Staedtereise - Im Rollstuhl nach Erfurt
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Staedtereise - Im Rollstuhl nach Erfurt
Mobil & Aktiv / Special Reisen / Städtetest 76 Mit dem Rollstuhl auf den Spuren deutscher Geschichte Erfurt, das thüringische Rom Städtereisen erfreuen sich immer größerer Beliebtheit. Meist eine der ältesten Städte Deutschlands bequem zu er- stehen dabei die glitzernden Metropolen im Rampenlicht, reichen. doch es gibt auch viele kleinere Städte, die einen Wochenend- Die Reise ausflug lohnen. Mit dieser Ausgabe von HANDICAP beginnen Ausgangspunkt unseres Städtetests ist das 3-Sterne- wir deshalb eine Serie, in der wir Ihnen attraktive Geheim- Hotel Grenzenlos. Das Jugendstilhaus wurde im Jahr tipps vorstellen. In Erfurt hat unser erfahrenes Testerteam 2000 komplett saniert und barrierefrei ausgebaut und neben Kirchen und Kultur auch kulinarische Highlights entdeckt. bietet die angemessene funktionale Ausstattung eines 3-Sterne-Hauses. Auffallend ist das höhenverstellbare Frühstücksbuffet, auf dem eine reichhaltige Auswahl rfurt „… liegt am besten Ort. Da muss eine E angeboten wird. Im Innenhof des Hotels sind ausrei- Stadt stehen!“, urteilte schon im 16. Jahrhun- chend Parkplätze vorhanden. Hier kann man sein Auto dert der Reformator Martin Luther. Die bevor- auch getrost stehen lassen, wenn man Erfurts histori- zugte Verkehrslage am Kreuzungspunkt alter deut- sche Altstadt erkunden möchte. Die nächstgelegene scher und europäischer Handelsstraßen sowie ein frü- Straßenbahnhaltestelle am Leipziger Platz liegt nur her und weit reichender Markt- und Handelsverkehr etwa fünf Minuten entfernt. Zwar ist nicht jede Stra- begünstigten die Entwicklung Erfurts zur Stadt. Bereits ßenbahn in Erfurt mit der Niederflurtechnik ausgestat- im Jahr 742 wird sie erstmals in einem Brief an Papst tet, aber an den Haltestellen wird für mobilitätsbehin- Zacharias erwähnt. Heute ist die derte Fahrgäste leicht verständlich größte thüringische Stadt be- dargestellt, wann eine passende sonders durch ihre Wahrzeichen Bahn zu erwarten ist. Zu Fuß bekannt: den Dom, die Severi- braucht man vom Hotel Grenzenlos kirche und den fast vollständig erhaltenen mittelalterlichen Stadtkern. Auch die günstige Verkehrsanbindung ist erhalten geblieben: Erfurt verfügt über einen Flughafen, eine ICE-Anbindung sowie über ein Autobahnkreuz. Für Städtereisende sind das ideale Voraussetzungen, um Stadterkundung: Patrick Nitsche und Martin Schmidt (v.l.) erkunden die Stadt auf eigene Faust (oben) und mit professioneller Stadtführerin (rechts) HANDICAP 1/2007 bis in die Altstadt etwa 15 Minuten. Um uns zunächst einen Überblick über die Stadt und ihre Sehenswürdigkeiten zu verschaffen, haben wir uns dazu entschieden, unsere Erkundung mit einer Stadtführung zu beginnen. Zur Auswahl stehen eine Rundfahrt mit der histori- Hotel Grenzenlos: rollstuhlgerechte Rezeption schen Stadtbahn, eine Entdeckungsreise mit dem Bus durch die historische Altstadt und auf den Petersberg sowie verschiedene Stadtführungen zu Fuß. Wir entscheiden uns für letzteres und werden von einer Geschichtsstudentin begleitet, die die Stadt im Auftrag der Erfurter Tourismusgesellschaft bereits für zahlrei- Tipps und Hinweise Bahnhof Ebenerdig zugänglich, Gleise über einen Fahrstuhl zu erreichen. Fahrkartenservice für Seh- und Hörbehinderte: Hörgeräte können mit einem Mikrofon am Schalter angeschlossen werden, für Sehbehinderte steht eine Leselupe zur Verfügung. Hotels InterCityHotel: modernes und komfortables Bahnhofshotel, das über ein rollstuhlgerechtes Zimmer mit Schallschutzfenster verfügt. Übernachtung ab 43 Euro pro Person und Nacht im Doppelzimmer (DZ). Victor’s Residenz-Hotel: modernes und komfortables Haus mit großzügigen Zimmern und Bädern. Befahrbare Duschen, aber zusätzliche Leihhilfsmittel notwendig. Übernachtung ab 65,50 Euro pro Person und Nacht im DZ. Landidyll Hotel Linderhof: urgemütliches und rustikal wirkendes Komforthotel am Rande von Erfurt. Ein, in 2007 renoviertes rollstuhlgerechtes Zimmer. Übernachtungspreise auf Anfrage. Stadtmuseum Behindertentoilette, allerdings ist die Ausstellung nur über acht Treppenstufen erreichbar. Kunsthalle Ausstellung ist nur über Treppen erreichbar, kein Behinderten-WC Lachgeschoss Varieté-Theater im Dachgeschoss, das für Rollstuhlfahrer nur sehr beschwerlich über einen Hinterhof und einen schmalen Aufzug erreichbar ist, kein Behinderten-WC HANDICAP 1/2007 Mobil & Aktiv / Special Reisen / Städtetest 78 Gartenbaumuseum: Sehenswert auch für Rollstuhlfahrer che Gruppen von Menschen unter- deraten Preisen und bei schiedlichster Behinderungen er- einem guten Service lebbar gemacht hat. genießen. Besonders Während unseres gut zweistündi- empfehlenswert gen Rundgangs durch die Altstadt eine Besichtigung des werden uns ansprechend und an- mystisch anmutenden schaulich die vielen Facetten und Kellergewölbes. Entwicklungsstufen der Stadt von gut für Rollstuhlfahrer 742 bis heute erläutert. Dabei sto- geeignet ist das Café- ßen wir immer wieder auf be- Restaurant „Si Ju“ im Arkadengang des neogotischen rühmte Persönlichkeiten, wie zum Rathauses. Das „Si Ju“ ist ebenerdig erreichbar und Beispiel Luther, Goethe und Napo- hat im Erdgeschoss eine Behindertentoilette. Das Res- leon, die in Erfurt lebten und wirk- taurant ist modern und stilvoll eingerichtet und bietet ten. Krönender Abschluss unserer eine umfangreiche Auswahl internationaler Speisen. Besichtigungstour ist das europa- Probieren sollte man unbedingt eine der zahlreichen ist Sehr Gasthaus zur hohen Lilie weit einzigartige Ensemble aus Kaffeekreationen. Ebenfalls empfehlenswert ist das Dom und Severikirche, die unmittelbar nebeneinander auf dem Domplatz Gasthaus „Zum Güldenen Rade“. Als echte thüringi- errichtet wurden. Allerdings sind die 70 Domstufen für Rollstuhlfahrer un- sche Spezialität gibt es hier nach verbriefter Original- überwindbar. Auch die stufenlose Ausweichstrecke im Rücken der Severi- rezeptur Thüringer Klöße mit Rot- und Leberwurstfül- kirche ist beschwerlich. Die starke Steigung und das Kopfsteinpflaster sind lung. Eher robuste als goldene Räder benötigen Roll- ohne Hilfe nur für aktive Rollstuhlfahrer oder gut motorisierte Elektroroll- stuhlfahrer allerdings um die Behindertentoilette des stühle zu bewältigen. Aber die Mühe lohnt sich! In den Dom gelangen Roll- Gasthauses im kopfsteingepflasterten Hinterhof zu er- stuhlfahrer über einen gekennzeichneten Nebeneingang und werden dort reichen. von zahlreichen kulturhistorischen Schätzen erwartet. Allen voran der düs- Auf dem Weg vom Domplatz zurück zur Altstadt bietet ter anmutende „hohe Chor“. Die 13 Glasfenster des Doms sind fast sich ein Besuch des Naturkundemuseums in der Gro- 18 Meter hoch und zählen zu den großartigsten Beständen mittelalterlicher ßen Arche an. Das Gebäude hat einen ebenerdigen Zu- Glaskunst. gang, allerdings können Rollstuhlfahrer nur die mittleren drei Etagen besuchen, weil Keller und Dachge- Essen wie Gott in Thüringen schoss nur über Treppen zu erreichen sind. Dennoch Am Fuße des Domplatzes lädt das traditionsreichste Gasthaus Erfurts zu ist ein Besuch lohnend, weil die Ausstellung anspre- einer Rast ein. Im „Gasthaus zur hohen Lilie“ soll schon Martin Luther, ver- chend die Geschichte der thüringischen Flora und kleidet als Junker Jörg, den kulinarischen Genüssen gefrönt haben. Selbst Fauna vermittelt. Außerdem können die Besucher ihre zu DDR-Zeiten genoss das Haus einen exklusiven Ruf. Heute kann man in Vogelstimmenkenntnisse prüfen und Einblicke in die der „hohen Lilie“ typisch thüringische und internationale Speisen zu mo- Kunst der Tierpräparation erlangen. Wem der Sinn mehr nach Kunst steht, kann im Kulturhof zum güldenen Krönbacken in wechselnden Ausstellungen Expo- Die Städtetester Karl Bodo Bock, Jg. 1976, Fußgänger: befasst sich seit 2003 intensiv mit dem Thema barrierefreies Reisen, zum Beispiel durch eine eigene Erhebung zum Reiseverhalten von Menschen mit Behinderung. Seit 2006 ist er Mitgesellschafter der runa reisen GmbH. Patrick Nitsche, Jg. 1975, Fußgänger: langjähriger Produktmanager eines Reiseveranstalters im Bereich Städtereisen, ebenfalls Mitgesellschafter von runa reisen und durch die tägliche Beratung bestens mit den Anforderungen von Menschen mit Behinderung vertraut. Martin Schmidt, Jg. 1968, Rollstuhlfahrer: gelernter Ausbaufacharbeiter und studierter Architekt. Er arbeitete mehrere Jahre in einem Architektur- und Städtebaubüro und ist seit 2007 selbständig. nate thüringischer Künstler betrachten. Das historische Gebäude ist für Rollstuhlfahrer gut erreichbar und verfügt über einen Aufzug. Auf Martin Luthers Spuren Als ein Ort der Ruhe und bedeutende Lutherstätte ist das Augustinerkloster weltweit bekannt. Die Stufe im Eingangsbereich können Rollstuhlfahrer mittels einer mobilen Rampe überwinden. In der Kirche des Klosters hat Martin Luther im Jahre 1507 seine erste Messe gelesen. Das Kloster bietet auch Unterkünfte für Ruhesuchende an und verfügt über ein rollstuhlgerechtes Zimmer, das ebenerdig direkt an den „Biergarten“ im HANDICAP 1/2007 Hinterhof angeschlossen ist. Im hauseigenen Speisesaal gibt es ausschließlich Gruppentische, um die Kommunikation zwischen den Gästen anzuregen und Einzelreisende zu integrieren. Ausnahmsweise nicht historisch ist das Erfurter Theater. Dieses wurde 2003 erbaut und verfügt über alle Lutherstätte: Das Augustinerkloster ist ein Dorf der Ruhe modernen behindertengerechten Einrichtungen, wie zum Beispiel Induktionsschleifen für Hörbehinderte, einen Begleitservice für Sehbehinderte sowie selbstverständlich eigene Plätze für Rollstuhlfahrer. Falls jemand besondere Anforderungen hat, hilft das Team stets sehr bereitwillig weiter. Im Erfurter Theater kommen Kulturliebhaber von Oper bis Theater voll auf ihre Kosten. Etwas außerhalb der Stadt liegt der ega-Park. Diesen kann man sowohl mit dem Auto als auch mit der Straßenbahn erreichen. Berühmt wurde der in den 20er-Jahren angelegte Park durch die erste internationale Gartenausstellung im April 1961. Die Wege im Park sind weitgehend befestigt und asphaltiert und erlauben auch Rollstuhlfahrern eine problemlose Erschließung der prächtigen Blumenwelt. Der Park besteht unter anderem aus einem Rosengarten, einem Japanischen Garten und einigen Pflanzenschauhäusern. Ein besonderer Höhepunkt für Blinde und Sehbehinderte ist der Duft- und Tastgarten. Sehr sehenswert ist auch das Deutsche Gartenbaumuseum im hinteren Teil des Parks. Rollstuhlfahrer erreichen das Museum etwas beschwerlich über grobes Kopfsteinpflaster; im Untergeschoss befindet sich eine Behindertentoilette. Es sind zwar nicht alle Bereiche des Museums für Rollstuhlfahrer erreichbar, dennoch lohnt sich ein Besuch, weil die meisten Exponate und Schaukästen auf Sitzhöhe angebracht sind. Neben der Geschichte des Gartenbaus von seinen Anfängen in herrlichen Parkanlagen bis zur Entstehung der Kleingärtnerei erfahren Besucher hier Interessantes über das Zusammenleben von Pflanzen- und Tierwelt im Lebensraum Garten. Informationen „Erfurt erlebbar für alle“ – Reiseplaner für Menschen mit Handicap, der über die Tourist-Information der Stadt kostenlos bestellt werden kann. Bestellung unter [email protected] oder unter 0361/66400. Eine Reihe der hier vorgestellten Leistungen kann man über den Reiseveranstalter runa-reisen buchen, der sich auf Reisen für behinderte Menschen spezialisiert hat. runa-reisen bietet auch eine Pauschalreise nach Erfurt mit folgenden Leistungen an: 2 x Übernachtung im InterCityHotel Erfurt inkl. Frühstück, ein geführter historischer Stadtrundgang, eine Eintrittskarte für den ega-Park und das Gartenbaumuseum sowie ein 3-Gänge Abendessen im Gasthaus zur hohen Lilie (ohne Getränke). Diese Reise kostet je nach Saison zwischen 125 und 135 Euro pro Person im DZ. Auskünfte und Buchungen: runa reisen GmbH,Carl-Benz-Straße 12 33803 Steinhagen, Tel.: 05204/888316, Fax: 05204/888317 E-Mail: [email protected], Internet: www.runa-reisen.de HANDICAP 1/2007