Staedtereise - Im Rollstuhl nach Erfurt

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Staedtereise - Im Rollstuhl nach Erfurt
Mobil & Aktiv / Special Reisen / Städtetest
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Mit dem Rollstuhl auf den Spuren
deutscher Geschichte
Erfurt,
das thüringische
Rom
Städtereisen erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Meist
eine der ältesten Städte Deutschlands bequem zu er-
stehen dabei die glitzernden Metropolen im Rampenlicht,
reichen.
doch es gibt auch viele kleinere Städte, die einen Wochenend-
Die Reise
ausflug lohnen. Mit dieser Ausgabe von HANDICAP beginnen
Ausgangspunkt unseres Städtetests ist das 3-Sterne-
wir deshalb eine Serie, in der wir Ihnen attraktive Geheim-
Hotel Grenzenlos. Das Jugendstilhaus wurde im Jahr
tipps vorstellen. In Erfurt hat unser erfahrenes Testerteam
2000 komplett saniert und barrierefrei ausgebaut und
neben Kirchen und Kultur auch kulinarische Highlights entdeckt.
bietet die angemessene funktionale Ausstattung eines
3-Sterne-Hauses. Auffallend ist das höhenverstellbare
Frühstücksbuffet, auf dem eine reichhaltige Auswahl
rfurt „… liegt am besten Ort. Da muss eine
E
angeboten wird. Im Innenhof des Hotels sind ausrei-
Stadt stehen!“, urteilte schon im 16. Jahrhun-
chend Parkplätze vorhanden. Hier kann man sein Auto
dert der Reformator Martin Luther. Die bevor-
auch getrost stehen lassen, wenn man Erfurts histori-
zugte Verkehrslage am Kreuzungspunkt alter deut-
sche Altstadt erkunden möchte. Die nächstgelegene
scher und europäischer Handelsstraßen sowie ein frü-
Straßenbahnhaltestelle am Leipziger Platz liegt nur
her und weit reichender Markt- und Handelsverkehr
etwa fünf Minuten entfernt. Zwar ist nicht jede Stra-
begünstigten die Entwicklung Erfurts zur Stadt. Bereits
ßenbahn in Erfurt mit der Niederflurtechnik ausgestat-
im Jahr 742 wird sie erstmals in einem Brief an Papst
tet, aber an den Haltestellen wird für mobilitätsbehin-
Zacharias erwähnt. Heute ist die
derte Fahrgäste leicht verständlich
größte thüringische Stadt be-
dargestellt, wann eine passende
sonders durch ihre Wahrzeichen
Bahn zu erwarten ist. Zu Fuß
bekannt: den Dom, die Severi-
braucht man vom Hotel Grenzenlos
kirche und den fast vollständig
erhaltenen
mittelalterlichen
Stadtkern. Auch die günstige
Verkehrsanbindung ist erhalten
geblieben: Erfurt verfügt über
einen Flughafen, eine ICE-Anbindung sowie über ein Autobahnkreuz. Für Städtereisende sind
das ideale Voraussetzungen, um
Stadterkundung: Patrick Nitsche und
Martin Schmidt (v.l.) erkunden die Stadt
auf eigene Faust (oben) und mit professioneller Stadtführerin (rechts)
HANDICAP 1/2007
bis in die Altstadt etwa 15 Minuten.
Um uns zunächst einen Überblick über die Stadt und ihre
Sehenswürdigkeiten zu verschaffen, haben wir uns dazu
entschieden, unsere Erkundung mit einer Stadtführung zu
beginnen. Zur Auswahl stehen
eine Rundfahrt mit der histori-
Hotel Grenzenlos:
rollstuhlgerechte Rezeption
schen Stadtbahn, eine Entdeckungsreise mit dem Bus durch die
historische Altstadt und auf den Petersberg sowie verschiedene
Stadtführungen zu Fuß. Wir entscheiden uns für letzteres und
werden von einer Geschichtsstudentin begleitet, die die Stadt
im Auftrag der Erfurter Tourismusgesellschaft bereits für zahlrei-
Tipps und Hinweise
Bahnhof
Ebenerdig zugänglich, Gleise über einen Fahrstuhl zu erreichen. Fahrkartenservice für Seh- und Hörbehinderte: Hörgeräte können mit einem Mikrofon am Schalter angeschlossen
werden, für Sehbehinderte steht eine Leselupe zur Verfügung.
Hotels
InterCityHotel: modernes und komfortables Bahnhofshotel,
das über ein rollstuhlgerechtes Zimmer mit Schallschutzfenster verfügt. Übernachtung ab 43 Euro pro Person und Nacht
im Doppelzimmer (DZ).
Victor’s Residenz-Hotel: modernes und komfortables Haus
mit großzügigen Zimmern und Bädern. Befahrbare Duschen,
aber zusätzliche Leihhilfsmittel notwendig. Übernachtung ab
65,50 Euro pro Person und Nacht im DZ.
Landidyll Hotel Linderhof: urgemütliches und rustikal wirkendes Komforthotel am Rande von Erfurt. Ein, in 2007 renoviertes rollstuhlgerechtes Zimmer. Übernachtungspreise auf
Anfrage.
Stadtmuseum
Behindertentoilette, allerdings ist die Ausstellung nur über
acht Treppenstufen erreichbar.
Kunsthalle
Ausstellung ist nur über Treppen erreichbar, kein Behinderten-WC
Lachgeschoss
Varieté-Theater im Dachgeschoss, das für Rollstuhlfahrer nur
sehr beschwerlich über einen Hinterhof und einen schmalen
Aufzug erreichbar ist, kein Behinderten-WC
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Gartenbaumuseum: Sehenswert auch für
Rollstuhlfahrer
che Gruppen von Menschen unter-
deraten Preisen und bei
schiedlichster Behinderungen er-
einem guten Service
lebbar gemacht hat.
genießen. Besonders
Während unseres gut zweistündi-
empfehlenswert
gen Rundgangs durch die Altstadt
eine Besichtigung des
werden uns ansprechend und an-
mystisch anmutenden
schaulich die vielen Facetten und
Kellergewölbes.
Entwicklungsstufen der Stadt von
gut für Rollstuhlfahrer
742 bis heute erläutert. Dabei sto-
geeignet ist das Café-
ßen wir immer wieder auf be-
Restaurant „Si Ju“ im Arkadengang des neogotischen
rühmte Persönlichkeiten, wie zum
Rathauses. Das „Si Ju“ ist ebenerdig erreichbar und
Beispiel Luther, Goethe und Napo-
hat im Erdgeschoss eine Behindertentoilette. Das Res-
leon, die in Erfurt lebten und wirk-
taurant ist modern und stilvoll eingerichtet und bietet
ten. Krönender Abschluss unserer
eine umfangreiche Auswahl internationaler Speisen.
Besichtigungstour ist das europa-
Probieren sollte man unbedingt eine der zahlreichen
ist
Sehr
Gasthaus zur hohen Lilie
weit einzigartige Ensemble aus
Kaffeekreationen. Ebenfalls empfehlenswert ist das
Dom und Severikirche, die unmittelbar nebeneinander auf dem Domplatz
Gasthaus „Zum Güldenen Rade“. Als echte thüringi-
errichtet wurden. Allerdings sind die 70 Domstufen für Rollstuhlfahrer un-
sche Spezialität gibt es hier nach verbriefter Original-
überwindbar. Auch die stufenlose Ausweichstrecke im Rücken der Severi-
rezeptur Thüringer Klöße mit Rot- und Leberwurstfül-
kirche ist beschwerlich. Die starke Steigung und das Kopfsteinpflaster sind
lung. Eher robuste als goldene Räder benötigen Roll-
ohne Hilfe nur für aktive Rollstuhlfahrer oder gut motorisierte Elektroroll-
stuhlfahrer allerdings um die Behindertentoilette des
stühle zu bewältigen. Aber die Mühe lohnt sich! In den Dom gelangen Roll-
Gasthauses im kopfsteingepflasterten Hinterhof zu er-
stuhlfahrer über einen gekennzeichneten Nebeneingang und werden dort
reichen.
von zahlreichen kulturhistorischen Schätzen erwartet. Allen voran der düs-
Auf dem Weg vom Domplatz zurück zur Altstadt bietet
ter anmutende „hohe Chor“. Die 13 Glasfenster des Doms sind fast
sich ein Besuch des Naturkundemuseums in der Gro-
18 Meter hoch und zählen zu den großartigsten Beständen mittelalterlicher
ßen Arche an. Das Gebäude hat einen ebenerdigen Zu-
Glaskunst.
gang, allerdings können Rollstuhlfahrer nur die mittleren drei Etagen besuchen, weil Keller und Dachge-
Essen wie Gott in Thüringen
schoss nur über Treppen zu erreichen sind. Dennoch
Am Fuße des Domplatzes lädt das traditionsreichste Gasthaus Erfurts zu
ist ein Besuch lohnend, weil die Ausstellung anspre-
einer Rast ein. Im „Gasthaus zur hohen Lilie“ soll schon Martin Luther, ver-
chend die Geschichte der thüringischen Flora und
kleidet als Junker Jörg, den kulinarischen Genüssen gefrönt haben. Selbst
Fauna vermittelt. Außerdem können die Besucher ihre
zu DDR-Zeiten genoss das Haus einen exklusiven Ruf. Heute kann man in
Vogelstimmenkenntnisse prüfen und Einblicke in die
der „hohen Lilie“ typisch thüringische und internationale Speisen zu mo-
Kunst der Tierpräparation erlangen. Wem der Sinn
mehr nach Kunst steht, kann im Kulturhof zum güldenen Krönbacken in wechselnden Ausstellungen Expo-
Die Städtetester
Karl Bodo Bock, Jg. 1976, Fußgänger: befasst sich seit 2003 intensiv mit
dem Thema barrierefreies Reisen, zum Beispiel durch eine eigene Erhebung zum Reiseverhalten von Menschen mit Behinderung. Seit 2006 ist
er Mitgesellschafter der runa reisen GmbH.
Patrick Nitsche, Jg. 1975, Fußgänger: langjähriger Produktmanager
eines Reiseveranstalters im Bereich Städtereisen, ebenfalls Mitgesellschafter von runa reisen und durch die tägliche Beratung bestens mit
den Anforderungen von Menschen mit Behinderung vertraut.
Martin Schmidt, Jg. 1968, Rollstuhlfahrer: gelernter Ausbaufacharbeiter
und studierter Architekt. Er arbeitete mehrere Jahre in einem Architektur- und Städtebaubüro und ist seit 2007 selbständig.
nate thüringischer Künstler betrachten. Das historische Gebäude ist für Rollstuhlfahrer gut erreichbar
und verfügt über einen Aufzug.
Auf Martin Luthers Spuren
Als ein Ort der Ruhe und bedeutende Lutherstätte ist
das Augustinerkloster weltweit bekannt. Die Stufe im
Eingangsbereich können Rollstuhlfahrer mittels einer
mobilen Rampe überwinden. In der Kirche des Klosters
hat Martin Luther im Jahre 1507 seine erste Messe gelesen. Das Kloster bietet auch Unterkünfte für Ruhesuchende an und verfügt über ein rollstuhlgerechtes Zimmer, das ebenerdig direkt an den „Biergarten“ im
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Hinterhof angeschlossen ist.
Im hauseigenen Speisesaal
gibt es ausschließlich Gruppentische, um die Kommunikation zwischen den Gästen
anzuregen und Einzelreisende zu integrieren.
Ausnahmsweise nicht historisch ist das Erfurter Theater. Dieses wurde 2003 erbaut und verfügt über alle
Lutherstätte: Das Augustinerkloster ist ein Dorf der Ruhe
modernen behindertengerechten Einrichtungen, wie
zum Beispiel Induktionsschleifen für Hörbehinderte, einen Begleitservice für Sehbehinderte sowie selbstverständlich eigene Plätze für Rollstuhlfahrer. Falls jemand besondere Anforderungen hat, hilft das Team stets sehr bereitwillig weiter. Im Erfurter
Theater kommen Kulturliebhaber von Oper bis Theater voll auf ihre Kosten.
Etwas außerhalb der Stadt liegt der ega-Park. Diesen kann man sowohl mit dem Auto
als auch mit der Straßenbahn erreichen. Berühmt wurde der in den 20er-Jahren angelegte Park durch die erste internationale Gartenausstellung im April 1961. Die Wege im
Park sind weitgehend befestigt und asphaltiert und erlauben auch Rollstuhlfahrern
eine problemlose Erschließung der prächtigen Blumenwelt. Der Park besteht unter anderem aus einem Rosengarten, einem Japanischen Garten und einigen Pflanzenschauhäusern. Ein besonderer Höhepunkt für Blinde und Sehbehinderte ist der Duft- und
Tastgarten. Sehr sehenswert ist auch das Deutsche Gartenbaumuseum im hinteren
Teil des Parks. Rollstuhlfahrer erreichen das Museum etwas beschwerlich über grobes
Kopfsteinpflaster; im Untergeschoss befindet sich eine Behindertentoilette. Es sind
zwar nicht alle Bereiche des Museums für Rollstuhlfahrer erreichbar, dennoch lohnt
sich ein Besuch, weil die meisten Exponate und Schaukästen auf Sitzhöhe angebracht
sind. Neben der Geschichte des Gartenbaus von seinen Anfängen in herrlichen Parkanlagen bis zur Entstehung der Kleingärtnerei erfahren Besucher hier Interessantes über
das Zusammenleben von Pflanzen- und Tierwelt im Lebensraum Garten.
Informationen
„Erfurt erlebbar für alle“ – Reiseplaner für Menschen mit Handicap, der über die
Tourist-Information der Stadt kostenlos bestellt werden kann. Bestellung unter
[email protected] oder unter 0361/66400.
Eine Reihe der hier vorgestellten Leistungen kann man über den Reiseveranstalter
runa-reisen buchen, der sich auf Reisen für behinderte Menschen spezialisiert hat.
runa-reisen bietet auch eine Pauschalreise nach Erfurt mit folgenden Leistungen
an: 2 x Übernachtung im InterCityHotel Erfurt inkl. Frühstück, ein geführter historischer Stadtrundgang, eine Eintrittskarte für den ega-Park und das Gartenbaumuseum sowie ein 3-Gänge Abendessen im Gasthaus zur hohen Lilie (ohne Getränke).
Diese Reise kostet je nach Saison zwischen 125 und 135 Euro pro Person im DZ.
Auskünfte und Buchungen: runa reisen GmbH,Carl-Benz-Straße 12
33803 Steinhagen, Tel.: 05204/888316, Fax: 05204/888317
E-Mail: [email protected], Internet: www.runa-reisen.de
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