Das Mauer-Rätsel - Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
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Das Mauer-Rätsel - Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
SCHWERPUNKT © Ullstein, Jung 6 Geschichte Das Mauer-Rätsel Ein Essay zum 50. Jahrestag des Baus der Berliner Mauer am 13. August 1961 | von Martin Sabrow W enige zeithistorische Gegenstände liefern ihre Interpretation so unzweideutig mit wie die Berliner Mauer, deren Errichtung 1961 sich am 13. August 2011 zum fünfzigsten Mal jährt. Niemals konnte die kommunistische Propagandaphrase vom „antifaschistischen Schutzwall“ gegen die offen sichtbare Funktion der Sperranlagen ankommen, deren im Ernstfall tödliche Sperrgewalt die DDR-Bevölkerung mit den Worten Joachim Gaucks bis zum Mauerfall des Herbstes 1989 für 28 Jahre in „Staatsinsassen“ verwandelte. Kein anderes Ereignis der vierzigjährigen DDR-Geschichte hat so unverhüllt demonstriert, dass die ostdeutsche Erziehungs- und Fürsorgediktatur zuallererst eine Täuschungsdiktatur war. Ihr oberster Lenker bewies seine Verstellungskunst mit dem berühmt gewordenen Satz, den er nur wenige Wochen später selbst so dramatisch der Lüge überführte: „Niemand hat die Absicht eine Mauer zu errichten.“ Allerdings sehen auch Zeithistoriker im scheinbar Selbstverständlichen das wissenschaftlich besonders Herausfordernde, und auch der vermeintlich selbsterklärende Mauerbau führt fünfzig Jahre später immer noch zu Kontroversen. Offen ist vor allem die Frage, ob der Leibniz 2 2011 eigentliche Urheber in Moskau oder in OstBerlin saß. Bemerkenswerterweise sind es gerade die früheren Verantwortungsträger in der SED-Diktatur, die heute in Abkehr von ihrem einstigen Selbstverständnis betonen, dass die DDR nur ein sowjetischer Trabant gewesen sei und schon deswegen die Verantwortung für die Absperrung Ost-Berlins allein bei der sowjetischen Supermacht gelegen habe. Der Zeitpunkt der Entscheidung für die Abriegelung West-Berlins wurde nach bisheriger Lesart auf einer Tagung der Warschauer-Pakt-Staaten Anfang August 1961 in Moskau getroffen, auf der Ulbricht grünes Licht für seinen harten Kurs erhielt. Wie ein erst vor wenigen Jahren bekannt gewordenes Gesprächsprotokoll nahelegt, hatten sich Chruschtschow und Ulbricht allerdings schon am 1. August 1961 unter vier Augen darüber verständigt, eine Stacheldrahtbarriere um die West-Berliner Insel in der DDR zu ziehen, um das weitere Ausbluten des ostdeutschen Staates durch die Massenflucht seiner Arbeitskräfte in den Westen zu unterbinden. Wer von beiden aber war die treibende Kraft? Das erwähnte Protokoll vom 1.8.1961 verweist auf Chruschtschow, der den Ost-Berliner Regierungschef förmlich angewiesen habe, die Grenzen nach West-Berlin so zu schließen, dass ein unkontrollierter Übertritt verhindert werde. Von einer förmlichen Einmauerung sei allerdings nicht die Rede gewesen, und deswegen wollte Ulbricht nach eigenem Bekunden gegenüber einem Blockparteivorsitzenden wie vom Donner gerührt gewesen sein, als Chruschtschow wenige Tage später auf dem Moskauer Gipfeltreffen den Beschluss über einen Mauerbau quer durch Berlin verkündet habe. Die sehr viel plausiblere Gegenthese lautet, dass in Wirklichkeit Ulbricht selbst den lange zögernden Chruschtschow förmlich zum Mauerbau getrieben habe, um den Zusammenbruch des durch die Fluchtbewegung schwer erschütterten SEDStaates zu verhindern. Hilferuf gen Osten Für diese Auffassung sprechen die veröffentlichten Erinnerungen mehrerer Beteiligter und der Wortlaut eines Hilferufs, den Ulbricht schon im Januar 1961 nach Moskau geschickt hatte. In ihm gestand er unumwunden ein, dass die DDR den offenen Wettbewerb der Systeme an der Ost-West-Grenze verloren habe und angesichts der nicht gelösten ökonomischen Aufgaben ihren Bürgern statt des westdeutschen Wirtschaftswunders ein Absenken des Lebensniveaus verordnen müsse – ohne die materielle und politische Hilfe der Sowjetunion werde die DDR das Jahr 1961 nicht überstehen. Dass trotzdem noch ein halbes Jahr bis zur Schließung der Grenzen verstrich, erklärt sich nach überwiegender Forschungsmeinung aus dem verbissenen Tauziehen zwischen dem sowjetischen Staatschef und seinem ostdeutschen Pendant: Chruschtschow, der sich dank der sowjetischen Atomrüstung weltpolitisch in der Offensive sah, wollte die westlichen Alliierten zu einem deutschen Friedensvertrag zwingen, der West-Berlin zu einer „Freien Stadt“ und die Hoheit über seine Zugangswege zum Gegenstand vertraglicher Aushandlung zwischen Ost-Berlin und Bonn gemacht hätte. Auf diese Weise hätte sich in Chruschtschows Kalkül nicht nur die Halbstadt schrittweise ihrer Freiheit berauben und in die DDR integrieren lassen, sondern womöglich auch die in ihrer Ohnmacht vorgeführte NATO zum Platzen bringen lassen müssen. Doch um zu gelingen, brauchte der ehrgeizige Plan mehr Zeit, als Ulbricht angesichts der steigenden Flüchtlingszahlen noch glaubte zur Verfügung zu haben. Ihm schien eine Einigung des grobschlächtig auftretenden Chruschtschow mit Kennedy wirklichkeitsfern. Darum setzte er auf die hässliche Zwischenlösung einer Stacheldrahtbarriere mitten durch Berlin, um erst die Existenz der DDR zu retten und dann auf einen einseitigen Friedensvertrag mit der Sowjetunion hinzuarbeiten, der ebenfalls auf die Einverleibung West-Berlins zielte. Ulbrichts Plan lief Chruschtschows Hoffnung diametral zuwider, der Welt an der Nahtstelle zwischen Ost und West im Wettbewerb zweier Deutschländer die Überlegenheit des Sozialismus vorzuführen. Die Errichtung einer Sperre zwischen Ost- und West-Berlin würde wohl die DDR retten, aber zugleich den Glauben an die Überlegenheit des Sozialismus zerstören, argumentierte der stellvertretende sowjetische Ministerpräsident Anastas Mikojan noch am 6. Juni 1961: „Gegenüber Westdeutschland können und dürfen wir uns keinen Boykott leisten. Wenn der Sozialismus in der DDR nicht siegt, wenn der Kommunismus sich nicht als überlegen und lebensfähig erweist, dann haben wir © Bundesarchiv Ob der Sozialismus mit oder ohne Mauer siegen kann, darüber waren Walter Ulbricht (2. v.re.) und Nikita Chruschtschow (2. v. li.) nicht immer einer Meinung. nicht gesiegt.“ Als Ulbricht knapp zwei Wochen später den Gedanken eines Mauerbaus durch Berlin öffentlich von sich wies, zeigte er damit weniger Hinterlist als vielmehr Bündnistreue gegenüber Moskau. Im Geheimen aber hatte er schon seit Januar 1961 einen Arbeitsstab eingesetzt, der die organisatorischen Vorbereitungen einer eventuellen Grenzabriegelung vorantrieb. Druckmittel für den Westen Seine Linie fand ihre Bestätigung auf dem Gipfeltreffen der Supermächte im Juni in Wien, als Chruschtschows Versuch, Kennedy durch offensive Härte zum Nachgeben zu zwingen, an dessen entschlossenem Widerstand abprallte. Im Juli gab er Ulbricht endlich nach; der Massenexodus aus der unattraktiven DDR in die Bundesrepublik hatte Moskaus weltpolitischen Offensivplan überholt. Nun stellte sich Chruschtschow ganz in den Dienst eines Abriegelungsprojekts, das seiner Strategie zuwider lief, und arbeitete sich in seinem kaukasischen Sommerurlaubsort in die Details der geplanten Absperrung ein, die die Rechte der Westalliierten vorerst unberührt ließ. Weder er noch Ulbricht erwarteten, dass die provisorische Kappung aller innerstädtischen Verbindungen von Dauer sein würde. Beide gingen vielmehr davon aus, dass die rasche und effektive Abriegelung West-Berlins als eindrucksvolles Druckmittel auf die Alliierten wirken würde, um sie 7 doch noch zum Abschluss eines deutschen Friedensvertrages zu nötigen. Auch in dieser Hinsicht hatte Ulbricht nicht gelogen, als er auf seiner berühmten Pressekonferenz am 15. Juni 1961 von dem Plan eines Mauerbaus nichts hatte wissen wollen. Zur Mauer wurde die Mauer erst, als sich im weiteren Verlauf des Jahres und besonders in der Kuba-Krise 1962 herausstellte, dass die Sowjetunion ihre politischen Kräfte überschätzt hatte. Von da an geriet der kommunistische Ordnungsentwurf des 20. Jahrhunderts mehr und mehr in die Defensive. Das machte aus der kurzfristigen Abriegelung von West-Berlin ein Strukturmerkmal der SED-Herrschaft, die sich als Diktatur der Grenzen noch 28 Jahre lang behauptete, aber das Menetekel ihrer gewaltgestützten Künstlichkeit fortan aller Welt offenbarte und bis in die Sichtachse ihres Regierungssitzes ertragen musste. So war der Mauerbau Sieg und Niederlage für das kommunistische Weltsystem zugleich. Das wusste auch Ulbricht, der sich auch nachträglich über die Ambivalenz seines Drängens auf die Errichtung der innerstädtischen Sperranlagen keiner Illusion hingab: „Nur auf diese Weise konnte ich den Sozialismus retten. Die Früchte werden kommende Generationen ernten. Ich werde das nicht mehr erleben, ich muss den Hass meiner Bürger auf mich nehmen.“ Mit Letzterem mochte er recht haben, mit Ersterem hatte er es dank des Bürgermutes vom Herbst 1989 jedenfalls nicht. Prof. Dr. Martin Sabrow (* 1954 in Kiel) ist Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam (ZZF) und Professor für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er studierte Geschichte, Germanistik, Politologie in Kiel und Marburg/Lahn. Anschließend war er mehr als zehn Jahre im Schuldienst tätig, bevor er seine wissenschaftliche Laufbahn einschlug, die ihn nach Paris, London, München, Braunschweig und Bologna führte. © ZZF „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen“, behauptete Walter Ulbricht im Juni 1961 und tat es zwei Monate später doch. Aufnahme von der Bezirksgrenze Kreuzberg / Mitte an der Zimmerstraße. Leibniz 2 2011