bevölkerung. Die Politik hat diese Erkenntnisse in ihren Konsequenzen noch zu wenig wahrgenommen; die Wissenschaft ist sich in ihrer mahnenden Rolle zum Teil uneins. Die Folgen Die Auswirkungen des demografischen Wandels auf den Bevölkerungsumfang sowie die Bevölkerungsstruktur in Deutschland und seinen Gemeinden sind differenziert zu sehen. Während grundsätzlich davon auszugehen ist, dass langfristig der Bevölkerungsumfang in Deutschland zurückgeht und gleichzeitig bei der Altersstruktur eine Verschiebung zu den Älteren hin stattfindet, gibt es durchaus Regionen, in denen voraussichtlich sowohl der Bevölkerungsumfang zunimmt als auch eine Veränderung der Altersstruktur nur in gegenüber Deutschland gedämpfter Form stattfindet. Deutlich wird dies bei einem Vergleich der Bevölkerungsentwicklung in Deutschland insgesamt (Schaubild 8) sowie in den Millionenstädten Deutschlands (Schaubild 9).3 Diese natürlich auf Annahmen beruhenden Modellrechnungen zeigen unterschiedliche Entwicklungen. Besonders differenziert ist die unterschiedliche Entwicklung der Altersstruktur der Bevölkerung in den Millionenstädten sowie in Deutschland zu sehen (Schaubild 10). Während in Berlin die Bevölkerung in ähnlichem Umfang wie in Deutschland altert, bleibt die Bevölkerung in Hamburg, München und Köln vergleichsweise jung. Dies ist jedoch keineswegs darauf zurückzuführen, dass in den drei letztgenannten Städten die Fertilitätsrate besonders hoch wäre, vielmehr beruht diese gedämpfte Alterung vor allem in Hamburg und München auf den sehr hohen Wanderungen (Schaubild 11). Die Wanderungsabhängigkeit des Bevölkerungsumfangs ist in allen vier betrachteten Städten wesentlich größer als in Deutschland insgesamt. Die Millionenstädte Deutschlands entziehen sich also in unterschiedlicher Weise dem Bundestrend: Berlin liegt fast im Bundestrend: es schrumpft leicht und ergraut deutlich. Hamburg und München wachsen, Köln bleibt jung und hält seinen Bevölkerungsumfang. Obwohl die Alterssicherungssysteme kein direktes Thema dieses Beitrags sind, erfordert die aktuelle Situation der gesetzlichen Rentenversicherung – der Staat muss bis zum Jahresende bei den Rentenzahlungen mit vorgezogenen Zuschüssen oder sogar Krediten aushelfen – einige Bemerkungen, die durchaus mit unserem Thema zu tun haben. Die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf Systeme lebenslänglich gezahlter Renten sind evident: Der Anteil der Rentenempfänger an der Bevölkerung steigt sowohl durch geringe Fertilität als auch durch Steigerung der Lebenserwartung. Die Rentenzahldauer nimmt durch die steigende Lebenserwartung zu. Dies gilt letztlich sowohl für Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung als auch für lebenslänglich gezahlte Renten aus anderen Quellen. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 IST DER DEMOGRAFISCHE WANDEL ZU STOPPEN? Die Politik ignoriert die Realität teilweise. So ist aus offiziellen Quellen immer wieder zu hören, dass das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern gegenwärtig bei 4 zu 1 liegt. Diese Aussage ist so nicht richtig. Zurzeit gibt es allein über 18 Millionen Renten wegen Alters bzw. Erwerbsunfähigkeit und dies bei nicht einmal 30 Millionen Beitragszahlern, d.h. das genannte Verhältnis liegt schon jetzt eher bei 2 zu 1. Die Politik und teilweise auch die Wissenschaft nimmt hier offenbar bei der Aussage eines Verhältnisses von 4 zu 1 einfach das Verhältnis der 20- bis unter 65Jährigen zu den mindestens 65-Jährigen – dass dieses die falsche Zahl ergibt, ist unmittelbar einsichtig. Demnach wird ceteris paribus das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentenempfängern 2030 eher bei 1 zu 1 als vielfach angegeben bei 2 zu 1 liegen. Als Problemlöser wird oftmals eine Veränderung der nur schwer zu verstehenden Rentenformel verstanden, für die in Schaubild 12 die Entwicklung der letzten 13 Jahre dargestellt ist (auf die Erläuterung der einzelnen Größen wird hier bewusst verzichtet) – und die Entwicklung ist mit Sicherheit noch nicht zu Ende, wie auch die aktuelle Diskussion um die finanzielle Situation der GRV zeigt. Wie wirken Änderungen der Einflussgrößen? Die Auswirkungen von Veränderungen in der Fertilitätsrate auf den Bevölkerungsumfang Deutschlands lassen sich relativ einfach darstellen (Schaubild 13), wobei als Basis der Status Quo gewählt wurde. Entsprechend gilt dies für die isolierte Betrachtung einer Veränderung der Nettozuwanderung (Schaubild 14).4 Für die Änderung der Lebenserwartung bzw. der Sockelwanderung lassen sich ähnliche Zusammenhänge darstellen. Die Formel oben rechts fasst die vier Komponenten in ihren Auswirkungen auf den Bevölkerungsumfang des Jahres 2050 zusammen. Sie gibt eine Antwort auf die Frage: Wie wirken sich Änderungen in den Bevölkerungskomponenten auf den Bevölkerungsumfang aus? Formel Schaubild 12 Bei Beachtung der Bedeutung der einzelnen Variablen lassen sich die Koeffizienten der Gleichung wie folgt interpretieren: • Eine Steigerung der Fertilitätsrate um 0,1 (Anstieg bis 2010, danach Konstanz) führt zu einer Zunahme des Bevölkerungsumfangs 2050 um 2,48 Millionen. • Eine Steigerung der Lebenserwartung um ein Jahr führt zu einer Zunahme des Bevölkerungsumfangs 2050 um 0,95 Millionen. • Eine Steigerung der jährlichen Nettozuwanderung um 50.000 Personen führt zu einer Zunahme des Bevölkerungsumfangs 2050 um 2,81 Millionen. • Eine Steigerung der jährlichen Sockelwanderung um 100.000 Personen führt zu einer Zunahme des Bevölkerungsumfangs 2050 um 0,41 Millionen. Schaubild 13 Schaubild 14 Die Lösung? Im Folgenden werden die Bevölkerung und auch der Altersaufbau der Bevölkerung im Jahr 2050 bei unterschiedli- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 57 IST DER DEMOGRAFISCHE WANDEL ZU STOPPEN? Schaubild 15 chen Annahmen über die Fertilität und die Wanderungen vergleichend dargestellt. Schaubild 15 zeigt neben der Bevölkerungspyramide für 2003 diejenige für 2050 unter der fiktiven Annahme, dass zukünftig keine Wanderungen mehr auftreten. Schaubild 16 zeigt demgegenüber die Entwicklung, falls bei den Bevölkerungskomponenten die aktuellen Werte weitgehend konstant gehalten werden. Schaubild 16 Schaubild 17 Schaubild 17 stellt für 2050 neben der Pyramide von Schaubild 15 noch die Entwicklung dar, die sich ergeben würde, wenn versucht wird, die fehlenden Wanderungen durch eine erhöhte Fertilität auszugleichen. Dabei genügt es nicht die Fertilität auf 2,1 Kinder pro Frau zu steigern, wenn die Bevölkerung langfristig stabil bleiben soll, da die gegenwärtige Müttergeneration schon zu klein ist, um den angestrebten Effekt zu erreichen. Schaubild 18 stellt in zwei Szenarien dar, welche Änderungen notwendig sind, um bezogen auf den Bevölkerungsumfang die fehlenden Geburten auszugleichen (Zieljahr 2050): Szenario 1: Fertilitätsrate konstant auf heutigem Niveau Benötigter jährlicher Wanderungsüberschuss: 330.000 Personen Benötigte jährliche Zuwanderung: 830.000 Personen Szenario 2: Fertilitätsrate sinkt auf 1 Kind pro Frau. Benötigter jährlicher Wanderungsüberschuss: 530.000 Personen 58 Benötigte jährliche Zuwanderung: 1.030.000 Personen Die in den Schaubildern 15 bis 18 für das Jahr 2050 dargestellten Bevölkerungspyramiden weisen darauf hin, dass praktisch weder höhere Fertilität Wanderungen ersetzen kann noch Wanderungen die niedrige Fertilität ausgleichen können. In allen Fällen kommt es zu von der Altersstruktur her nicht vertretbaren Alterspyramiden, wenn der Bevölkerungsumfang 2050 annähernd auf dem heutigen Niveau sein soll. Schaubild 19 zeigt im Hinblick auf Fertilität und Nettowanderung drei vom Bevölkerungsumfang 2030 abhängige Bevölkerungsisoquanten, die sich gut interpretieren lassen. Sie zeigen, welche Kombination von Fertilität und Zuwanderung die Bevölkerung auf einem gegebenem Niveau halten kann. Unter Berücksichtigung der aufgezeigten Zusammenhänge zwischen Fertilität, Wanderungen und Bevölkerungsumfang bzw. Bevölkerungsstruktur bietet sich eine Hybridlösung an, um eine vom Bevölkerungsumfang und von der Alterstruktur der Bevölkerung her vertretbare Entwicklung bis zum Jahr 2050 zu erhalten: Bei einer Nettozuwanderung von rund 200.000 Personen jährlich, einer bis 2025 auf 1,7 steigenden Fertilitätsrate und einem langfristig auf 65 Jahre steigendem faktischen Renteneintrittsalter würde beispielsweise 2040 bzw. 2050 der Bevölkerungsumfang und ein die Erhöhung des Renteneintrittsalters berücksichtigender dynamischer Altenquotient nahezu auf dem Niveau von 2004 sein (Schaubild 20).5 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 IST DER DEMOGRAFISCHE WANDEL ZU STOPPEN? Resümee Anmerkungen Ich möchte zum Schluss kein großes Resümee ziehen, sondern nur darauf hinweisen, dass wir der Politik und der Gesellschaft den demografischen Wandel sowie dessen mögliche Folgen noch stärker verdeutlichen müssen. Dies ist uns noch nicht in hinreichendem Maße gelungen, wie auch der Umgang der Politik mit den Erkenntnissen aus der 10jährigen Arbeit der EnquêteKommission Demografischer Wandel des Deutschen Bundestages zeigt. Im Übrigen fehlt uns 15 Jahre nach der Vereinigung beider deutscher Staaten und fast 20 Jahre nach der letzten Volkszählung in der Bundesrepublik sowie nahezu 25 Jahre nach der letzten Volkszählung in der DDR eine wirklich verlässliche Grundlage für qualitativ und quantitativ hochbelastbare Bevölkerungsvorausberechnungen. Eine Volkszählung ist bereits kurzfristig dringend erforderlich. 1 2 3 4 5 Der demografische Wandel ist nicht aufzuhalten. Stellen wir uns ihm und nutzen wir die Chance, ihn aktiv mitzugestalten. Oder formulieren wir es zukunftsorientiert etwas schärfer: Wer den demografischen Wandel ignoriert, verspielt unsere Zukunft und vor allem die unserer Kinder. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Dieser Beitrag enthält nur einen Teil der in meinem Vortrag auf der Hauptversammlung des Verbandes Deutscher Städtestatistiker am 26.9.2005 in Braunschweig präsentierten Folien. Der Text eher als Vortragsskizze denn als eine ausführliche Darstellung der Problematik anzusehen. Auf Literaturangaben wird weitgehend verzichtet. Vgl. Bomsdorf, Eckart, und Bernhard Babel: Ein Modell zur Beschreibung der kohortenbezogenen Entwicklung der Fertilität in Deutschland. Wirtschaft und Statistik 9/2004, S. 10521059. Vgl.: Deutschlands Millionenstädte im demografischen Wandel. Fakten und Perspektiven bis 2040. Heft 116 der Materialien zur Bevölkerungswissenschaft des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung, Wiesbaden 2005. Berechnungen für weitere deutsche Großstädte finden sich in Bomsdorf, Eckart, und Bernhard Babel: Großstädte Deutschlands im demografischen Wandel. Fakten und Perspektiven bis 2040. Band 2, Köln 2006. Vgl. Bomsdorf, Eckart, und Bernhard Babel: Wie viel Migration und Fertilität braucht Deutschland? Wirtschaftsdienst 85/2005, S. 387-394. Vgl. Bomsdorf, Eckart: Höhere Fertilität, steigendes Rentenzugangsalter und Migration. Wie die zukünftige Belastung der Gesellschaft in Deutschland erträglich gestaltet werden kann. Deutsche Rentenversicherung 60/ 2005, S. 439-459. Schaubild 18 Schaubild 19 Schaubild 20 59 Sozialraumgestützte Analyse amtlicher Schuldaten im Ruhrgebiet Bildung ist kleinräumig Tobias Terpoorten, Bochum Abb. 1: Aufbau Bildungsmonitor Die PISA-Studie aus dem Jahr 2000 hat Deutschland eine deutliche Bildungsungleichheit bescheinigt. Es zeigte sich ein starker Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und der sozialen Herkunft der Schüler und Schülerinnen. Das deutsche Schulsystem setzt nahezu perfekt die gesellschaftliche Ungleichheit in eine Bildungsungleichheit um (BÖTTCHER 2005, S.7). In der 2003er PISAStudie wurde dies noch einmal bekräftigt. In einem Bundesländervergleich wurde aufgezeigt, dass der Schulerfolg eines Kindes stark von Bildungsgrad und Einkommen der Eltern abhängig ist. Es wurde Quelle: eigene Darstellung 60 auch bestätigt, dass neben den familiären Merkmalen die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rahmenbedingungen der jeweiligen Schulstandorte einen Einfluss auf die Kompetenzen der getesteten Schüler haben. Eine Analyse der Ergebnisse erfolgte auf Ebene der Kreise und kreisfreien Städte (vgl. BAUMERT/CARSTENSEN/SIEGLE 2005). Jedoch sind Städte und Kreise in sich oftmals hochgradig differenziert. Die gesellschaftliche Ungleichheit findet sich in einer kleinräumigen sozialen Fragmentierung der Wohnbevölkerung wieder – häufig liegt eine starke räumliche Trennung zwischen reichen und armen Wohngebieten innerhalb einer Stadt vor. Analysiert man nur auf der gesamtstädtischen Ebene geht diese kleinräumige Differenzierung verloren. Der im Folgenden vorgestellte Ansatz richtet den Fokus auf eine kleinräumige Auswertung von vorhandenen amtlichen Daten und kann aufzeigen, dass Schulen innerhalb einer Stadt unter ganz unterschiedlichen Standortbedingungen und Problemlagen agieren und somit Bildungschancen und Bildungserfolge in einem, insbesondere kleinräumigen, Raumbezug stehen. Eine hohe Bedeutung hat dieser Sachverhalt deshalb, da es scheint, dass sich in Prozessen der Verräumlichung von Bildung soziale Ungleichheit reproduziert und sogar weiter verstärkt (MACK/ SCHROEDER 2005, S. 338). Im Folgenden wird am Beispiel des Ruhrgebiets eine GIS-gestützte1 Methode vorgestellt, die Daten der Schulstatistik auf kleinräumige demografische Indikatoren und Merkmale sozialer Lagen der Bevölkerung bezieht und so den Zusammenhang von unterschiedlichen Bildungschancen und der räumlichen Ungleichverteilung der Bevölkerung innerhalb der Städte transparent macht. Das Verfahren stellt ein Instrument für ein umfassendes kleinräumiges Bildungsmonitoring dar, mit dem Bildungsstrukturen in einem sozialräumlichen Kontext über die Zeit analysiert werden können. Entwickelt am Zentrum für interdisziplinäre Ruhrgebietsforschung (ZEFIR) der Ruhr-Universität Bochum, findet die Vorgehensweise in ähnlicher Form im Rahmen des Studierendenmonitors der Bochumer Universität Verwendung – einige Erkenntnisse aus dem Studierendenmonitor fließen zudem in den Bildungsmonitor mit ein. Aufbau des Bildungsmonitors Das Schema in Abbildung 1 zeigt die Vorgehensweise und den Aufbau des Bildungsmonitorings in Form von drei Bearbeitungsschritten. Zuerst werden die Sozialräume der Region mit Hilfe von Indikatoren typisiert. Im zweiten Bearbeitungsschritt werden die Schulen über ihre Adresse ihrem jeweiligen Sozialraum Stadtforschung und Statistik 1/ 07 BILDUNG IST KLEINRÄUMIG zugeordnet. Die vorliegenden Schuldaten lassen sich dann über den Schulstandort mit einem ganz konkreten Sozialraumtyp in Verbindung bringen. Im dritten Bearbeitungsschritt können daraufhin die Informationen der Sozialräume kombiniert mit den Daten jeder einzelnen Schule ausgewertet werden. Schritt 1: Typisierung der Räume Eine Analyse der Sozialräume bildet einen grundlegenden Baustein des Bildungsmonitorings. „Bildungsferne“ wie „bildungsnahe“ Sozialräume lassen sich mit Daten der Räume ermitteln. Dabei werden die Raumeinheiten in Sozialraumtypen gleicher sozialstruktureller Ausprägung zusammengefasst. Insgesamt werden alle 11 kreisfreien Städte des Regionalverbands Ruhr mit ihren 389 statistischen Bezirken berücksichtigt. Die 42 Gemeinden des Ruhrgebiets fließen als Ganzes in die Analyse mit ein. Es wird mit einem Set von vier Indikatoren gearbeitet, mit denen es – wie sich später zeigt – möglich ist, die Räume zu typisieren und diese in „bildungsnahe“ oder „bildungsferne“ Sozialräume einzuteilen. Dabei beschreiben der Jugend- und der Altenquotient die demografische Dimension, der Nichtdeutschenanteil die ethnische Dimension und der Arbeiteranteil die soziale Dimension („Sozialer Rang“) der Stadtgebiete. Im Rahmen einer Clusteranalyse werden Stadtgebiete, die in den genannten Dimensionen eine ähnliche Struktur aufweisen, zusammengefasst. Es wurden sechs Sozialraumtypen ermittelt (vgl. Abbildung 2). Diese werden mit Hilfe der jeweiligen Indikatorenausprä- gung näher beschrieben.2 Von einigen Städten und Gemeinden lagen Daten zur Arbeitslosigkeit und Sozialhilfedichte vor – diese Werte wurden für eine ergänzende Interpretation den entsprechenden Sozialraumtypen nach der Clusteranalyse hinzugefügt. In den Sozialräumen fünf und sechs findet sich eine eher „bildungsferne“ Bevölkerung, gekennzeichnet durch einen hohen Nichtdeutschenanteil und einen niedrigen sozialen Rang. Der soziale Hintergrund der Bevölkerung dieser Sozialräume lässt sich als eher niedrig einstufen. Es überwiegen niedrige Schulabschlüsse, eine niedrige berufliche Qualifikation und ein geringes Einkommen. Die Sozialräume des Clusters vier sind gekennzeichnet durch einen niedrigen sozialen Rang mit einem dem entsprechenden hohen Arbeiteranteil. Der Nichtdeutschenanteil entspricht dem Ruhrgebietsdurchschnitt. Leicht darüber liegen in diesen Quartieren die Sozialhilfedichte und der Arbeitslosenanteil. Ab dem Cluster drei werden die Sozialräume stets „bürgerlicher“ und „bildungsnäher“. Dabei unterscheiden sich diese Cluster vor allem auf Grund ihrer demografischen Zusammensetzung. Zum Sozialraumtyp drei gehören vor allem familiengeprägte Umlandgemeinden des Ruhrgebiets. Der Nichtdeutschenanteil ist niedrig, ebenso der Arbeitslosenanteil und die Sozialhilfedichte. Sozialraumtyp zwei und besonders eins sind alternde Wohngebiete der deutschen Mittel- und z.T. Oberschicht mit einer „bildungsnahen“ Bevölkerung. Bezogen auf die Lebenssituation von Kindern und Jugendlichen stellen die Sozialraumtypen die Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Abbildung 2: Sechs Sozialraumtypen (Cluster), Stadtteile und Gemeinden im Ruhrgebiet 2002 Quelle: eigene Berechnung und Darstellung sozialräumliche Polarisierung von Lebenslagen und Lebenschancen der jungen Generation dar, die „zwei Kindheiten“, die den sozialen Hintergrund der Ergebnisse von Vergleichsstudien wie PISA bilden (vgl. STROHMEIER 2002). Die Karte (Abb. 3) ist das Ergebnis der Typisierung. Den Stadtgebieten und Gemeinden wurde ihr jeweiliges Sozialraumcluster zugewiesen. Deutlich erkennt man an den Städten Essen, Bochum und Dortmund die für die Ruhrgebietsstädte typische Zweiteilung des Stadtgebiets in einen besser gestellten Südteil (Sozialraumtyp 1 und 2) und einen eher „benachteiligten“ Nordteil (Sozialraumtypen 4, 5 und 6).3 Die Kernstädte des Ruhrgebiets werden von Gemeinden umschlossen, die dem Sozialraumtyp vier zugeordnet wurden. In einem zweiten Ring 61 BILDUNG IST KLEINRÄUMIG Abbildung 3: Sozialraumtypen im Ruhrgebiet 2002 Quelle: eigene Darstellung AbB. 4: Soziale Herkunftsgruppen und Sozialraumtypen Quelle: Einschreibungsbefragung Ruhr-Universität Bochum Wintersemester 04/05 und 05/06 – eigene Berechnung und Darstellung schließen sich die Gemeinden des Typs drei an, in denen vor allem (deutsche) Familien wohnen. Exkurs: Befragung bestätigt Raumtypen Dass mit der hier dargestellten Typisierung tatsächlich Bildungsmilieus beschrieben 62 werden können, bestätigen Ergebnisse einer Studierendenbefragung im Rahmen des o.g. Studierendenmonitors der Ruhr-Universität Bochum. Während der Einschreibung wurde nach dem Wohnort zur Zeit des Abiturs gefragt. Über Schulabschluss und berufliche Position der Eltern lässt sich die so genannte „soziale Herkunftsgruppe“ der Studierenden erstellen. Bei der Ermittlung der sozialen Herkunftsgruppe wird die Methodik des Hochschulinformationssystems (vgl. BMBF 2004) verwendet. Dabei wird das Elternhaus der hohen sozialen Herkunftsgruppe über einen hohen Ausbildungsabschluss (z.B. Studium) und eine hohen beruflichen Position (z.B. höherer Beamter) einer der beiden Eltern definiert. Eine Einordnung in die niedrige soziale Herkunftsgruppe erfolgt bei einer niedrig einzustufenden Ausbildung (z.B. Lehre) und einer eher niedrigen beruflichen Position mit geringem Einkommen (z.B. Facharbeiter). Das Diagramm (Abb. 4) zeigt, dass ab dem Sozialraumtyp vier die Anteile der gehobenen und hohen sozialen Herkunftsgruppe deutlich abnehmen. In den als benachteiligt typisierten Gebieten fünf und sechs wohnen demnach zumeist „bildungsferne“ Schichten mit einem niedrigen schulischen Abschluss und einer niedrigen beruflichen Stellung. Schritt 2: Verräumlichte Schuldaten Der Schuldatensatz LDS NRW enthält auch ein Adressverzeichnis aller Schulen des Landes. So können die Schulstandorte räumlich verortet werden. Die Zuweisung der Schulen in kreisangehörige Gemeinden erfolgt über den Gemeindenamen. An diese Schulstandorte lassen sich die Daten der Schuldatei anfügen. Für jede Grundschule liegt z.B. die Zahl der Übergänger von der Grundschule zu den weiterführenden Schulen vor. Diese Daten können nach Schul- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 BILDUNG IST KLEINRÄUMIG typ zusammengefasst werden und ermöglichen damit eine Berechnung von Übergangsquoten. Bei den weiterführenden Schulen sind die Anzahl und die Art der erreichten Abschlüsse für Auswertungen von hohem Interesse. Schritt 3: Analyse der Schuldaten Die dargestellte Verortung der Schulstandorte ermöglicht vielfältige Analysen der amtlichen Schulstatistik. So kann die Übergangsquote von den Grundschulen zu den weiterführenden Schulen als kleinräumiger Bildungsindikator verwendet werden, da fast jeder Stadtteil im Ruhrgebiet über eine Grundschule verfügt. Der Indikator ermöglicht eine annähernd flächendeckende Analyse der Schulstandorte und kann kleinräumige Unterschiede im Bildungsverhalten aufzeigen. Da das Einzugsge- biet einer Grundschule zumeist das direkte Wohnumfeld ist, kann die Übergangsquote mit den ermittelten Sozialraumtypen in Beziehung gesetzt werden. Abbildung 5 zeigt am Beispiel von Kernstädten des Ruhrgebiets die Sozialraumtypen und die errechneten Übergangsquoten zum Gymnasium. In den Stadtteilen der Sozialraumtypen eins und zwei geht zumeist die Hälfte der Kinder zum Gymnasium, in einigen Stadtteilen sind es vier Fünftel. Das Ausbildungsniveau der Eltern in diesen Gebieten ist eher hoch; die Kinder werden früher und verstärkt zur schulischen und beruflichen Qualifikation ermutigt. Zudem erlangen die Kinder infolge der elterlichen Erziehung und gezielter Förderung Fähigkeiten, die in der Schule vorteilhaft sind (BECKER/LAUTERBACH 2004, S. 12). In Gebieten des Typs fünf und sechs liegt die Übergangsquote zum Gymnasium oftmals unter 30 %, in Einzelfällen knapp über zehn Prozent. Die Eltern haben zumeist einen niedrigen Schulabschluss und sehen auch für ihre Kinder keine höhere Schullaufbahn vor. In der Tabelle (Abb. 6) sind die Übergangsquoten im Mittel über alle sechs Sozialraumtypen und für die verschiedenen Schulformen dargestellt. Diese Ergebnisse beziehen sich auf das Ruhrgebiet – Auswertungen anderer Städte haben ein ähnliches Bild gezeigt (Strohmeier/Terpoorten/ Kersting 2005). Die Ergebnisse machen deutlich, dass sich Bildungschancen in unserer Gesellschaft systematisch entlang der Grenzen von sozialer und sozialräumlicher Ungleichheit verteilen, d.h. je mehr ein Sozialraum von Armut und Benachteiligung geprägt ist, desto geringer ist der Anteil der Abb. 5: Übergangsquoten zum Gymnasium und Sozialraumtypisierung am Beispiel von Kernstädten des Ruhrgebiets – Schuljahr 2003/2004. Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW Schuldaten 2003/2004 / KOSTAT 2003 / Volkszählung 1987 / eigene Berechnung und Darstellung Stadtforschung und Statistik 1/ 07 63 BILDUNG IST KLEINRÄUMIG Abb. 6: Mittlere Übergangsquoten (in %) zu den weiterführenden Schulen nach Sozialraumtyp im Ruhrgebiet – Schuljahr 2003/2004. Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW Schuldaten 2003/2004; eigene Berechnung und Darstellung Kinder, die zum Gymnasium wechseln, und umso höher ist der Anteil derer, die nach der Grundschule die Hauptschule besuchen. Neben den Übergangsquoten lassen sich eine Vielzahl weiterer Schuldaten an die jeweilige Schule koppeln, räumlich auswerten und bezüglich bildungsrelevanter Aspekte evaluieren (z.B. Schulprogramm, angebotene Förderkurse, Zusammensetzung der Schüler- Abb. 7: Unterschiedliche sozialräumliche Einzugsgebiete weiterführender Schulen am Beispiel zweier Gymnasien der Stadt Essen schaft nach Nationalitäten, Art der Schule, usw.). Es lässt sich anzeigen, ob die Ganztagsschulen wirklich in den benachteiligten Sozialräumen liegen, in denen sie zum Ausgleich milieubedingter Benachteiligungen der Kinder vor allem benötigt werden. Auch die Frage, ob ein hoher Anteil von Schülern mit Migrationshintergrund im Sozialraum von einem Angebot an Förderkursen im Schulprogramm begleitet wird, kann beantwortet werden. Aufzeigen von Schülerströmen Neben der Darstellung von Übergängerzahlen lassen sich diese auch als dynamische Ströme zwischen den Schulen mit einem GIS darstellen und auswerten. Durch Verknüpfungen innerhalb der GIS-Datenbank werden die Grundschulen mit den weiterführenden Schulen in Beziehung gesetzt. So lassen sich z.B. die Einzugsgebiete (in Form von Grundschulstandorten) jeder weiterführenden Schule abfragen und kartografisch darstellen. Ein Ergebnis zeigt Abbildung 7, an der man deutliche Unterschiede zwischen den Einzugsgebieten der beiden weiterführenden Schulen erkennen kann. Quelle: LDS NRW Schuldaten – Schuljahr 03/04 / KOSTAT 03/ Volkszählung 87/ eigene Berechnung und Kartografie 64 Zum Gymnasium 1 im Essener Norden kommen vor allem Kinder von Grundschulen, die in den als eher „bildungsfern“ typisierten Sozialraumtypen vier und sechs agieren. Die Schülerschaft des Gymnasiums 2 im Essener Süden setzt sich vor allem aus Kindern von Grundschulen der „bildungsnahen“ Sozialraumtypen eins und zwei zusammen. Man kann vermuten, dass aus diesen unterschiedlichen Einzugsgebieten auch eine unterschiedliche Zusammensetzung Stadtforschung und Statistik 1/ 07 BILDUNG IST KLEINRÄUMIG der Schülerschaft nach sozialer Herkunft der Schüler resultiert. Ein möglicher Indikator hierfür wäre die Anzahl und Art der erreichten Schulabschlüsse. So könnte ein hoher Anteil an Schülern, die die weiterführende Schule mit dem Abitur verlassen, ein Indikator für ein „bildungsnahes“ Einzugsgebiet sein – ein hoher Anteil an Schülern, die die Schule ohne einen Abschluss verlassen, könnte auf ein eher „bildungsfernes“ Milieu hinweisen4 . Da nur Daten von einem Schuljahr ausgewertet wurden, liegen für eine solch kleinräumige Betrachtung der Abschlüsse bisher noch keine belastbaren Ergebnisse vor. Fazit Bildungsmonitoring ist ein Instrument, das Daten der Schulen mit den Standorten und Einzugsgebieten jeder einzelnen Schule in Verbindung bringt. Im Gegensatz zu einer Datenbank, in der die Schuldaten abfragbar sind, ermöglicht die kombinierte Auswertung und direkte (sozial)räumliche kartografische Darstellung der Ergebnisse eine schnellere und komplexere Analyse und Interpretation der vorliegenden Schuldaten und Schulstandorte. An den Beispielen konnte gezeigt werden, dass sich Schuldaten – insbesondere die der Grundschulen – nicht isoliert vom sozialen Umfeld der Schulen bewerten lassen. Die aktuelle PISA-Auswertung geht in die richtige Richtung und berücksichtigt das sozialräumliche Umfeld auf der Ebene der Kreise und kreisfreien Städte. Jedoch wurde in den oben beschriebenen Analysen deutlich, dass die meisten Städte in sich sehr viel kleinräumiger differenziert sind. Der Fokus der Analyse muss also nochmals schärfer gestellt werden. Der hier vorgestellte Monitor unternimmt diesen Schritt. Besonders bezogen auf die kreisfreien Städte ist es möglich, bildungsrelevante Fragestellungen bis auf die Ebene der Stadtteile zu beantworten. Hiermit gelingt eine recht präzise Bestimmung und Beschreibung des unterschiedlich schwierigen „Geländes“, in dem Bildungseinrichtungen operieren. Weiterhin erlaubt der Monitor eine Schärfung und Evaluierung der Schulprofile, bezogen auf die Eigenheiten der unterschiedlichen Sozialräume. Unschärfen liegen in den kreisangehörigen Gemeinden vor. Hier fehlt es bisher an kleinräumigen sozialraumbeschreibenden Statistiken. Der Bildungsmonitor kann der Bildungspolitik und den Schulverwaltungen eine Entscheidungsgrundlage liefern, welche Schulen auf Grund ihres sozialen Umfeldes besonders unterstützt und gefördert werden sollten. Vorhandene Ressourcen können zielgerichtet zugeteilt und Unterstützungsmaßnahmen entsprechend der schulischen Standortvoraussetzungen konzipiert werden. Er ermöglicht zudem eine laufende kleinräumige Bildungsberichterstattung und sollte im breiten Kontext von Beobachtung, Analyse und Steuerung des Schulwesens eingebunden werden. Hierbei ist auch denkbar, die landesweiten Vergleichsarbeiten wie VERA (Zentrale Lernstandserhebungen (Vergleichsarbeiten) in den Grundschulen NRW) und Lernstand 9 (Zentrale Lernstandserhebungen in der Jahrgangsstufe 9 NRW) in den Monitor mit einzubinden. Die Ergebnisse könnten so ergänzend unter einer sozialräum- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 lichen Betrachtungsweise ausgewertet werden. Wird ein solcher Monitor langfristig angelegt, ist neben einer Erfassung und Darstellung der bestehenden Strukturen des Bildungswesens auch das frühzeitige Erkennen von Veränderungen und Entwicklungsprozessen möglich. Er kann somit auch als eine Art „Frühwarnsystem“ fungieren. Dabei berücksichtigt der Bildungsmonitor nicht nur Veränderungen und Entwicklungen jeder einzelnen Schule, sondern auch die des direkten Schulumfeldes und der Einzugsgebiete. Frühwarnsystem Literatur: Baumert, J./ Carstensen, C.H./ Siegle, T, (2005): Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Lebensverhältnisse und regionale Disparitäten des Kompetenzerwerbs. In: PISA-Konsortium Deutschland (Hrsg.): PISA 2003 – Der zweite Vergleich der Länder in Deutschland. S. 323-366, Münster Becker, R. & Lauterbach, W. (2004): Dauerhafte Bildungsungleichheit – Ursachen, Mechanismen, Prozesse und Wirkungen. In: Becker, R. & Lauterbach, W. (Hg.): Bildung als Privileg? Erklärungen und Befunde zu den Ursachen der Bildungsungleichheit. S. 9-40, Wiesbaden Böttcher, W. (2005): Soziale Auslese und Bildungsreform. - Aus Politik und Zeitgeschichte 12/ 2005:7-20, Bonn Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) (Hg.) (2004): Die wirtschaftliche und soziale Lage der Studierenden in der Bundesrepublik Deutschland 2003 – 17. Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks durchgeführt durch HIS Hochschul-Informations-System. S. 471-472. Berlin Mack, W. / Schroeder, J. (2005): „Schule und lokale Bildungspolitik“ In: Kessl, Fabian / Reutlinger, Ch. / Maurer, S. und Frey, O. (Hg.): Handbuch Sozialraum. S. 337-354, Wiesbaden Strohmeier, K. P. (unter Mitarbeit von Neubauer, J., und Prey, G.) Schnelle Analyse 65 EINLADUNGEN NACH KÖLN (2002): Bevölkerungsentwicklung und Sozialraumstruktur im Ruhrgebiet. Projekt Ruhr GmbH, Essen Strohmeier, K. P. / Terpoorten, T. / Kersting, V. u.a. (2005): „Was ist anders im Ruhrgebiet? Die Segregation der Wohnbevölkerung in den Großstädten im Ruhrgebiet und im übrigen NRW im Vergleich. Sozialstruktur und Bildung.“ Gutachten für die Projekt- Ruhr GmbH (unveröffentlicht), Essen Anmerkungen 1 Ein Geografisches Informationssystem (GIS) ist ein computergestütztes räumliches Analyseinstrument mit Datenbankanbindung. 2 Lesebeispiel für das Diagramm. Der Wert 0 auf der x-Achse beschreibt das Ruhrgebietsmittel des jeweiligen Indikators. So steht z. B. die 0 für den Indikator 3 „Jugendquotient“ für 32,3 %. Die Säule des jeweiligen Indikators zeigt die Höhe der Standardabweichung von diesem Mittelwert im jeweiligen Cluster. Der Jugendquotient der Stadtteile und Gemeinden des Clusters 5 liegt etwa 1 Standardabweichung (SA Jugendquotient 5,3 %) unter dem Ruhrgebietsmittelwert – somit liegt der Jugendquotient im Cluster 5 bei ca. 27 %. Eine Darstellung im Diagramm gibt die Sozialstruktur der Cluster im Vergleich zur Gesamtregion, anders als eine reine Zahlendarstellung, schnell und übersichtlich wieder und erleichtert so eine Interpretation und Beschreibung. Der Kohlebergbau im Ruhrgebiet wanderte von Süd nach Nord. Im Süden des Ruhrgebiets wurde die Kohle anfangs im Tagebau abgebaut. Er blieb geprägt von viel Grün und war folglich bevorzugter Wohnstandort der Bessersituierten. Um den steigenden Bedarf an Kohle zu decken, mussten später die ergiebigen, aber auch auf Grund des Reliefs nur noch im Untertagebau zu gewinnenden 4 Kohlelager des nördlichen Ruhrgebiets abgebaut werden. Je nördlicher der Bergbau wanderte, je mehr die Industrialisierung voranschritt, desto mehr wurden die Stadtgebiete im Norden vom Bergbau geprägt. Während im Süden schon z. T. in den 20er Jahren der Bergbau eingestellt wurde und der Strukturwandel schon beginnen konnte, begann der Niedergang des Bergbaus in den nördlichen Gebieten erst in den 60er Jahren mit entsprechend späterem Strukturwandel. Auf Stadtebene lässt sich dieser Zusammenhang erkennen. So finden sich z.B. Schüler, die die Schule ohne Abschluss verlassen, verstärkt in den altindustriell geprägten Städten des Ruhrgebiets. In Gelsenkirchen (10,4%), Bottrop (9,4%) und Herne (9,4%) verließ 2005 etwa jeder zehnte Schüler eine weiterführende Schule ohne Abschluss. Im eher bürgerlichen Münster wiederum war es nur jeder zwanzigste Schüler (5,3%) (Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW: Schulstatistik 2005). Einladungen nach Köln Martin Schlegel, Hagen Wann waren Sie das letzte Mal in Köln? Lange her? Nur vorbeigefahren oder umgestiegen? Dabei bietet die Medienund Domstadt doch so viele Gründe für einen Besuch. Im Frühjahr erlebt man bunte Umzüge, Karneval genannt. Ein Gang durch die Einkaufspassagen lohnt zu jeder Zeit. Dazu ein Gang am Rhein und durch die Museen. Dann Köln, die Stadt Heinrich Bölls. Viele denken auch an Adenauer. Die Statistik sei nicht vergessen; ist Köln doch eine der wenigen Städte, in denen eine Frau Zahlenregie führt. 66 In diesem Jahr gibt es einen weiteren guten Grund, in Köln Station zu machen: Der 31. Evangelische Kirchentag. Anfang Juni kommen weit über 100 000 Menschen freundlich, friedlich und fröhlich zusammen, hören, singen und diskutieren. Viele hundert Veranstaltungen garantieren, dass für jeden etwas dabei ist; vorausgesetzt, er und sie ist bereit, zuzuhören, mitzudenken, sich auf Gedanken anderer einzulassen. Wer hingeht, sollte neugierig sein. So ein Kirchentag ist schon etwas besonderes. Vom Themenspektrum – keine Fixie- rung auf christliche Themen – und auch von den Leuten her. Geistliche und Gewerkschafter, Politiker und Polizisten, Unternehmer und Unterhalter, Müllmänner und Millionäre, Gläubige und Ungläubige begegnen sich. Und, wie schrieb der Spiegel noch: Zu einer normalen Großveranstaltung rükken zwei Gruppen an, um unter den Besuchern abzusahnen: Diebe und Dirnen. Beim Kirchentag nur erstere. Aber nach Köln sind Sie nicht nur für 2007, sondern auch für 2008 eingeladen. Dann findet dort die Statistische Woche statt. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Unwahre Antworten, eine Umfrage-Tatsache Ja. Nein. Weiß nicht. Reto U. Schneider, Zürich Die Internetumfrage, die wir im vergangenen September unter den Lesern des NZZ-Folio durchführten, erbrachte ein wenig schmeichelhaftes Resultat. Nicht für uns, sondern für 139 der 1883 Teilnehmer. Sie gaben an, das NZZ-Folio zum Thema „Katastrophen“ habe ihnen besonders gut gefallen. Bloß: dieses Folio hat es nie gegeben. Wir haben es samt gefälschtem Titelblatt in die Auswahlliste geschmuggelt. Das war gemein, aber aufschlussreich. Wir leben im Zeitalter der Umfragen. In der Woche, in der dieser Artikel entstand, haben Umfragen zum Beispiel ergeben, dass 70 Prozent der Araber Israel als Gefahr sehen, 90 Prozent der Altenrheiner Eltern mit dem Fahrplan des Schulbusses unzufrieden sind, 42 Prozent der englischen Frauen frühmorgens im Zug Sexphantasien haben. Die Informationspornographie aus steilen Kurven und drallen Kuchen hat mittlerweile die Frontseiten erreicht und erzeugt dort den Eindruck, nichts sei einfacher, als eine Umfrage durchzuführen. Welch ein Irrtum! Wer sich nie mit den Feinheiten des Fragebogendesigns auseinandergesetzt hat, weiß nicht, mit welchem Monster er es zu tun hat. Die Probleme beginnen bei der naiven Annahme, dass die Leute die Wahrheit sagen. Nach wissenschaftlichen Erkenntnissen lügen Menschen einige Dutzend Mal pro Tag. Warum sollten sie es ausgerechnet dann nicht tun, wenn sie eine wildfremde Person nach ihren Sexgewohnheiten und dem Monatslohn fragt? Viele Leute merken dabei noch nicht einmal, dass nicht stimmt, was sie sagen. Das war offensichtlich auch in unserer Umfrage der Fall. Wir können nur darüber spekulieren, was dazu geführt hat, dass 139 Leute ein Heft besonders gern gelesen haben, das sie nicht gelesen haben konnten. Sicher ist, dass die falsche Antwort mit den zwölf Heften zu tun hatte, die zur Auswahl standen. Hätten die Leute ihre Lieblingsthemen nicht bloß ankreuzen können sondern selber aufschreiben müssen, wäre keiner auf «Katastrophen» gekommen. Bei den meisten Umfragen werden heute MultipleChoice-Fragebogen eingesetzt. Zu jeder Frage stehen vorgegebene Antworten zur Auswahl. Das macht die Auswertung einfacher, können die Daten so doch direkt einem Statistikprogramm gefüttert werden, aber es hat eine Reihe von Nachteilen. Einer davon ist - wie unsere Umfrage zeigt -, dass vorgegebene Antworten die Leute auf Ideen bringen, die sie sonst nicht gehabt hätten. Auch machen MultipleChoice-Fragebogen differenziertes Antworten unmöglich. Kein Kommentar, kein Hinweis, wie die Antwort gemeint ist; alles, was den Teilnehmern bleibt, ist, etwas von dem nachzuplappern, was die Meinungsforscher als Auswahlsendung mitgeliefert haben. Das wirkt sich vor allem dann fatal aus, wenn die Frage unklar formuliert ist oder bei Stadtforschung und Statistik 1/ 07 den Antworten nicht an alles gedacht wurde. Auch in unserer Umfrage gab es einen solchen Fall. Wir fragten nach dem Durchschnittsgewicht von Folio-Redaktoren und bekamen einige E-Mails mit der Frage, ob auch FolioRedaktorinnen gemeint seien. Eine verhängnisvolle Zweideutigkeit: Das Durchschnittsgewicht der Folio-Männer beträgt 76,8 Kilogramm. Jenes von Männern und Frauen zusammen 71,4 Kilogramm. Die Schätzung lag bei 75,9 Kilogramm. Ob die missverständliche Formulierung einen Einfluss auf das Resultat hatte, bleibt unklar. Bei einer anderen Frage haben wir es bewusst darauf angelegt, dass sie unterschiedlich verstanden wird. Sie tauchte in zwei Versionen auf: Die eine Hälfte der Teilnehmer wurde gefragt: «Finden Sie, dass jeder Schweizer Rekrut das Folio lesen sollte?», die andere: „Finden Sie, dass man es jedem Schweizer Rekruten selber überlassen sollte, ob er das Folio lesen will?“. Dieselbe Frage in einem anderen Kleid mit erstaunlichen Auswirkungen. Die erste Version appellierte wahrscheinlich an den Wunsch nach einer besser informierten Jugend: 46 Prozent fanden, dass jeder Schweizer Rekrut das Folio lesen sollte. Ganz anders bei der zweiten Frage, die nach einer Einschränkung der Freiheit des Einzelnen klang: Nur 19 Prozent wollten es nicht jedem Schweizer Rekruten selber überlassen, ob er das Folio lesen will. Der andere Wortlaut Der Erstabdruck erfolgte in NZZ-Folio, Ausgabe Januar 2006. Lob für ein nichtexistentes Heft Zeitalter der Umfragen 67 JA. NEIN. WEISS NICHT. Irrende Meinungsforscher Unterschied zwischen Wort und Tat 68 hat die Zustimmung mehr als halbiert! Wer eine ernsthafte Umfrage durchführt, hat natürlich kein Interesse daran, die Teilnehmer in die Irre zu führen. Trotzdem sind unsere Testfragen kein Gag, sie rütteln auch an der Aussagekraft seriöser Befragungen. Wenn dieselbe Frage anders formuliert aus Befürwortern Gegner macht, können dann nicht alle Fragen so gestellt werden, dass sich das Resultat einer Umfrage ins Gegenteil verkehrt? Wenn 139 Leute ein Heft, das sie nie gesehen haben, zu ihrem Lieblings-Folio erklären, haben dann nicht noch viel mehr Leute Nummern, die ungeöffnet bei ihnen zu Hause liegen, zu ihren Favoriten erkoren - ohne auch nur eine Zeile darin gelesen zu haben? Nagen die 139 Leser des „Katastrophen“Hefts nicht auch an der Glaubwürdigkeit der 317 Leser, die angaben, das Heft «Krankenkassen» sei besonders toll gewesen? Eine Umfrage kann Einstellungen und Verhalten nie direkt erheben. Wir können nicht feststellen, ob jemand ein Folio wirklich gelesen hat, ob tatsächlich 97 Umfrageteilnehmer (5 Prozent) eine Tätowierung tragen und 434 (23 Prozent) das Folio auf der Toilette lesen. Eine Umfrage verrät nie, was die Leute tatsächlich denken oder tun, sondern nur, was sie sagen, sie würden es denken oder tun. Die Wahrheit lässt sich dem Leben nicht mit einem Fragebogen abringen. Das hat der amerikanische Soziologe Richard LaPiere schon 1930 herausgefunden. Er reiste mit einem befreundeten Paar aus China durch die USA. Die beiden wussten nicht, dass LaPiere sie für ein später berühmt gewordenes Experiment benutzte. Er führte exakt Buch über alle Begegnungen mit Hotelpersonal, Gepäckträgern, Kellnern. Damals lebten erst sehr wenige Asiaten in den USA, und viele Leute hatten ihnen gegenüber Vorurteile. Zu LaPieres Überraschung wurden die drei Reisenden fast überall ausgesucht höflich behandelt und nicht abgewiesen. Ohne sich zu erkennen zu geben, schickte er nach der Reise den besuchten Hotels und Restaurants einen Brief mit der Frage: «Würden Sie Angehörige der chinesischen Rasse als Gäste aufnehmen?» Fast alle sagten Nein, obwohl sie kurze Zeit zuvor genau das getan hatten. LaPiere zog daraus den Schluss, dass es mit Fragebogen grundsätzlich unmöglich sei, herauszufinden, wie ein Mensch in einer bestimmten Situation handle. Offenbar weiß er es selbst nicht. Etwas sagen und dann nicht Wort halten, das mögen die Demoskopen gar nicht. Als bei der letzten Bundestagswahl in Deutschland die Meinungsforscher mit ihren Prognosen danebenlagen, waren die Schuldigen schnell gefunden: Das Verhalten der Wähler sei „unbefriedigend“, hieß es. Dass sich der Bürger jedoch zu einem besseren Befragten umerziehen lässt, ist unwahrscheinlich, denn der Unterschied zwischen Wort und Tat ist einer von vielen Störeffekten, die eine Umfrage zum Hochseilakt machen. Ein anderer hat seine Ursache darin, dass die Teilnehmer in einem Fragebogen nicht vor allem ein Erhebungsinstrument sehen, sondern ein Kommunikationsmittel. Sie wissen, dass andere Menschen ihre Antworten auswerten werden, und wollen ihnen etwas mitteilen. Als erstes natürlich, was für tolle Kerle sie sind. Das war in unserer Umfrage nicht anders. Bei der Frage «Welche der folgenden Bücher haben Sie gelesen?» behaupteten 416 Teilnehmer „Ulysses“ von James Joyce. Das sind nur geringfügig weniger als jene, die den Bestseller „Sakrileg“ von Dan Brown angekreuzt hatten. Wer je die über 1000 Seiten, des selbst von Literaturliebhabern als „schwierig“ bezeichneten Werks, in Angriff genommen hat, wird zumindest einem Teil der 416 vermeintlichen JoyceKenner Hochstapelei unterschieben. Es ist ein Merkmal von Umfragen, dass niemand für seine Behauptungen geradestehen muss. Und solange man nicht zur Prüfung vorgeladen wird, macht man sein Kreuzchen eher bei Joyces „Ulysses“ als bei Metzlers „Grissini & Alpenbitter“, das mit 75 Stimmen (4 Prozent) am schlechtesten abschnitt. Aufdecken lässt sich diese Schummelei mit Umfragen, bei denen die Teilnehmer befürchten müssen, ihre Antworten könnten überprüft werden. Für eine Untersuchung mit dem Titel „Lügen Männer bei Angstumfragen?“ gaben Männer an, wie stark sie sich vor Fischen, Ratten, Mäusen und einer Achterbahnfahrt fürchteten. Einen Monat später wiederholte man den Test, informierte die Männern aber zuvor darüber, dass man sie nach dem Ausfüllen des Fragebogens an ein Pulsmessgerät anschließen und ein Video mit Fischen, Ratten, Mäusen und einer Achterbahnfahrt zeigen würde. Dieser Zusatz wirkte sich dramatisch auf die Antworten im Fragebogen aus. Mit der Möglichkeit konfrontiert, ihre Angst könnte objektiv gemessen werden, schätzten die Männer sie im Fragebogen plötzlich höher ein Stadtforschung und Statistik 1/ 07 JA. NEIN. WEISS NICHT. als einen Monat zuvor im ersten Test. Selbst anonym durchgeführte Umfragen, die keine Gefahr bergen, dass man plötzlich als Lügner dasteht, sind vor Verfälschungen nicht sicher. Wenn kein anderer da ist, den man belügen kann, belügen die Leute halt sich selbst. Jeder Fragebogen ist eine Einladung zur Selbsttäuschung. Natürlich hätte man «Ulysses» gern gelesen, einmal hat man ja tatsächlich vierzig Seiten geschafft, und bis die Umfrage ausgewertet ist, ist ja noch etwas Zeit. Der Mensch legt sein zutiefst soziales Wesen in Umfragen nicht ab. Das ist der Grund dafür, dass die Antwort nicht nur von der Frage abhängt, sondern auch davon, wer sie stellt. In einer Untersuchung haben männliche Studenten ein und denselben Fragebogen zum Beispiel anders ausgefüllt, je nachdem, ob sie von einer Forschungsgruppe „Auswirkungen der Frauenbewegung“ befragt wurden oder von einer Forschungsgruppe „Selbstkonzept“. Wie stark soziale Normen Meinungsbefragungen beeinflussen, hat auch eine Untersuchung gezeigt, bei der die Versuchsteilnehmer die Leistung eines Computers einschätzen mussten. Ihr Urteil fiel deutlich positiver aus, wenn sie die Evaluation an seinem Bildschirm vornahmen, als wenn sie dafür einen ändern Computer benutzten. Offenbar haben Menschen sogar Hemmungen, einem Computer offen ihre Meinung zu sagen. Alle diese Effekte sind schon lange bekannt. Nur: Was kann man dagegen tun? Wie sollen wir die 139 „Katastrophen“Leser und die 416 Möchtegern-Joyce-Kenner behandeln? Was machen wir mit den Teil- nehmern, die das Durchschnittsgewicht der Folio-Redaktion auf 120 Kilo schätzten? Sollen wir sie von der Auswertung ausschließen? Oder wäre das übertrieben? Wahrscheinlich haben sie sich ja nur bei einer Frage einen Spaß erlaubt. Ungerecht wäre es jedenfalls gegenüber jenen Leuten die sich tatsächlich bis zur letzten Seite durch „Ulysses“ gekämpft haben. Die Fragebogenforschung hat verschiedene Methoden hervorgebracht, um Antworten auf ihre Zuverlässigkeit zu prüfen. Zum Beispiel kann man die gleiche Frage anders formuliert mehrmals einsetzen. Fallen die Antworten nicht konsistent aus, wurde die Befragung offenbar nicht ernst genommen. Oder man enttarnt Leute, die zu sozial erwünschten Antworten neigen, mit sogenannten Lügenskalen: Das sind Fragen nach negativem, aber verbreitetem Verhalten. Wer auf die Frage «Greifen Sie manchmal zu Notlügen?» mit «Nein» antwortet, dürfte genau das getan haben. Diese Verfahren sind aufwendig und werden vor allem verwendet, um Fragebogen vor ihrem Einsatz in wissenschaftlichen Studien auf ihre Aussagekraft hin zu prüfen. Doch so raffiniert sie auch sind, Umfragen liefern immer nur eine Karikatur der Realität. Sie zeigen im Extremfall nicht mehr, als an welcher Stelle eine bestimmte Person Kreuzchen gemacht hat. Unsere nicht einmal das. Die 1883 im Internet ausgefüllten Fragebogen könnten nämlich theoretisch von einer einzigen Person stammen. Natürlich ist es unwahrscheinlich, dass sich jemand diese Mühe gemacht hat, aber dass Leute an anonymen Internet- und Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Telefonumfragen mehrmals teilnehmen, um das Resultat zu manipulieren, ist wahrscheinlich. Vor allem wenn sie wissen, dass das Ergebnis in den Medien publiziert wird. Und selbst wenn sich keine Wiederholungstäter an unserer Umfrage beteiligten, gehorchte die Auswahl der Teilnehmer doch höchst dubiosen Regeln. Mit der Entscheidung, eine Internetumfrage durchzuführen, haben wir einen Viertel der Folio-Leser zum Vornherein ausgeschlossen: jene, die das Internet nicht regelmässig benutzen. Und auch von den Internetbenutzern wurden nur jene berücksichtigt, die von der Umfrage erfahren und gerade Zeit und Lust hatten, die Fragen zu beantworten. Aus repräsentativen Umfragen wissen wir, dass das Durchschnittsalter unserer Leser bei 45 Jahren liegt. Die Teilnehmer der Internetumfrage waren durchschnittlich 40 Jahre alt. Die Methode hat sich die Teilnehmer sozusagen selbst ausgesucht und damit wohl für die 32 Prozent gesorgt, denen das Heft über Studenten besonders gefallen hat. Wer sonst ist ständig online und hat Zeit? Trotz ihren Mängeln sind anonyme Umfragen beliebt, vor allem weil sie im Internet vollkommen automatisiert werden können und deshalb billig sind. Kaum eine Site, auf der die Besucher nicht ihre Meinung zu Kampfhunden, Osteoporosebehandlungen oder NZZ-Folio-Rubriken abgeben können. Als beliebtes Element auf Websites von Zeitungen finden die Resultate auch den Weg in herkömmliche Medien. Welche Folgen die Flut der Kuriositäten aus dem Reich der Prozente dort hat, bleibt ungewiss. Weil diese InstantUmfragen die Macht haben, Einladung zur Selbsttäuschung Problematische Internetumfrage 69 WILLKOMMEN IN THÜRINGEN nicht nur Meinungen zu transportieren, sondern sie auch zu prägen, müsste der Staatskundeunterricht um das Fach «Umgang mit Umfragen» erweitert werden. Dort würde man als erstes erfahren, dass Misstrauen das wichtigste Instrument beim Deuten von Umfragen ist. 500 Teilnehmer unserer Befragung (27 Prozent) behaupten, die Rubrik «Guter Rat» regelmäßig gelesen zu haben. Den «Guten Rat» finden Sie auf Seite 13 - in dieser Ausgabe des Folios zum ersten Mal. Anmerkung der Redaktion: Die NZZ-Folio ist eine Monatszeitschrift, die der „Neuen Züricher Zeitung“ beiliegt, und sich jeweils einem besonderen Thema widmet. In der Ausgabe, der dieser Beitrag entnommen ist, lautete das Motiv „Statistik – Zählen und gezählt werden“. Weitere, ebenfalls lesenswerte Beiträge handeln von EUROSTAT, das als „Echo- lot Europas“ bezeichnet wird; befassen sich mit widersprüchlichen medizinischen Studien und gehen auf die stetig wachsende Bedeutung ein, die die Statistik bei Gerichtsurteilen spielt. Statistik im Sport, beim Lotto und über den Bestseller „Der Bibelcode“ ergänzen das Spektrum. Eigentlich jeder Statistiker sollte diese Ausgabe gelesen haben. Frühjahrstagung 2007 Willkommen in Thüringen Bernhard Schletz, Gera Die Ostthüringer Stadt Gera, im grünen Herz Deutschlands und an der Wiege des Vogtlandes gelegen, sagt zur Frühjahrstagung der Kommunalstatistiker ein herzliches „Willkommen“. Vom 19. bis 21. März 2007 sollen sich die Mitglieder des VDSt und deren Gäste im Oberzentrum des Freistaates Thüringen wohl fühlen und im regen Meinungsaustausch die Jahrestagung 2007 in Kiel vorbereiten. Die Stadt Gera erlebte bis zum Jahr 1989 einen regen wirtschaftlichen Aufschwung und damit eine stetige Zunahme der Einwohnerzahlen bis auf fast 135 000 Personen. Danach wirkte besonders die veränderte wirtschaftliche Situation auf eine erhöhte Abwanderungsrate und auf verminderte 70 Geburtenzahlen, so dass bisher eine Abnahme der Einwohnerzahl auf rund 104 000 Personen zu verzeichnen war. Mit der zahlenmäßigen Abnahme der Einwohnerzahl war auch ein beschleunigter Anstieg des Durchschnittsalters der Geraer Bevölkerung zu verzeichnen, womit der Zustand einer „schrumpfenden und alternden Stadt“ auch auf Gera zutrifft. In den zurückliegenden Jahren wirkten sich für Gera besonders die Förderprogramme Urban II und Stadtumbau Ost sowie die Maßnahmen bei der Vorbereitung der Bundesgartenschau 2007 sichtbar günstig auf die städtische Entwicklung der Stadt Gera aus. Umfassende Bauprojekte wirkten auf die Verschönerung der Stadt und auf eine Verbesse- Stadtforschung und Statistik 1/ 07 WILLKOMMEN IN THÜRINGEN rung der Versorgung der Einwohner der Stadt und des Umlandes. Erstmals wird für eine Frühjahrstagung des VDSt eine Verbindung der Unterbringung mit dem Tagungsgebäude bei begünstigter Verkehrslage bestehen. Das „Dorint Novotel Gera“ bietet uns einen kostengünstigen Hotelaufenthalt und eine umfassende Betreuung. Kurze Wege in die Stadtmitte von Gera und zum Hauptbahnhof sowie eine direkte Anbindung an die Autobahnabfahrt 58 a der A 4 sowie zu den Bundesstrassen B 2, B 7 und B 92 sichern eine gute verkehrstechnische Erreichbarkeit; eine Haltestelle der Straßenbahnlinie 3 befindet sich vor dem Hotel. Ist die Stadt Gera in Vorbereitung der Bundesgartenschau, die am 27. April 2007 beginnt, auch zum Zeitpunkt unserer Tagung bestimmt noch ein riesiger Bau- und Pflanzplatz, so sind bestimmt die gegenwärtigen Verkehrsbehinderungen vorüber und ein sehenswertes Stadtbild zu vermitteln. Wir freuen uns auf alle Gäste in unserer Stadt und wünschen auch Ihnen einen angenehmen Aufenthalt zur Frühjahrstagung 2007 in unserer Stadt. Eine erweiterte Übersicht zur Stadt Gera finden Sie im Internet unter: „www.gera.de“. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 71 Zweites Treffen der Ex-AG Im Welterbe Dresdner Elbtal Horst-Jürgen Wienen, Bochum Hervorragende Vorbereitung Königstein 72 Dank sei Stefan P. aus N. im Fläming halbwegs zwischen Berlin und Leipzig: Mein Freund war einer der mutigen Teilnehmer an den Leipziger Montagsdemonstrationen, die mit dem Ruf „Wir sind das Volk!“ und dann mit der wichtigen Abwandlung „Wir sind ein Volk!“ Auslöser der Auflösung der DDR wurden. Der Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland wurde durch den entsprechenden Vertrag von 1990 besiegelt, dessen nun alle Deutschen am Tag der Deutschen Einheit, dem 3. Oktober jeden Jahres, gedenken. Ohne das alles wäre ich höchstwahrscheinlich nicht mehrfach dienstlich (bis 2002) nach Dresden gekommen und ebenso nicht „nachdienstlich“ als Mitglied der Ex-AG. Endlich konnte ich, wie die anderen – drei mit ihren Ehefrauen – alles das einmal länger und eingehender erleben, was die Landeshauptstadt Dresden in ihrem Faltblatt – amtlich korrekt – als „Welterbe Dresdner Elbtal“ bezeichnet. Bislang hatte ich immer die Stadt und davon lediglich die Altstadt selbst durchstreift, jetzt sollte ich auch das Elbtal und die sächsische Schweiz endlich kennenlernen. Zeitlich war die Statistische Woche so organisiert, dass von Montag bis Mittwoch das wissenschaftliche Programm lief und sich danach jeder am Donnerstag und Freitag der Ex-AG anschließen durfte. Immerhin kamen elf Teilnehmerinnen und Teilneh- mer der Einladung nach, somit durchaus statistisch signifikant mehr als bei der Premiere anlässlich der Frühjahrstagung 2006 in Koblenz. Wie sich herausstellte, war der Zuspruch der Ex-AG-Teilnehmer zum vorangehenden wissenschaftlichen Abschnitt recht unterschiedlich. Zwei aus der Schar der Kolleginnen und Kollegen, die man seinerzeit in studentischem Jargon als die activitas bezeichnet hätte, stiegen komplett ein, andere selektiv je nach Interesse. Man wurde unmittelbar mit einer neuen Begrifflichkeit für den städtestatistischen Dienst konfrontiert, der „Nummerischen Heimatkunde“, den einer der Referenten in die Debatte einführte. Einige erschienen nur zur Hauptversammlung des Verbandes am Dienstag insbesondere wegen der Verabschiedung des langjährigen bisherigen Verbandsvorsitzenden und der Begrüßung des per Briefwahl bereits gewählten neuen. Wiederum andere kamen pünktlich zu Beginn des Ex-AG-Programms am Donnerstag Morgen. Ich selbst habe so etwas wie eine mittlere Variante gewählt: die Anreise am Dienstag aus Berlin, wo ich einige Tage verbracht hatte, mit dem Ziel, im Anschluss an die erwähnte Hauptversammlung und dem folgenden Mittwoch in aller Ruhe zu erkunden, was mir bis dahin bei den Dresdenbesuchen zuvor kennenzulernen nicht gelungen war. Was gab es denn nun Donnerstag und Freitag? Geboten wurde ein vom Leiter der ExAG hervorragend vorbereitetes Programm mit einer geradezu höchstpersönlichen und liebevollen Betreuung bei der Abwicklung. Wie zu erfahren war, hatte er sogar zuvor alles eingehend erprobt: sämtliche geplanten Ausflugsfahrten, Hotelübernachtungen, Besichtigungen und dergleichen mehr. Kann man mehr verlangen? Für den Donnerstag stand ein Tagesausflug nach Königstein im Elbsandsteingebirge auf dem Programm. Bei mediterranem Wetter erfolgte die Anreise mit der S-Bahn von Dresden aus elbeaufwärts. Endlich hatte ich einen ersten, ja langersehnten Eindruck vom Welterbe Elbtal. Alle, die gut zu Fuß waren, wanderten vom Bahnhof Königstein in rund einer Dreiviertel Stunde auf die Festung Königstein; die anderen benutzten den Festungsexpress, einen Oldtimer-Omnibus. Oben erwartete uns ein überwältigender Rundblick beim Gang die Festungsmauern entlang. Einige Sehenswürdigkeiten erforderten ihre Zeit, wie etwa das Artillerie-Museum oder die Brunnenanlage. Allseits gelobt wurde die Gastronomie, besonders die raffinierten Kuchensorten und die appetitanregende ungewöhnliche Schneideform der Kuchen in einer allen anwesenden Freunden guten Essens bis dahin unbekannten lang Stadtforschung und Statistik 1/ 07 IM WELTERBE DRESDNER ELBTAL gestreckten Form. Nach der Rückfahrt klang der Tag mit einem gemeinsamen Abendessen in einer dem Hotel nahegelegenen Gaststätte aus. Der Freitag startete im Rathaus: Der „Beauftragte für Nachhaltigkeit der Landeshauptstadt Dresden“, auch zuständig für das Büro Welterbe Dresdner Elbtal, führte in einem fulminanten Vortrag in die vielfältigen Fragestellungen der Stadtentwicklung ein. Die Diskussion um den politisch und rechtlich reichlich umstrittenen Bau der Waldschlösschen-Brücke, von den Befürwortern genau im Mittelpunkt des Welterbes im lieblichen Elbetal als notwenig erkannt, ließ er dabei keineswegs aus. Mittags, wiederum bei Kaiserwetter, fuhren wir mit einem der neun im Elbtal kreuzenden Raddampfer nochmals elbeaufwärts, diesmal jedoch nach Pillnitz, und spazierten durch den Schlosspark mit seinen Schlössern. Auf dem Schiff oder im Schlossbereich speisen, das war für manche von uns schwer zu entscheiden! Zurück in Dresden, gerade passend zur Tee- bzw. Kaffeezeit, fand sich die Ex-AG auf der Terrasse des Landtags ein, mit einem wunderschönen Blick auf das historische AltstadtDresden. Den Abend gestalteten die Teilnehmer individuell: Ich entschied für mich, dem Tipp eines Kollegen zu folgen, und schlenderte über die Elbbrücke bis zum Goldenen Reiter – einer vollvergoldeten Reiterstatue von August dem Starken – und weiter durch die Dresdner Neustadt, um von dort aus später am Abend die Altstadtfront jenseits der Elbe in voller Illumination zu genießen. Das war das Welterbe bei Nacht... Monats an der ursprünglichen Stelle in Anwesenheit der Bundeskanzlerin eröffnet, übertrifft alles. Wer bis hierher gelesen hat, wird vielleicht fragen, was ich denn wohl am Mittwoch unternommen habe. Nun, morgens konnte ich das Deutsche Hygiene-Museum besuchen. Es ist das einzige in Deutschland, womöglich sogar auf der Welt. Die aktuelle Zusatzausstellung „Mythos Dresden“ aus Anlass des 800sten Geburtstags der Stadt in diesem Jahr ließ ich mir nicht entgehen. Ein Rundgang durch die Altstadt schloss sich an, auch um den Fortschritt des Wiederaufbaus nach dem Bombardement am 13. Februar 1945 persönlich zu erkunden und es nicht bei der Kenntnis aus der gerade besuchten Ausstellung und den Medien zu belassen. Ein markantes Beispiel ist die wiedererstandene Frauenkirche, die ich seinerzeit als Ruine sah, das Lutherdenkmal davor „eingebettet“ in Steine und Geröll. Ein ganz besonderes Glück hatte ich, als mir jemand umständehalber eine Eintrittskarte für das Historische Grüne Gewölbe zum Einlass zwischen 19:30 h und 19:45 h anbot; die Warteliste erstreckte sich immerhin bis etwa Mitte Januar 2007 (oder es bedurfte eines früh beginnenden und langen Anstehens, um eine Karte aus dem schwankenden Restkarten-Kontingent des jeweiligen Tages zu ergattern, diese Mühe blieb mir also erspart). Ohne überheblich zu wirken, möchte ich behaupten, viel Schönes auf dieser Welt bereits gesehen zu haben; aber diese berühmte Preziosensammlung, frisch Anfang des Zu Recht sprach der Nachhaltigkeitsbeauftragte bei seinen Ausführungen davon, dass Dresden in den Kreis der Weltkulturstädte zurückgekehrt sei. Bei der angesprochenen Eröffnung gab der sächsische Ministerpräsident den Hinweis, dass die Dresdner Museen nun wieder auf Augenhöhe mit dem Louvre und dem Metropolitan Museum in New York seien. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Mythos Dresden Zwei kleine Nachträge darf ich nicht vergessen: Nachtrag Nr. 1: Wer sich näher über das Welterbe Dresdner Elbtal informieren will, dem sei ein Blick ins Internet empfohlen: www.unesco-welterbe.de/de/ presse/texte/deutsch/ dresden.doc; Eingehende Informationen zu Pillnitz und seinen Schlössern erhält man unter: www.schloesser-dresden.de/ de/pillnitz. Und alles über Statistische Wochen findet sich wie immer unter www.staedtestatistik.de. Grünes Gewölbe Nachtrag Nr. 2: Unser Leiter der Ex-AG plant intensiv zusammen mit dem örtlichen Statistik-Chef das Programm der „Ex-AG Gera 2007“. Auf ein Wiedersehen dort! August der Starke 73 Statistische Woche in Dresden Weder Sekt noch Selters Martin Schlegel, Hagen Wie viel soll man beim Rückblick auf die Statistische Woche in Dresden eigentlich schreiben? Eine Seite? Schon steht der Vorwurf im Raum, man werde der Stadt nicht gerecht. Der Vorwurf wäre völlig berechtigt. Frauenkirche, Rathaus, Ständehaus, Schloss, Hofkirche, Semper Oper, Zwinger, Augustusbrücke, Elbe – um nur ein paar Highlights zu erwähnen – und zudem das vielfältige Tagungsprogramm. Das kann man nicht in eine Seite zwängen. Und vor allem: Das Ambiente. Selten habe ich eine Stadt mit so viel Ambiente erlebt. Vielleicht lag es mit daran, dass die Statistische Woche wieder glänzend vorbereitet und durchgeplant war und das Wetter bestens mitspielte. Gute Referate – wenn auch mal ein Überraschungskandidat darunter war – in einem guten Tagungsgebäude erlaubten eine tolle Tagung. Auch das Rahmenprogramm, das durch die Ex-AG schon ein paar Tage früher begann, passte bestens. Und wenn dann mal ein Fehler passierte wie beim Besuch im Grünen Gewölbe geschehen –, wurde vorbildlich reagiert. Eine Seite als Rückblick kann also nicht sein. Doch der angemessene Umfang – die Sektvariante – ist nicht drin. Ich sehe eigentlich nur eine Lösung: Machen Sie sich selbst ein Bild von Dresden. Fahren Sie mal hin. Ohne Statistik ist die Welt nur ungefähr. Computer: Motor der Statistik Neue geben Einblicke Martin Schlegel, Hagen „Statistiker sind humorlose Gesellen.“ An diesem Vorurteil stimmt aber auch gar nichts. Erstens sind wir keine Gesellen, sondern Meister. Zweitens begegnen uns immer wieder viele humorvolle Kolleginnen und Kollegen. Ganz offenbar wird das bei den Neumitgliedern. Beim Eintritt in den VDSt bekommt jeder traditionsgemäß ein paar Halbsätze zugemailt, mit der Bitte verbunden, einige davon zu ergänzen. Das in den Rückläufen gezeichnete Bild zeigt eine deutliche Verbindung aus Ernsthaftigkeit und Humor, eine gute Basis für qualitätsvolle Arbeit. Lesen Sie selbst, was einige der Neumitglieder aus den Halbsätzen gemacht haben, wo ihre Interessen und Befürchtungen sind, was sie von Statistik erwarten und was Statistik leisten soll. Lernen Sie die Neuen auf diesem Weg schon ein wenig kennen, bevor Sie ihnen persönlich begegnen. Anne-Kristin Detert, Statistik-Abteilung, Gera, [email protected] 74 Die Hauptaufgabe der Statistik besteht darin, umfassende, relevante und aktuelle Informationen über alle gesellschaftlichen Bereiche möglichst zeitnah und kontinuierlich den Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft, der Wissenschaft und nicht zuletzt dem interessierten Bürger bereitzustellen. Wichtig bei einer Grafik ist, dass Inhalt und Aussage auch ohne beschreibenden Text verstanden werden können. Mein Lieblingsgebiet in der Statistik ist die Bevölkerungsstatistik. Wäre ich nicht Statistiker geworden, keine Ahnung – bin ich ja auch nicht „von Hause aus“. Die Statistik steht vor dem Problem, nicht immer ausreichend genug ernst genommen zu werden. Ein Tag ohne Statistik ist für mich im Urlaub oder am Wochenende auch mal ganz ok. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 NEUE GEBEN EINBLICKE Ein Computer ist für mich ein notwendiges aber nicht immer zu verstehendes Arbeitsmittel. Die Stadt, in der ich arbeite, bereitet sich mit Hochdruck auf ihre Gastgeberrolle bei der BUGA 2007 vor! Die Stadt, in der ich arbeite, ist die Stadt der Mobilität. Ein Computer ist für mich der Motor der Statistik, mit dem immer höhere Geschwindigkeiten erreicht werden können. Statistik und Politik, das ist wie Auto fahren mit eingeschalteten Scheinwerfern. Also sicherer und schneller, aber das Licht kostet auch ein bisschen was. Eine gute Statistik erkennt man daran, dass die Entwickler die Ausstattung auf die Zielgruppe zugeschnitten haben, so dass sie anschließend auch gerne verwendet wird. Eine gute Statistik erkennt man außerdem daran, dass sie nicht nur im Neuzustand benutzt wird, sondern auch noch als Oldtimer. Meine Hoffnung besteht darin, dass die Städtestatistik dank ihrer Flexibilität und Wendigkeit den wachsenden Anforderungen der Informationsgesellschaft gerecht wird. An viele Ziele kommt man schneller mit dem kleinen Smart als mit dem großen ICE. Wäre ich nicht Statistiker geworden, dann vielleicht Hausmann (mit s statt ß). Michael Haußmann, Diplom-Geograf, Abteilungsleiter im Statistischen Amt Stuttgart, [email protected] Eine gute Statistik erkennt man daran, dass die umfassend und doch leicht verständlich ist. Die Hauptaufgabe der Statistik besteht darin, Entwicklungen und Zusammenhänge aufzuzeigen. Statistiken liefern wichtige Informationen, aber bedürfen einer sorgfältigen Interpretation. Eine gute Tabelle ist eine Tabelle in der „mein“ Handballverein ganz oben steht. Statistik ist für mich das Informationsmittel der Mündigen. Im nächsten Jahr möchte ich keine Wahl und keinen Bürgerentscheid durchführen müssen. Hans-Jürgen Neuhausen, Diplom-Sozialwissenschaftler, Stadt Krefeld, FB 31 Bürgerservice, Leiter der Abteilung Statistik und Wahlen, [email protected] Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie objektive Sachverhalte nachvollziehbar darstellt. Die Hauptaufgabe der Statistik besteht darin, Politik und Öffentlichkeit nicht hinters Licht zu führen. Statistiken liefern wichtige Informationen, aber sie können falsch interpretiert werden. Mein Lieblingsgebiet in der Statistik ist die Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsstatistik. Wenn ich in einer eigenen Tabelle einen Fehler entdecke, korrigiere ich ihn umgehend. Umfragen nützen dem, der sie in Auftrag gibt. Ein Computer ist für mich ein nützliches Arbeitsgerät. Wer ohne Zahlen argumentiert, hat ein Argumentationsproblem. Der Datenschutz ist für mich wichtig, wenn es sich um personalisierte Einzeldaten handelt. Die nächste Volkszählung sollte ein registergestützter Zensus sein. Frank Neumann, Diplom-Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, Stadt Köln, Amt für Stadtentwicklung und Statistik, Abt. Statistik und Informationsmanagement, [email protected] Eine gute Statistik erkennt man daran, dass sie zitiert wird (und gleichzeitig methodisch nachvollziehbar und plausibel ist). Wichtig bei einer Grafik ist, dass sie auch ohne großen Begleittext verständlich ist. Wenn ich in einer eigenen Tabelle einen Fehler entdecke, hoffe ich erstens, dass sie noch nicht veröffentlicht gedruckt ist und zweitens, dass ich die Ursache des Fehlers ohne weiteres finde. Im nächsten Jahr möchte ich meiner großen Tochter die Städte London und Manchester zeigen. Die Statistik steht vor dem Problem, dass sie oft kein „Bestseller“ ist. Ohne Statistik ist die Welt nur ungefähr. Ein Computer ist für mich (auch privat) lebensnotwendig (Kinoprogramm, Emailen mit Freunden, Online-Banking, Fahrplanauskünfte des ÖPNV, Bibliotheken“gänge“). Wer ohne Zahlen argumentiert, ist ignorant. Statistik und Politik, das ist eigentlich untrennbar. Antje Seidel-Schulze, Dipl. Soz.Wiss., Deutsches Institut für Urbanistik, Arbeitsbereich Wirtschaft und Finanzen, Berlin, [email protected] Stadtforschung und Statistik 1/ 07 75 Stabwechsel beim Verband Deutscher Städtestatistiker Zwölf Jahre hat er den Verband als Vorsitzender erfolgreich geführt: Dr. Ernst-Joachim Richter verabschiedete sich in seine nächste – außerberufliche – Lebensphase. Die Mitgliederversammlung dankte ihm während der Statistischen Woche 2006 in Dresden für sein Engagement für die Anliegen der Städtestatistik, die er in zahlreichen Gremien und Projekten sowie bei ungezählten Anlässen kompetent und überzeugend vertreten hat mit der Ehrenmitgliedschaft im Verband Deutscher Städtestatistiker. Der Neue: Rudolf Schulmeyer, bisher stellvertretender Vorsitzender. Dr. Richter übergab ihm mit dem Mitgliederverzeichnis symbolisch die Verantwortung für die 300 dem Verband Deutscher Städtestatistiker angehörenden Kolleginnen und Kollegen. In den folgenden Zeilen stellt sich das Quartett an der Spitze des Verbandes kurz vor. Rudolf Schulmeyer, Vorsitzender des Verbandes Deutscher Städtestatistiker Amtsleiter in Frankfurt am Main, Bürgeramt, Statistik und Wahlen Zum Berufseinstieg hat es den Diplom-Volkswirt 1975 direkt in die Städtestatistik verschlagen, und die hat ihn festgehalten. Bis 1997 im Statistischen Amt der Stadt Köln, zuletzt als Leiter der Abteilung Stadtforschung, Strategisches Informationssystem und Datenverarbeitung. Seit 1997 als Leiter des Bürgeramtes, Statistik und Wahlen der Stadt Frankfurt am Main. Seine Arbeitsschwerpunkte: Aufbau und Weiterentwicklung eines zeitgemäßen kommunalen Informationssystems durch Integration zukunftsweisender DV-Technik, Methoden und Raumbezug mit der Informationsbasis aus amtlicher Statistik, Verwaltungsverfahren und kommunaler Marktforschung. Inhaltliche Schwerpunkte bilden Demografie, Wahlanalyse, Umfrageforschung, Geografisches Informationssystem und Raumbezug. Bei der langen Zeit in der Städtestatistik kein Wunder: Die Teilhabe an interkommunalen und internationalen Forschungs- und Kooperationsprojekten sowie die Mitarbeit beim Deutschen Städtetag. Aber auch diverse Mitgliedschaften und Funktionen: Mitglied im Verband Deutscher Städtestatistiker seit 1975, von 2003 bis 2006 stellvertretender Vorsitzender. Seit 1976 Mitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft, zurzeit kooptiertes Vorstandsmitglied. 2000/01 stellvertretender Vorsitzender des KOSIS-Verbundes, 2004/05 Vorsitzender. Seit 2004 Geschäftsführung der Arbeitsgemeinschaft Kommunalstatistik (KOSTAT) und der KOSIS-Gemeinschaft Kommunales Rauminformationssystem (KORIS). Schulmeyer: „Der Verband ist heute so wichtig wie bei seiner Gründung vor 125 Jahren. Es ist erfreulich, dass in den Städten die Bedeutung fundierter Informationsgrundlagen wieder erkannt wird. Es geht darum, die kommunale Planungshoheit und Selbstverwaltung zu erhalten und den demografischen, sozialen und wirtschaftlichen Wandel zu beherrschen. Das in den Städten verteilte Expertenwissen und die fachlichen Kompetenzen zu vernetzen und damit zum Nutzen der eigenen Stadt zu verstärken ist ein Hauptanliegen des Verbandes Deutscher Städtestatistiker.“ 76 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 STABWECHSEL BEIM VERBAND DEUTSCHER STÄDTESTATISTIKER Hermann Breuer, Stellvertretender Vorsitzender Abteilungsleiter Statistik und Informationsservice im Amt für Stadtentwicklung und Statistik der Stadt Köln Als gebürtiger Kölner verbrachte ich in dieser Stadt meine Jugend. Am Gymnasium Kreuzgasse erwarb ich 1972 meine Hochschulreife und startete 1974 nach dem Zivildienst ein Studium an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm Universität Bonn mit den Fächern Geschichte, Geographie und Politologie und dem Studienziel Lehramt. Nach vier Semestern hielt ich einen Kurswechsel für angezeigt und konzentrierte mich auf die Geographie mit dem Abschlussziel Diplom und nahm interessante und skurrile Nebenfächer wie Städtebau und Wasserwirtschaft in mein Studienprogramm auf. Sie brachten mich zwar nicht zum konstruktiven Wasser- und Kanalbau, aber die Arbeit an Fragestelllungen der Stadtsanierung und -erneuerung, der Flächennutzungs- und Bauleitplanung ergänzten sich bestens mit dem innovativen Curriculum von Politischer Geographie und Wirtschaftsgeographie. Das Hauptforschungsfeld meines wichtigsten Hochschullehrers, Professor Klaus-Achim Boesler, die Raumwirksamkeit staat–lichen Handelns, ließ mich bald ahnen, das dies "mein Ding" sein könnte. Mein Berufseinstieg in der Industrie- und Handelskammer zu Köln mit dem Projektauftrag, den Strukturatlas der Kammer neu aufzulegen, brachte mich – bei Licht besehen – 1981 schon recht nah an das heran, was man heute Informationsmanagement und GIS nennt. Der Strukturatlas der IHK, ein wirtschaftliches Standortprofil aller Kommunen im Kammergebiet in Verbindung mit einer Datensammlung ansiedlungsrelevanter Kennziffern der ausgewiesenen und geplanten Gewerbegebiete, wird heute längst datenbankgestützt fortgeschrieben und im Internet bereitgestellt. Aber die Arbeit zusammen mit Graphikagentur und der Bereisung aller Wirtschaftsförderungsinstitutionen war der für mich der beste aller Einstiegsjobs. Danach ging’s zurück an den Lehrstuhl von Professor Boesler mit Forschungsprojekten zur Raumwirksamkeit der Rohstoffpolitik der Bundesregierung am Beispiel der Nichteisen-Metallindustrie und ihrer Vernetzung in bzw. mit der Standortregion. Weitere Gutachten reichten von regionaler Wirtschaftsentwicklung und Arbeitsmarktprognosen bis zur Wahrnehmung kommunaler bzw. öffentlicher Räume durch Frauen und Mädchen und der Ermittlung der Mental Map ihrer „Angsträume“. Nach fünf Jahren wechselte ich 1988 auf eine Planstelle Grundsatzfragen im Amt für Wirtschaftsförderung der Stadt Köln und von dort geriet ich 1990 endgültig ins Gravitationsfeld der Statistik. Ein Kulturschock ersten Ranges, von dem ich mich nur langsam erholte. Nachdem der Statistikvirus nach abgeschlossener Inkubationszeit dann endgültig von mir Besitz ergriffen hatte, lagen harmonische Jahre vergleichsweise ruhigen Statistikerlebens vor mir. Schon bald ließ ich mich zum Eintritt in der VDSt überreden und übernahm dann auch willig den Finanzausschuss, der in Finanzen und kommunales Controlling umfirmierte. Die Städtestatistik schien gut beraten, sich früh auf moderne Stadtsteuerung einzustellen und sich mit ihren für die damalige Zeit doch innovativen Datenmodellen erfolgreich in der Kommunalverwaltung zu positionieren. Allerdings befand sich der Ausschuss doch schon bald in eine Position „zwischen Baum und Borke“: Diejenigen, die von Amts wegen die Aufgabe Controlling und Stadtsteuerung ausfüllten, nahmen die Statistik günstigstenfalls als ärgerliche Konkurrenz wahr, ungünstigstenfalls nahmen sie sie gar nicht ernst. Schlussendlich hat der Rückzug des Controllings von seiner strategischen Zielausrichtung zur reinen Kostenkontrolle die Aufgabenstellung dieses Ausschusses erodiert. Die dramatische Einnahmesituation in den Städten und die hieraus folgenden organisatorischen Rahmenbedingungen für die kommunale Statistik waren nicht zuletzt auch die Faktoren, die meiner Meinung nach den VDSt zu Anpassungsmaßnahmen seiner Organisationsstrukturen, sprich Auflösung der Ausschüsse brachte. Nach turbulenter Zeit der Amtsauflösung, kommissarischer Amtsleitung und harter Landung mit weiteren Schiffbrüchigen namens Stadtentwicklung und Baukoordination und Neufirmierung unter dem Segel von Stadtentwicklung und Statistik, segele ich nunmehr mit meinen Kollegen aus den Bereichen Stadtforschung, Informationsservice, Raumbezugssystem und Data Warehouse auf den Meeren der Kölner Verwaltung. Wir bekehren ungetaufte Verwaltungseingeborene mit der Kunst, Daten und Informationen als Würfel und in Raumbezügen zu denken, Umfragen über uns zu starten und gemeinsam mit uns das Gebet „zum großen Monitor“ zu sprechen. Das Segeln am Wind schweißt zusammen und mit den Erfahrungen aus mancher Havarie, aber auch aus erfolgreichen Eroberungen hoffe ich dem VDSt dienen zu können. Stadtforschung und Statistik 1/ 07 77 STABWECHSEL BEIM VERBAND DEUTSCHER STÄDTESTATISTIKER Dr. Ruth Schmidt, Dr. Roland Jeske, Schriftführerin Amt für Statistik und Wahlen, Leipzig, Abteilungsleiterin Information Geboren wurde ich in Halle an der Saale. Dort verbrachte ich auch meine Schulzeit, die ich mit dem Abitur an der Martin-Luther-Universität Halle beendete. Anschließend studierte ich Mathematik an der Universität Halle und der Technischen Hochschule Merseburg. Nach dem Diplomabschluss 1975 ging ich als Assistentin an die Sektion Mathematik der Bergakademie Freiberg, wo ich 1980 promovierte. Die nächsten Jahre war ich im Schulungszentrum des VEB Kombinat Robotron in Leipzig als Dozentin tätig, zunächst für Großrechneranlagen, dann, nach Geburt der Kinder, für PC, Assembler- und Datenbankprogrammierung. 1986 wechselte ich in die Dozentur Produktionsplanung- und steuerung an der Sektion Polygrafie der Technischen Hochschule Leipzig. Da ich in Leipzig wohnte, konnte ich die aufregende Zeit 1989 in dieser Stadt selbst erleben; die Teilnahme an einer der Demonstrationen vor dem 9.10.1989 gehört zu den beeindruckendsten Erlebnissen in meinem Leben. Beruflich hatte ich mich schon seit einiger Zeit für die Arbeit einer Stadtverwaltung interessiert. Nach Neubildung der Ämter der Stadtverwaltung Leipzig bewarb ich mich im Amt für Statistik und Wahlen, wo ich seit 1991als Abteilungsleiterin beschäftigt bin. Zu den Aufgaben der Abteilung Information gehören die Datenverarbeitung des Amtes, die Bibliothek und der statistische Auskunftsdienst, sowie die Führung der kleinräumigen Gebietsgliederung, die Hausnummernvergabe und die Straßenbenennung. Hinzu kommt bekanntermaßen in regel- und unregelmäßigen Abständen die Durchführung von Wahlen. Eine interessante Ergänzung zu den genannten Aufgaben ist für mich seit 1996 der Vorsitz eines der zehn Stadtbezirksbeiräte der Stadt Leipzig. Seit 1991 bin ich Mitglied des Verbandes Deutscher Städtestatistiker; 2002 wurde ich zum ersten und 2006 zum zweiten Mal zur Schriftführerin im Vorstand des Verbandes gewählt. An die ersten Jahre der Mitgliedschaft im VDSt denke ich besonders gern und dankbar zurück. Die Unterstützung von Kollegen beim (Wieder-) Aufbau der Kommunalstatistik in Leipzig sowie der fachliche Erfahrungsaustausch waren und sind eine große Hilfe. Weiterhin freue ich mich, dass es mir möglich ist, einen Teil meines Wissens im jährlichen Grundkurs für Kommunalstatistik in Bamberg weiterzugeben. Schatzmeister Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz Geboren bin ich in Bielefeld, der „freundlichen Stadt am Teutoburger Wald“, der Metropole Ostwestfalens, wo ich meine Kindheit verbrachte und am seinerzeitigen Bavink-Gymnasium das Abitur machte. Anschließend studierte ich Statistik an den Universitäten in Dortmund und Sheffield. Nach dem Diplom trat ich meine Assistentenstelle am Statistiklehrstuhl der Universität Konstanz an. Dort promovierte ich im Fach Statistik und wechselte schließlich zur Stadt Konstanz, um die Abteilung „Statistik und Wahlen“ zu leiten. Wenngleich mich der letzte Stellenwechsel zum Leiter der Abteilung Wirtschaft, Landwirtschaft und Umwelt des Statistischen Landesamtes Rheinland-Pfalz ein wenig von der Kommunalstatistik entfernt hat, denke ich gern an die Zeit in der Kommunalstatistik zurück und freue mich, Kollegen aus der Städtestatistik zu treffen. Auch fachlich besteht als Ansprechpartner unseres Amtes zur Kommunalstatistik Kontakt zu den Kollegen in Rheinland-Pfalz. Neben meinen primären Aufgaben in der Wirtschaftsstatistik gilt ein besonderer Augenmerk dem rheinland-pfälzischen Unternehmensregister sowie Methoden- und Qualitätsfragen der Statistik. Beim Reformprozess der Unternehmensstatistiken vertrete ich das Landesamt in zahlreichen Bund-Länder-Arbeitsgruppen. 78 Stadtforschung und Statistik 1/ 07 Verband Deutscher Städtestatistiker Funktionen und Funktionsträger Der VDSt besteht nicht nur aus einigen Hundert Mitgliedern, einige von ihnen haben eine Funktion, sind damit hervorragende Ansprechpartner für Ihre Fragen und Probleme. Deshalb folgt hier diese Liste. Vorsitzender: Rudolf Schulmeyer, Frankfurt, [email protected] Stellvertretender Vorsitzender: Hermann Breuer, Köln, [email protected] Schatzmeister: Dr. Roland Jeske, Bad Ems, [email protected] Schriftführerin: Dr. Ruth Schmidt, Leipzig, [email protected] Vorsitzender der AG Ost: Dr. Reiner Pokorny, Potsdam, [email protected] Stellvertreter: Werner Ley, Magdeburg, [email protected] Vorsitzende der AG Nord-West: Dr. Helga Kreft-Kettermann, Münster, [email protected] Stellvertreter: Berthold Haermeyer, Dortmund, [email protected] Vorsitzender der AG Süd: Florian Breu, München, [email protected] Stellvertreter: Joachim Hahn, Heidelberg, [email protected] Tagungsbeauftragter: Hans Teschner, Bielefeld, [email protected] Programmbeauftragter: Hermann Breuer, Köln, [email protected] Beauftragte für Umfragen: Ulrike Schönfeld-Nastoll, Oberhausen, [email protected] Leiter der Ex-AG: Dr. Ludwig von Hamm, Freiburg, [email protected] Schriftleiter von Stadtforschung und Statistik: Martin Schlegel, Hagen, [email protected] Geschäftsführer der Kosis-Gemeinschaft: Wolf Schäfer, Nürnberg, [email protected] Stellvertreter: Hans Teschner, Bielefeld, [email protected] Arbeitskreis Stadtforschung, Statistik und Wahlen beim Deutschen Städtetag: Vorsitzender: Ernst-Otto Sommerer, Dortmund, [email protected] Stellvertreterinnen: Prof. Dr. Ulrike Rockmann, Berlin, [email protected] und Dr. Helga Kreft-Kettermann, Münster, [email protected] Fachreferenten: Bevölkerung: Hans Teschner, Bielefeld, [email protected] Steuern, Finanzen: Hans-Rainer Burisch, Essen, [email protected] Bauen, Wohnen: Christian Eichner, Dresden, [email protected] Wahlen: Dr. Josef Fischer, Leipzig, [email protected] Wirtschaft, Arbeitsmarkt: Hermann Breuer, Köln, [email protected] Fremdenverkehr, Agrarsektor: Klaus Kosack, Bonn, [email protected] Gesundheit, Soziales: NN Stadtforschung und Statistik 1/ 07 79 Autorenverzeichnis Baumann Andreas, MA in Soziologie, Diplom-Ingenieur in Versorgungstechnik, Universität Siegen Boers, Klaus, Prof. Dr., Leiter des Projektes Kriminalität in der modernen Stadt, Institut für Kriminalwissenschaften, Universität Münster, [email protected] Bomsdorf, Professor Dr. Eckart, Universität Köln, Seminar für Wirtschafts- und Sozialstatistik, [email protected]. Breuer, Hermann, Diplom-Geograf, Köln, Abteilungsleiter im Amt für Stadtentwicklung und Statistik, [email protected] Buhl, Simon, Diplom-Kaufmann, Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW, Referat Bevölkerung, Zensus, Wahlen, \o „mailto:[email protected]:[email protected]“ [email protected] Detert, Anne-Kristin, Statistik-Abteilung Gera, [email protected] Eichhorn, Professor Dr. Lothar, Statistisches Landesamt Niedersachsen, Hannover, [email protected] Fischer, Dr. Josef, Amtsleiter, Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig, [email protected] Hammersen, John-Philip, Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der Bundesagentur für Arbeit, Nürnberg, [email protected] Hannemann, Prof. Volker, Diplom-Geograf, Weyhe, [email protected] Haußmann Michael, Diplom-Geograf, Statistisches Amt Stuttgart, Abteilungsleiter, [email protected] Huter, Jessica, Statistisches Landesamt Niedersachsen, [email protected] Jeske, Dr. Roland, Diplom-Statistiker, Statistisches Landesamt Rheinland-Pfalz, Bad Ems, [email protected] Kunadt, Susann, Diplom-Soziologin, wissenschaftliche Mitarbeiterin, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, [email protected] Marquardt, Klaus, Diplom-Geograf, Stadt Herne, Fachbereich Stadtentwicklung, Stadtforschung und Wahlen, [email protected] Münzenmaier, Dr. Werner, Ministerialrat im Finanzministerium Baden-Württemberg, Stuttgart, Stuttgart, [email protected] Neuhausen, Hans-Jürgen, Diplom-Sozialwissenschaftler, Krefeld, Leiter der Abteilung Statistik und Wahlen, [email protected] Neumann, Frank, Diplom-Volkswirt, Köln, wissenschaftlicher Mitarbeiter im Amt für Stadtentwicklung und Statistik, [email protected] Reinecke, Jost, Prof. Dr., Leiter des Projektes Kriminalität in der modernen Stadt, Fakultät für Soziologie, Universität Bielefeld, [email protected] Reuband, Prof. Dr. Karl-Heinz, Sozialwissenschaftliches Institut Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, [email protected] Schletz, Bernhard, Diplom-Wirtschaftler, Gera, Abteilung Statistik und Wahlen, [email protected] Schmidt, Dr. Ruth, Diplom-Mathematikerin, Leipzig, Abteilungsleiterin im amt für Statistik und Wahlen, [email protected] Schneider, Reto U., stellvertretender Redaktionsleiter des NZZ-Folio, [email protected] Schubert, Uwe, Diplom-Statistiker, Leiter des Ressorts Statistik und Stadtforschung, Hagen, [email protected] Schulmeyer, Rudolf, Diplom-Volkswirt, Amtsleiter, Frankfurt, [email protected] Seidel-Schulze, Antje, Diplom-Sozialwissenschaftlerin, DIFU-Berlin, [email protected] Stephan, Dr. Karsten, Diplom-Sozialwissenschaftler, Projektleiter an der Universität Siegen, [email protected] Strohmeier, PD Dr. Gerd, Universität Passau, [email protected] Terpoorten, Tobias, Diplom-Geograf, Ruhr-Universität Bochum, ZEFIR, [email protected] Vöckler, Jens, Diplomingenieur, Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig, jens.vö[email protected] Wienen, Dr. Horst-Jürgen, Diplom-Volkswirt, Städt. Verwaltungsdirektor a.D., Bochum, [email protected] 80 Stadtforschung und Statistik 1/ 07