Kredit und Vertrauen - Universität Mannheim
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Annette Kehnel Hg. Kredit und Vertrauen Annette Kehnel Hg. Kredit und Vertrauen Band 2 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Annette Kehnel Hg. Kredit und Vertrauen Band 2 der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ F.A.Z.-Institut für Management-, Markt- und Medieninformationen GmbH Frankfurt am Main 2009 ISBN 978-3-89981-237-4 F.A.Z.-Institut für Management-, Marktund Medieninformationen GmbH Mainzer Landstraße 199 60326 Frankfurt am Main Gestaltung/Satz Umschlag: Titelbild: Satz Innen: Druck und Bindung: F.A.Z., Verlagsgrafik Anja Schindler Ernst Bernsmann Messedruck Leipzig GmbH, Leipzig Alle Rechte, auch des auszugsweisen Nachdrucks, vorbehalten. Printed in Germany Inhalt Einleitung 9 Annette Kehnel Geld und Vertrauen 17 Otmar Issing Kunst und Markt – eine Mesalliance? 29 Peter Raue Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 37 Rupert Graf Strachwitz Unser täglich Ranking gib uns heute …“ 51 Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ 79 Alfred Kieser „Vertrauen Sie niemandem, der Ihnen erzählt, er wisse, wie sich die Kurse entwickeln“ 87 Markus Glaser und Martin Weber Trust – A Concept Too Many! 105 Timothy W. Guinnane Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 129 Josef Zimmermann Vertrauen in der Krise? Das ewige Karussell des Wertezerfalls 151 Stefanie Unger Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens Frank Merkel 157 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 167 Konstantin Adamopoulos, Iria Budisantoso und Christoph Sextroh Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 183 Marc-Philippe Weller Vertrauen statt Wissen – Qualität im Wissenschaftsjournalismus 197 Matthias Kohring Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 211 Jana Janssen, Christiane Schoel und Dagmar Stahlberg Vertrauen und soziale Präferenzen: Die Sicht der experimentellen Wirtschaftsforschung 225 Klaus M. Schmidt „Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“ 239 Jochen Hörisch Die Kunstkreditkarte 245 Iris Stephan, Angela Rohde, Ulrich Dohmen, Peer Boehm Die Autoren 249 Die Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ an der Universität Mannheim ist ein gemeinsames Projekt der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre, mit Unterstützung von ABSOLVENTUM MANNHEIM, der Freunde der Universität Mannheim und in Zusammenarbeit mit dem Bronnbacher Stipendium Mannheim. „Unser gemeinsames Ziel ist es, statt Gräben zwischen Wirtschaft und Kultur zu ziehen, Brücken zu schlagen, um ein beidseitig befruchtendes Verhältnis aufzubauen.“ Prof. Dr. Hans-Wolfgang Arndt, Rektor der Universität Mannheim Abbildung 1: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Grand Place I Abbildung 2: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Grand Place II Einleitung Annette Kehnel Vertrauen hat Hochkonjunktur – als Managementkonzept, als Prinzip der Mitarbeiterführung oder als Grundprinzip der Markenbildung. Gleichzeitig sind die Gefahren von zu viel Vertrauen und zu wenig Kontrolle in der aktuellen Finanzkrise nur allzu deutlich geworden. Und während die einen das Bekenntnis zum ökonomischen Wert des Vertrauens einfordern, pochen die anderen auf Kontrolle. Auch in der Forschung ist Vertrauen ein brandaktuelles Thema. Es wird als Fortschrittsfaktor und „Sozialkitt“ von Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften erforscht: Länder, in denen die Menschen einander vertrauen, weisen ein höheres Wirtschaftswachstum und eine höhere durchschnittliche Lebenszufriedenheit auf. Im zweiten Band der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ diskutieren Ökonomen, Künstler, Soziologen, Wirtschafts- und Finanzexperten, Politikwissenschaftler und Studenten folgende Fragen: Wie funktioniert Vertrauen? Ist Vertrauen nicht vielfach eine Ausrede für Trägheit? Wäre der Markt überhaupt überlebensfähig, wenn die Akteure statt Kapitalrenditen immer nur Vertrauenswürdigkeit im Sinn hätten? Und warum beschäftigt sich ausgerechnet die innovativste Spitzenforschung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften mit Vertrauen? „Kredit und Vertrauen“ sind hochaktuell. Eine kurze Begriffsklärung vorab Kredit und Vertrauen sind Begriffe des täglichen Sprachgebrauchs. Kredit – so die naheliegende Assoziation – gehört ins Bankwesen: Kreditgeber und Kreditnehmer trifft man im Bereich Finance. Kreditwürdigkeit und Kreditvergabekriterien werden geprüft und entwickelt. Kredite haben mit hartem Geschäft, mit Investitionen, mit Information, mit Schulden und mit Werten zu tun. Vertrauen dagegen gehört in den Bereich des Sozialen. Therapeuten, Sozialarbeiter, Pastoren, Eltern, Erzieher etc. sind zuständig. Vertrauen und Vertrauensbruch sind eher Themen fürs Sofa, für Paare, etwas Privates jedenfalls. Einleitung 9 Kredit und Vertrauen gehören verschiedenen Sphären des täglichen Lebens an. Doch auch das Gegenteil lässt sich mit Fug und Recht behaupten. Kredit und Vertrauen gehören zusammen. Sprachgeschichtlich wurzelt der Kredit im lateinischen credere, heißt zugleich glauben und vertrauen. Creditum ist das im guten Glauben Anvertraute. Gemeinsam mit anderen Begriffen des Banken- und Finanzwesens wie „Giro“, „Konto“, „Bank“ oder „Kontor“ wurde „Kredit“ in Zeiten der wirtschaftlichen Expansion seit dem 13. Jahrhundert aus dem Italienischen in fast alle europäischen Sprachen übernommen. Kredit setzt Vertrauen voraus und zählt zu den Grundprinzipen des Wirtschaftslebens und der Geschäftsbeziehungen. Nur derjenige Kaufmann konnte langfristig Erfolg haben, dessen Ansehen (creditum) untadelig war. Seit Beginn der Bankenkrise im September 2008, dem Zusammenbruch von Lehman Brothers, wird die Zusammengehörigkeit der Begriffe vermehrt betont. Die Krise – so die Argumentation in den Medien – sei durch mangelnde Kontrolle und blindes Vertrauen ausgelöst worden. Wie konnte es geschehen, dass so viele vernünftige, rational denkende und handelnde Privatleute, Banker, Investmentberater, Finanzexperten etc. in Wertpakete investierten und Wertpakete schnürten, die – im Nachhinein – mit ganz wenig Aufklärungsbedarf von jedem Kind als wertlos identifiziert werden können? Warum hat keiner die ungedeckten Tripple-A-Ratings hinterfragt? Wie kann der systematische Verzicht auf Information, wie kann das blinde Vertrauen der Fachleute erklärt werden? Eine Vertrauenskrise? Der massive Vertrauensverlust unter den Geldinstituten wurde als verhängnisvolle Folge der Finanzkrise erkannt. Vertrauen ist nicht länger Privatsache. Blindes Vertrauen, der Verzicht auf adäquate Information, die unkritische Gewährung von Krediten, fehlendes Vertrauen, missbrauchtes Vertrauen und der Verlust an Vertrauenswürdigkeit tauchen als Begriffe in jeder Fehleranalyse zur Krise auf. Angesichts dieser widersprüchlichen Vielfalt am kollektiven Verständnishorizont lässt sich der Zusammenhang zwischen Kredit und Vertrauen folgendermaßen konkretisieren: Kredit im engeren Sinne (= die Überlassung von Geld oder Werten auf Zeit an einen Dritten) und Vertrauen (= ein Mechanismus der Komplexitätsreduktion, der Entscheidungen auch in unüberschaubaren Situationen ermöglicht) sind unmittelbar miteinander verknüpft. Besonders insofern, als wirtschaftliches Handeln ein Handeln in komplexen Zusammenhängen meint. Um mit dem Soziologen Niklas Luhmann zu sprechen: „Ohne Vertrauen sind nur sehr einfache, auf der Stelle abzuwickelnde Formen menschlicher Kooperation möglich.“ Wirtschaftliches Handeln erfordert Trans10 Einleitung aktionen, die das menschliche Handlungspotential über die elementaren Formen hinaus steigert, Transaktionen, die nicht stets aufs Neue die Voraussetzungen und Folgen vorangegangener Entscheidungen in Frage stellen oder überprüfen können. Vertrauen als Thema der Wissenschaft In den Wirtschafts-, Politik- und Sozialwissenschaften wird Vertrauen als Wirtschaftsfaktor und „Sozialkitt“ schon seit langem erforscht. Vertrauen ist kein privates Thema, kein exklusives Problem für Psychotherapeuten oder Moraltheologen, kein Refugium für spezielle Probleme der menschlichen Psyche. Das Thema Vertrauen hat Hochkonjunktur als Wirtschaftsfaktor. Man hat empirische Studien vorgelegt, die belegen, dass in Ländern, in denen die Menschen einander vertrauen, ein höheres Wirtschaftswachstum und eine höhere durchschnittliche Lebenszufriedenheit herrschen. Vertrauen in der Arbeitswelt steigert die Leistungsfähigkeit. Entsprechend hat Vertrauen Hochkonjunktur in der Erfolgsfaktorenforschung, als Managementdevise, als Prinzip der Mitarbeiterführung, als Grundlage der Markenbildung, als Organisationsprinzip etc. Vertrauen beschäftigt Sozialpsychologen, Soziologen, Verhaltensbiologen, Organisationstheoretiker etc. Vertrauen wird hier nicht länger als Privatsache oder ein Konzept für Seelsorger oder Beziehungsberater behandelt, sondern vielmehr als ein für Fortschritt, Wachstum und Wohlstand unentbehrlicher Erfolgsfaktor. Auch Erkenntnisse aus der empirischen Sozialforschung und den Naturwissenschaften können ins Feld geführt werden. Hier wird untersucht, unter welchen Bedingungen Menschen bereit sind, blind zu vertrauen, Risiken einzugehen, zu entscheiden und zu handeln sowie zu investieren ohne nachzufragen. Unter welchen Voraussetzungen verzichten sie auf weitere Informationen über das Zustandekommen der Entscheidungsgrundlagen und der potentiellen Folgen ihrer Entscheidung? Mit den Oxytocinrezeptoren hat man die molekularen Grundlagen für Vertrauen – allgemeiner gesprochen für gesteigerte Risikobereitschaft und für Altruismus – gefunden. Oxytocin wird besonders dann ausgeschüttet, wenn Tiere oder Menschen auf Partnersuche sind. Verhaltensökonomen haben in Experimenten gezeigt, dass Mitspieler bei Vertrauensspielen, in denen sich die Teilnehmer wechselseitig Geldbeträge übereignen müssen, dann mehr übereignen, wenn man ihnen vorher Oxytocin verabreicht hat. Das Wissen um die „Relevanz“ von Vertrauen ist natürlich wesentlich älter als die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema. Das Entlastungsangebot im freiwilligen Verzicht auf Kontrolle war für den Men- Einleitung 11 schen schon immer verlockend und zugleich überlebensnotwendig. In diesem Sinne wäre das sprichwörtlich seligmachende Gottvertrauen eine altmodische Bezeichnung für das, was wir heute Überlebensstrategie nennen. Ohne ein grundständiges Zutrauen in die eigenen Erwartungen an die Welt wäre es auch dem modernen Menschen unmöglich, den Alltag zu bewältigen, einen Einkauf zu tätigen, in ein Auto zu steigen oder morgens sein Bett zu verlassen. Vertrauen wäre demnach ganz allgemein eine soziale Tatsache, ein empirisch unbestreitbares Faktum. Der Ruf nach mehr Vertrauen in aktuellen Wertedebatten scheint daher nicht ganz zutreffend. Vertrauen ist genau genommen kein Wert, keine Tugend, kein Verdienst „an sich“. Die Luhmann’sche Rede vom Mechanismus der Komplexitätsreduktion nimmt dem Begriff den moralischen Unterton. Vertrauen ermöglicht die Steigerung der Handlungspotentiale eines sozialen Systems. Vertrauen spart Zeit. Ganz neue Arten von Handlungen werden durch Vertrauen möglich, vor allem solche, die erst langfristig Erfüllung in Aussicht stellen, Handlungen also, die nicht unmittelbar befriedigen und daher künstlich motiviert werden müssen. Vertrauen befähigt Menschen und Gesellschaften zu Handlungen, die langfristige Zwecke, Entlohnung oder Rendite verfolgen. Die Überlassung von Werten an Dritte wäre demnach eine Form der Vergabe von Vorschussvertrauen, eine Form des Zukunftshandelns, das kreativ mit Werten umgeht. Ob dieses Zukunftshandeln auf Zeitersparnis im Fegefeuer oder auf Steuerersparnis beim Finanzamt zielt, ist aus Sicht der Mediävistin nur eine Frage des Zeitgeistes. Was bietet dieser Band? Der Band, den Sie hier in Händen halten, bietet Stimmen und Ergebnisse aktueller Forschungen zum Thema aus den verschiedensten Fachdisziplinen und aus den verschiedensten Bereichen des öffentlichen Lebens. Einschlägige Beiträge aus Politik und Öffentlichkeit eröffnen den Band: Otmar Issing, der Vater des Euro, knüpft an die Frage nach dem Zusammenhang zwischen „Geist und Geld“ – die Thematik des ersten Bandes der Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ – an und endet mit Cicero, „De officiis“: „Keine Sache hält den Staat mehr zusammen als Vertrauen“. Der Anwalt der schönen Künste, Peter Raue, widmet sich der Frage: „Wie eigentlich funktioniert der Kunstmarkt?“. Rupert Graf Strachwitz fragt nach den politischen Implikationen des „Vertrauens“. Unter der Überschrift: „Unser täglich Ranking gib uns heute …“ diskutieren Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele über das Vertrauen in Ratings, Rankings, Evaluationen und andere 12 Einleitung Objektivitätsgeneratoren im Wissenschaftsbetrieb. Der Organisationstheoretiker Alfred Kieser hinterfragt erneut das Vertrauen in Leistungskennziffern und Ranglisten in der Wissenschaft, ja er behauptet, es sei völlig naiv. Friedrich Schillers klassische Unterscheidung zwischen dem „Brodgelehrten“ und dem „Philosophischen Kopf“ sei in dieser Hinsicht bis heute gültig. Die Mannheimer Finanzexperten Martin Weber und Markus Glaser warnen vor zu viel Vertrauen in jene, die vorgeben zu wissen, wie sich die Kurse entwickeln. Timothy Guinnane, Wirtschaftshistoriker aus Yale, vertritt die provokante These, dass Vertrauen im Finanzsektor ein überflüssiges Konzept sei. Josef Zimmermann fragt nach den Vorteilen einer vertrauensbasierten Hausbankbeziehung gegenüber der stets bedarfsorientierten Abdeckung des Finanzbedarfs im Alltagsgeschäft herkömmlicher Kreditinstitute. Stefanie Unger problematisiert das maßlose Vertrauen in vermeintlich idyllische Zeiten in der Vergangenheit, als die freie Marktwirtschaft noch den Geboten der Rücksichtnahme und Angemessenheit folgte. Frank Merkel untersucht Markenführung als ethisches Prinzip und fragt als Marketingfachmann, warum Vertrauen verpflichtet. Konstantin Adamopoulos, Kurator des „Mannheimer Bronnbacher Stipendiums“, fragt nach dem stets prekären Verhältnis zwischen Vertrauen und Innovation. Entsteht nicht dort Innovation, wo auf Kontrolle verzichtet wird? Die Mannheimer Bronnbacher Stipendiaten Iria Budisantoso und Christoph Sextroh denken über jenen Vertrauensvorschuss nach, der ihnen von Seiten des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft entgegengebracht wird. Der Mannheimer Jurist Marc-Philippe Weller geht der Frage nach, in welchem Verhältnis die Vertragstreue als normative Größe („pacta sunt servanda“) und ihrem Gebrauch als Passepartout in verschiedensten Argumentationszusammenhängen steht. Die Rolle von Vertrauen im Wissenschaftsjournalismus hinterfragt der Medien- und Kommunikationswissenschaftler Matthias Kohring in seinem Beitrag über Qualität im Wissenschaftsjournalismus. Aus sozialpsychologischer Perspektive betrachten Jana Janssen, Christiane Schoel und Dagmar Stahlberg das Problem der „gefühlten“ Unsicherheit im Hinblick auf individuelle Bedürfnislagen nach zuverlässigen und vertrauenswürdigen Führungspersönlichkeiten. Klaus M. Schmidt hinterfragt aus Sicht des Behavioural Economists den Homo oeconomicus als Fiktion der Standardökonomie und stellt fest, dass Vertrauen, das Bedürfnis nach Ausgeglichenheit und soziale Präferenzen eine zentrale Rolle im aktuellen Verhalten seiner Probanden spielen. Jochen Hörisch geht aus von dem Faszinosum des „Wirtschaftsweisen“ und hinterfragt das Vertrauen in institutionalisierte Instanzen vermeintlich zuverlässigen Wissens: „invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“. Einleitung 13 Wirtschaft und Kultur bleiben im Gespräch. Wirtschaft braucht Kultur. Kultur braucht Wirtschaft. Die Gesellschaft braucht beides. Dieses Wissen wird an der Universität Mannheim großgeschrieben. Das Bronnbacher Stipendium des Kulturkreises der Deutschen Wirtschaft hat diese Erkenntnis in ein innovatives Förderprogramm übersetzt. Der hier vorgelegte zweite Band der Mannheimer Reihe „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ zum Thema „Kredit und Vertrauen“ hätte schon dann seine Pflicht erfüllt, wenn damit die stereotypen Grenzen unseres Alltagsdenkens hinterfragt werden. Wenn es darüber hinaus gelänge, zu weiteren zukunftsträchtigen Experimenten und Krediten an den Grenzen zwischen Wissenschaft, Kultur, Kunst und Wirtschaft zu inspirieren, dann wird die Zukunft zur Kür. Fußnoten 1 Luhmann, Niklas, Vertrauen. Ein Mechanismus der Reduktion sozialer Komplexität, Vierte Auflage, Stuttgart 2000, S. 117. 14 Einleitung Abbildung 3: Peer Boehm, Kunstkreditkarte:Geist und Geld I Abbildung 4: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Geist und Geld II Geld und Vertrauen Geld und Geist – Geld oder Geist? Otmar Issing Die Nationalökonomie verliert für den wahren Adepten niemals ihr Faszinosum. Das gilt im Besonderen für die „Politische Ökonomie“ im Sinne der Klassiker. Es ist unserer Disziplin nicht gut bekommen, dass sie sich allzu lange und allzu sehr in der Spezialisierung isoliert und das Feld der „Rahmenbedingungen“ anderen Fächern überlassen hat. Als mich Frau Kollegin Kehnel auf diese Veranstaltungsreihe angesprochen hat, konnte ich der Einladung nicht widerstehen. Erst recht nicht, als sie die Publikation „Geist und Geld“ erwähnte, die aus der ersten Runde hervorging. Schon seit langem beobachte ich die Diskrepanz zwischen der überwiegend feindlichen Einstellung der Vertreter der schönen Künste zum Geld und ihrer meist verborgenen, gelegentlich aber auch offen demonstrierten Gier nach dem angeblich verachteten Medium. Ich will es hier mit einem, allerdings besonders prominenten Beispiel bewenden lassen. Als mir die Rechts- und Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät der Universität Bayreuth im Jahre 1996 die Würde eines Ehrendoktors verlieh, wählte ich für meinen Festvortrag den Titel „Wider den dämonischen Begriff des Geldes – diesseits und jenseits von Geldangebot und Geldnachfrage“. Dies war auch als Huldigung an den Genius Loci zu verstehen. Richard Wagner hatte nämlich am 14. Juni 1848 in einem Vortrag vor dem „Vaterlandsverein“ in Dresden sein Publikum mit folgenden Worten zum Beifall hingerissen.1 „Wir werden erkennen, dass die menschliche Gesellschaft durch die Tätigkeit des Geldes erhalten wird: wir werden den Grundsatz in klarer Überzeugung feststellen, und Gott wird uns erleuchten, das richtige Gesetz zu finden, durch das dieser Grundsatz in unser Leben geführt wird, und wie ein böser nächtlicher Alb wird dieser dämonische Begriff des Geldes von uns weichen mit all seinem scheußlichen Gefolge von öffentlichem und heimlichem Wucher, Papiergaunereien, Zinsen und Bankiersspekulationen.“2 Ich will erst gar nicht versuchen, die Logik in diesen Ausführungen aufzuspüren – ein Unterfangen, das bei Wagner im Allgemeinen nicht sehr Geld und Vertrauen 17 weit führt. Allen voran war er wie viele herausragende Musiker oder Literaten der festen Überzeugung, die Gesellschaft schulde ihm nicht nur die Anerkennung für das Werk, sondern auch die Mittel für einen zumindest gehobenen Lebensstil. Wagner hat dies nicht nur vielfach geäußert, sondern dieser Überzeugung auch kräftig nachgeholfen, indem er Gönner und Gönnerinnen ausgenutzt und Gläubiger betrogen hat. Ich sehe hier die Wurzel für die feindselige Haltung vieler Künstler und Intellektueller gegenüber der Marktwirtschaft beziehungsweise dem Kapitalismus: Das Geld weilt meist nicht dort, wo der Geist herrscht. Von da ist es nicht weit bis zum Verdacht, mit dem „Geist“ sei es dort nicht weit her, wo der Mammon zu Hause ist. Wem fielen dazu nicht sofort Beispiele ein. So ist auch zu erklären, warum die Großverdiener unter den Künstlern und Literaten, die es ja durchaus gibt, oft besonders rabiat „antikapitalistische“ Parolen pflegen – man will sich schließlich vor falschem Verdacht schützen. Aber reicht das schon für die Antithese „Geist oder Geld“? Heißt es aber nicht schon in der Bergpredigt (Matthäus, 6.24): „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den anderen lieben, oder er wird dem einen anhängen und den anderen verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“ In die Sprache der weniger Gläubigen übersetzt: Wer als Künstler oder Intellektueller nicht genug Geld hat, verdankt dies seinem elitären Dienst an höheren Dingen. Grundlage des Vertrauens Bevor ich mich weiter in philosophischem Dilettantismus verliere, will ich mich auf das Thema meines Vortrages konzentrieren: „Geld und Vertrauen“. Geld braucht Vertrauen, das ist so offensichtlich, dass ich mit diesen drei Worten eigentlich meinen Vortrag beginnen und zugleich beenden könnte. Vielleicht lohnt es sich aber doch, ein wenig darüber nachzudenken, worauf dieses Vertrauen gebaut ist. Warum verkaufe ich ein wertvolles Bild und nehme dafür Papier entgegen? Weil auf den Euroscheinen Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank, unterschrieben hat?3 Aber wofür steht diese Unterschrift? Gehen Sie einmal in die Kaiserstraße 29 in Frankfurt und versuchen Sie, eine Euronote einzulösen. Wenn Sie Glück haben, schickt man Sie einfach weg und ruft nicht den Arzt. Auf der Pfund-Sterling-Note der Bank of England befindet sich neben dem Bild der Queen Elizabeth und der Unterschrift des Chief Cashier der ominöse Satz: „I promise to pay the bearer on demand the 18 Geld und Vertrauen sum of twenty pounds.“ Machen Sie den Versuch in der Threadneedle Street in London, und man wird Ihnen bestenfalls den Schein gegen einen neuen mit der gleichen Aufschrift umtauschen. In den USA unterschreibt auf den Dollarscheinen nicht der Notenbankpräsident, sondern der Secretary of the Treasury, also der Finanzminister. Dafür steht auf der Rückseite: „In God We Trust“. Ich will nicht behaupten, der Dollar benötige göttlichen Beistand, doch darf die Frage erlaubt sein, wie das Vertrauen in Gott der amerikanischen Währung helfen soll? Und: Warum hat man noch nichts von einer Klage der Atheisten gegen diese Praxis gehört? Im Papierstandard unserer Zeit erreicht das Geld den Zenit der Abhängigkeit vom Vertrauen der Menschen. Hinter dem Papiergeld steht zunächst einmal: nichts. Die Notenbank als Schöpfer des Geldes unterliegt keinerlei Einlösungspflicht. Das ändert allerdings nicht unbedingt etwas daran, dass Vorstellungen einer Art „Deckung“ kaum auszurotten sind. Der damalige Bundesbankpräsident Blessing hatte beispielsweise immer wieder einmal die Bevölkerung mit dem Hinweis beruhigt, der DM-Bargeldumlauf sei zu mehr als 100 Prozent durch Gold und Devisen „gedeckt“. De facto verkörpert das Geld einen Anspruch an das reale Sozialprodukt, dessen Wert vom Preisniveau abhängt. Es ist hier nicht der Ort, den einzelnen Facetten der Geschichte des Geldes nachzugehen. Der Ursprung des Geldes dürfte in der Verwendung als Rangzeichen und Schmuck sowie für sakrale Zwecke zu suchen sein.4 Den Schritt von dieser Zwecksetzung hin zu einem Mittler des Tausches sehen die Vertreter der Konventionstheorie in einer Übereinkunft, die durch den aufkommenden Fernhandel erforderlich wurde. „Man kam daher überein, behufs Tausches gegenseitig eine Sache zu geben und anzunehmen, die selbst zu den nützlichen Dingen zählte und bei ihrer Verwendung im Verkehr am leichtesten zu handhaben war, wie es Eisen, Silber und dergleichen ist. Zuerst bestimmte man sie einfach nach Größe und Gewicht, schließlich aber drückte man ihr ein Zeichen auf, um sich das Messen und Wägen zu ersparen, indem die Prägung als Zeichen ihrer Quantität galt.“5 Carl Menger hält die Auffassung für widerlegt, „dass das Geld das Produkt einer allgemeinen Übereinkunft oder positiver Gesetzgebung (also das Ergebnis von vornherein des Zieles und der Mittel bewusster staatlicher und gesellschaftlicher Maßregeln) … sei.“6 Vielmehr sei das Geld das Ergebnis eines allmählichen gesellschaftlichen Fortschrittes, Folge einer entstehenden Gewohnheit. Diese Erklärung liegt auf der Linie der britischen Philosophen, die den Ursprung von Institutionen nicht in rationalen Entwürfen sehen, sondern darlegen, „wie Nationen im Dunkeln auf Einrichtungen stoßen, die Geld und Vertrauen 19 in der Tat das Ergebnis menschlichen Handelns sind, nicht die Durchführung eines menschlichen Plans“7. Diese Erklärung verbindet Menger mit der überraschenden Schlussfolgerung, „Vertrauen“ sei für die Erklärung des Geldes ebenso unzulänglich wie überflüssig.8 Es sei einmal dahingestellt, ob nicht schon der Fernhandel, der Handel mit Fremden, nicht auf gegenseitigem Vertrauen basiert und daher auch die gegenseitige Anerkennung von „Geld“ Vertrauen voraussetzt. Solange als Geld Güter fungieren, die wie Gold und Silber von Natur aus knapp sind, bleiben die Anforderungen an das notwendige Vertrauen auf die Verlässlichkeit des Reinheitsgehalts oder des Gewichts von Münzen beschränkt. Die geschichtliche Erfahrung liefert allerdings hinreichend viele Beispiele dafür, dass die Verwendung edler Metalle keine Garantie für gutes Geld ist. „Denn überall in der Welt haben Herrscher und unabhängige Staaten in ihrer Habsucht und Ungerechtigkeit das Vertrauen der Menschen missbraucht, indem sie nach und nach den ursprünglichen Metallgehalt ihrer Münzen herabgesetzt haben.“9 Gleichwohl hat die Vorstellung lange dominiert, das Geld bedürfe eines materiellen Ankers. In seinem Buch „Das Geld“ berichtet D. H. Robertson: „Man erzählt von einem Bergwerksbesitzer in Johannesburg, der ein Glasauge hatte, dass er dieses, wenn ihn die Geschäfte fortriefen, auf einen erhöhten Platz niederlegte. Solange nun das Auge des Herrn auf ihnen ruhte, fuhren die Arbeiter fort, … zu arbeiten. Aber eines Tages ging einer der Arbeiter, mutiger als die übrigen, an die allsehende Halbkugel heran und bedeckte sie mit einer umgestülpten Zigarettendose, worauf dann er und seine Genossen sich prompt davonmachten und sich betranken. Ähnlich wie in dieser Erzählung würde es dann hergehen, wenn jeder Anschein eines Goldstandards vernichtet würde.“10 Dem heutigen Leser des ansonsten immer noch interessanten Autors dürfte es allerdings schwerfallen, dieses Argument ernst zu nehmen. Wie kann man Vertrauen durch einen Schwindel erzeugen, zumal einen, der derart leicht zu durchschauen ist? Zerrüttung der Währung in der Hyperinflation Nachdem sich das Geld im Laufe der Geschichte zunehmend von der Bindung an Gold oder Silber löste, hat der Faktor „Vertrauen“ immer mehr an Bedeutung gewonnen. Im reinen Papierstandard, der heute weltweit herrscht, gibt es vor allem keine „natürliche Bremse“ an der Notenpresse. Dem Missbrauch sind damit Tür und Tor geöffnet. 20 Geld und Vertrauen Erwartungsgemäß hat der Staat in vielen Ländern und zu allen Zeiten die Notenpresse bedient, um seine Ausgaben zu „finanzieren“. Uferlose Ausweitung der Geldmenge, Inflation und Zerrüttung der Währung waren oft die Folgen. Deutschland steht mit der Hyperinflation nach dem Ersten Weltkrieg mit an der Spitze dieser Tabelle. Im Oktober 1923 lag die monatliche (!) Inflationsrate bei rund 32.000 Prozent.11 Unter solchen Umständen kann es nicht überraschen, dass die Mark weitgehend ihre Geldfunktionen verlor. Wer den Anspruch durchsetzen konnte, ließ sich in Devisen oder realen Gütern bezahlen. Wer die sich am Ende minütlich entwertende Mark erhielt, versuchte, sie so schnell wie möglich loszuwerden. Die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes stieg unter diesen Umständen ins Unermessliche. Als Recheneinheit wurde die Mark von Indexierungen und Wertsicherungsklauseln der verschiedensten Art (z.B. Weize- oder Roggenanleihen) abgelöst. In seiner Entscheidung vom 28. November 1923 erklärte schließlich sogar das Reichsgericht, das Festhalten am (Nominal-)Prinzip „Mark = Mark“ verstoße gegen den Grundsatz von Treu und Glauben. Die wirtschaftlichen, sozialen und schließlich politischen Folgen der vollständigen Zerrüttung des Geldwesens waren verheerend. Die Produktion geriet immer mehr ins Stocken. Eine vernünftige Kalkulation war kaum mehr möglich, die Rationalität des Wirtschaftens war durch den faktischen Ausfall der Geldwirtschaft gravierend beeinträchtigt. Während der Staat sich entschuldete, waren die Opfer der Inflation vor allem die Sparer, die zur Alterssicherung in traditioneller Weise in gutem Glauben Staatsanleihen erworben hatten, deren Wert jetzt auf null gesunken war. Niemand hat anschaulicher als Stefan Zweig in seinem Buch „Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers“ den Kontrast zwischen Stabilität und Inflation beschrieben. Im „goldenen Zeitalter der Sicherheit“, wie er die Phase gegen Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges nennt, lohnte es sich, Geld Jahr für Jahr in sicheren Anlagen zu investieren. Diese Welt ging in der Hyperinflation 1922 und 1923 unter: „Nichts hat das deutsche Volk – dies muss immer wieder ins Gedächtnis gerufen werden – so erbittert, so hasswütig, so hitlerreif gemacht wie die Inflation. Denn der Krieg, so mörderisch er gewesen, er hatte immerhin Stunden des Jubels geschenkt mit Glockenläuten und Siegesfanfaren. Und als unheilbar militärische Nation fühlte sich Deutschland durch die zeitweiligen Siege in seinem Stolz gesteigert, während es durch die Inflation sich einzig als beschmutzt, betrogen und erniedrigt empfand; eine ganze Generation hat der deutschen Republik diese Jahre nicht vergessen und nicht verziehen und lieber seine Schlächter zurückgerufen.“12 Geld und Vertrauen 21 Einen krasseren Vertrauensverlust in Staat und Währung kann man sich kaum vorstellen. Ein Neubeginn konnte danach nur über eine grundlegende Reform gelingen. In Deutschland geschah dies durch die Ausgabe der Rentenmark zum Kurs von 1 Billion gegen die alte Währung. Das neue Geld gewann schnell Vertrauen. Dazu trug die Vorstellung bei, die Rentenmark sei durch „Grund und Boden gedeckt“. Entscheidend war aber, dass die Reichsbank die Diskontierung von Schatzanweisungen des Reiches einstellte. Damit war die Defizitfinanzierung durch die Notenpresse beendet und damit die entscheidende Quelle der vorangegangenen Inflation stillgelegt. (Im Oktober 1923 waren gerade noch 1 Prozent der Ausgaben des Reiches durch Steuern gedeckt.) Am Extrem der Hyperinflation sind die Konsequenzen instabilen Geldes besonders deutlich zu verfolgen. Die Sparer, die vorher in gutem Glauben öffentliche Anleihen gekauft haben, werden vollständig um ihr Vermögen gebracht und fühlen sich vom Staat betrogen. Vertrauen in das Geld Vertrauen in das Geld, das heißt Vertrauen in die Erhaltung des Geldwertes, ist ein unverzichtbares Erfordernis einer Gesellschaft freier Bürger. Die Möglichkeit, privates Geldvermögen zu bilden und insoweit finanzielle Unabhängigkeit zu erhalten, ist ein unverzichtbares Element individueller Freiheit. In diesem Sinne ist Dostojewskis Charakterisierung des Geldes als „geprägte Freiheit“ zu verstehen. In vielen Ländern verlangt inzwischen allein schon die Demografie einen Ausbau der privaten Altersvorsorge. Vertrauen in die Stabilität des Geldwertes spielt dabei eine entscheidende Rolle. In 20 bis 30 Jahren, den Zeiträumen, um die es sich bei der finanziellen Absicherung für das Alter (mindestens) dreht, führen bereits vermeintlich „mäßige“ Inflationsraten zu einer weitgehenden Erosion des Realwertes des Geldvermögens. Schon bei einer verschiedentlich als „akzeptabel“ apostrophierten Preissteigerungsrate von jährlich 5 Prozent hat das Geld nach 20 Jahren fast zwei Drittel seiner Kaufkraft verloren, nach 30 Jahren sind es sogar mehr als drei Viertel. Diesem rechnerischen Wertverlust steht entgegen, dass sich die Anleger nicht dauerhaft betrügen lassen – das berühmte Wort Abraham Lincolns erfasst diesen Zusammenhang zutreffend – und entsprechend ihren Inflationserwartungen einen „Zuschlag“ im Nominalzins verlangen. Ob diese Rechnung im Nachhinein betrachtet aber immer voll aufgeht, muss bezweifelt werden. Einmal kann es zu unerwarteten Inflationsschüben kommen, so dass die tatsächlich erzielte reale Verzinsung hinter den Erwartungen zurückbleibt. Zudem wirkt die Besteuerung von 22 Geld und Vertrauen Zinserträgen nach dem Nominalwertprinzip in hohem Maße verzerrend, denn hier wird nicht danach differenziert, ob Zinseinkünfte nur inflationär aufgebläht sind oder ob es sich um reale Erträge handelt. Derjenige Teil der Zinseinnahmen, der einen bloßen Inflationsausgleich bewirkt, wird also voll besteuert. Ich möchte diesen Effekt anhand eines einfachen Beispiels illustrieren: Eine Geldanlage mit einem Nominalzins von 5 Prozent erbringt bei Preisstabilität und einem Steuersatz auf Zinseinkommen von 50 Prozent eine Realverzinsung von 2,5 Prozent. Um die gleiche Realverzinsung bei einer Inflationsrate von 5 Prozent zu erzielen, müsste der Nominalzins nach Steuern auf 7,5 Prozent steigen, vor Steuern insgesamt also 15 Prozent betragen. Oder anders betrachtet: Jeder Prozentpunkt Inflation schlägt voll – und nicht nur anteilig nach Steuern – auf die reale Verzinsung durch. Die Geldentwertung verstärkt damit den steuerlichen Zugriff auf die Zinseinkünfte, und zur faktischen Enteignung durch negative Realverzinsung nach Steuern ist es nur noch ein relativ kleiner Schritt. Es liegt auf der Hand, dass Inflation – gepaart mit den geschilderten steuerlichen Effekten – die Ersparnisbildung behindert und gesamtwirtschaftlich zu einem suboptimalen Kapitalstock führt. Geldvermögensbildung in gesamtwirtschaftlich wünschenswertem und individuell optimalem Umfang setzt also Geldwertstabilität – oder genauer gesagt, Vertrauen in die künftige Stabilität des Geldes – voraus. An dem genannten kleinen Rechenbeispiel wird bereits erkennbar, wie stark moderne Volkswirtschaften auf dem Nominalprinzip – etwa „Mark = Mark“ basieren: Die Mark oder der Euro von heute entsprechen der Mark oder dem Euro von morgen. Dieser Grundsatz durchzieht nicht nur das Steuerrecht, sondern das ganze System von Abgaben und Leistungen. In den meisten Auffassungen, nach denen „ein wenig Inflation gar nicht so schlimm ist“ – oder sogar noch positive Wirkungen haben soll –, wird dieser Aspekt völlig ausgeblendet. Empirische Untersuchungen belegen jedoch, dass die gesamtwirtschaftlichen Kosten selbst als „mäßig“ erachteter Inflationsraten von beispielsweise 4 Prozent erheblich sind, bezieht man die Verzerrungen mit ein, die aus der Anwendung des strikten Nominalprinzips im Abgaben- und Transfersystem resultieren.13 Die Vorteile der Geldwirtschaft gegenüber dem Naturaltausch liegen auf der Hand. Jedoch nur stabiles Geld kann die Funktionen als Recheneinheit, Tausch- und Zahlungsmittel sowie Wertaufbewahrungsmittel optimal erfüllen. Irving Fisher bemerkt lapidar: „We have standardised every other unit in commerce except the most important and universal unit of all, the unit of purchasing power. What business man would consent Geld und Vertrauen 23 for a moment to make a contract in terms of yards of cloth or tons of coal, and leave the size of the yard or the ton to change?“14 Über Indexierung lassen sich die negativen Wirkungen der Inflation teilweise vermeiden. Jedoch kann ein auch noch so ausgeklügeltes und umfassendes System – das logischerweise zusätzliche Kosten verursacht – nur ein unvollkommener Ersatz für stabiles Geld sein. Ein instabiler Geldwert verursacht volkswirtschaftliche Kosten, schafft Verzerrungen im Tauschverkehr und Unsicherheiten bei Investitionsentscheidungen. Das Vertrauen in das Geld leidet im Allgemeinen erst dann, wenn diese Kosten so hoch werden, dass sie den einzelnen Akteuren bewusst werden.15 Vertrauen durch die Währungsverfassung Nach den negativen historischen Erfahrungen wächst nicht von ungefähr die Sorge um die künftige Stabilität des Geldes mit der Höhe der Staatsschuld. Wenn die Bedienung der Staatsschuld einen immer höheren Anteil an den Steuereinnahmen erfordert, liegt es dann nicht nahe, den Ausweg über höhere Inflation zu suchen? Hat sich nicht der Staat gerade in Deutschland in einer Generation zweimal seiner Schuld entledigt (1923/1948)? Die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges kann als historisch herausragendes Beispiel dafür gelten, wie grenzenloses Misstrauen in die Währung durch neues, stabiles Geld überwunden werden kann. Die Währungsreform von 1948 markiert den totalen Bruch mit der Vergangenheit und den Beginn einer neue Ära. Dank der strikt auf die Erhaltung des Wertes der neuen Währung ausgerichteten Politik der Bank deutscher Länder/Bundesbank galt die D-Mark schließlich als eine der stabilsten Währungen der Welt.16 Das grenzenlose Vertrauen der Deutschen in ihre Währung und die für ihre Stabilität verantwortliche Institution, die Deutsche Bundesbank, veranlassten Jacques Delors zur halb ironischen, halb bewundernden Bemerkung: „Nicht alle Deutschen glauben an Gott, aber alle glauben an die Bundesbank.“ Dieser Einstellung der deutschen Öffentlichkeit habe ich einmal – wohlgemerkt als Bundesbanker, der mit Überzeugung dieser Institution angehörte – „pathologische Züge“ attestiert. Diese Charakterisierung bezog sich auf die besonderen Umstände der deutschen Nachkriegsgeschichte. Der Zusammenbruch 1945 und der vorangegangene Terror des Naziregimes hatten den Deutschen jegliches Nationalbewusstsein genommen. Die D-Mark stand dann als Symbol für den wirtschaftlichen 24 Geld und Vertrauen Erfolg, der dem Lande schließlich weltweit Anerkennung verschaffte. Die Plakate in den Straßen von Leipzig im Herbst 1989 mit der Aufschrift: „Wenn die D-Mark nicht zu uns kommt, kommen wir zur DMark“ belegen, dass die besondere Beziehung der Deutschen zur D-Mark sich auch durch Trennung und Mauer nicht aufhalten ließ. Die Verhandlungen über den Maastricht-Vertrag Anfang der neunziger Jahre wurden wesentlich beeinflusst durch die Erfolgsgeschichte der Bundesbank und ihrer Währung. Nur auf diesem Fundament stimmten die anderen Länder einem Statut für die künftige Europäische Zentralbank zu, das im Kern einer Kopie des Bundesbankgesetzes gleicht. Während zu diesem Zeitpunkt die anderen nationalen Notenbanken mehr oder weniger der Regierung unterstellt waren, hatte die Bundesbank in der Praxis den Beweis geliefert, dass nur eine unabhängige Notenbank stets die für die Erhaltung der Stabilität des Geldes notwendigen Entscheidungen treffen kann.17 Das Statut der Europäischen Zentralbank spiegelt auch den Erkenntnisstand der Wissenschaft wider. Geldwertstabilität verlangt im Papierstandard folgende institutionelle Elemente: 1. Unabhängigkeit der Notenbank bei ihren geldpolitischen Entscheidungen. 2. Preisstabilität als Mandat. 3. Das Verbot der monetären Finanzierung der Aufnahme von Schulden durch die öffentliche Hand. Nur auf diesem Fundament und dank wegweisender Entscheidungen der EZB war es möglich, dass der Übergang von den nationalen Währungen auf den Euro derart reibungslos vor sich ging.18 Wer hätte es für möglich gehalten, dass die neue Währung vom ersten Tag an das gleiche Vertrauen genoss wie die D-Mark? Die langfristigen Zinsen wurden durch den Wechsel ebenso wenig tangiert wie die Inflationserwartungen. Fazit Der Weg der Geschichte ist gesäumt von Währungen, die in Inflationen untergegangen sind. Die Erkenntnis, dass die Aushöhlung des Geldwertes nichts anderes als Betrug an der Bevölkerung darstellt, stammt nicht erst aus unseren Tagen. Schon Nikolaus Oresmus, der Bischof von Lisieux (1325 – 1382), hat dieses Verdikt in seinem Traktat über Geldbewertungen ausgesprochen. Jede Zerrüttung des Geldwesens zerstört auch das Vertrauen in den Staat, der schließlich immer als Verursacher Geld und Vertrauen 25 anzusehen ist. „Überall und zu allen Zeiten waren die Regierungen die Hauptursache der Geldentwertung.“19 Nicht von ungefähr wird Lenin der Satz zugeschrieben: „Um die bürgerliche Gesellschaft zu zerstören, muss man ihr Geldwesen verwüsten.“20 In seinem politischen Vermächtnis „De officiis“ schreibt Cicero: „Keine Sache hält den Staat mehr zusammen als Vertrauen.“ Vertrauen in das Geld, seinen Wert, ist und bleibt ein Prinzip, das weit über den Bereich des Ökonomischen hinausreicht. Wer dieses Vertrauen zerstört, lädt große Schuld auf sich. In seiner Göttlichen Komödie lässt Dante den Münzfälscher Adam von Brescia mit aufgeblähtem Wanst – inflatus! – im siebten Höllenkreis des 10. Grabens für seinen Frevel büßen. Diese Drohung hat freilich – bisher jedenfalls – noch keinen Eingang in die Sanktionen für die gefunden, die für die Inflation verantwortlich zu machen sind. Fußnoten 1 Wapnewski, P., Richard Wagner – Die Szene und ihr Meister, 2. Auflage, München 1983, S. 149. 2 Wagner, R., Wie verhalten sich republikanische Bestrebungen dem Königtume gegenüber?, in: J. Kapp (Hg.), Richard Wagners gesammelte Schriften, 12. Band, Leipzig, S. 11. 3 Im Sinne von Knapps staatlicher Theorie des Geldes läge die Antwort auf der Hand. „Das Geld ist ein Geschöpf der Rechtsordnung.“ Knapp, G. F., Staatliche Theorie des Geldes, Leipzig 1905, S. 1 (und S. VI).Nicht zuletzt Hyperinflationen haben gezeigt, dass dieser Ansatz formal-rechtlicher Art zu kurz greift; das staatliche Geld wird im Zahlungsverkehr mehr und mehr nicht mehr anerkannt. Die moderne Geldtheorie erklärt das Geld mit seinen Funktionen. „Geld ist, was Gelddienste leistet.“ Die staatliche Anerkennung bleibt akzessorisch. 4 Siehe Laum, B., Heiliges Geld, Tübingen 1924; Davies, G., A History of Money: From ancient times to the present day, University of Wales, 3. Auflage, 2002. 5 Aristoteles, Politik, Übersetzt von E. Rolfes, Hamburg, 1981, S. 19, Erstes Buch, 9. Kapitel, 1257, S. 35–40. 6 Menger, C., Geld, in: ders., Gesammelte Werke, F. A. Hayek (Hg.), Band IV, Schriften über Geld und Währungspolitik, 2. Auflage, Tübingen 1970, S. 16. 7 Ferguson, A., Abhandlung über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, deutsche Übersetzung V. Dorn, 2. Auflage Jena 1923, S. 171. 8 Menger, ibid., S. 17. 9 Smith, A., Der Wohlstand der Nationen, aus dem Englischen übertragen von H. C. Recktenwald, München 1974, S. 26. Smith weist in diesem Zusammenhang z.B. darauf hin, dass der römische As gegen Ende der Republik nur noch ein Vierundzwanzigstel seines Anfangswertes hatte und statt einem Pfund nur noch eine halbe Unze wog. 10 Robertson, D. H., Das Geld, 2. Auflage, Wien 1935, S. 147. 26 Geld und Vertrauen 11 Für eine kurze Darstellung und weitere Literaturhinweise siehe: Issing, O., Einführung in die Geldpolitik, 6. Auflage, München 1996, S. 18ff. 12 Zweig, S., Die Welt von Gestern – Erinnerungen eines Europäers, Frankfurt 1995, S. 359. 13 Siehe dazu: Feldstein, M. (ed.), The Costs and Benefits of Price Stability, Chicago and London 1999. 14 Fisher, I., A Remedy for the Rising Cost of Living: Standardising the Dollar. American Economic Review, Supplement, March 1913, p. 27. 15 Zu dieser Thematik und zur Begründung einer niedrigen, möglichst wenig volatilen Preissteigerungsrate als Ziel der Geldpolitik siehe: Issing, O., Why Price Stability?, in: ECB, Why price stability?, A. G. Herrero et al. (eds.), Frankfurt 2001, S. 179 ff. 16 Siehe: Deutsche Bundesbank (Hg.), Fünfzig Jahre Deutsche Mark, München 1998. 17 Siehe dazu: Issing, O., Unabhängigkeit der Notenbank und Geldwertstabilität, Stuttgart 1993. Von den Konflikten mit der Bundesregierung bleibt vor allem die berühmte Gürzenich-Rede von Bundeskanzler Adenauer unvergessen. 18 Issing, O., Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft, München 2008. 19 Hayek, F. A., Die Verfassung der Freiheit, Tübingen 1971, 413. 20 Zitiert nach: Eucken, W., Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 2. Auflage, Tübingen 1955, S. 255. Geld und Vertrauen 27 Abbildung 5: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Kunstmarke I Abbildung 6: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Kunstmarke II Kunst und Markt – eine Mesalliance? Wer statt der Kunst dem Kunstmarkt vertraut, kauft faule Kredite Peter Raue Das Verhältnis „Kunst und Markt“ ist ebenso untrennbar eng wie unheilbar gegensätzlich. Werke der bildenden Kunst sind Raritäten, grundsätzlich nicht beliebig vermehrbar – somit „knappe Ware“ – und lösen Begehrlichkeiten aus. Der Markt ist mitbestimmt von Menschen, die hohe und höchste Beträge in den Erwerb von Kunstwerken investieren, wobei die Motivationen dieser Handlung – Kunstliebe oder Kapitalanlage – kaum auszumachen und nur individuell zu bestimmen sind. Damit hat sich der Kunstmarkt von heute weit entfernt vom nachwirkenden, romantischen Bild des armen, besessenen, verkannten Kunstgenies: „e-a-f“ – einsam, aber frei. Der „Kunstmarkt“ ist ein relativ modernes Wort. In den sechziger Jahren etablieren sich erstmals die Kunstmessen in Köln und Basel – bis heute haben sich in wohl allen größeren Hauptstädten derartige Veranstaltungen etabliert –, und alle schlüpfen sie unter die Dachmarke „Kunstmarkt“. Dieser sich weltweit schnell etablierende Kunstmarkt entwickelte jene Tendenzen, die heute sein Erkennungsmerkmal sind: Es sind nur wenige, die Höchstpreise der Contemporary Art zahlen. Die Tendenz, in geradezu absurde Preishöhen für moderne Kunst zu investieren, hält unvermittelt an und längst erzielen die Stars der Szene Preise, die kaum für einen Rembrandt, Caspar David Friedrich oder Menzel gezahlt werden. Diesem Phänomen liegt eine so merk- wie fragwürdige Übereinkunft der Sammlerwelt zugrunde: dass wir heute – international und global vernetzt – wissen, wer die Großen unserer Zeit sind. Irrtum ausgeschlossen!? Die Geschichte jedenfalls lehrt anderes: Sie ist ein Kontinuum der Fehlurteile. Nur ein Blick in das 19. Jahrhundert: Monet, Courbet, Cézanne, Gauguin oder van Gogh – sie alle wurden zu ihrer Zeit verkannt. Unter den damals von Kunstkennern ausgewählten Werken für die berühmten Pariser Salons des 19. Jahrhunderts findet sich kaum ein – aus heutiger Sicht – bedeutendes Werk. Weder die Realisten noch die Impressionisten fanden Anerkennung. Die Gefahr, dass auch unsere Gegenwart an den wirklichen Meisterwerken vorbeisammelt, ist schon deshalb nicht zu leugnen. Kunst und Markt – eine Mesalliance? 29 Doch das scheint keinen Galeristen, keinen Sammler zu irritieren. Sie alle sind fest davon überzeugt, die größten Künstler unserer Zeit erkannt zu haben, und widmen ihnen ganze Säle in den Museen und Sammlungen, weil doch die anderen Sammler und Galeristen (und alsbald Museen) dieselben Künstler ausstellen. Warhol und Twombly, Richter und Kiefer, Hirst und Koons, Rauch und Doig sind die Heiligen unserer Tage, und ihre Werke werden verehrt wie die Schwarze Madonna von Tschenstochau. Der Kunstmarkt folgt der Logik: „Was teuer ist, muss auch gut sein“ Die großen und großzügigen Privatsammler, ob Erich Marx, Frieder Burda, Udo und Anette Brandhorst oder Friedrich Christian Flick, sammeln mehr oder weniger das Gleiche. Und es ist kaum anzunehmen, dass sie alle dieses aus der in einsamer Kunstbetrachtung gewonnenen Erkenntnis der höchsten Qualität der Arbeiten tun. Nahe liegt vielmehr der Verdacht, dass bei vielen Käufern auch das Gefühl mitbestimmend ist, den geltenden Geschmackskonventionen genügen zu wollen. Die Kunstgemeinde, die in wenigen Wochen Künstlerinnen und Künstler zu höchstbezahlten Weltstars macht, ist klein und verschworen. Wer dazugehören möchte, kann es sich nicht leisten, auf den Erwerb von Kiefer, Richter und Koons zu verzichten. Wenn wir von 20 Galeristen sprechen, die bestimmen, was weltweit führend ist, dann ist die Zahl wohl hoch gegriffen. Allein der Zugang eines Künstlers zu einer dieser Galerien zündet die Preisrakete mit der Folge, dass der Galerist problemlos die Sammler für seinen neuen Künstler findet. Meine These: Mangels nachprüfbarer Qualitätskriterien definiert der Markt den Rang der Kunst und nicht die Kunst den Preis der Werke. Der Kunsthandel mit der teuersten Kunst wird von der stillschweigenden Übereinkunft einiger Weniger bestimmt. Ein Bespiel: Als Anette und Udo Brandhorst 1993 eine Stiftung für ihre Sammlung gründen, besitzen sie noch kein einziges Werk von Warhol. Das erste Bild dieses Künstlers erwerben sie vier Jahre später, 1997. Bereits zehn Jahre nach der Stiftungsgründung zieren die Sammlung 40 Arbeiten von Warhol, wohl weil alle „Sammlerkollegen“ ihn auch zum Größten (und Teuersten) erklären! Eine Sammlung zeitgenössischer Kunst der Öffentlichkeit ohne Warhol zu präsentieren, das scheint ähnlich undenkbar wie ein Weihnachten ohne Christbaum. Die Inkunabeln der Moderne erzielen Summen, die für kein Kunstwerk der vergangenen 200 Jahre bezahlt werden würden. Jackson Pollocks No. 5 aus dem Jahre 1948 wird 2006 für 140 Millionen Euro verkauft. Die30 Kunst und Markt – eine Mesalliance? sen Preis erzielt kein Dürer, kein Caravaggio. Gibt es dafür eine Erklärung? Einen Qualitätsmaßstab? Der selbst ernannte Malerfürst und langjährige Akademiepräsident in Düsseldorf, Markus Lüpertz, formuliert in einer trefflichen Polemik: „Sie können doch ein Bild von Gerhard Richter, das sechs, acht, zehn Millionen kostet, nicht mehr beurteilen. Da können Sie doch nicht mehr sagen, das ist schlecht.“ Dem Mainstream der Sammler folgt der Mainstream der Kritiker – und umgekehrt. Längst hat der Kunstmarkt den Merkvers: „Was gut ist, ist auch teuer“ pervertiert in die Erkenntnis: „Was teuer ist, muss deshalb gut sein“ (das ist ähnlich wie beim Rotwein, scheint mir). Ein weiteres Beispiel: Es ist noch nicht lange her, da wurde bei Christie’s in London Martin Kippenbergers „Paris Bar“ für 2,5 Millionen Pfund einem amerikanischen Sammler zugeschlagen. Christie’s bot das Bild im Katalog an mit dem Vermerk „Öl auf Leinwand, 1991, Martin Kippenberger“. Diese Angaben enthielten einen kleinen und einen großen Fehler. Der kleine: Das Bild ist in Acryl und nicht in Öl gemalt. Der größere Fehler: Das Bild stammt nicht von Martin Kippenberger. Vielmehr hat es der Plakatmaler Götz Valien gemalt – im Auftrag von Kippenberger. Und der Auftrag wurde auch bezahlt. 1.000 Mark bekam Valien dafür. Auf der Auktion hingegen reichte die Kippenberger-Zuordnung, um einen neuen Kippenberger-Rekordpreis zu erzielen. Um nicht missverstanden zu werden: Wer das Konzeptuelle in der Arbeit von Kippenberger begreift, wer seine „Lieber Maler, male mir ein Bild“-Serie kennt, der versteht durchaus, wie konsequent im Kippenberger-Werk auch diese Arbeit ist. Nicht den künstlerischen Gehalt dieses Werkes hinterfrage ich, sondern den erstaunlichen und schwer nachvollziehbaren Preis. Um es konsequent weiterzudenken: Was wäre eigentlich – so darf man wohl fragen –, wenn Valien die Paris-Bar noch einmal malte und auf den Markt brächte? Der Wert dieser neuen Arbeit läge dann wohl allenfalls im vierstelligen Bereich bei absolut gleicher Qualität. Warum? Weil Qualität nicht der bestimmende Faktor beim Wert eines Kunstwerkes zu sein scheint. Der Preis des Kippenberger-Bildes Paris-Bar erklärt sich nicht aus der Qualität (Peinture oder Originalität) des Bildes, sondern aus der Spielfreude eines Sammlers beim Roulette am Kunstmarkttisch. Es ist einige Jahre her, da besuchte ich eine Galerie in New York, die für den nächsten Abend eine Tuymans-Ausstellung plante; alle Bilder waren noch verpackt. Ich wünschte der Galeristin beim Abschied eine verkaufsreiche Vernissage, und sie lachte: „Alle Bilder sind längst verkauft!“ – „Aber die Käufer haben die Bilder doch gar nicht gesehen“, entgegnete ich. „Das ist bei Tuymans auch nicht nötig. Die Sammler lassen mich wissen, welche Formate sie haben wollen. Und ich gehe streng, ganz Kunst und Markt – eine Mesalliance? 31 streng in der jeweiligen Warteliste vor.“ Den Preis der Bilder bestimmen nicht Motiv oder Qualität, für den Preis gibt es eine Formel: Höhe mal (manchmal: plus) Breite, multipliziert mit einem Faktor X. Kein „amour fou“ zwischen Bild und Sammler bestimmt den Kauf, sondern die Lust und Last, einen Tuymans besitzen zu dürfen oder zu müssen (um im Kreise der millionenschweren Sammler satisfaktionsfähig zu bleiben). Hat ein Künstler einmal Zugang zu einem der Weltspitze-Galeristen gefunden, Höchstpreise erzielt, die Begehrlichkeit der großen Sammler geweckt, so ist es – der Geldvermehrung wegen – nur noch erforderlich, die Warteliste der Kaufinteressenten so lange und so schnell zu bedienen, bis die Wartenden sich an einer anderen, neuen Schlange angestellt haben. Dieser Hype der Kunsthandelshöchstpreise hat freilich einen bösartigen Gesellen zur Seite, den der Käufer zunächst nicht sieht, dessen Niedertracht er aber irgendwann spürt: Die Anzahl der Künstler, die einst hohe Preise erzielt haben, aber bereits ein Jahrzehnt später in diesem Preissegment unverkäuflich sind, ist Legion. Pattern Art, Hyperrealismus, Op-Art, die Jungen Wilden vom Moritzplatz: Was waren sie prominent und höchstbezahlt vor 30 Jahren, und wie schwierig ist es, sie heute an den Mann zu bringen – insbesondere dann, wenn aus der Crew der jeweiligen Kunstrichtung nur einer als „Spitzenvertreter“ übriggeblieben ist. Dieser Bedeutungsverlust verdankt sich ja nicht einem Qualitätsabfall, sondern dem Zeitgeschmack, der wiederum bestimmt wird durch den Einfluss der Großen unter den Sammlern. Wie ein solcher Sturz aus dem Preishimmel manipuliert werden kann, belegt wiederum der Werbefachmann und Großsammler Charles Saatchi, der über 50 Bilder des Künstlers Sandro Chia von heute auf morgen – warum auch immer – auf den Markt wirft. Diese Fülle kann der Markt nicht aufnehmen, die Preise fallen, und – für die Käufer: glücklicherweise – führt dies dazu, dass Sandro Chia wieder bezahlbar ist. Erstaunlich ist, dass trotz der immer deutlicher werdenden Markthörigkeit kaum eine Auseinandersetzung über den Kunstwert der so hoch gehandelten Künstler stattfindet. Wir erinnern uns doch an die öffentlich und vehement geführte Diskussion um Wilhelm Nays angeblich „bunte Kleckse“, um die Kunst eines Pollock oder um die Fett- und Filzkunst des Joseph Beuys. Wo gibt es heute eine ähnliche Diskussion um Neo Rauch, Damien Hirst oder Jeff Koons? Wer wird recht behalten vor der Geschichte? Die Kunst und die Künstler, die heute Millionenpreise erzielen, oder die auf den Seitenwegen Arbeitenden, verkannt von der Mehrheit, gesammelt von wenigen? Diese Fragen wecken den unwiderstehlichen Wunsch, in 100 Jahren noch einmal für einen Tag auf die Erde zu kommen und sehen zu dür32 Kunst und Markt – eine Mesalliance? fen, was in den großen Museen hängt, wo die Kunstgeschichte die Hauptwege gebaut, die Nebenwege getrampelt hat – Überraschungen nicht ausgeschlossen. Der Geschmack der Privaten hält Einzug im Museum Fast alle staatlichen Museen in Deutschland verfügen heute nicht mehr über die erforderlichen Mittel, um Kunstwerke einzukaufen. Dennoch kommen nach wie vor Bilder in die Museen, und zwar vermehrt über private Sammler. Die Museumsdirektoren und Kuratoren haben die Aufgabe, Dauer und Tiefe zu etablieren, ja, einen Kanon der Kunst ihres jeweiligen Sammlungsgebietes festzulegen. Indem immer mehr private Sammler über jene Bilder entscheiden, die in Museen gezeigt werden, geht der Einfluss der Museumsdirektoren zurück. Dieser Aspekt verdient umso mehr Beachtung, als häufig Privatsammler den Museen nicht ihre zehn besten Stücke geschenkweise anbieten, sondern ausschließlich die gesamte Sammlung (in der Hoffnung, dass diese auch am besten in einem eigenen „wing“ gehängt werden). Diese private Sammlung vereint Arbeiten – wie jede Sammlung und erst recht wie jede private Sammlung –, die der Traum eines Museumsdirektors sind, und andere die – schlimmstenfalls – dessen Albtraum sind. Ein „Cherry Picking“ des Museumsdirektors wird der Sammler in aller Regel nicht dulden – so wird sein Sammelgeschmack zum öffentlich-staatlichen Kanon der präsentierten Kunst. Aber welcher Museumsdirektor wird eine Sammlung zurückweisen, die großartige Exemplare enthält, nur weil ihm einige der Stücke missfallen? In diesem Zusammenhang spielen die Fördervereine eine immer stärker wachsende und gewichtige Rolle. Weil die Museen zu wenig Geld haben, sprießen die Fördervereine wie Pilze aus dem Boden. Das ist eine zweischneidige Sache. Natürlich sind wir alle froh über das unbezahlbare Engagement privater Förderer und Freunde. Ich darf das sagen, war ich doch selbst drei Jahrzehnte als Vorsitzender des Vereins der Freunde der Nationalgalerie Berlin tätig. Um es an einem konkreten Beispiel zu beleuchten: Der mir nun besonders nahe stehende Verein der Freunde der Nationalgalerie hat in den vergangenen rund 25 Jahren über 40 Ausstellungen finanziert. Keine dieser Ausstellungen hätte von der Nationalgalerie ohne diese Unterstützung realisiert werden können, weil der Staat – Bund und Länder – der Stiftung keine Gelder für diese museumswichtigen und -richtigen Veranstaltungen zur Verfügung stellt. Ich wage die These: Hätte es diesen Verein und dessen Finanzkraft nicht gegeben, hätte der Staat erkannt, dass die Nationalgalerie katastrophal und skandalös unter- Kunst und Markt – eine Mesalliance? 33 finanziert ist und Gelder fließen lassen, damit das Museum seinen Bildungsauftrag erfüllen kann. Der Sponsor ist gefragt, gesucht und erhofft wie die berühmte Perle in der Auster. Er kann Segen und Basis für große und bedeutende Ausstellungsvorhaben sein – er bleibt aber immer Sponsor und mutiert nicht zum Mäzen. Einer Aktiengesellschaft, die den Aktionären zumutet, hohe Beträge in die Kultur zu investieren, muss der Vorstand verständlich machen, dass ein solcher Auftritt letztlich dem Unternehmen zugute kommt. Deshalb kann und muss der Sponsor, wenn er Geld in eine kulturelle Veranstaltung gibt, Gegenleistungen verlangen, von denen er sich mit einigem Grund eine jedenfalls mittelbare Stärkung des eigenen Unternehmens erwarten darf. Hinweis des Sponsors auf den Plakaten, auf der ersten Seite des Kataloges, durch eine Rede bei der Eröffnung gehören zum selbstverständlichen Forderkatalog derartiger Sponsoren. Selbstbewusst formulierte George Weismann, CEO von Philip Morris, in einer Werbebroschüre diese Auffassung in dem Statement: „The fundamental interest of business in art is self-interest.“ Das ist radikal formuliert, aber man darf sich hier auch nichts vormachen: Kultursponsoring ist immer eine Synthese von Altruismus und Egoismus. Ein einziges Bespiel: Für eine Andy-Warhol-Ausstellung in der unter anderem seine Serie „Cars“ gezeigt werden sollte, war der Hersteller der gemalten Automarke bereit, die Ausstellung mit dem Betrag von 1 Million mitzufinanzieren unter der Voraussetzung, dass in der Ausstellung neben den Siebdrucken Andy Warhols das von ihm bemalte Auto desselben Herstellers zu sehen sei. Der Kurator der Ausstellung hat diesem Angebot eine klare Absage erteilt, was zum Rückzug des erhofften Sponsors geführt hat. Der Kurator dieser Ausstellung war – nicht zuletzt gestützt durch den Freundesverein – in der glücklichen Situation, das tun zu können. Andere Museen, denen es nur mit jener Million möglich gewesen wäre, ihre Ausstellung zu realisieren, hätten wohl kaum darauf verzichten können, auf die Forderung des Sponsors einzugehen und das ungeliebte Projekt der Schau einzuverleiben. Trotz der aufgezeigten Problemfelder kann ich aus eigener Erfahrung betonen, dass es immer wieder Sponsoren gibt, die in nobler Zurückhaltung und mit großer Lust am Entstehen bedeutender Ausstellungen eher Mitdenker als Mitbestimmer sind. Dabei ist – die Zusammenarbeit etwa bei der MoMA-Ausstellung in Berlin mit der Deutschen Bank hat dies bewiesen – eine zurückhaltende Präsenz des Sponsors oft der bessere Werbefaktor als ein allzu deutlicher Auftritt. 34 Kunst und Markt – eine Mesalliance? Ob Freundesverein oder Sponsor: Stets sind diese Unterstützer eines Museums hilfreich und erfreulich, wenn sie den Respekt vor der Entscheidungshoheit des Museumsverantwortlichen – seines Direktors, seiner Kuratoren – zur Maxime ihrer Unterstützung machen. Vertrauen in die Kunst – statt in den Kunstmarkt Lassen Sie mich durchaus bekenntnishaft enden: Seit Jahrzehnten sammle ich Kunst und kann von der Erregung des Kunstkaufes berichten, von der Vorfreude auf das Eintreffen der Kunst in den eigenen Räumen, von dem Glück auch nach Jahrzehnten – gleichgültig, welchen Wert der Kunstmarkt den Werken zugesteht –, die Freude über den Besitz solcher Werke. Und immer wieder bin ich überrascht davon, was der Umgang mit Kunst und deren Präsenz bei den Menschen, die mit solchen Arbeiten leben, bewirken kann. Viele Kollegen und Mitarbeiter in meinem Anwaltsbüro, die sich ursprünglich durchaus zu einer Kunstferne bekannten, entwickeln auf Dauer eine enge Beziehung zu den Bildern, die sie umgeben. Mitarbeiter, die das Büro verlassen, kommen immer wieder und sagen: „Kann ich die Arbeit, die in meinem Zimmer hängt, mitnehmen? Leihen Sie sie mir, verkaufen Sie sie mir?“ Dies belegt aufs Schönste, welche Freude und Empathie der Umgang mit der bildenden Kunst auslösen kann. Auf die Frage, nach welchen Kriterien man Kunst kaufen soll, kann ich nur ganz subjektiv antworten: nach dem Lustprinzip. Liebe und Leidenschaft für Kunst und Künstler sind die besten Berater beim Erwerb eines Kunstwerks. Sinnstiftend ist letztlich nicht der Preis, den eine Arbeit auf dem Kunstmarkt erzielt, sondern die Beziehung, die der Käufer zum Kunstwerk und Künstler aufbaut. Manche meiner Bilder mag ich mittlerweile so sehr, dass ich sie um keinen Preis der Welt wieder hergeben will. Ein Gespür für Kunst entwickelt sich nur dort, wo man lernt, mit der Kunst zu leben. Kunst und Markt – eine Mesalliance? 35 Abbildung 7: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Öffentlichkeit Abbildung 8: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Zwischenzeiten Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen Rupert Graf Strachwitz Einleitung „Vertrauen scheint sich am besten in kleinräumigen, überschaubaren Ordnungen zu entfalten, im Privaten, im Zwischenmenschlichen: also in einer Sphäre, wo es möglich ist, Personen kennenzulernen, ihr Verhalten zu beobachten, Erfahrungen mit ihnen zu sammeln und stabile Beziehungen aufzubauen.“ So versuchte der Politikwissenschaftler und Politiker Hans Maier (1988, 35), dem schwer zu definierenden Begriff des Vertrauens eine politische Konnotation zu geben. „Eine Verfassung“, so fuhr er fort, „in deren Mitte das Wort Vertrauen stünde, käme uns gefährlich und leichtfertig vor.“ (Ebd.). Und weiter: „Auf der einen Seite Vertrauen als bereitwillig eingeräumter Kredit, sogar als Überziehungskredit im persönlichen, privaten Bereich – auf der anderen Seite das Misstrauen als entschlossen installiertes Frühwarnsystem im öffentlichen Leben.“ (Ebd., 36). Um die politische Konnotation soll es in diesem Beitrag gehen – gerade nicht allerdings in erster Linie um die im engeren Sinn politische Arena von Parlamenten, Regierungen, Verwaltung, Gerichtsbarkeit, also die durch die Verfassung bestimmte Arena gesellschaftlichen Handelns, sondern um die politische Ordnung in einem umfassenderen Sinn, die, wie noch darzulegen sein wird, als ein Ineinandergreifen von drei Handlungsarenen begriffen werden kann. Mit dieser Perspektive soll zugleich der Versuchung widerstanden werden, einen in der Soziologie zurzeit wieder heftig diskutierten Begriff (Endress 2002, 28) gewissermaßen in der Kurzfassung zu diskutieren, wofür der Politikwissenschaftler denn auch nicht qualifiziert wäre. Die Implikationen von Vertrauen werden auch daraufhin zu untersuchen sein, ob dieses in einer der Arenen einen besonders hohen Stellenwert besitzt und, weiterführend, dieser daraus eine Bringschuld oder andererseits eine spezifische Legitimität in Bezug auf die Gesellschaft insgesamt erwächst. Dieser Ansatz gründet sich auf die Hypothese, dass eine Gesellschaft ohne Vertrauen schlechthin nicht funktionieren kann. „Vertrauen ist das Gleitmittel des gesellschaftlichen Lebens.“ (Putnam und Goss 2001, 21). Er muss allerdings auch der Analyse Rechnung tra- Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 37 gen, dass das aus Vertrauen erwachsende Sozialkapital in einer Gesellschaft höchst ungleich verteilt sein kann (Putnam 2001, 785). Dennoch: die Hypothese der Notwendigkeit von Vertrauen für das Funktionieren gesellschaftlicher Arrangements wird von Jan Philipp Reemtsma eindrucksvoll durch eine Schilderung der Zustände im 16. und 17. Jahrhundert, und hier besonders im 30-jährigen Krieg, gestützt, in der unkontrollierbare Gewalt und die Notwendigkeit, jedem zu misstrauen, das Sozialgefüge gänzlich zum Erliegen gebracht haben (Reemtsma 2009, 215 ff.). Insofern war das ganz und gar auf Misstrauen aufgebaute Ordnungskonzept von Hobbes (Endress 2002, 10) zwar aus der Analyse der zeitgenössischen Zustände plausibel, aber letztlich doch höchst defizitär, was schon von dem schottischen Aufklärer und Theoretiker der Civil Society Adam Ferguson in seiner Diskussion der Modelle von Hobbes und Rousseau heftig kritisiert wurde (Broadie 2007, 80). Kein Wunder, so Reemtsmas implizierter Kommentar, hat doch das 18. Jahrhundert der exzessiven Gewaltausübung, insbesondere auch der Folter, ein Ende gesetzt (Reemtsma 2009, 224). Jedenfalls scheint zwischen Gewalt und Vertrauen eine Korrelation zu bestehen. Beschränkung der Gewalt geht mit Strategien des Vertrauenserhalts einher (Ebd., 256), nachdem sich gezeigt hat, dass das berühmte Verdikt König Friedrich Wilhelms I. von Preußen, der auf seine Untertanen einprügelte und dabei schrie „Ihr sollt mich lieben!“, keine Aussicht hatte, die Basis eines erfolgreichen gesellschaftlichen Arrangements zu sein. Wie sieht dies nun im modernen Verfassungs- und Verwaltungsstaat aus? Ist dieser, mit dem Gewaltmonopol ausgestattet und zugleich in seiner Gewaltausübung deutlich beschränkt, geeignet, das Vertrauen seiner Bürgerinnen und Bürger zu erwerben, oder hindert ihn ebendieses Monopol letztlich daran? Der massive Vertrauensverlust, den beispielsweise Einrichtungen der US-Regierung nicht zuletzt durch die übermäßige Gewaltausübung gegenüber Gefangenen erlitten haben, scheint auf Letzteres hinzudeuten (Ebd., 527). Erweist sich diese Sicht als richtig, untermauert dies die These von der Notwendigkeit einer weiteren Arena, in der sich Vertrauen und damit auch Sozialkapital bilden können. Mit vielen anderen Themen schienen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die Prämissen für ein gelingendes Sozialarrangement auf die Kräfte des Marktes überzugehen. Die damit verbundenen Hoffnungen haben sich jedoch, wie spätestens die Ereignisse des Jahres 2008 gezeigt haben, als trügerisch erwiesen. Angesichts der Tatsache, dass sich dieser Beitrag in einen Zusammenhang einzuordnen hat, der mit „Kredit und Vertrauen“ überschrieben ist, soll der Darlegung des Szenarios aus zivilgesellschaftlicher Perspektive wenigstens ein kurzer Versuch vorangestellt werden, den Begriff des Vertrauens begrifflich zu fassen. Auch ist ein zumindest 38 Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen kursorisches Eingehen auf alle drei gesellschaftlich relevanten Arenen, das heißt in diesem Sinn den Staat, den Markt und die Zivilgesellschaft, unerlässlich. Zur Begrifflichkeit des Vertrauens Niklas Luhmann hat das „Problem des Vertrauens“ als „Problem der riskanten Vorleistung“ beschrieben (2009, 27). „Die Welt“, fährt er fort, „ist zu unkontrollierbarer Komplexität auseinander gezogen, so dass andere Menschen zu jedem beliebigen Zeitpunkt sehr verschiedene Handlungen frei wählen können. Ich aber muss hier und jetzt handeln. Der Augenblick, in dem ich sehen kann, was andere tun und mich sehend darauf einlassen kann, ist kurz. In ihm allein ist wenig Komplexität zu erfassen und abzuarbeiten, also wenig Rationalität zu gewinnen.“ (Ebd., 27 f.). Luhmann sieht Vertrauen wesentlich als eine risikobehaftete, aber notwendige Grundlage für eine Fülle von Entscheidungen. Die zeitliche Asymmetrie, der notwendige „Vertrauensvorschuss“, ist prägnanter Ausdruck dieses Risikos (Endress 2002, 36). Ob das Risiko zu Recht eingegangen wurde, wird für Luhmann erst in der Rückschau erkennbar. „Ob vertrauensvolles Handeln in der rückblickenden Endbewertung richtig war, hängt […] davon ab, ob das Vertrauen honoriert oder gebrochen wird.“ (Ebd., 29). Vertrauen ist demnach für ihn eine potentiell ausschlaggebende Komponente von Entscheidungsprozessen, weil die inhärente Komplexität der Zusammenhänge eine rein rational herbeigeführte Entscheidung prinzipiell ausschließt. „Trotz aller Bemühungen um Organisation und rationale Planung kann nicht alles Handeln durch sichere Voraussicht seiner Wirkungen geleitet sein. […] Erfolg aber stellt sich erst nach dem Handeln ein oder nicht ein. Man muss sich jedoch vorher engagieren. Dieses Zeitproblem überbrückt das Vertrauen […].“ (Ebd., 30). Luhmann scheint mir hier an Georg Simmels Erörterung des Vertrauensbegriffs (1989, 212 ff., 667 ff.) im Sinne einer entscheidungsbedingenden Kategorie anzuknüpfen, ohne jedoch die Verknüpfung mit dem Kredit zu übernehmen. Jedenfalls fehlt bei Luhmann Simmels Argument, dass „das Gefühl der persönlichen Sicherheit, das der Geldbesitz gewährt, […] vielleicht die konzentrierteste und zugespitzteste Form und Äußerung des Vertrauens auf die staatlich-gesellschaftliche Organisation und Ordnung“ sei (Simmel 1989, 216; s. hierzu Endress 2002, 13). Putnams erwähnter Einwand steht hierzu in einem unmittelbaren Zusammenhang, während Luhmann die Kategorie des Vertrauens generalisiert. Beide stellen jedoch auf unmittelbare soziale Beziehungen (Mikroebene) ebenso ab wie auf professionelle Interaktionen (Mesoebene) und gesellschaftliche Subsysteme (Makroebene) (Endress 2002, 14), wobei Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 39 Luhmann diese deutlich voneinander abgrenzt (Ebd., 31). Talcott Parsons erweitert dies, indem er von Vertrauen als primärer Bedingung der Funktionsfähigkeit von Interaktionsmedien spricht (Parsons 1980, 215; s. hierzu: Endress 2002, 21). Allerdings sieht Luhmann, und dies scheint mir für den vorliegenden Zusammenhang von Bedeutung zu sein, eine Entwicklung vom interpersonalen Vertrauen in kleinen zum Systemvertrauen in komplexen Gesellschaften, der durch einen Lernprozess bedingt ist (Luhmann 2009, 34 f.; s. hierzu: Endress 2002, 32). Anthony Giddens hat versucht, das Vertrauensphänomen in den Kontext seiner Untersuchungen der modernen Gesellschaft zu stellen. Er führt die Überlegungen von Simmel, Luhmann und Parsons fort, wenn er herausstellt: „Das Wesen moderner Institutionen ist zutiefst mit den Mechanismen des Vertrauens in abstrakte Systeme verbunden, vor allem in Vertrauen in Expertensysteme.“ (Giddens 1995, 83; s. hierzu: Endress 2002, 40). Das interpersonale Vertrauen scheint hier von einem abstrakteren, institutionengebundenen Vertrauen verdrängt zu werden. Und in der Tat: Dieses Vertrauen fordert die sich als demokratisch definierende Gesellschaftsordnung einerseits explizit ein, bietet dafür andererseits die Herrschaft des Rechts1 als rationale Basis an. „Dem ‚Gesetz‘, Inbegriff der generellen, abstrakten und permanenten Normen, zu deren bloßem Vollzug Herrschaft herabgesetzt werden soll, wohnt eine Rationalität inne, in der das Richtige mit dem Gerechten konvergiert.“ (Habermas 1990, 118). „Damit ist die Umkehrung des in Hobbes’ Staatstheorie endgültig formulierten Prinzips der absoluten Herrschaft vorbereitet.“ (Ebd.). Auf dieses Vertrauen gründet, in radikaler Abkehr von der Unterwerfung unter die Gewalt und Willkür eines Herrschers, die moderne politische Ordnung. Schon Simmel bezieht in dieses Konzept „ein Vertrauen des Publikums zu der [das Geld] emittierenden Regierung“ und „zu dem Wirtschaftskreise“ ein, ohne dass es „zu einem Bargeldverkehr nicht kommen“ könne (Simmel 1989, 215; s. hierzu: Endress 13), ein institutionengebundenes Vertrauen also, ohne das das Arrangement zum Scheitern verurteilt ist. Das Problem der zeitlichen Asymmetrie stellt sich in hohem Maße auch hier; ohne permanenten Vertrauensvorschuss des Bürgers und der Bürgerin kommt das Arrangement nicht in Gang. Die Vertrauenskrise Angesichts dieses Befundes ist die Frage zu stellen, was geschieht, wenn der Vertrauensvorschuss nicht gewährt oder nicht repliziert wird, wenn das Risiko zu vertrauen von den Bürgern und Bürgerinnen als zu hoch eingeschätzt wird, wenn also eine Vertrauenskrise eintritt. Ulrich Beck spricht davon, dass „von der Mehrheit der Menschen als verheerend 40 Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen erlebte Konsequenzen mit dem gesellschaftlichen Industrialisierungsund Modernisierungsprozess verbunden“ sind (Beck 1986, 67), also gerade mit dem Prozess, der doch durch zunehmende Rationalisierung vertrauens- und gesellschaftsbildend hätte wirken sollen. „Die Modernisierungsagenten – in Wirtschaft, Wissenschaft und Politik – sehen sich in den unbequemen Zustand eines leugnenden Angeklagten versetzt, den die Indizienkette ganz schön ins Schwitzen bringt.“ (Ebd., 68). Diese Analyse wird durch eine Vielzahl von Beobachtungen gestützt, die wohl jeder Bürger selbst hat machen können. Welcher Empfänger gesetzlich verbriefter Leistungen einer staatlichen Behörde wird der Institution noch vertrauen, wenn er Erfahrungen der Willkür, der bewusst falschen Auslegung von Bestimmungen, oder auch nur der arroganten Behandlung im Zusammenhang mit dem Vortrag von Ansprüchen gemacht hat? Dabei geht es hier nicht darum, ob diese Ansprüche in einem größeren Zusammenhang als gerechtfertigt oder überzogen erscheinen müssen, sondern darum, dass zumal ein sich in einer Notlage befindender Bürger sich auf die Gültigkeit der Gesetze verlassen zu können glaubt und in diesem Glauben nicht unterstützt wird. Behörden, die für den Umgang mit einzelnen Bürgern zuständig sind, etwa Jugendämter, Ausländerämter und dergleichen, haben das Vertrauen vielfach in einer für die Betroffenen existentiellen Weise nicht eingelöst. Mangelhafte Pflichterfüllung, Kompetenzverfall, politisch motivierte Entscheidungen bis hin zur Rechtsbeugung haben das Vertrauen nachhaltig zerstört. Für viele Bürgerinnen und Bürger hat das Gefühl des „Die da“, die unkontrollierbar Gewalt ausüben, nie durch ein Gefühl des Gemeinsinns, des „Wir“, in dem Vertrauen gedeihen kann, überwunden werden können. Dieses Gefühl ist nicht auf unterprivilegierte Minderheiten, auf die „Loser“ in der Gesellschaft beschränkt. Jedem Bürger tritt die öffentliche Verwaltung wesentlich als eine fremde Gewalt gegenüber, von der man sich in Acht zu nehmen und der man möglichst auszuweichen hat. Die Erfahrungen mit den Diktatoren des 20. Jahrhunderts, denen tatsächlich weithin und mit schrecklichen Konsequenzen vertraut worden war, haben gewiss dazu beigetragen, mit politischen Vertrauensvorschüssen vorsichtiger zu sein (Reemtsma 2009, 436). Doch haben auch krasse Pflichtversäumnisse und Korruption den Vertrauensvorschuss weithin aufgezehrt. Selbst das angeblich – nach Meinungsumfragen – große Vertrauen in die Polizei scheint eher durch einschlägige Fernsehsendungen, sehr viel weniger durch persönliche Erfahrungen bedingt zu sein. Politiker genießen das Vertrauen ihrer Bürger schon lange nicht mehr. Dies äußert sich beispielsweise in allen sogenannten Industrieländern in abnehmender Neigung, einer Partei anzugehören, abnehmender Beteiligung an Wahlen (vgl. Putnam 2001, 770, 772), aber Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 41 auch rückläufiger Mitgliedschaft in Gewerkschaften (Ebd., 774). In diesem Zusammenhang kommt es gar nicht darauf an, ob die von den Bürgern angestellten Analysen zutreffend sind, wenn auch sehr viel dafür spricht; vielmehr ist die wie auch immer zustande gekommene Überlegung, das Gefühl ausschlaggebend, dem Staat misstrauen zu sollen oder jedenfalls das Risiko des Vertrauensvorschusses bei Inkaufnahme zeitlicher Asymmetrie kritisch zu überprüfen (Endress 2002, 36). Anders als bei Hobbes, für den das Misstrauen von den Einrichtern einer politischen Ordnung ausgeht, geht es nach den Erfahrungen mit dem modernen Staat von dessen Bürgern aus. Ohne dass es dazu präzise Untersuchungen gibt, scheint sich dies auch dadurch bemerkbar zu machen, dass in Volksabstimmungen zu einzelnen Themen ganz überwiegend die Mehrheit gegen die Vorschläge oder Positionen der Regierung stimmt, besonders dann, wenn Regierung und Opposition die gleiche Position vertreten. Besonders bedenklich ist in diesem Zusammenhang, dass das Misstrauen gegen den Staat weit über den Eindruck des Versagens in einzelnen Bereichen hinausreicht und sich gegen die hoheitliche Gewalt mit allen ihren Teilen richtet. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass diese Vertrauenskrise mit wenigen Ausnahmen, die sich beispiels- aber auch interessanterweise vor allem in kleinen Gemeinden finden, alle Ebenen und Einrichtungen von Politik und Verwaltung erfasst hat. Nach einer international komparativen Studie haben in Deutschland nur 38 Prozent der Bürgerinnen und Bürger das Vertrauen, dass die Regierung das Richtige tut, verglichen mit 43 Prozent in den USA, aber mit 77 Prozent in China (Edelman 2010, 8). Die Krise wäre noch größer, wenn der Bürger nicht mit dem Dilemma konfrontiert wäre, keine systematische Alternative zu dem modernen Verfassungsstaat erkennen zu können – und wohl auch, wenn nicht die Regierung und das sie insgesamt stützende Staatssystem mit hohem Aufwand versuchen würden, den Eindruck zu korrigieren. Es gibt beispielsweise – bislang unbewiesene – Vermutungen, dass die Vertrauen schaffenden Polizeiserien im Fernsehen über die Mehrheit der öffentlichen Mandatsträger in den Aufsichtsgremien der Sender durchgesetzt oder sogar teilweise aus Budgets der Polizeibehörden mitfinanziert werden – eine dem Katalog der Möglichkeiten eines im Wettbewerb stehenden Wirtschaftsunternehmens entnommene, hier wie dort tatsächliche Qualität nicht notwendigerweise widerspiegelnde Marketingmaßnahme. Ob sie langfristig erfolgreich sein kann, mag bezweifelt werden. Die Wirtschaft selbst kämpft aus einer sehr viel schlechteren Ausgangsposition heraus um das Vertrauen ihrer Kunden. Jeder weiß schon von jeher, dass Anpreisungen von Verkäufern, Klagen über Kosten und alle Werbung auf dem Markt Übertreibungen enthalten, die versuchs42 Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen weise durchschaut werden müssen. Jedes Tauschgeschäft, das Wesensmerkmal des Marktes, lebt ein Stück weit vom Misstrauen gegenüber dem Tauschpartner, das regelmäßig nur durch lange Kundenbeziehungen abgebaut wird. Dennoch ist unstreitig ein erheblicher Vertrauensvorschuss notwendig, um eine Kaufentscheidung zu bewirken. Kaum ein Käufer kann tatsächlich den Wahrheitsgehalt des Angebots nachprüfen. Die vertrauensgestützte professionelle Interaktion (nach Luhmann) gilt gerade auf dem Markt und gerade, weil ein Stück Misstrauen jedes Geschäft begleitet. Bedenklich sind daher einige Entwicklungen der letzten Jahre. Zum einen hat die zunehmende Kommerzialisierung ehedem nicht einmal als Teil des Marktes gesehener Branchen dazu geführt, dass die Vertrauenskrise auch diese erfasst hat. Zu den betroffenen Branchen gehören beispielsweise die sogenannten freien Berufe, neben Rechtsanwälten vor allem die Ärzte. Ein Zahnarzt, der ein bestimmtes Pflegemittel empfiehlt und, wie zunehmend üblich, hinzufügt, der Patient könne es bei ihm erwerben, untergräbt damit das ihm entgegengebrachte Vertrauen. Parsons Paradebeispiel des Arztes, dessen „nicht vorrangige Gewinnorientierung sowie nicht zuletzt seine affektive Neutralität elementare Bedingungen des Aufbaus einer Vertrauensbeziehung seitens des Patienten sind“, wird dadurch zum Beweis des Gegenteils (Endress 2002, 21; vgl. Parsons 1965). Zum zweiten bezieht sich der Vertrauensschwund offenbar zunehmend auf das System der sozialen Marktwirtschaft als solches. Weniger als 50 Prozent der Bürger vertrauen, so eine vom Institut für Demoskopie Allensbach 2009 publizierte Zahl, diesem Wirtschaftssystem. Das Vertrauen in die Wirtschaft, dass sie das Richtige tut, haben 2010 51 Prozent der Deutschen (Edelman 2010, 8). Nur 17 Prozent der Deutschen haben 2010 Vertrauen in die Banken, ein Rückgang auf die Hälfte seit 2007 (Ebd., 4). Zu Recht hat der Vorstandsvorsitzende eines großen Beratungsunternehmens2 diesen fortschreitenden Vertrauensverlust als „gesellschaftliches Desaster“ bezeichnet. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass viele Unternehmen diesen Verlust des Vertrauens in die hergestellten Güter und Dienstleistungen durch Maßnahmen zu kompensieren suchen, die zur Verbesserung von deren Qualität und damit intrinsisch zur Wiederherstellung des Vertrauens wenig oder nichts beitragen können. Dies wird von den Konsumenten tatsächlich honoriert. So stehen in den USA Ratgeber hoch im Kurs, die den Verbraucher darüber aufklären, welches Unternehmen in Bezug auf Arbeitsbedingungen, ethnische Parität, Umweltmaßnahmen und so weiter welchen Rangplatz einnehmen kann. Dass Unternehmen auch hinsichtlich ihrer sozialen Verantwortung und Grundsätze beurteilt werden, ist gewiss nicht zu kritisieren; doch kann vorbildliches prosoziales Verhalten überVertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 43 höhte Preise, Qualitätsmängel der Produkte und dergleichen ebenso verschleiern wie aggressive Werbung. Das Vertrauen in den Partner am Markt wird dadurch letztlich ebenso wenig wiederhergestellt wie das in den staatlichen Amtsträger durch Broschüren einer Zentrale für politische Bildung oder eines Presseamtes. Ebenso wie dem Staat muss auch dem Markt schließlich ein offenkundiges Versagen bei der Erfüllung seiner originären Aufgaben, der Bewältigung benennbarer Herausforderungen, der Bereitstellung adäquater Leistungen und dergleichen attestiert werden. Nicht nur Verhaltensmuster, Unregelmäßigkeiten und sich häufendes Versagen von Protagonisten, sondern auch systemimmanentes Versagen haben Staat und Markt in die gegenwärtige Vertrauenskrise gestürzt. Wem, so fragt sich der Bürger, kann denn überhaupt noch vertraut werden? Diese Ratlosigkeit wirkt sich verheerend auf die Kohäsion der Gesellschaft aus. Nimmt man andere Faktoren, beispielsweise die transnationalen Kommunikationsmöglichkeiten, hinzu, erscheinen die seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Modelle einer modernen Gesellschaft in hohem Maße bereits obsolet geworden zu sein. So taugt etwa der Begriff der Nation – zumindest in Europa – kaum noch als identitätsstiftendes, soziales Kapital generierendes Modell. „Die Marktwirtschaft und die territorialen Nationalstaaten waren nicht dafür gedacht, sich einer Kommunikationsrevolution anzupassen, die den gesamten Globus umfasst und alles und jeden auf dem Planeten simultan verknüpft. Die Folge ist, dass wir Zeugen der Geburt eines neuen Wirtschaftssystems und neuer Regierungsinstitutionen werden, die sich vom Marktkapitalismus und vom modernen Territorialstaat so sehr unterscheiden werden wie die Feudalwirtschaft und die Monarchien von ihren Vorgängern.“ (Rifkin 2004, 201). Mit vielen anderen bietet Rifkin eine Option an: „In der globalisierten Wirtschaft mit ihren entpersonalisierten Marktkräften ist die Zivilgesellschaft zu einem wichtigen sozialen Rückzugsgebiet geworden. Hier können Menschen Intimität und Vertrauen herstellen, gemeinsame Ziele und eine kollektive Identität entwickeln.“ (Ebd., 257). Die dritte Arena Seit den 1980er Jahren setzt sich zunehmend ein politisches Ordnungskonzept durch, welches die traditionelle Unterscheidung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zugunsten von drei Arenen gesellschaftlich wirksamen kollektiven Handelns überwindet.3 Schon im 18. Jahrhundert wurde durch Ferguson der Begriff der Civil Society (wieder) in die politische Theorie eingeführt (vgl. Broadie 2007, 86), wobei Ferguson zugleich für eine bis heute nachwirkende begriffliche Unschärfe verantwortlich ist, indem „civil“ sowohl bewusst den Bezug 44 Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen zu „zivilisiert“, also eine Art des Umgangs, als auch den Gegensatz zu „militärisch“, also ein Ordnungsprinzip, bezeichnen und darüber hinaus durch Hervorhebung des freiwilligen Charakters die Abgrenzung zum Herrschaftsanspruch des Staates unterstreichen sollte. Idealtypisch wurde die Zivilgesellschaft als herrschafts- und hierarchiefreie Arena aufgefasst, in der nicht nur die Handlungslogik, sondern auch die Kommunikation unter den Beteiligten von der in anderen Arenen grundsätzlich verschieden sei. In dieser Idealtypisierung ist das Konzept an den Unzulänglichkeiten menschlichen Handelns gescheitert und hat sich nicht durchgesetzt. Heute wird Zivilgesellschaft mehrheitlich als die Arena gesehen, in der zum einen diejenigen Organisationen aktiv sind, die im weitesten Sinn öffentliche und meritorische Güter für die Allgemeinheit herstellen (Dienstleister), zum zweiten Gruppierungen, die für ihre Mitglieder Chancen der Lebensgestaltung anbieten (Selbsthilfegruppen), zum dritten mehr oder weniger organisierte Gruppen, Initiativen und so weiter, die ein allgemeines, in der Regel thematisch sehr eingegrenztes politisches Mandat wahrnehmen (Themenanwälte), sowie schließlich unterschiedliche intermediäre Vereinigungen und Institutionen. Allen Teilen sind der selbstermächtigte Gründungsimpuls, ein gewisses Maß an Kollektivität und Öffentlichkeit, die freiwillige Zugehörigkeit, die Selbstorganisation und die subjektive Gemeinwohlorientierung sowie das Verbot, eventuelle Überschüsse an Mitglieder oder Eigentümer auszuschütten, gemeinsam. Ferner nehmen sie grundsätzlich nicht an der Ausübung hoheitlicher Gewalt teil, sind jedoch sehr wohl prosoziale Akteure in der allgemeinen politischen Ordnung4 (s. hierzu u.v.a. Anheier und List 2005, 53 ff.; Strachwitz 2009, 10 ff.). Für die Herausbildung der modernen Zivilgesellschaft war das Versagen von Staat und Markt keine notwendige Voraussetzung. Sie ist auch das Ergebnis anderer Faktoren wie der von Rifkin konstatierten kommunikativen Revolution oder der politischen Überwindung des Nationalstaates. „Im Nationalstaat kreist die Politik um zwei Pole, den Markt und die Regierung. Im Unterschied dazu operiert die EU-Politik zwischen drei Knoten: Wirtschaft, Regierung und Zivilgesellschaft. Der Übergang von zwei zu drei Sektoren stellt einen radikalen Entwicklungssprung in der Evolution des politischen Lebens dar und trägt entscheidend dazu bei, wie wir unsere Zukunft organisieren.“ (Rifkin 2004, 253). Jedoch ist nicht zu übersehen, dass aufgrund des Vertrauensverlustes in den Arenen Staat und Markt die Suche nach Optionen der Vertrauensbildung den Blick auf die Zivilgesellschaft gelenkt hat. Die von Luhmann beschriebene Entwicklung vom interpersonalen zum Systemvertrauen scheint eine Gegenbewegung ausgelöst zu haben, indem das Scheitern des Systemvertrauens die Attraktivität einer Systematik des interpersoVertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 45 nalen Vertrauens neuerlich heraufbeschworen hat. Putnams Langzeituntersuchungen in Italien (Putnam 1993) und seine daraus entwickelte Theorie des sozialen Kapitals haben in herausragender Weise dieses Phänomen untersucht und theoretisch untermauert5. Sozialkapital erweist sich für Putnam als der für den Erfolg eines gesellschaftlichen Arrangements entscheidende Faktor. Seine These, dass Sozialkapital vornehmlich in freiwillig zustande gekommenen Netzwerken und assoziativen Organisationen formeller wie informeller Art gebildet wird und den anderen Arenen erfolgreich zur Verfügung gestellt werden kann (Putnam und Goss 2001, 23 ff.), ist heute weithin akzeptiert. „Dieselben globalen Bedingungen, die neue kooperative, auf Netzwerk-Architekturen basierende Wirtschaftsmodelle befördern, wirken sich auch auf die politische Arena aus.“ (Rifkin 2004, 215). Doch warum ist dies so? Diese Frage kann hier nur gestreift werden. „Soziale Netzwerke und die damit zusammenhängenden Normen der Gegenseitigkeit lassen sich als soziales ‚Kapital‘ bezeichnen, weil sie – wie physisches und Humankapital (Ausrüstung und Ausbildung) – sowohl individuellen als auch kollektiven Wert schöpfen und weil man in Netzwerke investieren kann. Tatsächlich legt die umfangreiche internationale Literatur über die Korrelate von Glück […] die Vermutung nahe, Sozialkapital könne für das menschliche Wohlbefinden sogar noch wichtiger sein als materielle Güter.“ (Putnam und Goss 2001, 22). Den schon vermuteten engen Zusammenhang zum Vertrauen einerseits, zur Handlungslogik der Zivilgesellschaft andererseits stellen unter anderen Claus Offe und Susanne Fuchs her, wenn sie feststellen: „Wie können wir das Niveau oder den Bestand an Sozialkapital messen? Benötigt dafür werden aussagefähige Indikatoren, zumindest jedoch ‚feinkörnige‘ konzeptionelle Komponenten des Sozialkapitals […] Wir schlagen drei solche Komponenten vor: ‚Aufmerksamkeit‘, ‚Vertrauen‘ und ‚Engagement in assoziativen Aktivitäten‘.“ (2001, 418). „Der Schlüssel zu einem erfolgreichen Netzwerk liegt in der Reziprozität und dem Vertrauen. […] Vertrauen ist der Kern der Netzbeziehungen.“ (Rifkin 2004, 205 f.). Insofern, als die Arena der Zivilgesellschaft die Arena der assoziativen Aktivitäten und Netzwerke unter Hintanstellung wirtschaftlichen Gewinnstrebens und der Ausübung von Gewalt darstellt, ist sie denn auch diejenige, die sich als Produzentin von Sozialkapital vornehmlich eignet. Hier kann sich, nicht zuletzt auch bedingt durch die extreme Ausdifferenzierung in kleine und kleinste Organisationen, das interpersonale Vertrauen bilden, das anscheinend das Systemvertrauen ablöst. Hans Maiers eingangs zitierte Vermutung erweist sich als zutreffend. Freilich muss eindringlich davor gewarnt werden, die Zivilgesellschaft als Deus ex Machina in der Not der Vertrauenslosigkeit zu apostrophie46 Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen ren. Weder ist Zivilgesellschaft inhärent gut – Organisationen wie Al Qaida oder Ku Klux Klan sind eklatante Beweise des Gegenteils –, noch haben alle personalen oder kollektiven Akteure in dieser Arena gerade die Vertrauensbildung als Ziel. Auch sind diese Akteure prinzipiell zugleich auch in den anderen Arenen unterwegs, und es gibt zwischen den Arenen relativ große Überschneidungszonen, so dass sich eine systematische Abgrenzung verbietet. Schließlich sagen Untersuchungen, dass beispielsweise in Deutschland nur 55 Prozent der Bürger das Vertrauen haben, dass Nichtregierungsorganisationen das Richtige tun. Andererseits ist nicht zu übersehen, dass dies deutlich mehr sind, als Staat und Markt vertrauen (Edelman 2010, 3, 8). Auch sind hier eher die großen, für die Zivilgesellschaft untypischen Organisationen im Blick. Die Handlungslogik der Selbstermächtigung und Selbstorganisation, die Ausbildung immer wieder neuer kollektiver Akteure und die vergleichsweise hierarchiearme, netzwerkbezogene Arbeitsweise auf der Mesoebene, wie sie für zivilgesellschaftliche Organisationen typisch ist, begünstigen die interpersonale Vertrauensbildung. Auch das vergleichsweise geringe Risiko von Vertrauensvorschüssen arbeitet diesem Prozess zu. Insofern erscheint es gerechtfertigt, den gesellschaftlichen Mehrwert, der der Existenz einer funktionsfähigen und lebendigen Zivilgesellschaft zugemessen wird, neben anderen Beiträgen wie seinem Integrations- und Inklusionspotential auch an der Chance zu messen, über Vertrauen soziales Kapital zu bilden (Strachwitz 2009, 18). Aus dem zivilgesellschaftlichen Mehrwert bezieht diese Arena ihre wesentliche Legitimation. „Die ‚starke‘ Version von Vertrauen ist dann erfüllt“, so Offe und Fuchs, „wenn eine Person nicht nur die optimistische Auffassung vertritt, die meisten Menschen seien umgänglich und ihr meist auch wohlgesonnen. Diese Weltsicht muss komplettiert werden durch die Annahme, aus der Kooperation mit anderen Menschen gegenseitigen intrinsischen wie instrumentellen Nutzen ziehen zu können.“ (2001, 419). In der historischen Situation, in denen die Herstellung von Systemvertrauen in den Arenen Staat und Markt problematisch erscheint und das rein familiäre interpersonale Vertrauen nicht hinreicht, ist es verständlich, wenn sich auf die Arena der Zivilgesellschaft das Vertrauen richtet, über interpersonales Vertrauen auf der Mesoebene soziales Kapital aufzubauen. Dies freilich ist keine Huldigung an die Zivilgesellschaft, sondern eine Herausforderung, der sie sich stellen muss. Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 47 Literatur Anheier, Helmut K. and List, Regina A., ed. (2005). A Dictionary of Civil Society, Philanthropy and the Non-Profit Sector. London/New York: Routledge. Beck, Ulrich (1986). Risikogesellschaft – Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/Main: Suhrkamp. Broadie, Alexander (2007). The Scottish Enlightenment, The Historical Age of the Historical Nation. Edinburgh: Birlinn. Edelman (2010). 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Simmel, Georg [1900] (1989). Philosophie des Geldes; in: ders., Gesamtausgabe (hg. v. David Frisby/Klaus Christian Köhnke), Bd. 6. Frankfurt/Main: Suhrkamp. 48 Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen Strachwitz, Rupert Graf (2005). Zivilgesellschaft als politisches Konzept – Gefahr für die Parteien; in: Dettling, Daniel (Hg.), Parteien in der Bürgergesellschaft – Zum Verhältnis von Macht und Beteiligung. Wiesbaden: VS-Verlag. Strachwitz, Rupert Graf (2009). Der zivilgesellschaftliche Mehrwert – Eine Einführung; in: Groschke, Amanda/Gründinger, Wolfgang/Holewa, Denis/Schreier, Christian/Strachwitz, Rupert Graf, Der zivilgesellschaftliche Mehrwert – Beiträge unterschiedlicher Organisationen. Berlin: Maecenata (Opusculum Nr. 39: www.maecenata.eu). Fußnoten 1 Engl. Rule of Law, auf Deutsch meist zu eng als „Rechtsstaat“ übersetzt. 2 Bernd Wieczorek, Chairman, Egon Zehnder International GmbH, auf einer Veranstaltung des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie und des Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien zum Kultursponsoring am 24. August 2010 in Berlin. 3 Der unmittelbare Privatbereich ist in diese Betrachtung nicht einbezogen, wird jedoch keineswegs marginalisiert. Im Konzept der drei Arenen gesellschaftlich relevanten Handelns bildet dieser Privatbereich, der Mensch, den Ausgangspunkt, von dem in die Arenen ausgestrahlt wird. 4 Der Begriff geht insoweit, aber auch in Bezug auf die Einbeziehung informeller Initiativen, erheblich über den in den 1990er Jahren verwendeten Ausdruck ‚Dritter Sektor‘ hinaus. 5 Putnam selbst führt die Begrifflichkeit und die Grundlinien der Theorie des sozialen Kapitals auf eine 1916 veröffentlichte Schrift des amerikanischen Pädagogen und Gesellschaftsreformers Lyda Judson Hanifan zurück (s. Putnam und Goss 2001, 16). Vertrauen in gesellschaftliche(n) Arenen 49 Abbildung 9: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Offene Fragen I Abbildung 10: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Offene Fragen II „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Über das Vertrauen in Ratings, Rankings, Evaluationen und andere Objektivitätsgeneratoren im Wissenschaftsbetrieb Stefan Hornbostel, Jürgen Kaube, Alfred Kieser und Frank Ziegele © Anja Schindler Eine Welt ohne Evaluationen, Ratings, Rankings, Kennzahlen und Indizes ist heute kaum mehr vorstellbar. Fast alles lässt sich auf einer Skala von 1 bis 100 abbilden: der Wert einer Immobilie, die Qualität von Waschmaschinen oder die Attraktivität eines Studienortes. Der Mensch verlässt sich gern auf Zahlen. Er scheint lieber zu zählen als zu lesen oder sich selbst ein Bild zu verschaffen. Doch wie begründet ist das Vertrauen in diese vermeintlich objektiv produzierten Tatsachen? Diese Fragen wurden am Beispiel des Wissenschaftsbetriebes in einer Podiumsdiskussion am 22. März 2010 an der Universität Mannheim thematisiert. Evaluationen im Bereich von Wissenschaft, Forschung und Lehre sind im Grunde eine Form der Kreditvergabe: Ratings bestätigen einer Universität Qualität, Werte, Exzellenz oder eben das Gegenteil. Die Universität kann mit diesem Kapital arbeiten wie eine Bank mit ihren Einlagen. Über die Frage, inwieweit den methodisch abgesicherten Verfahren zur „Produktion von Objektivität“ zu trauen ist, kann man streiten, auch darüber, in welchem Kontext welche Form der „Objektivität“ sinnvoll zur Messung von Werten eingesetzt werden kann. Schließlich „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 51 wäre die Frage nach den Alternativen ganz zentral: Wenn wir nicht evaluieren und ranken etc., wie sollen wir dann Qualität messen? Es diskutierten Prof. Dr. Frank Ziegele, Direktor des Zentrums für Hochschulentwicklung (CHE), Jürgen Kaube, F.A.Z.-Wissenschaftsredakteur, Prof. Dr. Stefan Hornbostel, Direktor des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung, Berlin, und Prof. Dr. Alfred Kieser, Wirtschaftswissenschaftler und Organisationstheoretiker an der Universität Mannheim. Die Diskussionsleitung hatte Prof. Dr. Dagmar Stahlberg, Soziologin an der Universität Mannheim. Zunächst stellten die Diskussionsteilnehmer in einschlägigen Stellungnahmen ihre Thesen zur Diskussion: © Anja Schindler Stefan Hornbostel: Ich möchte mit der Frage einsteigen, wie Wissenschaft und Vertrauen zusammenhängen. Das öffentliche Vertrauen in die Wissenschaft ist sehr groß. Ich glaube, in der gegenwärtigen Situation hätte die Wissenschaft sogar gute Chancen, der katholischen Kirche den Rang abzulaufen. Allerdings bricht dieses Vertrauen, sobald man nach heiklen Themen fragt, wie zum Beispiel Stammzellenforschung. Dann schlägt Vertrauen sehr schnell um in Misstrauen und führt zu einer hohen Bereitschaft, der Wissenschaft Vorschriften zu machen. Betrachtet man die Wissenschaft aber als Institution von innen, dann macht man eine erstaunliche Entdeckung: Anders als im alltäglichen Leben lebt die Wissenschaft in der Aufforderung zu permanentem Misstrauen. Alles, was in der Tradition des britischen Rationalismus steht, lebt eigentlich davon, dass man permanent misstrauisch ist, geradezu destruktiv mit dem Wissen anderer umgeht. Mit 52 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ diesem Misstrauen korrespondiert allerdings nicht unbedingt das tatsächliche Verhalten. Denn das Verhalten von Wissenschaftlern untereinander ist dann doch eher durch Vertrauensbeziehungen geprägt. Man könnte das Ganze als eine antagonistische Produktionsweise betrachten. Auf der einen Seite haben wir sehr starke Wettbewerbs- und Konkurrenzbeziehungen in der Wissenschaft. Fälschungen sind beispielsweise ein schöner Indikator dafür, dass unter diesem hohen Konkurrenzdruck Fälschungen oft nur möglich sind, weil sie gerade das Vertrauen und nicht das Misstrauen auslösen. Und das wäre die andere Seite: Kooperation. Diese ist genauso wichtig in der Wissenschaft. Ohne diese ist Wissensproduktion kaum möglich. Und Kooperationsbeziehungen funktionieren nur mit einem erheblichen Einsatz von Vertrauen. Wenn man das Verhältnis Staat und Wissenschaft einmal anschaut, dann haben wir auch hier erst mal einen ganz erstaunlichen Vertrauensvorschuss. Die grundgesetzlich garantierte Autonomie ist ja so etwas wie ein Vertrauensbeweis. Was mich persönlich dabei erstaunt, ist die unglaubliche Bereitschaft aus der Wissenschaft – und zwar wirklich aus der Wissenschaft und nicht so sehr aus den Medien –, Information über die Leistungsfähigkeit von Wissenschaft so zu vereinfachen, dass man sie am besten mit einer Zahl abbilden kann. Rankings wird man danach beurteilen können, wie gut es ihnen gelingt, geeignete Indikatoren zu finden, die tatsächlich etwas Relevantes messen können. Die Frage ist, welche Indikatoren ausschlaggebend sein sollen. Ich nenne ein Beispiel: In fast jedem Ranking finden Sie die Anzahl der Promotionen als einen Forschungsindikator. Das heißt, je mehr Leute promoviert werden, umso besser und forschungsintensiver sei eine Einrichtung. Das ist Nonsens und es führt zu rapidem Qualitätsverfall. Das ist die negative Seite der Rankings. © Anja Schindler „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 53 Die positive Seite wäre die, dass Rankings in der Tat zu einer Stimulans geworden sind. Ratings ermöglichen Einrichtungen gewissermaßen, sich selbst den Spiegel vorzuhalten. Daraus resultiert eine Menge an Bewegung, mit der wir versuchen, in manchen Bereichen besser zu werden, die eigenen Strategien zu überdenken und genauer zu überlegen, wie man sich eigentlich positionieren will und wo man Schwachstellen hat, die man ausbügeln sollte. Jürgen Kaube: Ich fange mit einer kleinen Geschichte an. Sie spielt in einer Berufungskommission an einer Universität, an der ich einmal gearbeitet habe. Es wurden Punkte an die Kandidaten verteilt, und es ergab sich das Bild, dass einer der Bewerber sehr deutlich vor allen anderen lag. Der Kommissionsvorsitzende sagte: „Bevor wir nun den Kollegen auf Platz eins setzen, sollten wir uns vorher noch kurz die Frage stellen, ob wir ihn auch wollen.“ Innerhalb von etwa fünf Minuten war klar, dass diese Frage von fast allen Mitgliedern der Berufungskommission mit „Nein“ entschieden wurde. Sie wollten ihn also eigentlich nicht – meiner Meinung nach eine Rückkehr zur Vernunft. Denn man beruft ja einen Kollegen nicht als eine in Einzelkomponenten zerlegbare Leistungsmaschine. Das, was in Rankings quantifiziert wird, ist etwas, was quantifiziert gar nicht existiert. Man nennt es auch Reputation – ähnlich wie die Kochmützen für Spitzenköche oder die Punktewertung bei der Stiftung Warentest. Was hat es mit dieser Reputation auf sich? Wissenschaftler orientieren sich in vielen Handlungen nicht ausschließlich an Kritik, sie verlassen sich auch auf Reputation. Das kann der Ruf einer Person sein, aber auch der einer Zeitschrift, einer Universität, eines Faches oder einer Tagung. Diese Reputation hat eine Tendenz ins Informelle. Sie beruht auf Gerüchten, auf Klatsch, auf Fama. Man kann sie nicht in Form einer Zahl formulieren, so dass man sagen könnte: „Oh, diese Zahl hat einwandfrei ergeben, der Kollege ist nun einmal der Beste und muss angenommen werden.“ Das hat damit zu tun, dass die Reputation vor allem dort ins Spiel kommt, wo Wissenschaftler Entscheidungen treffen müssen, die nicht wissenschaftlicher Art sind, zum Beispiel die Besetzung einer Stelle. Das ist keine wissenschaftliche Entscheidung. Es ist lediglich eine Entscheidung, die von Wissenschaftlern getroffen wird. Das wird gerne verwechselt. Rankings suggerieren jedoch implizit, dass alles, was Wissenschaftler tun, auch wissenschaftlich sei. Es ist ganz kurios, dass das Vertrauen der Verwissenschaftlichung an einer Entscheidung, die selber keine wissenschaftliche ist, dazu führt, dass man Wissenschaft dritten Ranges akzeptiert. 54 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Wenn ich noch einmal auf das Beispiel mit der Berufungskommission eingehe: Da machen sich einige einen riesigen Aufwand und rechnen diese Zahlen aus, aber in den Berufungskommissionen werden die Zahlen nur dann mobilisiert, wenn man etwas begründen will, was man aber auch ohne diese Zahlen belegen könnte. Das ist problematisch. Die DFG hat ja gerade die Obergrenzen der anzugebenden Publikationen bei Forschungsanträgen auf maximal fünf beschränkt. Damit wird versucht, einem der Probleme zu begegnen – nämlich dem, dass die Forscher sich selbst strategisch nach diesen Daten ausrichten. Ganze Universitäten sind besessen von der Idee, von Platz 21 auf Platz 19 vorzuspringen. Obwohl wiederum informell jeder sagt, dass das eigentlich Irrsinn ist. Aber man kann nicht anders. Und da ist meine Frage an die Wissenschaft: Könnte man sich nicht darauf verständigen, dass man doch anders kann? © Anja Schindler Alfred Kieser: Wir – die Fakultät für BWL an der Uni Mannheim – sind Nummer eins und zwei im Handelsblattranking, und eigentlich haben wir jeden Grund, das gut zu finden, was da gemacht wird. Ich tue es nicht, weil ich meine, dass durch Rankings die Sitten in der Wissenschaft zu einem gewissen Grade verkommen. Meine erste These: Rankings schaffen die Wirklichkeit, die zu messen sie vorgeben. Stellen wir uns vor, eine Fakultät wird aufgrund einer angreifbaren Evaluation schlecht beurteilt. Dann wird sie auch schlecht. Es gehen keine Studenten mehr hin, die Professoren wollen weg. Genauso ist das auch, wenn sie zu gut beurteilt wird. Dann wird sie auch tatsächlich gut. Diese Rankings entwickeln eine Eigendynamik. Sie beeinflus„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 55 sen die Wirklichkeit. Es ist aber nicht im Sinne des Bildungsauftrags, dass es nur noch wenige Universitäten gibt, die gut sind, und viele, die schlecht sind. Die zweite These: Es sagt nicht viel über die Qualifikation eines Wissenschaftlers aus, wenn er oder sie in einer Zeitschrift, die hoch angesehen ist, einen Aufsatz veröffentlicht. Auch hier in Mannheim gibt es viele Listen, die genau mit diesem sogenannten Impact Factor begründet werden, mit Rankings, die auf solchen Impact Factors aufbauen. Die Weltvereinigung der Mathematiker – die International Mathematical Union – warnt aber ausdrücklich davor, die Ergebnisse von Rankings auf individuelle Forscher anzuwenden. Im Internet ist diese Kritik unter „Citation Statistics“ zu finden. Dritte These: Rankings machen aus Wissenschaftlern Punktejäger, sie verleiten Forscher zum Tricksen. Man macht aus einem Aufsatz drei. Das Schlimmste ist wohl, dass auf diese Art und Weise Innovation reduziert wird. Wissenschaftler verfolgen keine innovative Forschung mehr, sondern variieren das Bewährte, denn das hat die größten Aussichten auf Veröffentlichung. So reduzieren Rankings Kreativität und Innovationen in der Wissenschaft. Vierte These: Immer mehr Hochschulangehörige sehen Rankings und Evaluationen skeptisch. Auch in der Presse wird dies eigentlich schon kritisch diskutiert. Jüngst hat sich der Historikerverband einer Evaluation verweigert. Er begründet dies mit der „Unmöglichkeit, ein dynamisches Fach wie die Geschichtswissenschaft parametrisch gleichsam in einer Momentaufnahme abzubilden und wertend zu erfassen […].“ Also, ich bin auch mit Herrn Kaube der Ansicht, dass man auf Rankings verzichten sollte. © Anja Schindler 56 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Frank Ziegele: Rankings sind nützlich, denn Hochschulen können damit in den Aufbau von Vertrauenskapital investieren. Erstens: Falsch wäre, die Hochschulen würden sich auf die Position zurückziehen, die der Historikerverband vertritt. Wissenschaft – so die Argumentation – sei ein selbstreferentielles System und wisse daher selbst am besten, was gut und schlecht sei. Ich habe aber den Eindruck, eine solche Haltung ist für den Aufbau des Vertrauens nicht besonders hilfreich. Zweitens: Eine Möglichkeit ist Vertrauensaufbau durch Leistung. Ich würde die These wagen, ein Vertrauensaufbau über Leistung ist besser als ein Vertrauensaufbau über Reputation. Ein einleuchtendes Beispiel bietet die Universität Bremen. Über Jahrzehnte hinweg galt diese Universität als eine rote Kaderschmiede, obwohl dort unglaublich gute wissenschaftliche Leistungen erzielt wurden. Eine Messung der tatsächlichen wissenschaftlichen Leistungen hätte die wissenschaftliche Realität an der Uni Bremen sehr viel besser abgebildet als das sehr beständige Konstrukt der schlechten Reputation. Das Vertrauen in Reputation ist keine wirkliche Alternative zu regelmäßiger Qualitätskontrolle. Daher mein dritter Punkt: Ein Schlüssel zum Vertrauensaufbau ist Transparenz: Bereitstellung von Informationen über das, was an Hochschulen passiert. Daten, Evaluationsergebnisse, Zahlen zum Drittmittelaufkommen, zu den Forschungsaktivitäten, zur Qualität der Lehre etc., die den Vergleich zwischen Hochschulen ermöglichen. Damit komme ich bereits zum vierten Punkt: Der Wert eines Rankings hängt immer von den Zielen und der Zielgruppe ab. Problematisch wird es immer dann, wenn dieser Zielbezug nicht klar ist und die Instrumente für etwas eingesetzt werden, was sie gar nicht leisten können. Das klassische Beispiel ist das hochgepriesene Shanghai Ranking, das durch die ganze Welt geistert: Man kann nur den Kopf schütteln darüber, dass es noch immer Universitäten gibt, die verzweifelt versuchen, sich im Shanghai Ranking von Platz 23 auf Platz 17 vorzuarbeiten. Dieses Ranking ist ganz gezielt dafür entwickelt worden, Forschungsleistungen in den Natur- und Technikwissenschaften zu messen. Geisteswissenschaftliche oder wirtschaftswissenschaftliche Forschungserfolge sind darin gar nicht darstellbar. In meinem fünften Punkt möchte ich die Gefahr der Pseudoobjektivität ansprechen. Wir stehen vor dem Problem, dass metrische Messsysteme keine Automatismen sind. Oben schmeißt man Daten und Fakten rein und unten fallen automatisch richtige Entscheidungen raus. Diese Logik „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 57 funktioniert so nicht. Jede Qualitätsprüfung, jedes Messsystem braucht interpretierende Menschen. Sechster und letzter Punkt. Es ist natürlich auch wichtig, dass die Verfahren der Qualitätskontrolle Vertrauen genießen. Wenn ich das CHEHochschulranking betrachte, dann stelle ich fest, dass wir unglaublich viel in Vertrauensaufbau investieren. Wir haben wissenschaftliche Fachbeiräte, die fachspezifische Optimierungen vorschlagen, und wir machen jedes Detail, jede Methode transparent. Dagmar Stahlberg: Vielen Dank! Lassen Sie mich ganz direkt fragen: Wer braucht eigentlich Rankings? Frank Ziegele: Hier kann ich nur für das CHE sprechen. Wir machen unser Ranking mit der klaren Zielsetzung, eine Entscheidungshilfe für Studierende zu bieten. Daher auch der Aufbau nach Studienfächern. Unsere Idee ist die, dem Studenten, der bereits eine ungefähre Idee davon hat, was er studieren möchte, Entscheidungshilfe zu bieten. Er soll vergleichen können, was die verschiedenen Hochschulen in seinen Interessensgebieten voneinander unterscheidet. Die Studenten finden hier bis zu 34 verschiedene Indikatoren. Das heißt, unser Ranking gibt Auskunft über die Hochschulen im Hinblick auf Bereiche, die für die Studenten besonders wichtig und relevant sind. Dazu befragen wir Studierende: Was war ausschlaggebend für eure Entscheidung, welche Informationen waren besonders wichtig? Worauf legt ihr Wert? Wie schon gesagt, es gibt kein Ranking losgelöst von Zielen oder Zielgruppen. Unsere Zielgruppe sind die Studierenden. Dagmar Stahlberg: Sind Rankings eine Antwort auf Missstände? Stefan Hornbostel: Nun, jedenfalls beschleicht mich ein ungutes Gefühl, wenn ich höre, dass in der Vergangenheit doch alles so toll gewesen sei. Ob Reputation wirklich eine zuverlässige Währung ist, sei hier dahingestellt. Wenn man genauer hinschaut, sieht die Welt doch etwas anders aus. Diese Reputationszuweisung hatte und hat ja eine ausgesprochen unangenehme Seite. Sie geht einher mit Vetternwirtschaft. Und die Geschichte der Universität ließe sich ohne Probleme als eine Geschichte der Universitätskrisen schreiben. So rosig war das früher auch nicht. Wenn es nun um die Frage nach Reputation oder meritokratischen Zuweisungsprozessen geht, dann scheint es kein Zufall, dass der Robert 58 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Merton ausgerechnet Publikationen als wichtiges Medium im Kommunikationssystem der Wissenschaft entdeckte. Er selbst bezeichnete es als Währung. Publikationen sind gewissermaßen Zahlungseinheiten, mit denen sich Wissenschaftler gegenseitig symbolisch ihre Anerkennung zeigen. Ich würde daraus jedoch ganz andere Schlüsse ziehen: Evaluationen und Rankings sind Formen der Selbstbefragung dieses Systems, sie liefern einen Beitrag zur Rationalisierung inneruniversitärer Reputationszuweisungen. Sie sind ein Versuch, die informellen Zuschreibungsprozesse in der Wissenschaft zu steuern. Denn ganz offensichtlich ist auch dort sehr viel schiefgelaufen und es wurden viele nach oben auf Positionen gespült – das kann man bei Bourdieu sehr schön nachlesen –, die dort eigentlich nicht hingehörten. Ratings und Rankings in der Wissenschaft sind im Grunde Ausdruck des Bedürfnisses, diese Prozesse zu rationalisieren, also stärker die meritokratische Seite zu betonen, danach zu fragen, was eigentlich an Leistungsprozessen dahintersteht. Und dafür ist in der Tat die Teilhabe an der wissenschaftlichen Kommunikation ein ganz wesentliches Element. Dass man nun verrückterweise – und da komme ich nun auf Ihr Statement, Herr Kieser, zurück – Indikatoren wählt, die für völlig andere Zwecke konstruiert worden sind, das ist in der Tat bedauerlich. Ich nenne hier als Beispiel den Impact Factor. Das ist ein Wert, der ursprünglich als Unterstützung für Bibliothekare gebastelt wurde, für Bibliothekare, die darüber entscheiden sollten, welche Zeitschriften eine Bibliothek anschafft. Niemand – schon gar nicht die Bibliothekare oder die Bibliometriker – wären auf die Idee gekommen, mit dem Impact Factor Personen oder Institutionen zu bewerten. Völliger Unsinn. Dass man nun ausgerechnet diesen völlig skurrilen Einsatz einer bibliometrischen Kennzahl nimmt, um die Bibliometrie zu kritisieren, halte ich ehrlich gesagt für problematisch. Nicht nur Rankings und Ratings produzieren die Realitäten, die sie zu messen vorgeben. Jede Berufungskommission, jedes Visitationskomitee, oder was immer sie nehmen wollen, konstruiert natürlich eine soziale Realität. Und die ist am Ende für das Handeln von Personen und Institutionen genauso maßgeblich, wie das bei einem Ranking auch der Fall ist. Selbstverständlich, das ist grundsätzlich überhaupt kein anderer Modus. Und Tricksereien, Fälschungen und solche Dinge gibt es nicht erst, seit Rankings erfunden wurden. Die gibt es in jedem auf Konkurrenz ausgelegten System, nicht nur in der Wissenschaft. Das Gleiche gilt für das Problem der Redundanz. Wissenschaft hat seit ihrer Erfindung im Mittelalter immer auch hochredundante Diskurse produziert – denken Sie nur an die Scholastik. Damit muss man sich abfinden. „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 59 Statt also die Zustände in der Vergangenheit zu glorifizieren, schlage ich folgendes Argument vor: Rankings, Evaluationen und eine Wissenschaftssoziologie, die versucht, strukturelle Mechanismen offenzulegen, sind eine Antwort darauf, dass das System nicht so funktioniert, wie man es sich vorstellt. Hier geht es um einen Prozess, den man als eine Rationalisierung der Selbstreflexion von Wissenschaft beschreiben kann. Dagmar Stahlberg: Sie betonen also stark den aufklärerischen Aspekt von Rankings. Die Frage ist, warum andere Kollegen diesen aufklärerischen Beitrag nicht sehen? Jürgen Kaube: Wenn ich mir das Soziologie-Rating des Wissenschaftsrates anschaue: Das war geradezu offensiv redundant, selbst für jemanden, der davon nicht viel versteht. Das hätte man blind vorhersagen können, was da herauskam. Inklusive der hervorragenden Leistungen von Soziologen, die seit zehn Jahren keine Soziologie mehr produziert haben, die Beck heißen und überragende Prominenz genießen und deshalb in einem solchen Rating auch so beurteilt werden müssen. Daraus zu folgern, wir seien jetzt in einer rationalisierteren Welt angelangt, das ist kühn, dafür hätte ich gerne Belege. Man sollte nicht versuchen, Dinge zu optimieren – noch dazu mit zweitklassigen Techniken –, die gar nicht optimierbar sind. Es wird immer so sein, dass jemand sagt: Dieser Lehrstuhl ging an den Falschen. Es wird immer so sein, dass jemand sagt: Dieses Journal, das hat einen tollen Ruf, aber eigentlich produzieren die doch seit Jahren dasselbe. Es wird immer Betrug geben. Die Frage ist nur: Führen wir Techniken ein, die uns erstens in der Illusion wiegen, jetzt seien wir das Problem losgeworden, und die zweitens Seiteneffekte haben wie maßloses Publizieren. Ein Seiteneffekt von Rankings und Ratings ist zum Beispiel, dass die Leute in diesen Kommissionen einfach nicht lesen. Stattdessen wird auf Platznummern verwiesen. Das ist eine echte Auskunft, da stehen Drittmittel. Schauen Sie sich die Websiten von Wissenschaftlern an, das ist Irrsinn. Die schreiben jede 25 US-Dollar, die sie eingenommen haben, auf ihre Website. Für wen ist das eine Information? Für niemanden. Dieses System, das glaubt, dass beliebige Zahlen und irgendwelche Rechnungen interpretierbar seien, halte ich für einen Scherz. Diese Zahlen sind nicht interpretierbar. Welche dieser Zahlen bietet hier Entscheidungshilfe? Was die Studierenden angeht, ist das nochmal ein ganz anderes Thema. Ich habe gar nichts dagegen, wenn einzelne Hochschulbereiche oder 60 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Fachbereiche beschrieben werden. Mir ist nur nicht ganz klar, ob bei 34 Indikatoren eine sinnvolle Entscheidungsbildung noch stattfinden kann. Und mir ist auch nicht ganz klar, ob damit wirklich Rationalisierungsschübe angestoßen werden. Wie passt das, was man hier anbietet, zu der Tatsache, dass 70 Prozent aller Studenten am Ort ihres Abiturs studieren? Dagmar Stahlberg: Darf ich da vielleicht direkt nochmal nachfragen. Sie haben hier ein Szenario aufgemacht, nach dem man früher Urteile aufgrund fundierter Lektüre gefällt habe. Heute dagegen vertraue man nur auf Zahlen. Darf ich hier ein ganz anderes Bild entgegenhalten: Früher haben Sie XY angerufen, nachgefragt, ob das ein toller Kerl sei, und dann den tollsten genommen. Ist hier das Vertrauen in die Zahl nicht doch ein Fortschritt? Jürgen Kaube: Das hängt natürlich davon ab, wie der Typ war. Wir haben so eine eingebaute Präferenz für eine Zahl gegenüber persönlicher Autorität. Alfred Kieser: Auch eine persönliche Geschichte: Als ich das Examen hatte und ans Promovieren dachte, kam nur ein Ort in Frage: die Carnegie Mellon University (Pittsburgh, USA). Da war auch Herbert Simon, der hatte noch keinen Nobelpreis, und Richard Cyert war auch nicht völlig unbekannt, von denen hatte ich etwas gelesen und dort wollte ich unbedingt hin. Wenn es damals Rankings gegeben hätte, wäre ich vielleicht woanders hingegangen, weil die da vielleicht gar nicht so gut abgeschnitten hätten und weil dieser Ansatz vielleicht gerade gar nicht so en vogue gewesen wäre. Die Identifizierungen mit einem Thema, dass man sich in eine Monografie verbeißt und das unbedingt weitermachen will, das wird eigentlich unterbunden durch Rankings. Herr Ziegele sagt, Zahlen sind gut, wenn sie zu einer verantwortlichen Interpretation führen. Ich würde sagen, Rankings vertreiben die verantwortliche Interpretation. Und da würde ich noch weitergehen – das CHE-Ranking für Studenten ist ja recht anspruchsvoll –, einfache Rankings vertreiben die komplizierten, weil man sie einfach interpretieren kann und sich nicht so viel damit beschäftigen muss. Ich war in den achtziger Jahren in den Niederlanden und habe da an den betriebswirtschaftlichen Fakultäten oder Teilbereichen evaluiert. Die hatten dort schon angefangen, Aufsätze mit Impact Factor aufzulisten, und bei dieser Gelegenheit habe ich erfahren, wie schwer es ist, dagegen zu argumentieren: Wenn man sagt, diese oder jene Zeitschrift hat zwar einen tollen Impact Factor, aber der Aufsatz, um den es geht, ist trotzdem „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 61 nicht gut: Da haben Sie keine Chance. Das ist ganz schwierig gegen diese vermeintlichen Objektivitäten anzudiskutieren. Insofern meine ich schon, die Reputation kann sich auch ohne diese Hilfen herausbilden. Merton hätte das bestimmt nicht gut gefunden, was seine Schüler mit dem Impact Factor gemacht haben. Die Tricksereien, die waren schon immer da. Aber diese Verschiebungen – Aufsätze werden variiert, Monografien verschwinden, weil sie nicht belohnt werden – das ist kein Betrug, das sind Verwerfungen in der Forschungslandschaft, die gravierende Folgen haben. Dagmar Stahlberg: Zurück zur Frage nach dem Vertrauen in die Objektivität. Herr Hornbostel, an Sie eine provokative Frage: Könnte zum Beispiel das iFQ [Institut für Forschungsinformation und Qualitätssicherung, Anmerkung der Redaktion] bei seinen Evaluationen zu dem Ergebnis kommen, dass die Exzellenzinitiative Quatsch war? Stefan Hornbostel: Warum nicht? Wir werden als „Hilfseinrichtung der Forschung“ von der DFG gefördert. Unsere Aufgabe ist die Bereitstellung von Informationen über Ergebnisse und Erfolge deutscher Forschung, es geht um Forschungsmonitoring und Qualitätssicherung. Und darauf lege ich sehr viel Wert, dass wir in der Tat eine rechtliche Unabhängigkeit haben. Das ist so, wie wenn Sie von der DFG Drittmittel erhalten für ein Forschungsprojekt. Sie werden wahrscheinlich auch nicht bei der DFG nachfragen, soll ich das so oder so machen, oder welches Ergebnis wollen sie haben. Selbstverständlich ist das iFQ unabhängig. Sie sprechen aber durchaus einen wichtigen Punkt an. In dem ganzen Evaluationsbereich geht es ja auch um kommerzielle Faktoren. Und Evaluationen haben natürlich auch eine ausgesprochene legitimatorische Seite. Und da können sehr schnell Zwickmühlen entstehen. Darauf muss man also achten, dass da tatsächlich die Unabhängigkeit gewahrt wird. Um jetzt noch einmal zurück auf Ihre Frage nach der Objektivität zu kommen: Es gibt hier keine Objektivität in so einem Sinne, dass sie eine irgendwie geartete Abbildung der Realität eins zu eins erreichen könnten. Das wäre naiv. Aber das erwarten wir ja auch in keinem anderen Bereich. Wenn, dann geht es doch immer um methodisch kontrollierte Annäherungen an einen Gegenstandsbereich. Es geht darum, bestimmte Daten eben nicht beliebig, sondern in methodisch abgesicherten Verfahren als Grundlage einer Bewertung zu sammeln. Dazu gehören neben der Expertise von Gutachtern auch Strukturinformationen, die man so ohne weiteres nicht generieren kann. Meines Erachtens 62 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ sind Rankings, wenn es um Entscheidungen geht, nicht unbedingt wesentlich. Denn der Informationsgehalt von Rankings ist de facto für Prozesse innerhalb der Hochschulen und Einrichtungen oft nicht sehr hoch. Sie richten sich in der Tat eher an diejenigen, die im System Richtungsentscheidungen treffen müssen. Dazu muss immer schon die Richtung klar sein. Bestimmte Profile, die man sich gibt, bestimmte Publikationsstrategien, die man fahren will, oder sonst irgendwas. Was mich wundert, ist die Naivität, mit der einem Ranking oder auch anderen qualitativen Informationen sofort unterstellt wird, damit habe man nun die Realität im Griff. Ein Ranking darf in dem Sinne nicht als eine Abbildung der Realität betrachtet werden. Ein Ranking stellt Material zur Verfügung, das man in sinnvoller Weise nutzen sollte, um Einschätzungen und Urteile zu korrigieren. Nicht die Spitzenplätze interessieren, sondern es sind die vielen verschiedenen Puzzlestücke, die man heranziehen kann, um ein Urteil zu fällen. Wichtig ist, dass diese Informationen auf methodisch kontrollierte Art und Weise erhoben wurden, daher nachvollziehbar und natürlich auch kritisierbar sind. Jürgen Kaube: Ich sehe eigentlich nur ein Problem: Die Verhältnisse an den Universitäten sind doch gar nicht so intransparent, wie Sie behaupten. Ein ganz normales Institut ist doch auch von seiner Größe her durchaus überschaubar. Die wissen doch, wo ihre Leute publizieren. © Anja Schindler „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 63 Frank Ziegele: Wir untersuchen derzeit, wie jene Universitäten, die in der Exzellenzinitiative besonders erfolgreich waren, von den Studenten in der Lehre bewertet werden. Nicht ganz uninteressant. Denn es gibt hier einige Kandidaten, die im Hinblick auf den Forschungsbezug der Lehre sehr viel schlechter wegkommen als viele Hochschulen, die nicht in der Exzellenzinitiative sind. Wenn mir ein Instrument ein solches Ergebnis liefert – wir sind zwar eine tolle Hochschule und haben Millionen an Euro abgegriffen, aber die Studenten finden den Forschungsbezug der Lehre miserabel –, dann muss ich mir Gedanken machen, woran das liegen könnte. Wenn Studenten die Bibliothekssituation an einer Universität schlecht bewerten, dann kann eine Universität ein gutes Bibliotheksprogramm auflegen, verlängerte Öffnungszeiten, neue Anschaffungsprogramme etc. Das sind doch sehr evidente Möglichkeiten, um auf Rankingergebnisse zu reagieren. Das liegt doch auf der Hand, dass es hier um den verantwortlichen Umgang mit jenen Informationen geht, die ein Ranking zur Verfügung stellt. Darauf hat Herr Hornbostel ja schon hingewiesen. Und hier sagen die Kritiker – zum Teil sicher zu Recht –, in der Realität geschieht das aber nicht. Die Leute machen gar nichts mit der Information, sie halten das Ranking bereits für eine Entscheidung, ohne daraus Konsequenzen zu ziehen. Natürlich kann man dann auf die Idee kommen, das alles sein zu lassen und statt auf Zahlen lieber wieder auf Reputation zu setzen. Allerdings finde ich zuverlässig gemessene Werte immer noch eine bessere Entscheidungsgrundlage als Reputation – von der keiner wirklich weiß, wie sie eigentlich zustande kommt. Deswegen machen wir weiter unsere sehr komplexen Rankings, in der Hoffnung, dass sie auf verantwortliche Art und Weise genutzt werden. Alfred Kieser: Sie können das machen, aber das einfache Ranking setzt sich immer gegen das komplexe durch. Frank Ziegele: In Deutschland nicht. Alfred Kieser: Doch, doch, doch. Ich bin auch in der Wissenschaft. Ich kann das schon beurteilen. Es gibt Fakultäten, da muss der Dekan aufpassen, dass sich die Position der Fakultät im Ranking nicht verschiebt, weil er einen genommen hat, der den Punktestand verschlechtert. Da muss er sich rechtfertigen. Auch die Universitätsleitung, für die ist das alles trans64 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ parent, die versteht das alles. Sie kann sich in die Wissenschaft einmischen. Das macht diese Rankings so populär, aber auch so gefährlich. Es ist auch kaum noch Gelegenheit – Herr Hornbostel, auch an Sie –, sich auf eine verantwortungsvolle Interpretation zu besinnen. Sie werden hinweggefegt. Da gibt es Berichte von amerikanischen Deans, die sagen, ich habe gedacht, wir nehmen das nicht so ernst, das sind doch nur Anhaltspunkte. Und dann bin ich Dekan geworden, und plötzlich war das eine ganz harte Realität für mich. Und ich habe gesehen, was für einen Käfig so ein Zahlensystem errichten kann. Ich finde, man muss radikal damit aufhören. Jürgen Kaube: Nun, die Informationzurverfügungsteller verantworten natürlich diesen Käfig nicht. Und das Phänomen lässt sich ja nicht auf die Wissenschaft beschränken. Man lebt überall in diesem Zahlenrausch. Wir werden ständig mit Mindestbedarf und anderen Sollwerten konfrontiert. Das versteht oft keiner (wissen Sie, was Ihnen fehlt, wenn Sie den Mindestbedarf an Vitamin C 12 verpassen?). Keiner weiß, was hinter den Zahlen steckt. Aber es prägt Kaufentscheidungen. Und da könnte man auf die Idee kommen, von einem verantwortlichen Umgang mit Zahlen zu sprechen. Es geht also nicht nur um den verantwortungsbewussten Umgang mit Zahlen und den Ergebnissen von Rankings, es geht auch um ein verantwortungsbewusstes Zurverfügungstellen von Zahlen. Was ist die Aussagekraft eines Drittmittelförderrankings? Mir erschließt sich das nicht. Außer, dass es schön ist, wenn jemand viel Geld hat – jedenfalls in manchen Disziplinen. In anderen ist es total verheerend. Die geisteswissenschaftlichen Exzellenzcluster wissen ja gar nicht, wie sie das viele Geld ausgeben sollen. Dagmar Stahlberg: Nutzen und Nachfrage nach der Information ist ein Feld. Ich möchte jetzt auf die Frage nach der Qualität der zur Verfügung gestellten Information zu sprechen kommen. Hier gibt es ja auch jede Menge Kritik daran, was jeweils gemessen wird. Sie haben gerade das Drittmittelaufkommen erwähnt, vorhin wurde die Zahl der Promotionen als Forschungsindikator angesprochen, die Seitenzahlen der Publikationen werden gezählt und so weiter. All diese Dinge sind ja im Einzelfall kritisierbar. Wie würden Sie darauf reagieren, wenn solche Fragen im Raum stünden? Stefan Hornbostel: Sie haben natürlich völlig recht, natürlich kann man Drittmittelrankings nicht überall einsetzen. Es ist Unsinn, wenn man Juristen, die „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 65 nicht empirisch arbeiten, über Drittmittelrankings bewertet. Trotzdem steckt in diesen Drittmittelrankings im Kern natürlich eine ganz wesentliche Information, die man durchaus nutzen kann, nämlich die Anerkennung innerhalb des Faches. Daher werden ja DFG-Mittel auch in der Regel ganz besonders hoch bewertet, weil man davon ausgeht, dass hier von der „scientific community“ kontrolliertes Geld verteilt wird. Dabei geht es also nicht um die Euros, sondern es geht um die Tatsache, dass man erfolgreich seine Peers überzeugen konnte. Jürgen Kaube: Aber selbst da, Herr Hornbostel, gilt doch der verantwortliche Umgang mit Information. Sie können auch diese Drittmittelinformation ganz verschieden interpretieren: Die einen sagen, ich bin akzeptiert, weil ich gut bin, meine Kollegen achten mich und bewilligen meine Drittmittelanträge, weil sie meine Forschung schätzen. Und die anderen sehen die Sache genau andersrum. Ich werde nicht akzeptiert, weil ich gut bin. Meine Anträge werden deshalb nicht bewilligt, weil ich Forschung betreibe, die eben nicht Mainstream ist und von der die Kollegen gar keine Ahnung haben. Das heißt, Sie produzieren eine Information, die am Ende entweder gar nicht oder beliebig interpretierbar ist. Ist das Drittmittelaufkommen hoch, weil ich Mainstream mache, wie Herr Kieser sagt? Alfred Kieser: Und überhaupt: Der angenommene Zusammenhang zwischen Drittmitteleinwerbung und dem Output, der trifft nicht zu – es gibt keinen positiven Zusammenhang. Jürgen Kaube: Ja, das kommt noch dazu. Stefan Hornbostel: Wenn das so wäre, dann würden sämtliche wissenschaftlichen Disziplinen sich in totaler Konfusion über jeden Standard befinden. Das ist aber erkennbar nicht der Fall, und die Veränderung, etwa der Publikationsgepflogenheiten, finden doch nicht deshalb statt, weil es Rankings gibt. Das liegt doch nicht an den Rankings. Alfred Kieser: Doch, doch. Es gibt mittlerweile Wissenschaftler, die schreiben nicht mehr für die Community, sondern die schreiben für das Ranking. 66 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Stefan Hornbostel: Aber Herr Kieser, die Einführung der wissenschaftlichen Zeitschriften, die Abkehr von der Monografie in den Naturwissenschaften hat doch nicht stattgefunden, weil es Rankings gab. Rankings gab es damals noch nicht. Alfred Kieser: Aber in der Soziologie schon oder in der BWL. Stefan Hornbostel: Ja, das mag ja sein, da spielen sich andere Dinge ab, aber wir haben eine hartnäckige Konsistenz der Monografie. Auch in den USA, wo der Druck viel schlimmer ist, haben Sie nach wie vor ein Drittel des Outputs in den Geisteswissenschaften und in den Sozialwissenschaften in Monografien, und das ist akzeptiert. Alfred Kieser: Und jetzt müssten Sie mal untersuchen, wie stark das zurückgegangen ist. Stefan Hornbostel: Es ist nicht so dramatisch. Natürlich gibt es eine Umorientierung, aber ich wäre da vorsichtig. Disziplinen verändern sich nun einmal. Jürgen Kaube: Selbst das ist doch keine Information. Das sehe ich vielleicht noch anders als Herr Kieser und würde sagen, selbst die Zahl der Monografien ist doch keine Information. Schreiben die viele oder wenige Monografien? Es kommt doch ganz darauf an, was die schreiben. Und wenn man sagt, es kommt darauf an, dann appelliert man ja an einen informierten Beobachter, der aber im Vorfeld der Versuchsanordnung gar nicht vorgesehen war. Denn dort stand von Anfang an jener Rezipient, der sich nicht gut auskennt, der die zur Verfügung gestellten Zahlen sieht und der die Entscheidung relativ schnell fällen muss. Denn sonst brauche ich die Zahl ja gar nicht. Sonst würde er sagen, ich bin jetzt ein Spezialist für die Ungleichheitsforschung in der Bildung. Das machen außer mir in Deutschland noch 30 andere oder so. Die kenne ich alle und mit denen telefoniere ich permanent oder rezipiere ihre Arbeiten. Wir lesen uns vielleicht sogar. Auch das gibt es, den Forscher der Forschung rezipiert. Der braucht die Zahlen gar nicht. Der will auch gar nicht beeindrucken. Beeindrucken müssen die nur dann, wenn es in Berufungskommissionen um Machtkämpfe geht. Und was dort am Ende übrig bleibt, sind Informationen wie, „Das war doch Tabellenplatz 7, und der hatte doch diese Fantastillionen an Drittmitteln.“ Aber was sind das für bescheuerte Fra„Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 67 gen? Die Höhe der Drittmittel? In 90 Prozent der Fächer gibt die doch keinerlei Auskunft über die Qualität der Forschung. Gut, wenn jemand Batterien oder so erforscht, ist das okay. Das ist ja teuer. Aber einen Soziologen zu fragen, ob er Drittmittel beibringt, ist reine Rektoratslogik. Dagmar Stahlberg: Man kann sich über jedes einzelne Kriterium, jeden einzelnen Indikator streiten. © Anja Schindler Frank Ziegele: Darf ich gleich was dazu sagen? Mein erster Punkt an dieser Stelle: Was ich lustig finde, ist die Gespaltenheit Ihres Menschenbildes. Solange ich mich in dem strukturellen Kontext der Wissenschaft bewege, bin ich also der, der den Idealen nachhängt. Sobald ich aber zum Rektor gewählt werde, hedoniere ich mich aufgrund der veränderten Strukturen zu einem mechanistischen Gebilde, das in mechanistischer Bezahlung reagiert. Jürgen Kaube: Das beruht auf empirischer Beobachtung. Das hat nichts mit dem Menschen zu tun. Frank Ziegele: Was aber aus meiner Sicht ein wichtiger Schlüssel ist, ist die Frage nach der Messbarkeit, um eine bessere Lösung zu finden. Ein ganz wichtiger Aspekt ist die Fachbezogenheit des Ganzen. Schauen Sie sich Evaluationen von Steuerungselementen an: Als positiver Aspekt wird meistens 68 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ genannt, dass sie fachinterne Diskussionen über allgemeingültige Leistungskriterien in Gang setzten. Dann können sie sagen, in unserer Fakultät, in unserem Fach, gemäß unserem Profil, wollen wir auf diese Größe schauen. Die definiert kein Rektor von oben, sondern die definieren wir selbst. Ich glaube, das ist etwas, was wir in diesem System zu wenig machen. Ein selbstkritischer Aspekt, den man hier heranziehen sollte. Ich glaube, wir sollten mehr auf die Fachspezifika eingehen. Denn das hat einen positiven Effekt, das vermindert diesen Verdrängungseffekt von intrinsischer Motivation. Hat die Leistungsmessung den Charakter der Kontrolle von außen, dann sinkt die Eigenmotivation. Wenn aber die Wissenschaftler das Gefühl haben, sie sind selbst die Herren und Frauen des Verfahrens und können Leistungsgrößen nach ihrer Fachkultur definieren, können Eigenmotivation und externer Anreiz jedoch im Einklang stehen. Alfred Kieser: Es ist so, dass das System ein Eigenleben entfaltet. Die Politiker setzen die Universitäten unter Druck, die Universitätsverwaltung setzt die Dekane unter Druck. Man kommt da ganz schlecht raus. Man sagt zuweilen, ein System gegen Gauner produziert Gauner. So weit will ich in dem Zusammenhang nicht gehen. Aber ein System gegen faule Professoren produziert zwar keine faulen Professoren, aber auch keine brillierenden Professoren. Die schauen, wie sie in dem System abschneiden, nicht ob sie irgendetwas Sinnvolles für die Wissenschaft produzieren. Ihr Bild ist, Entschuldigung, naiv, dass sich der Professor auf der universitären Ebene oder in einer Berufungskommission über diese Systeme hinwegsetzt. Das gibt es nicht. Publikumsfrage: Sie haben jetzt vor allem über den Sinn von Rankings diskutiert. Mich würde interessieren, warum überhaupt Rankings gemacht werden. Es muss ja irgendein Interesse geben. Ihr Interesse, Herr Kaube, kann es ja nicht sein. Vielleicht liegt es ja an Ihnen, dass die F.A.Z. kein Ranking hat. Aber wenn ich mir das Handelsblatt-Ranking anschaue, dann wird doch klar, dass das nicht von der Forschung betrieben wird. Da muss man doch klar sagen, dass es um den Profit des Handelsblatts geht. Rankings dienen ja nicht nur dazu, irgendetwas zu objektivieren, sie sind doch auch Mittel zum Zweck, zum Beispiel zum Zweck, die Verkaufszahlen einer Zeitung zu erhöhen. Jürgen Kaube: Da muss man sicherlich unterscheiden. Natürlich haben Massenmedien, zu denen ich auch uns, die F.A.Z. mit ihrer bescheidenen Abon- „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 69 nentenzahl, rechnen würde, eine Präferenz für Tabellen. Sie finden Tabellen für alle Lebenszusammenhänge. Und warum? Weil sich Tabellen leicht ändern. Meine Formulierung ist immer: Die meisten Zahlen sind ungleich. Ein Mathematiker würde mir zwar widersprechen, sozial stimmt das. Und das macht Tabellen für Zeitungen so interessant. Tabellen simulieren Veränderung. Es tut sich ständig was. Das trifft ja auch im Fußball zu. Es lässt sich nicht wirklich erklären, was genau da dran sein soll: Tabelle rauf, Tabelle runter. Was sind das eigentlich für Informationen? Was bringt es mir zu wissen, dass Hoffenheim jetzt auf Platz 9 und eben noch auf Platz 11 war? Aber für die meisten ist das interessant, die mögen Tabellen. Dann nehmen sie die PISA-Studie, diese Faszination einer von 99,9 Prozent unverstandenen statistischen Untersuchung. Was ist wichtig? Der Tabellenplatz! Daher bete ich immer, dass bei uns in der Geschäftsführung sich niemand einfallen lässt, ein F.A.Z.-Hochschulranking zu machen. Denn dann weiß ich nicht mehr genau, wo ich meine Texte zu diesem Thema publizieren soll. Dann komme ich ja in ähnliche Konflikte wie Herr Hornbostel mit der DFG. Gelächter. Gut, ich sage, selbstverständlich sind die Redaktionen autonom. Die andere Frage: Wer macht diese Rankings. Warum kommen diese Zahlenberge auf? Die Standardantwort ist der Hinweis auf die Unübersichtlichkeit. Das ist ein Standardargument. Es heißt, wir leben in einer viel komplexeren Welt als noch grade eben. Wenn Sie sich unbeliebt machen wollen, müssen Sie nur sagen, wir leben in einer genauso einfachen Welt wie früher. Aber da ist man sich einig, dass alles so wahnsinnig komplex geworden ist. Ich sage, die Komplexität ist eine Begleiterscheinung des Wachstums. Da wird oft ein bisschen unterschlagen, dass das System schon vor dem Ranking auf das Wachstum reagiert hat, nämlich durch Spezialisierung. Niemand ist heutzutage noch Jurist oder Soziologe und behauptet, das ganze Gebiet beurteilen zu müssen. Eigentlich kennt man sich nur auf einem viel spezielleren Gebiet sehr gut aus. Als Spezialist für den späten Hofmannsthal kann ich gar nicht mehr beurteilen, was die Leute machen, die den frühen Hofmannsthal erforschen. Also brauche ich eine Zahl. Ich halte das für Schwindelei. Dagmar Stahlberg: Aber die Frage war ja die nach der Instrumentalisierung dieser Rankings. Herr Kieser, Sie haben die These aufgestellt, dass Rankings jene Wirklichkeit erst schaffen, die sie zu messen vorgeben. Jetzt könnte man auch sagen, genau das ist auch so gewollt. 70 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Alfred Kieser: Die Rankings, da sind wir uns ja alle einig, vereinfachen auf sträfliche Weise die Wissenschaftslandschaft. Dagmar Stahlberg: Aber sie helfen bei Entscheidungen. Alfred Kieser: Sie helfen Entscheidungen zu fällen, weil man gar nicht mehr lesen muss, was die Forscher geschrieben haben. Man schaut das Ranking an und weiß sich auf der sicheren Seite, wenn man sagt, der Kandidat hat die meisten Impact-Factor-Punkte. Den müssen wir nehmen. Da ist ganz schwer dagegen zu argumentieren. Also, diese Rankings befreien die Gutachter in Berufungskommissionen und in anderen Zusammenhängen von der Lektüre und der Auseinandersetzung mit den Ergebnissen. Deswegen sind sie auch so beliebt, weil man das Denken ersetzen kann durch das Zitieren von Rankings. Publikumsfrage: Noch eine Nachfrage, jemand muss doch das Ranking machen. Und der muss doch einen Grund dafür haben, dass er die macht. Alfred Kieser: Ja, Rankings gibt es im Fußball und in der Popmusik und weiß der Teufel wo. Das ist natürlich ein Renner. Man muss schon Angst haben, dass die F.A.Z. auch mit einem Ranking kommt. Hoffentlich nicht. Die Studenten kaufen das, die Professoren kaufen das. Jürgen Kaube: Weil es unterhaltsam ist, würde ich sagen. Alfred Kieser: Man kann sich, wie Herr Kaube richtig sagt, damit unterhalten, wie viel man sich verbessert hat, wie die eigene Universität abgesunken oder aufgestiegen ist. Das ist eine spannende Lektüre. Wir haben alle unsere Zahlen im Kopf und die werden diskutiert. Die Pressestellen in den Universitäten treten das noch breiter, als es schon ist. Das ist gefundenes Fressen. Keine Frage. Publikumsfrage: Ich bin Student. Bevor ich studiert habe, was habe ich gemacht? Ich habe mir natürlich die Rankings angeschaut. Habe alle Informationen angeschaut, bin genommen worden und habe mich wahnsinnig gefreut, weil ich gedacht habe, ich bin am richtigen Platz. Was ist passiert? Es ist „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 71 natürlich nicht alles so rosig, wie es schien. Ich hätte manche Entscheidung anders getroffen, hätte ich auch noch andere Informationen gehabt. Daran schließt sich eben auch meine Frage an: Woher wissen Sie, was Studenten wissen müssen? Frank Ziegele: Das war an mich gerichtet! Ich gehe noch einmal einen Schritt zurück, bevor ich Ihre Frage beantworte, und komme noch mal auf die Frage nach der Motivation. Ich kann Ihnen sagen, warum wir das machen. Das CHE ist eine gemeinnützige Einrichtung und hat irgendwann einmal ein Leitbild geschaffen, das die Idee hat, das Hochschulsystem in Deutschland zu verändern. Das kann man ja nachlesen. Ein wichtiger Teil dieses Leitbildes ist die Idee des Wettbewerbs. Also für Studierende die Idee, dass man nicht automatisch dahin geht, wo Mutti wohnt und wo man zu Hause bleiben kann, sondern dass man sich mal in der Republik umschaut und Informationen kriegt, wo auch etwas anderes passiert. Die Pension Mutti erhält Konkurrenz. Deswegen sind es heute nur noch 70 Prozent, früher waren es 90 Prozent oder so, die sozusagen „von zu Hause aus“ studieren. Ein zweites wesentliches Ziel ist das der gesellschaftlichen Teilhabe. Viele Leute, die sich für das Studieren interessieren beziehungsweise interessieren sollten, haben eben keine Eltern, die danach fragen könnten, was eine Hochschule auszeichnet. Sie sind also nicht Teil dieses selbstreferentiellen Systems, in denen Akademiker sich selbst reproduzieren. Die Idee ist also, das Ganze zu öffnen. Das ist erst einmal die Zielsetzung. Sekundäre Zielsetzung ist natürlich auch, die Arbeitsplätze für meine Mitarbeiter zu halten und das Ding nicht den Bach runtergehen zu lassen, solange wir davon überzeugt sind, etwas Sinnvolles zu machen. Alfred Kieser: Aber seine Frage war doch, woher Sie wissen, was einer, der studieren will, wissen muss? Eigentlich hat er gesagt, hätte ich kein Ranking gehabt, hätte ich mich selber darum gekümmert und wäre damit vielleicht besser rausgekommen. Frank Ziegele: Wir versuchen auch, vielleicht sind wir da noch nicht perfekt, mit dem ganzen Ranking Handlungsanweisungen mitzugeben. Wenn Sie in das Heft reingucken, finden Sie seitenweise Erläuterungen: Wie entscheide ich mich für ein Studium? Und da steht auch drin: Guck nicht nur auf 72 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ das Ranking! Sondern mach dies oder das. Vielleicht bin ich da auch naiv, wie Herr Kieser schon meinte. Aber ich meine immer noch, man muss es versuchen, den Informationsfluss in die richtige Richtung zu lenken. Man kann nicht sagen, wir überlassen das alles sich selbst. Stefan Hornbostel: Ich weiß ja nicht, wie Sie jetzt wissen, dass Sie sich falsch entschieden haben? Diese Information muss ja auch irgendwie generiert worden sein. Aber was die Interessen hinter den Machern von Ranking betrifft, kann man zweierlei Dinge sagen. Sie sind, das gilt seit dem ersten, 1989 im Spiegel veröffentlichten Hochschulranking, stark verbunden mit USamerikanischen Vorstellungen. Es geht darum, einer ganz bestimmten Gruppe im Marktgeschehen, den Studenten nämlich, eine Stimme zu geben. © Anja Schindler Das war die erste Intention. Und das Medieninteresse ist relativ klar. Junge Akademiker sind nun mal eine wichtige Zielgruppe der Medien. Das hat etwas damit zu tun, dass man die Werbung loswerden muss. Es geht nicht um das inhaltliche Interesse, das eine oder andere zu beeinflussen. Sie können bei allen Printmedien, und bei anderen auch, den Versuch erkennen, an die Zielgruppe Jungakademiker heranzukommen. Die muss man irgendwie einfangen, und das Hochschulranking ist ein Weg, das zu tun. Der Spiegel hat das zweimal wiederholt, hat aber dann diese Art des Rankings wieder eingestellt. Vermutlich, weil sich das dann schnell wieder abnutzt. Dagmar Stahlberg: Ich würde die verbleibenden Wortmeldungen jetzt sammeln, die Zeit läuft uns davon. Und das Podium soll dann mit einem abschließenden Statement schließen. „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 73 Publikumsfrage: Die Welt braucht Orientierungswissen. Und die Frage ist, ob wir da wirklich ohne Zahlen auskommen können, oder sagen wir, ohne zumindest den Versuch, einigermaßen objektive Entscheidungsgrundlagen zu bieten. Kann sich die Wissenschaft die von Ihnen vorgeschlagene Alternative der Reputation wirklich leisten? Ist es wirklich erstrebenswert, die Wissenschaft statt über Kennzahlen, über Päpste – egal ob die nun Luhmann oder Beck heißen – steuern zu wollen? Publikumsfrage: Die Ratingagenturen in der Finanzwelt sind ja ähnlich problematisch wie die in der Wissenschaft, und auch da sieht man, dass es sehr schwer ist, eine Entscheidung gegen einen Listenplatz durchzusetzen. Publikumsfrage: Bietet nicht Google Scholar ohnehin jede Menge Informationen über die Leistungen der Wissenschaftler? Man kann sich doch da ohnehin bedienen und da kann ja jeder seine eigenen Leistungen reinschreiben. Abschlussstatements Jürgen Kaube: Die Welt will uns suggerieren, dass wir das alles beurteilen können wie eine Maschine, wie – ich weiß nicht –, wie eine Pizza oder so, dass man sagt, okay, wie viele Kalorien ziehen wir uns jetzt rein. So ist das eben. Sie würden Ihre Freundin bestimmt nicht nach einem Ranking aussuchen! Gelächter. Stefan Hornbostel: Danke für den Hinweis auf die Ratingagenturen. Das passt in der Tat. So wissenschaftlich, wie Sie es dargestellt haben, arbeiten die nicht. Und man weiß ja, dass fast alle großen Crashs und Finanzfälschungen von den großen Agenturen übersehen wurden. Aber es brachte etwas anderes, nämlich dass bei fast allen großen Akteuren, den Banken und Unternehmen etc., zunehmend eigene Kompetenzen aufgebaut worden sind. Das ist eine wichtige Folge. Übertragen auf die Wissenschaftssituation bedeutet das, dass es nicht darum geht, Ratings abzuschaffen, sondern darum, die Entwicklung von Kompetenzen im Umgang mit komplexen Informationen zu fördern. Mein letzter Punkt bezieht sich auf den Hinweis auf Google Scholar. Die Rankings sind überhaupt nicht das Problem! Auch nicht, was die Ver- 74 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ haltenssteuerung betrifft. Die Internetseite Google Scholar liefert da ein schönes Beispiel. Die Seite zeigt, dass sie Informationen von selbst verbreitet und genutzt wird. Und was da verbreitet wird, wollen Sie gar nicht wissen. Das ist ein Netz von handgestrickten Fakten und Informationen, für deren Beurteilung es keinerlei Kriterien gibt. Da haben Sie keine Basis, das ist methodisch nicht mehr kontrollierbar. Da weiß keiner, wie die hier bereitgestellten Informationen zustande kommen, was berechnet wird, wie es berechnet wird oder von wem. So entsteht ein Nutzerverhalten, das sich jeder Steuerung entzieht und über jeden geschulten Umgang erhaben ist. Es gibt also offensichtlich einen Bedarf nach dieser Art Information und wir sollten nicht darauf verzichten, diesen Bedarf mit zuverlässigen Daten zu bedienen, durch Information, die auf nachvollziehbare, methodisch abgesicherte Art und Weise gewonnen wurde. Frank Ziegele: Ich darf Ihnen zum Abschluss noch einen Einblick in den Alltag des „Ranking-Produzenten“ geben. Wir haben ja verschiedene Formen der Aufbereitung des Hochschul-Rankings. Wir haben die Listen mit den fünf Plätzen und wir haben die Liste mit den 34 Indikatoren. Was machen die Leute im Internet? – Unterstützung der Kieser’schen These – die gucken alle nur die fünf Kriterien an und gehen nicht auf die 34. Wir verzeichnen ganz wenige Zugriffszahlen in den differenzierenden Kategorien. Was haben wir jetzt versucht? Wir haben lang überlegt, wie kriegen wir die Leute dazu, differenziertere Daten abzufragen, weil wir glauben, das ist der richtige Punkt, wo man Rankings hintreiben muss: ein hohes Angebot an Information und komplexe Suchmechanismen für die Auswertung. Seit dem letzten Ranking haben wir diese Grafik mit der Zielscheibe eingebaut – wo man die einzelnen 34 Kriterien anklicken kann. Je nachdem, welche man anklickt, schießen die Hochschulen rein oder raus. Ich glaube, das ist didaktisch und methodisch ein wichtiges Instrument, weil wir die Leute darauf hinweisen, dass dieses Ranking ein relatives Konzept ist, je nachdem, was man auswählt. Das ist ein Anstoß, grafisch illustriert, über die Kriterien nachzudenken, so wollen wir den Studenten auffordern, überleg dir mal, was du eigentlich wichtig findest. Die Kunst ist die Aufbereitung der Geschichte, Entscheidungsprozesse durch handhabbare Werkzeuge zu unterstützten. Ich bin mit Ihnen der Überzeugung, dass es einen großen Fehler in diesem ganzen Geschäft gibt: das Reduzieren auf eine Kennzahl. Solche Rankings machen keinen Sinn. Ein Ranking kann nur mehrdimensional arbeiten. Das ist eine Grundanforderung. „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ 75 Wo wir uns überraschenderweise mit Herrn Kaube einig wurden, dass man allein aufgrund einer Zahl gar nichts sagen kann. Zahlen sind interpretierbar, sie müssen interpretiert werden – da stimme ich zu. Ich versuche, in meinem naiven Glauben, dass man es hinkriegt, weiter an der Optimierung der Systeme zu arbeiten. Herr Kaube sagt, das gehe nicht. Alfred Kieser: Ich glaube, es ist klargeworden, warum man Rankings so schätzt. Man schätzt sie, weil sie vereinfachen und legitimieren. Der Vorstand kann sagen, ich habe den Besten genommen, weil er von der Universität mit dem besten Ranking kommt, und so werden Entscheidungen schwer angreifbar. Das ist eine Funktion, die Rankings erfüllen. Aber sie erfüllen sie schlecht. Sie sind trügerisch. Sie geben eine Sicherheit, die eigentlich keine ist. Ich glaube auch nicht, dass man sagen kann, der intelligente Umgang mit Rankings wird besser und deswegen seien Rankings nicht mehr gefährlich. Ich denke, man sollte aufhören, von unserer Seite aus die Hoffnung zu schüren, dass Rankings eine einfache, gleichwohl zutreffende Sicht, einen einfachen, gleichwohl zutreffenden Blick in die Universität und auf die Universitätspolitik gestatten. 76 „Unser täglich Ranking gib’ uns heute …“ Abbildung 11: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Brodgelehrte Abbildung 12: Kunstkreditkarte: Philosophische Köpfe „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ Vertrauen in Leistungskennziffern und Ranglisten in der Wissenschaft macht naiv1 Alfred Kieser In seiner Antrittsvorlesung „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, 1789 an der Universität Jena, unterschied Friedrich Schiller zwei Typen von Gelehrten: den „Brodgelehrten“ und den „philosophischen Kopf“. Nur Letzterer forsche um der Erkenntnis willen. Richard Feynman, der amerikanische Physik-Nobelpreisträger, bringt die Motivation des Wissenschaftlers prosaischer auf den Punkt: „Science is like sex. Sure, it may give some practical results, but that’s not why we do it.“ Es ist vor allem die Tätigkeit und erst in zweiter Linie der Erfolg, die den Forscher motiviert. Denn Erfolg in der Forschung ist höchst unsicher. Die meisten Wissenschaftler machen nie sensationelle Entdeckungen, veröffentlichen nie Aufsätze in absoluten Spitzenzeitschriften, schreiben nie Bücher, die Furore machen, und werden nicht zum Hauptvortrag bei internationalen Konferenzen geladen. Nur wenige heimsen Ruhm ein. Wie aber wird Leistung in der Wissenschaft gemessen? Welche wissenschaftliche Leistung ist höher einzustufen: die Entdeckung des Penicillins durch Alexander Fleming oder die These Max Webers vom Protestantismus als Beförderer des Kapitalismus? Diese Frage ist schlicht unsinnig. Ebenso unsinnig ist die, ob ein Aufsatz im „Journal of Marketing“ höher zu gewichten sei als ein Aufsatz im „Journal of Finance“. Selbst innerhalb eines Fachs erweisen sich Forschungsleistungen oft als unvergleichbar. Diese Unmöglichkeit, sie in eine Rangfolge zu bringen, ist häufig die Ursache mühseligen Ringens in Berufungskommissionen. Subjektive Einschätzungen sind unvermeidlich. Objektivierungsbemühungen In solchen Situationen greift man gerne auf quantitative Kriterien zurück, indem man etwa darauf hinweist, dass der eine Kandidat eine umfangreichere Veröffentlichungsliste vorzuweisen hat als der andere. Häufig wird auch argumentiert, dass, wenn die Aufsätze der einen Kandidatin mit dem wissenschaftlichen Rang der jeweiligen Zeitschriften gewichtet werden, sie klar höher einzustufen ist als die anderen Bewerber. „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ 79 Wenn der wissenschaftliche Rang einer Zeitschrift einfach behauptet wird, haftet einer solchen Argumentation jedoch immer noch eine subjektive Tönung an. Dieser Eindruck verschwindet jedoch aus der Diskussion, wenn alle Vertreter eines Fachs um eine Einschätzung der Bedeutung der wissenschaftlichen Zeitschriften gebeten und diese Einschätzungen dann gemittelt werden. Das Kunststück einer noch weiter gehenden „Objektivierung“ hat Eugene Garfield mit seinen Impact Factor geschafft. Dieser Indikator zur Gewichtung des wissenschaftlichen Einflusses von Zeitschriften wird heute von Thomson Science, einer Division der Agentur Reuters, für eine große Zahl ausgewählter Zeitschriften verschiedener Disziplinen ermittelt und in einer Datenbank gegen Entgelt zur Verfügung gestellt: Wissenschaftsbewertung ist Big Business. Unsinnige Vergleiche Der Impact Factor beruht auf der Annahme, dass Wissenschaftler Werke anderer Wissenschaftler vor allem deshalb zitieren, weil sie auf deren Ergebnissen aufbauen. Eine Zeitschrift, deren Aufsätze häufiger zitiert werden, würde dann einen höher zu bewertenden Beitrag zur Wissenschaft leisten und könnte eine höhere Qualität beanspruchen als eine Zeitschrift, auf deren Aufsätze Wissenschaftler weniger häufig zugreifen. Die Forschungsleistung eines Wissenschaftlers kann dann als Summe seiner mit den jeweiligen Impact Factors gewichteten Veröffentlichungen erfasst werden. Auf dieser Basis kann man dann auch ein Ranking von Wissenschaftlern erstellen und die Position einer ganzen Fakultät für ein Fakultäten-Ranking aus den Rangplätzen der in ihr tätigen Wissenschaftler aggregieren. So geht das Handelsblatt bei der Ermittlung des Rankings deutschsprachiger BWL-Professoren vor. Es werden allerdings nicht nur die Impact Factors betriebswirtschaftlich relevanter Zeitschriften des Social Science Citation Index (SSCI) und des Science Citation Index (SCI) berücksichtigt, sondern auch noch das Ranking des Erasmus Research Institute of Management, Rotterdam, sowie das über eine Befragung aller Mitglieder ermittelte Ranking des Verbands der Hochschullehrer für Betriebswirtschaft, in dem deutschsprachige Zeitschriften stärker berücksichtigt sind. Die ersten beiden Plätze des Handelsblatt-Rankings für Betriebswirtschaftslehre werden von zwei Professoren der Fakultät für Betriebswirtschaftslehre der Mannheimer Universität belegt. Das ist aus Sicht eines Mannheimer Universitätsangehörigen sehr erfreulich, aber es ist gleichwohl unsinnig. Dass beide in ihren Fächern international hochrenommierte Wissenschaftler sind, kann einem jeder Insider versichern. Was die beiden jedoch forschen und was sie veröffentlichen, ist 80 „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ nicht vergleichbar und nicht in eine Rangfolge zu bringen. Der eine forscht zu Marketing, der andere zu Banken und Finanzierung. Die Feststellung, dass der eine Nummer eins und damit besser als die Nummer zwei ist, wäre so sinnvoll wie die, dass Tiger Woods im Vergleich mit Roger Federer der bessere Sportler ist. Marktgerechte Forschung Wenn aber Rankings von Wissenschaftlern unsinnig sind, dann auch auf ihnen aufbauende Rankings von Fakultäten und Universitäten. Trotz ihrer Absurdität sind Rankings von Wissenschaftlern und Wissenschaftsinstitutionen ungemein populär. Viele Berufungskommissionen, Dekane und Universitätspräsidenten richten ihre Entscheidungen nach ihnen aus. Ihre Popularität gründet sich vor allem darauf, dass sie den Prozess der Bewertung abkürzen. Man multipliziert einfach die Aufsätze der Bewerber mit den zugehörigen Impact Factors und addiert die so ermittelten Punkte. Dazu muss man nicht einmal ein Angehöriger des betreffenden Fachs, ja nicht einmal Wissenschaftler sein. Wissenschaftler sind darum gut beraten, eine Art von Forschung zu betreiben, die sich zu Aufsätzen verarbeiten lässt, die mit großer Wahrscheinlichkeit von hoch gerankten Zeitschriften zur Veröffentlichung angenommen werden. Wie das Top-Management eines diversifizierten Unternehmens weiß, welche Gewinnbeiträge die einzelnen Geschäftsbereiche bringen, wissen nun die Dekane und die Universitätsspitze, welche Fakultäten und Institute „gut am Markt ankommende“ Forschung generieren, und richten ihre Entscheidungen zur Mittelausstattung oder zu Stellenbesetzungen danach aus. Die Strategie der ökonomisierten Universität zielt darauf ab, in ein optimales „Portfolio der Forschungswertschöpfung“ zu investieren. Diese Strategie determiniert in einem hohen Maße die Arbeit der Wissenschaftler. Von ihnen wird erwartet zu forschen, was ihnen, ihrer Fakultät und ihrer Universität Ranking-Punkte bringt, nicht aber, was sie selbst als die Wissenschaft vorantreibende Projekte ansehen. Allerdings weisen Impact Factors einige empfindliche Begrenztheiten auf. 1. Es werden nur Veröffentlichungen in bestimmten Zeitschriften berücksichtigt. Dies sind fast nur englischsprachige, vorwiegend amerikanische Zeitschriften. 2. Buchveröffentlichungen und Beiträge in Sammelbänden werden nicht berücksichtigt. 3. Es werden auch nur Zitierungen berücksichtigt, die innerhalb von zwei Jahren nach der Publikation erfolgen. Zeitschriften zu Spezialgebieten, die in der Regel eine geringere Zirkulation aufweisen, werden benachteiligt. „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ 81 Vor allem aber ist es mehr als fraglich, ob Zitierungen vorwiegend Anerkennung für die Übernahme wichtiger Ergebnisse anderer Forscher in die Forschung der sie Zitierenden zum Ausdruck bringen. Ein Forscher zitiert einen anderen Forscher nicht nur, wenn er dessen Ergebnisse übernimmt, sondern auch, wenn er ihn kritisiert, sich seiner Schule zuordnet, sich von ihm abgrenzt, durch Belesenheit zu beeindrucken versucht. Gerne zitiert er diejenigen, die generell häufig zitiert werden, denn das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass er selbst zitiert wird. Erstaunlich ist nun, dass sich in Zeitschriften mit einem hohen Impact Factor Aufsätze finden, die nicht oder kaum zitiert werden. Dies lässt fragen, ob das System der Begutachtung von Aufsätzen so funktioniert, dass tatsächlich die besten in die renommiertesten Journale kommen. Fragwürdige Gutachterverfahren Schon die für renommierte Zeitschriften typischen Ablehnungsquoten von mehr als 90 Prozent der eingereichten Aufsätze lassen Zweifel aufkommen. Ein Großteil der eingehenden Manuskripte wird nämlich vom Haupt- oder Mitherausgeber nach erster Durchsicht in einem „desk reject“-Verfahren“ abgelehnt. Man darf eine nicht geringe Irrtumswahrscheinlichkeit dieser ersten, notgedrungen nicht ganz so gründlichen Siebung annehmen. Zu einer ausführlichen Beurteilung der Aufsätze, die diese Hürde nehmen, wählt der Herausgeber in der Regel zwei, mitunter auch drei oder vier Gutachter aus. Diese empfehlen Ablehnung oder Annahme des Manuskripts. Die Übereinstimmung zwischen Gutachterurteilen zu eingereichten Zeitschriftenaufsätzen ist extrem gering, was manche Autoren zu dem Schluss gelangen lässt, man könne die Entscheidung über Annahme oder Ablehnung eines Manuskripts auch dem Wurf eines Würfels anvertrauen. Auch korrelieren, wie die Forschung belegt hat, Urteile von Gutachtern über die Qualität eines Manuskriptes nur schwach mit den späteren Zitierungen. Folgerichtig stellte der amerikanische Supreme Court unlängst fest, dass von dem Umstand, dass Peer Reviews durchgeführt werden, nicht auf die Qualität der Inhalte wissenschaftlicher Zeitschriften geschlossen werden könne. Besonders aufschlussreich ist eine Studie von Peters und Ceci. Sie wählten aus zwölf angesehenen psychologischen Zeitschriften je einen Artikel der letzten Jahre aus und änderten deren Autoren- und Institutionennamen vom Hochreputierten ins Namenlose. Auch die Titel, Abstracts und Einleitungsabschnitte veränderten sie. Dann reichten sie den sonst unveränderten Aufsatz bei der gleichen Zeitschrift ein, die ihn bereits publiziert hatte. Das Ergebnis: Nur drei der zwölf Manuskripte wurden als schon publiziert erkannt, und acht der neun übrigen wurden nun abgelehnt. 82 „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ In dem Experiment von Peters und Ceci hat sicher eine Rolle gespielt, dass die Autorenbezeichnungen ins „Namenlose“ geändert wurden. Die Autoren der echten Einreichungen waren ausnahmslos recht bekannt. Bei in der Community bekannten Autoren aber geben sich die Herausgeber Mühe, Gutachter zu finden, die die gleichen Ansätze schätzen wie die Autoren, und sie entscheiden sich bei widersprüchlichen Gutachten eher für eine Annahme. Neben einer Vorliebe für bestimmte Theorien und Methoden haben Gutachter noch andere Vorurteile. Sie sind vor allem konservativ, weil sie Karriere machen wollen: vom Gutachter zum Mit- und Hauptherausgeber und zum Herausgeber noch bedeutenderer Zeitschriften, und deshalb meiden sie das Risiko, einen Aufsatz zur Annahme zu empfehlen, bei dem damit zu rechnen ist, dass er in der Scientific Community auf Ablehnung stößt. Man muss als Autor also nicht nur einen guten Aufsatz schreiben, man muss vor allem das Glück haben, dass der Herausgeber nicht nur einen, sondern zwei oder drei Gutachter auswählt, bei denen der eingereichte Aufsatz nicht Missgunst, Hochmut oder Dogmatismus weckt und die eine gewisse Sympathie für den gewählten theoretischen Ansatz haben. Nicht zuletzt wegen des äußerst schwachen Zusammenhangs zwischen Gutachterurteilen und Zitierungen eines Aufsatzes ist der Impact Factor ein schlechter Indikator der Qualität; um wie viel schlechter die Addition der mit ihm gewichteten Aufsätze eines Autors. Das Ranking als sich selbst erfüllende Prophezeiung Das größte Problem von Rankingsystemen ist aber, dass sie das Verhalten derjenigen, die von ihnen betroffen sind, beeinflussen. Im sehr populären Handelsblatt-Ranking für Betriebswirtschaftsprofessoren sind die 200 erfolgreichsten Professoren aus deutschsprachigen Ländern gelistet. Unter diesen finden sich keine Professoren, die ihre Forschungsergebnisse vorwiegend in Monografien veröffentlichen, mögen diese auch noch so einflussreich sein. Es werden nämlich auch im Handelsblatt-Ranking nur Zeitschriftenveröffentlichungen berücksichtigt. Die Folge ist, dass Wissenschaftler weniger Monografien schreiben, was ich persönlich sehr bedauerlich finde, denn als Student habe ich vor allem aus Monografien gelernt. Für deutschsprachige Zeitschriften schreiben sie, weil das keine oder nur wenige Punkte bringt, höchstens noch Zweitaufgüsse ihrer englischsprachigen Veröffentlichungen oder Zweitrangiges. Schlechter gerankte Wissenschaftler oder Institutionen verlieren Ansehen bei Studierenden, Politikern und Hochschuladministratoren. Sie erleiden Einbußen bei der Ressourcenausstattung, ihre Rankingposition verschlechtert sich „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ 83 eventuell weiter. Rankings wirken dann wie sich selbst erfüllende Prophezeiungen. Außerdem verleitet das System zu Tricksereien. Wissenschaftler zitieren etwa ihre eigenen Schriften noch häufiger als bisher. Auch zitieren sie mit Vorliebe Aufsätze, die in Zeitschriften mit einem hohen Impact Factor erschienen sind. Das verleiht ihren eigenen Aufsätzen Bedeutung. Zeitschriften mit einem hohen Impact Factor haben also nicht nur deswegen ein hohes Prestige, weil sie häufig zitiert werden, sie werden auch häufig zitiert, weil sie ein hohes Prestige aufweisen. Mit dem Versprechen, dass sie den Großteil der Arbeit übernehmen, veranlassen weniger berühmte Wissenschaftler berühmtere Kollegen zu gemeinsamen Veröffentlichungen. Das erhöht nicht nur die Wahrscheinlichkeit der Annahme des resultierenden Manuskripts zur Veröffentlichung – für den Herausgeber sind die Autoren nicht anonym –, sondern auch später die des Zitiertwerdens. Wenn man früher einen Bewerber für eine Professur fragte, was seine Forschungsinteressen seien, erhielt man Antworten der folgenden Art: „Mich interessiert, wie Arbeitsgruppen funktionieren“ oder „Ich erforsche, ob Anreize die Leistung erhöhen“. Heute sagt er: „Ich will in A-Journals veröffentlichen.“ Und er weiß auch, was er dazu tun muss: eine Thematik, eine Theorie und eine Methode wählen, die im Schwange sind. Mit anderen Worten macht er genau das, was sich in der jüngeren Vergangenheit bewährt hat, halt ein bisschen anders. Am besten er wiederholt eine Untersuchung mit einer etwas leistungsfähigeren Methode. Fortschritte in der Methodik sind leichter festzustellen als Fortschritte bei den Ergebnissen. Wenn nämlich Wissenschaftler wirklich neue Befunde mitteilen, riskieren sie, dass die Gutachter ihren Aufsatz nicht mit ihnen bekannten Erkenntnissen in Verbindung bringen können und ihn ablehnen. Wenn es der Autor nicht schon von sich aus gründlich genug macht, dann sorgen Gutachter und Herausgeber dafür, dass ein eingereichter Aufsatz zu einem Mainstream-Aufsatz wird. Um die Gutachter bloß nicht zu vergraulen und keine negative Entscheidung zu provozieren, machen die Autoren alles, was die Gutachter vorschlagen, auch wenn sie den Eindruck haben, dass dadurch ihr Aufsatz eher schlechter als besser wird. Zu Recht spricht Bruno Frey daher von der „Prostitution der Veröffentlichung“. Wissenschaftler auf dem Trampelpfad Und Wissenschaftler versuchen, aus ihren Forschungsprojekten so viele Aufsätze wie möglich zu pressen. Das geht so ähnlich wie bei den Kombinationsbilderbüchern, bei denen man mit jeweils einigen Streifen 84 „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ verschiedener Hüte, Gesichter, Bäuche und Beine ganz viele lustige Figuren erzeugen kann. Mit dieser Methode bringt es ein Betriebswirt Anfang 30 auf 36 internationale Veröffentlichungen in drei Jahren. Herausgeber und Verlage tricksen ebenfalls: Sie drängen Autoren, möglichst viele Aufsätze zu zitieren, die in ihrer Zeitschrift erschienen sind: „We have noticed that you cite ,Leukemia‘ only once in 42 references. Consequently, we kindly ask you to add references of articles published in ,Leukemia‘ to your present article.“ Fakultäten und Universitäten beteiligen sich an den Tricksereien. So drängen Dekane und Präsidenten Wissenschaftler ihrer Institutionen, in Zeitschriften zu veröffentlichen, die populären Rankings wie dem der „Financial Times“ zugrunde liegen. Sie stellen gerne Bewerber ein – auch temporär als Gastwissenschaftler –, die in „high impact“-Zeitschriften veröffentlichen und viele Zitierungen versprechen, um dadurch den Rangplatz ihrer Institutionen zu verbessern. So schaffen Rankings Wirklichkeit. Sie stellen nicht Transparenz auf einem bereits existierenden „Markt“ her, vielmehr generieren sie einen Pseudomarkt. Profilbildung nach Maßgabe der Rankings heißt nicht, ein anderes Profil auszubilden als konkurrierende Fakultäten, sondern das gleiche Profil mit größerer Perfektion anzustreben: so zu werden wie erfolgreiche Konkurrenten, diese aber in ihrem „Sosein“ noch zu übertreffen. Akteure des Systems sind Herausgeber, Gutachter und Universitätsleitungen, die alle danach streben, dass ihre Rankingpositionen sich verbessern. Und weil sie alle karriererelevante Entscheidungen fällen, wollen die Wissenschaftler genau die Punkte erringen, die im System angerechnet werden. Sie gehen nicht mehr Forschungsfragen nach, die sie im Hinblick auf den Erkenntnisgewinn für wichtig erachten, sie sammeln Punkte für Ranglisten. Sie begeben sich nicht mehr auf wissenschaftliche Entdeckungsreisen, sondern folgen den in Rankings ausgeflaggten Trampelpfaden. „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“. Fußnoten 1 Erstmals abgedruckt unter der Überschrift „Die Tonnenideologie der Forschung“, in der F.A.Z. am 11.6.2010. „Philosophische Köpfe“ mutieren zu „Brodgelehrten“ 85 Abbildung 13: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Monsterstuhl Abbildung 14: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Schwanensee „Vertrauen Sie niemandem, der Ihnen erzählt, er wisse, wie sich die Kurse entwickeln“ Die Börse als Spiegel des wahren Lebens: Aktienkurse und Aktienrenditen1 Markus Glaser und Martin Weber In diesem Beitrag erwartet Sie eine Vielzahl von Beispielen und Erkenntnissen aus der Statistik, die belegen, dass die Kursverläufe und Renditen individueller Aktien ebenso wie von Aktienindizes dem Zufall unterliegen. Außerdem werden psychologische Konzepte vorgestellt, die erklären, warum wir Menschen die Zufälligkeit der Börse nur allzu ungern akzeptieren wollen. Die Argumentation des Börsenjournalisten im Fernsehen ist einleuchtend: Der Ölpreis hat im Laufe des Tages einen neuen, einmaligen Höhepunkt erreicht. Das scheint schlecht zu sein für deutsche Autoaktien, die am gleichen Tag stark im Kurs gefallen sind. Die Erklärung: „Immer weniger Menschen leisten sich Autos, da Autofahren einfach zu teuer wird.“ Der Kursverlauf von Aktien scheint verblüffend einfach vorhersagbar. Oder etwa doch nicht? Was sagte nochmal ein anderer Wirtschaftsjournalist vor einigen Tagen, als der Ölpreis ebenfalls stark angestiegen war? „Davon profitieren insbesondere deutsche Autobauer, denn sie sind der Konkurrenz beim Bau des Drei-Liter-Autos weit voraus. Dies erklärt die positive Kursentwicklung der deutschen Autoaktien.“ Führt ein steigender Ölpreis nun zu steigenden oder fallenden Kursen bei den Aktien deutscher Automobilbauer? Vielleicht war eines der Beispiele nur ein Ausreißer! Vielleicht gilt ja der alte Spruch: „Ausnahmen bestätigen die Regel“, werden Sie denken. Warten wir doch einfach den nächsten Tag ab. Wieder steigt der Ölpreis. Das nächste absolute Hoch. Wie verhalten sich die Kurse der Autoaktien? Ein Blick auf die Internetseite der Deutschen Börse AG zeigt es: Die Aktienkurse von BMW, DaimlerChrysler und VW sind am Morgen leicht gestiegen und haben dann über den Nachmittag fast exakt wieder ihr Ausgangsniveau erreicht. Wie kann das sein? Der Ölpreis beeinflusst doch die Autoaktien! Vertrauen wir doch einmal wieder auf die Erklärung des Börsenexperten im Fernsehen. Der sagt: „Wieder ist der Ölpreis stark gestiegen, aber diesmal hat dies keinen Einfluss auf die DaxWerte BMW, DaimlerChrysler und VW. Denn die hohen Ölpreise sind schon in den Kursen berücksichtigt. Sie wurden in den vergangenen Wochen ‚eingepreist‘.“ Wie reagieren nun Autoaktien auf die Ölpreis„Vertrauen Sie niemandem ...“ 87 entwicklung? Steigen die Kurse oder fallen sie? Oder bleiben sie gar relativ unverändert? Viele Anleger werden argumentieren, dass der Aktienkurs nicht in erster Linie durch den Ölpreis bestimmt wird. Auch die Entwicklung der Gesamtwirtschaft oder einzelner Industriezweige ist wichtig. Und auch das Zinsniveau und die Kursentwicklung in den USA fallen ins Gewicht. Darüber hinaus muss man noch die Nachrichten über die Unternehmen berücksichtigen und technische Indikatoren wie den Trend der Aktie und die generelle Marktstimmung – dies jedenfalls suggerieren viele Anlegermagazine. Aber wie sagt man die Zinsentwicklung vorher? Und wie kombiniert man diese verschiedenen Informationen, um die Aktienkursentwicklung sicher vorausschätzen zu können? Unser Beispiel zeigt, dass nicht nur der Zusammenhang zwischen Ölpreis und Aktienkursentwicklung unklar ist, sondern auch der Einfluss der verschiedensten anderen für die Kursentwicklung bedeutenden Informationen. Es ist also sehr schwer, Aktienkurse sicher und präzise vorherzusagen. Versucht ein Börsenexperte im Abendprogramm, den Kurs eines Papieres im Tagesverlauf zu erklären, gelingt dies schon eher. Zumindest im Nachhinein lassen sich meist schlüssige Erklärungen konstruieren. Generell ist es daher wichtig, zwischen Prognose (Vorhersage ex ante) und nachträglicher Erklärung (Erklärung ex post) zu unterscheiden. Eine plausible rückschauende Erklärung darf nicht zu der Meinung verleiten, dass auch eine Prognose der Zukunft möglich ist. Oft sind sogar noch nicht einmal die tatsächlichen, zeitlich zurückliegenden Zusammenhänge eindeutig, wie das Zusammenspiel von Ölpreis und Autoaktienkursen zeigt. Da es nicht möglich ist, die Entwicklung einer Branche oder eines Index an der Börse zu prognostizieren, stellt sich die Frage, ob man nicht zumindest den Kursverlauf einer Aktie vorhersagen kann? Es müsste doch zumindest möglich sein, zum Beispiel die Aktie der Bayer AG so genau zu analysieren, dass sich deren Perspektive sicher einschätzen lässt. Einzelne Geschäftsbereiche können detailliert untersucht, Änderungen in der Strategie verfolgt werden. Außerdem sind die Wettbewerber sowie die Märkte der Bayer-Produkte sehr genau bekannt. Auch die Qualität des Managements und insbesondere des Vorstandes kann beurteilt werden. Viele Anleger glauben, dass eine solche Analyse eine präzise Vorhersage des Aktienkurses ermöglicht. Doch all der Aufwand hätte im Falle der Bayer-Aktie im Jahr 2001 nichts genutzt. Für die Anleger völlig überraschend traten Probleme bei dem Cholesterinsenker Lipobay auf. Bayer musste dieses Medikament im Herbst 2001 vom Markt nehmen, nachdem es bei zahlreichen Patienten schwere Nebenwirkungen verursacht hatte. Die nachfolgende 88 „Vertrauen Sie niemandem ...“ Klagewelle in den USA weckte zeitweilig die Befürchtung, Bayer könnte von existenzgefährdenden Schadenersatzforderungen bedroht werden. So berichtete die Börsen-Zeitung noch am 26. Februar 2003, über ein Jahr, nachdem das Mittel vom Markt genommen worden war, unter der Überschrift „Bayer-Kursverfall ist nicht zu stoppen“: „Der Aktienkurs des Bayer-Konzerns hat gestern seine dramatische Talfahrt fortgesetzt. Die Notierung sackte im Tagesverlauf immer weiter ab und übertraf mit einem Minus von 14 Prozent auf 12,30 Euro bis zum Abend die Verluste vom Vortag noch deutlich. Das ist der tiefste Stand der Aktie seit über zehn Jahren. Grund sind weiterhin Befürchtungen der Anleger, Bayer könne durch die Lipobay-Klagen in den USA massiv finanziell belastet werden.“ Das ist bemerkenswert, da schon im Jahr 2002 gegen Bayer weltweit über 1.000 Klagen wegen Lipobay anhängig waren. Ist das Bayer-Beispiel nur ein Einzelfall? Sicherlich. Aber ähnliche Vorfälle sind bei jedem Unternehmen möglich. Der Phantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Nur eines ist sicher: Ereignisse, die den Kurs einer Aktie beeinflussen, können jederzeit und wie aus heiterem Himmel eintreten. (Solche Ereignisse, die zufällig sind und nicht präzise vorhergesagt werden können, werden im Wissenschaftler-Deutsch als unsystematisch bezeichnet.) Damit kann sich jede einzelne Aktie anders entwickeln, als prognostiziert. Potentielle Schadenersatzklagen sollten die Aktienkurse laut Theorie und gesundem Menschenverstand negativ beeinflussen. Mit anderen Worten: Wenn wir solche Ereignisse vorhersagen könnten – was uns aber nie gelingen wird, da wir keine Hellseher sind –, wären wir auch in der Lage, die Aktienkurse zu einem gewissen Grad vorherzusagen. Andererseits gibt es Beispiele dafür, dass sogar irrelevante Ereignisse sowie nicht vorhersagbare Handelsentscheidungen anderer Akteure am Aktienmarkt die Kurse beeinflussen. So zeigt eine Studie der US-Wissenschaftler Gur Hubermann und Tomer Regev, die das Spekulationsverhalten von Investoren analysiert haben, wie eine „Nicht-Nachricht“ einen Aktienkurs wesentlich beeinflussen kann: Am Sonntag, dem 3. Mai 1998, veröffentlichte die New York Times einen Artikel über ein potentielles neues Krebsmedikament der Firma EntreMed. Nachdem der Aktienkurs von EntreMed am Freitag zuvor mit 12 US-Dollar geschlossen hatte, schoss er am Montag bis auf 52 US-Dollar in die Höhe. Klar, werden Sie sagen, es sind ja wichtige und gute neue Nachrichten aufgetaucht. Das Problem der Argumentation: Fünf Monate zuvor hatte die New York Times bereits von derselben Sache berichtet, allerdings ohne dass dies den Kurs wesentlich beeinflusst hätte. Die Meldung am 3. Mai 1998 war somit keine Nachricht, sondern eine „Nicht-Nachricht“, das heißt keine neue Information. „Vertrauen Sie niemandem ...“ 89 Ein noch extremeres Beispiel liefert eine Studie des US-Finanzmarktforschers Michael Rashes über „verwirrte Investoren“ aus dem Jahr 2001. Von Ende 1996 bis Ende 1997 wurde über eine bevorstehende Übernahme der MCI Communications, damals eines der größten Telekommunikationsunternehmen weltweit, durch WorldCom spekuliert. Das Tickersymbol für MCI Communications, also das Kürzel, mit dem die Fondsgesellschaften und andere institutionelle Investoren Aktien beim Kauf und Verkauf bezeichnen, war zu diesem Zeitpunkt MCIC. Mit ähnlichem Kürzel, nämlich MCI, wurde ein geschlossener Fonds namens Massmutual Corporate Investors ebenfalls an der Wall Street gehandelt. Der Fonds investierte in Unternehmensanleihen. Die beiden Wertpapiere MCIC, die riskante Telekommunikationsaktie, und MCI, der Fonds, der in Unternehmensanleihen investiert, haben nichts miteinander gemeinsam – bis auf eine erstaunlich parallele Entwicklung der Wertpapierkurse. Bei wichtigen Nachrichten, welche die mögliche Übernahme von MCIC durch WorldCom betrafen, wurde der Kurs des Anleihefonds MCI massiv beeinflusst. Offensichtlich führte eine zufällige Verwechslung dazu, dass der Kurs des Anleihefonds wesentlich beeinflusst wurde! WorldCom kaufte MCI Communications erst 1998 und firmierte anschließend unter MCI WorldCom. Heute gehört MCI Communications zu Verizon, einer der größten US-amerikanischen Telefongesellschaften. Die präzise Prognose von Kursen einzelner Aktien ist ein sinnloses, nicht lohnenswertes Unterfangen, das zeigen die Beispiele. Kursrelevante Ereignisse sind nicht vorherzusehen, denn wir wissen nicht, was morgen passiert. Selbst Ereignisse, die offensichtlich in keinerlei Verbindung mit einem Unternehmen stehen, können den Kurs der Aktie dieses Unternehmens beeinflussen. Aber wie sollten Sie als Leser vorhersehen können, wann und wie Anleger auf Nachrichten reagieren oder wann sie bestimmte Aktien miteinander verwechseln? Sie ahnen, dass auch dies unmöglich ist. Noch abstruser erscheint die Idee, Kurse vorherzusagen, wenn obendrein ins Kalkül gezogen wird, dass es plötzliche Ereignisse wie Terroranschläge (wie am 11. September 2001 in den USA) oder Naturkatastrophen gibt. Vom 11. September waren alle Aktien oder Aktienmärkte negativ betroffen. Ein solches Ereignis sowie der damit einhergehende Einbruch der Kurse an Aktienmärkten sind nicht zu prognostizieren. (In der Wissenschaft werden solche Risiken als systematisch klassifiziert. Gemeint ist damit, dass alle Aktien von diesen Risiken in mehr oder weniger gleichem Ausmaß betroffen sind.) Die Beispiele geben Anlass zu der Vermutung, dass Aktienkurse nicht sicher vorhersagbar sind. Sie folgen vielmehr „einem individuellen 90 „Vertrauen Sie niemandem ...“ Zufallspfad“, wie es die Finanzmarktforschung formuliert. Einen Beweis für diese Behauptung erbringen die Beispiele allerdings nicht. Diesen liefert erst die Wissenschaft, die dazu statistische Eigenschaften von Finanzmarktzeitreihen, also von Charts von Aktien oder Aktienindizes, untersucht. Die Statistik zeigt: Aktienkurse und Aktienrenditen sind zufällig Im Folgenden werden wissenschaftliche Konzepte dargestellt, die hilfreich sind, wenn Sie mit einschlägigen Medienberichten oder mit Anlageempfehlungen wie „Die Bayer Aktie steigt bis zum Jahresende auf 40 Euro“ besser, das heißt informierter und kritischer, umgehen wollen. Zu den wissenschaftlichen Konzepten, die Anleger nutzen können, um objektiver zu entscheiden, gehören 1. statistische Eigenschaften von Aktienzeitreihen, 2. die Markteffizienz und 3. die Rendite und Renditeverteilung. Die Wissenschaftler entzaubern aber auch Praktikerkonzepte wie die Chartanalyse. Die Analyse eines Kurscharts hilft nicht viel Ob Kursentwicklungen nun zufällig sind oder nicht, lässt sich in einem ersten Schritt durch einen Blick auf die drei Zeitreihen erahnen, die in Abbildung 1 dargestellt sind. Nur eine der drei Linien entspricht tatsächlich dem Dax von 1990 bis 1994, die beiden anderen sind schlechte Faksimiles, von Statistikern mittels Zufallsgeneratoren ausgewürfelt und damit per Zufall bestimmt. Erkennen Sie mit bloßem Auge, welche Zeitreihe „echt“ ist? (Die Auflösung finden Sie am Ende dieses Kapitels.) Ehrlicherweise werden Sie wohl mit „Nein“ antworten müssen, es sei denn, Sie haben ein phänomenales Gedächtnis und erinnern sich genau an den Kursverlauf des Dax von 1990 bis 1994. Oder Sie schummeln und legen über unsere Grafik einen historischen Dax-Chart. Da es offensichtlich schwer ist, mit bloßem Auge den „echten“ Kursverlauf zu identifizieren, stellt sich nunmehr die Frage, ob nicht vielleicht die Wissenschaft mit einem eindeutigen Ergebnis weiterhelfen könnte. Die Antwort lautet Nein. Auch komplizierte statistische Methoden führen zu keinem eindeutigen Resultat. Der Dax-Chart und das Ergebnis von Zufallsprozessen unterscheiden sich nicht, also müssen alle drei „Vertrauen Sie niemandem ...“ 91 Charts auch auf ähnliche Weise erzeugt worden sein, so die Logik. Und diese ähnliche Weise heißt: per Zufall. Der Grund dafür, dass auch eine individuelle Aktienmarktzeitreihe auf diese Art und Weise zustande kommt, ist Ihnen bereits bekannt: Der Kursverlauf einer Aktie oder eines Index folgt im Wesentlichen einem Zufallspfad, und diesem kommt auch die Wissenschaft nicht auf die Spur. Informationen, die Kurse machen Aktienkurse schwanken von Tag zu Tag, ja sogar von Minute zu Minute. Die Finanzmarkttheorie sagt, dass der Preis oder Kurs einer Aktie dem heutigen Wert aller zukünftigen Erträge entsprechen sollte. Mit anderen Worten: Ein Aktionär sollte in der Zukunft genau den Wert der Aktie, der dem Kaufpreis entspricht, in Form von Gewinnausschüttungen des Unternehmens sowie eventuell des Erlöses bei Liquidation der Gesellschaft zurückerhalten. Da diese zukünftigen Erträge nicht sicher vorhergesagt werden können, spiegeln sich im aktuellen Aktienkurs immer die zum aktuellen Zeitpunkt erwarteten Erträge wider. Im optimalen Fall, den die Theorie „informationseffizienten Kapitalmarkt“ nennt, fließen in diese Erwartungen alle Informationen ein, die es aktuell zu einer Firma gibt. Dazu gehören, wie schon angedeutet, der Ölpreis, das Wirtschaftswachstum, Zinssätze, Wechselkurse, der Branchenausblick, aber auch die aktuelle politische Lage und geplante Gesetzesänderungen sowie Unternehmensnachrichten. Die Finanzmarkttheorie systematisiert diese Informationsfülle in drei Kategorien. Die Informationsstufe eins ist simpel, sie umfasst die Kursverläufe in der Vergangenheit. Zu diesen hat jeder Zugang, sie sind für alle gleich und leicht nachzuvollziehen. Auf Stufe zwei wird es etwas komplizierter: Die Anleger wissen deutlich besser Bescheid, bei ihren Entscheidungen berücksichtigen sie nicht nur frühere Kursverläufe, sondern zusätzlich alle öffentlich zugänglichen Informationen wie Unternehmensbilanzen oder Zeitungsartikel. Informationsstufe drei setzt in Gestalt von Insiderinformationen noch eins drauf. Zu den Insidern gehören vor allem die Vorstände von Unternehmen. Insider sind „Eingeweihte“. Beispielsweise sind die vom Vorstand geplanten Investitionsentscheidungen bis zu einem gewissen Zeitpunkt nur ihnen als Angehörigen eines kleinen Kreises bekannt. Und in dem Moment, in dem die Information an die Öffentlichkeit gelangt, verliert sie ihren Status als Insiderinformation. Basierend auf diesen drei Definitionen, wurde der Begriff „Markteffizienz“ präziser definiert: 92 „Vertrauen Sie niemandem ...“ „Vertrauen Sie niemandem ...“ Nov. 94 Dez. 94 Nov. 94 Nov. 94 Mai 94 Aug. 94 Mai 94 Feb. 94 Feb. 94 Feb. 94 Aug. 94 Nov. 93 Nov. 93 Nov. 93 Mai 94 Aug. 93 Aug. 93 Aug. 93 Aug. 94 Feb. 93 Mai 93 Nov. 92 Nov. 92 Nov. 92 Feb. 93 Aug. 92 Aug. 92 Aug. 92 Mai 93 Mai 92 Mai 92 Mai 92 Feb. 93 Feb. 92 Feb. 92 Mai 93 Nov. 91 Nov. 91 0 Feb. 92 20 Aug. 91 40 Aug. 91 60 Nov. 91 80 Aug. 91 100 Mai 91 120 Mai 91 0 Mai 91 20 Feb. 91 40 Feb. 91 60 Feb. 91 80 Nov. 90 100 Nov. 90 120 Nov. 90 120 100 80 60 40 20 0 Abbildung 1: Drei Zeitreihen 93 1. Schwache Markteffizienz: Aus den Kursverläufen der Vergangenheit kann nicht auf Gegenwart und Zukunft geschlossen werden. 2. Mittelstarke Markteffizienz: Alle öffentlich zugänglichen Informationen sind bereits im Kurs enthalten. 3. Starke Markteffizienz: Alle öffentlich zugänglichen Informationen inklusive Insiderinformationen sind bereits im Kurs enthalten. Der Wirklichkeit am nächsten kommt die sogenannte mittelstarke Markteffizienz, sie ist am plausibelsten. Denn es ist intuitiv einleuchtend, dass ein Vorstand Entscheidungen treffen kann, die den Kurs in der Zukunft wesentlich beeinflussen werden, noch nicht aber zum Zeitpunkt der Entscheidung. Präziser muss es also heißen: In einem „effizienten Kapitalmarkt“ fließen in die Erwartungen über zukünftige Erträge alle öffentlich zugänglichen Informationen ein, die es aktuell zu einer Firma gibt, diese Informationen sind mithin im aktuellen Kurs enthalten. Aktienkurse ändern sich also nur, wenn neue, noch unbekannte Informationen auftauchen und veröffentlicht werden, die Nachrichten von gestern hingegen sind in den Kursen schon enthalten. Darüber hinaus kommt es vor, dass Kurse von irrelevanten Informationen beeinflusst werden, wenn zum Beispiel, wie weiter oben beschrieben, eine Aktie mit einer anderen verwechselt wird. Solche Ereignisse oder „Nicht-Informationen“ treten völlig unerwartet auf – und das heißt auch: völlig zufällig. Die Folge ist, dass sich auch Aktienkurse völlig zufällig entwickeln. Zu betonen ist hierbei, dass nicht die Börse an sich für die Zufälligkeit verantwortlich ist. Das Leben würfelt, nicht die Börse. Die Börse ist nicht mehr als ein Spiegelbild des realen Lebens. Die Zufälligkeit von Aktienrenditen Bis jetzt haben wir lediglich die Kursverläufe von Aktien diskutiert. Im Folgenden schauen wir uns zur Bewertung des Anlageerfolges die Entwicklung der Gewinne mit Aktien an. Im Mittelpunkt stehen dabei empirische Forschungsergebnisse zur Rendite, das ist die relative Kursveränderung eines Papiers. Eine einfache Möglichkeit, über die Entwicklung einer Aktie nachzudenken, besteht darin, sich die Renditeentwicklung wie folgt vorzustellen: Die Rendite am morgigen Tag wird zufällig generiert, quasi „ausgewürfelt“ oder wie ein Los gezogen, wobei extreme Renditeausschläge eher selten vorkommen werden. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass die Rendite einer Aktie an einem beliebigen Tag aus einer vorgegebenen „Verteilung“ stammt, aus der gezogen wird. Eine Verteilung gibt an, wie häufig bestimmte Ausprägungen einer Größe vorkommen. Bei94 „Vertrauen Sie niemandem ...“ spielsweise entstammt auch die Körpergröße der deutschen Männer einer bestimmten Verteilung. Sammelt man die Körpergrößen aller deutschen Männer, dann stellt sich wohl heraus, dass die meisten deutschen Männer ungefähr 1,80 Meter groß sind. Männer, die kleiner als 1,70 Meter oder größer als 1,90 Meter sind, sind seltener zu finden; Männer unter 1,50 Meter und über 2,10 Meter sind äußerst selten. 700 600 Häufigkeit 500 400 300 200 100 5,15% 2,16% -0,84% -3,83% -6,82% -9,82% -12,81% 0 Rendite Abbildung 2: Verteilung der täglichen Dax-Renditen, Januar 1988 bis April 2006 Mit der Verteilung der täglichen Dax-Renditen, die Abbildung 2 zeigt, ist es ähnlich wie mit großen und kleinen Männern: Extremwerte sind selten. Die empirische Verteilung der mehr als 4.500 täglichen Dax-Renditen von Januar 1988 bis April 2006 hat die Eigenschaft, dass extreme Renditeausschläge, wie beispielsweise Renditen von +5 Prozent oder -5 Prozent, seltener sind als tägliche Renditen von zum Beispiel +1 Prozent. Der Durchschnitt ist mit etwa 0,05 Prozent pro Tag leicht positiv. Aufgrund der langen Zeitreihe und der Konstanz dieser Daten in der Vergangenheit ist zu vermuten, dass die Renditeverteilung des Dax künftig ähnlich aussehen wird. Abbildung 2 gibt nur einen Überblick über die Verteilung der tatsächlichen vergangenen Eintagesrenditen des Dax und nicht über deren zeitliche Abfolge. Es bleibt die Frage, ob eventuell die heutige Rendite eines Papiers etwas über die Rendite von morgen aussagt. Steigt eine Aktie am nächsten Tag eher, wenn sie auch heute steigt? Dieser Frage widmen wir uns im Folgenden. „Vertrauen Sie niemandem ...“ 95 10,00 % 5,00 % 0,00 % -5,00 % Januar 2006 Januar 2005 Januar 2004 Januar 2003 Januar 2002 Januar 2001 Januar 1999 Januar 1998 Januar 1997 Januar 1996 Januar 1995 Januar 1994 Januar 1993 Januar 1992 Januar 1991 Januar 1990 Januar 1989 Januar 1988 -15,00 % Januar 2000 -10,00 % Abbildung 3: Zeitreihe der täglichen Dax-Renditen, Januar 1988 bis April 2006 Abbildung 3 zeigt die entsprechende Zeitreihe der täglichen Dax-Renditen von Januar 1988 bis April 2006. Aus ihr wird ersichtlich, ob auf positive Renditen eher wieder positive Renditen folgen oder doch eher negative. Die Zeitreihe ähnelt einer Kurszeitreihe, allerdings gibt sie nicht das Kursniveau, sondern die Veränderungen (sprich Renditen) wieder. Ein Blick auf die Zeitreihe vermittelt den Eindruck, dass die Abfolge der Renditen völlig zufällig ist. Es sind keine Regelmäßigkeiten zu entdecken. Eine Rendite heute lässt keine Schlüsse über die Rendite morgen zu. In den erfassten 18 Jahren sind etwa 2.450 Tagesrenditen positiv und etwa 2.150 Tagesrenditen negativ. Dies bedeutet, dass der Dax eher gestiegen als gefallen ist. In etwa 1.300 Fällen folgt auf eine positive Rendite eine weitere positive Rendite. In 1.150 Fällen folgt dagegen eine negative Rendite. Der Umstand, dass es im Betrachtungszeitraum etwas mehr positive als negative Tagesrenditen gab, lässt den folgenden Schluss zu: Die nächste Rendite wird völlig zufällig, quasi per Münzwurf mit gleicher Wahrscheinlichkeit, aus dem Topf mit den 2.450 positiven Tagesrenditen und dem Topf mit den 2.150 negativen Tagesrenditen gezogen. Das Verhältnis von 2.450 zu 2.150 entspricht auch in etwa dem von 1.300 zu 1.150. Wenn also Aktien hin und wieder einige positive Renditen in Folge aufweisen und damit eine sogenannte Kursrallye hinlegen, so ist dies reiner Zufall. Die dargestellten empirischen Gesetzmäßigkeiten gelten nicht nur für Aktien und andere Wertpapiere, sondern auch für die Entwicklung der Preise von Rohstoffen wie Gold oder Schweinebäuche. 96 „Vertrauen Sie niemandem ...“ Wieso glauben wir trotzdem an Vorhersagbarkeit? Erkenntnisse aus der Psychologie „Zu wissen, dass wir nur wissen, was wir wissen, und dass wir nicht wissen, was wir nicht wissen, das ist wahres Wissen“, bemerkte bereits Konfuzius. Weitverbreitet ist diese Erkenntnis allerdings nicht, wie zahlreiche Untersuchungen von Psychologen nahelegen. Individuen scheinen permanent zu überschätzen, was sie eigentlich wissen. Und auch im Vergleich mit anderen halten sie sich meistens für besser. „Wie schätzen Sie Ihr Fahrkönnen ein?“, fragte man Autofahrer. Rund 80 Prozent der Befragten wähnten sich unter den besten 30 Prozent. Im Rahmen von Entscheidungssituationen kann eine solche Überschätzung von Kenntnissen oder Fähigkeiten dazu führen, dass wir Menschen von einer zu hohen Erfolgswahrscheinlichkeit unserer Entscheidung ausgehen. Amerikanischen Unternehmensgründern wurde die Frage gestellt: „Wird Ihr Unternehmen in fünf Jahren noch existieren?“ 81 Prozent der Befragten glaubten, eine Überlebenschance von mindestens 70 Prozent zu haben. Tatsächlich aber liegt ihre Überlebenschance nur bei 25 Prozent, wie eine entsprechende empirische Studie belegt. Eine ähnliche Selbstüberschätzung, was die Prognose ihrer Ergebnisse betrifft, findet sich bei Fondsmanagern und anderen Finanzmarktprofis. Dieses Phänomen der Selbstüberschätzung wird in der Psychologie als Overconfidence Bias bezeichnet. Im Finanzmarktkontext führt der Overconfidence Bias dazu, dass viele Investoren bei ihren Aktienkursprognosen von einer zu engen Schwankungsbandbreite ausgehen. Wenn sie obendrein in maßloser Selbstüberschätzung auch noch glauben, die Zukunft ziemlich präzise vorhersagen zu können, kommen objektiv falsche Anlageentscheidungen zustande. Wir haben gesehen, dass die Aktienkursverläufe von einer schier unbeherrschbaren Informationsfülle beeinflusst werden. Die meisten Privatanleger glauben aber, dass sie in der Lage sind, diese Informationen besser als andere Finanzmarktteilnehmer auszuwerten und folglich diejenigen Aktien zu identifizieren, die sich in Zukunft am besten entwickeln werden. Leider überschätzten sie sich an diesem Punkt. Profis haben bessere Karten. Wenn es darum geht, an gute Informationen heranzukommen, sind sie Privatanlegern voraus. Obendrein gibt es kursrelevante Ereignisse wie den 11. September, die von keinem Menschen prognostiziert werden können. Diese Ereignisse treffen Profis und Private gleichermaßen. Dass die Profis besser informiert sind, lässt sich nicht leugnen. So haben die Heerscharen von Aktienhändlern bei den Großbanken Zugang zu „Vertrauen Sie niemandem ...“ 97 aktuellsten Datenbanken mit allen nur erdenklichen Informationen, dazu arbeiten sie mit Super-Computern, die diese Informationen auswerten können. Obendrein werden sie von einer Armada von Aktienanalysten unterstützt, die auch kleine Nebenwerte intensiv analysieren, zum Teil mit Besuchen vor Ort, bei denen sie sich Fabrikhallen ansehen oder mit dem Management reden. Wenn Aktienkurse tatsächlich prognostiziert werden könnten, dann wären dazu mit Sicherheit eher die Profis in der Lage als die Kleinanleger, die mit Anlegermagazin und Internetanschluss laborieren. Ein Privatanleger ist der Finanzwelt, die mit einem Informationsvorsprung gesegnet ist, hoffnungslos unterlegen. Glaubt er dies nicht, dann haben wir es mit einem weiteren Fall von Overconfidence zu tun. Aber wieso kommen Privatanleger auch dann nicht zu dieser Einsicht, wenn sie sich geraume Zeit mit Misserfolgen herumgeschlagen haben? Der Grund liegt in einem weiteren Phänomen, das die Psychologie den Hindsight Bias nennt. Gemeint ist die Neigung vieler Menschen, das zu überschätzen, was sie vor einem Ereignis darüber gewusst oder geahnt haben. „Das habe ich doch genau so kommen sehen!“, hört man allzu häufig. Doch erinnert sich der Kandidat noch genau an das, was er damals gedacht hat? Schauen Sie sich das folgende Beispiel an. Es zeigt den Kursverlauf der BASF-Aktie im Jahre 2001. Deutlich zu sehen ist der Einbruch des Kurses nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Etwa zehn Tage danach erreichten die deutBASF-Chart 2001: Was war Ihre Prognose? 60 50 40 30 20 10 11. September 2001 01.12.2001 01.11.2001 01.10.2001 01.09.2001 01.08.2001 01.07.2001 01.06.2001 01.05.2001 01.04.2001 01.03.2001 01.02.2001 01.01.2001 0 Abbildung 4: Chart der BASF-Aktie im Jahr 2001 98 „Vertrauen Sie niemandem ...“ schen Aktien, auch die BASF-Aktie, ihren Jahrestiefststand. Bis zum Jahresende jedoch erholten sich die Papiere wieder nahezu vollständig. Haben Sie damals erwartet, dass deutsche Aktien so schnell wieder steigen? Haben Sie wirklich gedacht, dass die Terroranschläge nur einen derart kurzfristigen Effekt auf die Wirtschaftswelt haben werden? Oder andersherum gefragt: Haben Sie kurz nach dem 11. September 2001 massiv Aktien gekauft? Oder fürchteten Sie nicht vielmehr – wie viele andere Menschen auch – weitere Anschläge und Krieg? Das Beispiel zeigt, dass wir im Nachhinein den Verlauf der Aktien nach dem 11. September für gar nicht so unplausibel und überraschend halten. Aber kurz nach dem 11. September 2001 sah das noch anders aus – wir erinnern uns nur nicht mehr richtig daran. Der Hindsight Bias ist ein wesentlicher Grund dafür, dass wir aus der Vergangenheit zu wenig lernen. Überspitzt formuliert könnte man sagen, dass wir noch nicht einmal die Notwendigkeit sehen, aus der Vergangenheit zu lernen, denn wir glauben ja, es ohnehin gewusst zu haben. Dieses Phänomen paart sich mit der Tatsache, dass wir uns eher an vergangene Erfolge erinnern als an Misserfolge. Es ist intuitiv einleuchtend und durch zahlreiche Untersuchungen belegt, dass wir unsere Erfolge eher den eigenen Fähigkeiten als äußeren Einflüssen zuschreiben, während wir die Verantwortung für Misserfolge anderen Faktoren zuschieben. Dies dient der Aufrechterhaltung unseres Selbstbewusstseins. Hinzu kommt, dass wir oft unsere Möglichkeiten überschätzen, auf das Ergebnis einer Entscheidung Einfluss zu nehmen. Die Psychologen nennen diese Einstellung „Kontrollillusion“. Wie daraus Overconfidence entstehen kann, zeigt das Beispiel eines Unternehmers, der ein neues Multimedia-Handy entwickelt hat und dieses nun am Markt einführen will. Ob aus der Produkteinführung ein Erfolg oder ein Flop wird, hängt zum einen von den Fähigkeiten und dem Einsatz des Entrepreneurs ab, zum anderen aber von weiteren Faktoren, wie etwa dem Verhalten der Konkurrenz oder von Nachfrageschwankungen. Überschätzt nun der Unternehmer seinen Einfluss auf den Markterfolg, unterliegt er der Kontrollillusion: Sein hoher Arbeitseinsatz bringt nicht so viel, wie er glaubt. Und gleichermaßen überschätzt er die Erfolgschancen der Produkteinführung. Im Zeitablauf kann daraus zusätzlich Overconfidence entstehen. Stellen Sie sich vor, die Einführung des Handys würde zum Flop, der sich zumindest teilweise auf die mangelnden betriebswirtschaftlichen Kenntnisse des Unternehmers zurückführen lässt. Schreibt er diesen Misserfolg zu 100 Prozent externen Faktoren zu, wird er zuversichtlich an sein nächstes Projekt gehen und dessen Erfolgschancen wieder überschätzen. „Vertrauen Sie niemandem ...“ 99 Der gleiche Effekt wird sich einstellen, wenn der Unternehmer einen Erfolg zu 100 Prozent seinen vermeintlich guten betriebswirtschaftlichen Kenntnissen zuschreibt. Hat er ein paar Mal nacheinander Erfolg gehabt, glaubt er, dass seine Kenntnisse viel weiter reichen, als dies tatsächlich der Fall ist. Wer die Ursachen für Erfolge oder Misserfolge nicht richtig erkennt, läuft Gefahr, dem Overconfidence Bias zu unterliegen. Besonders groß dürfte diese Gefahr sein, wenn Menschen ein relativ ungenaues Feedback dazu bekommen, ob der Erfolg einer Entscheidung nun eher auf ihren eigenen Fähigkeiten oder aber eher auf externen Einflüssen beruht. Investitionen am Aktienmarkt spielen sich unter genau solchen Bedingungen ab. Betrachten wir wiederum ein Beispiel und nehmen wir einen Anleger, der weder Zeit noch Kosten gescheut und eine Unternehmensanalyse der Firma XY erstellt hat, weil er demnächst XY-Aktien kaufen will. Nun wird eine Nachricht veröffentlicht, die seine Recherchen bestätigt. In solchen Situationen überschätzt der Mensch die Qualität seiner ursprünglichen Einschätzung. Auch unser Investor fühlt sich sicher und kauft. Widersprechen dagegen die neuen Informationen seiner ursprünglichen Einschätzung, so neigt der Mensch dazu, diese Meldungen zu ignorieren oder zumindest stark herunterzuspielen. Höchstwahrscheinlich wird unser Anleger trotzdem kaufen. Auch diese Verhaltensweise dient der Motivation sowie der Selbstbestätigung. Sie kann von einem Menschen aktiv verstärkt werden. Wie häufig beobachtet wird, suchen Individuen nämlich eher nach Informationen, die ihre ursprüngliche Meinung bestätigen, als nach solchen, die diese widerlegen. Die Überschätzung der eigenen Meinung ist die Folge. Wer zum Beispiel einen Asien-Fonds hält, registriert jede schöne Meldung über Wachstumsmärkte. Die langweiligen Unternehmenspleiten hingegen werden lieber ignoriert. Eine weitere Ursache für Overconfidence ist die fehlerhafte Informationswahrnehmung und -verarbeitung. Beispielsweise neigen Menschen dazu, eine erste Information oder Einschätzung als „Anker“ zu nehmen, dann aber die mögliche Variation dieses Ausgangswertes im Lichte weiterer Informationen nicht genügend zu berücksichtigen. Doch viel tiefer als der Overconfidence Bias und seine Ursachen liegt beim Menschen die Abneigung gegen alles Zufällige verborgen; und damit auch die Verdrängung der Tatsache, dass die Entwicklung von Aktien zufällig ist. Der banale Spruch „Die Zukunft ist unsicher“ bleibt zeitlos chic, aber niemand will ihn wahrhaben. Nehmen wir das Wetter von morgen. Wird es regnen oder nicht? Das können wir nicht wissen. 100 „Vertrauen Sie niemandem ...“ Die Meteorologen behelfen sich mit Wahrscheinlichkeiten. Sie sagen: „Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass es regnet, beträgt 10 Prozent.“ Was nun? Wird es regnen oder nicht? Werden Sie einen Schirm mitnehmen oder nicht? Das hängt von Ihren Vorlieben ab. Die Zukunft ist unsicher, das ist nicht zu ändern. Wir Menschen können nur lernen, den Umgang mit der Unsicherheit zu beherrschen. Und dies geht nur, wenn wir lernen, mit Wahrscheinlichkeiten umzugehen. Kommen wir zu unserem Regenbeispiel zurück: Der Meteorologe macht es richtig. Er wertet die aktuellen Wetterdaten anhand von Parametern wie Luftfeuchtigkeit, Luftdruck und Windrichtung aus. Aus der Analyse vergangener Daten weiß er, dass es bei der gegebenen Konstellation im Durchschnitt nur in einem von zehn Fällen am nächsten Tag zu Regenfällen gekommen ist. Damit beträgt die aktuelle Regenwahrscheinlichkeit für den Folgetag 10 Prozent. Empirische Untersuchungen belegen, dass Wetterexperten Regenwahrscheinlichkeiten perfekt vorhersagen können – besser als Ärzte Heilungschancen von Patienten oder Aktienanalysten den Erfolg von Aktien. Bei einer Regenwahrscheinlichkeit von beispielsweise 70 Prozent regnet es tatsächlich in sieben von zehn Fällen. Doch was heißt das für uns? Schirm, ja oder nein? Das hängt von uns persönlich ab. Selbst bei einer Regenwahrscheinlichkeit von nur 10 Prozent können wir nicht ausschließen, dass wir nass werden. Haben Sie also eine teure Frisur wie die amerikanische Politikerin und Ex-Präsidentengattin Hillary Clinton und darüber hinaus einen wichtigen Termin am Abend, dann sollten Sie den Schirm sicherheitshalber mitnehmen. Haben Sie eher eine Haarpracht wie der ehemalige Tennisspieler und Steffi-Graf-Gatte Andre Agassi und zudem keine Lust, einen Schirm mit sich herumzutragen, können Sie ihn zu Hause lassen. Und wenn es doch regnen sollte, ist es auch kein Beinbruch. Aktionäre gehen mit Ungewissheit und Wahrscheinlichkeiten nicht so unbefangen um. Am Aktienmarkt versuchen Menschen vielmehr, die Unsicherheit zu verdrängen, oder glauben gar, sie zu beherrschen. Allein schon vor diesem Hintergrund haben Prognosen wie „Ich sehe den Dax zum Jahresende bei 7.000 Punkten“ Konjunktur. Anleger vertrauen solchen Prophezeiungen und treffen deshalb irrationale und suboptimale Investmententscheidungen. „Vertrauen Sie niemandem ...“ 101 Fazit Wir haben gesehen, dass die Kursverläufe von Aktien oder Aktienindizes einem Zufallspfad folgen. Aktienkurse werden durch Ereignisse beeinflusst, die nicht vorhersagbar sind. Teilweise werden sie sogar durch völlig irrelevante Begebenheiten bestimmt. Eine Folgerung ist, dass Kursverläufe kein Gedächtnis haben. Die früheren Renditen einer Aktie sagen nichts darüber aus, ob das Papier morgen steigt oder fällt. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Die Kursverläufe von Aktien und Aktienindizes sind nicht prognostizierbar. Dies hat wesentliche Konsequenzen für den Erfolg der Chartanalyse, die auf der Idee beruht, man könne den Kurs eines Wertpapiers durch geschicktes grafisches Aufarbeiten vergangener Kursverläufe vorhersagen. Das aber ist logischerweise nicht möglich, denn wie soll ein Chart, der die Vergangenheit abbildet, zum Beispiel Informationen über Terroranschläge oder über Todesfälle im Zusammenhang mit Medikamenten antizipieren? Es ist für Anleger wichtig zu wissen, dass dies vor allem für einzelne Aktien gilt. Auf der Portfolioebene, also für eine Gruppe von hundert oder mehr Aktien, besteht doch eine minimale Möglichkeit der Vorhersage. Dies liegt daran, dass sich die Wirkungen guter und schlechter Nachrichten auf eine große Gruppe von Aktien untereinander aufheben. Eine Aktie wird durch ein unvorhergesehenes Ereignis positiv beeinflusst, eine andere durch ein anderes negativ. Das aber gilt nur, solange wir systematische Risiken ausschließen. Oder umgekehrt gesprochen: Ein Terroranschlag oder eine Naturkatastrophe lassen oft den ganzen Markt abstürzen, da rettet auch die Diversifikation in mehrere Papiere nicht. Kaum minder verbreitet und genauso unsinnig wie die Chartanalyse sind Punktprognosen oder Kursziele für Aktien. Solche Vorhersagen haben sich allerdings – der Vernunft zum Trotz – bei vielen Bankern und Analysten eingebürgert. Eine Prognose muss aber immer die Unsicherheit über die zukünftige Kursentwicklung zum Ausdruck bringen. Beispielsweise kann dies geschehen durch die Angabe von Intervallen, in denen der Kurs mit großer Wahrscheinlichkeit zu einem zukünftigen Zeitpunkt landen wird. Ein mögliches Intervall ist die historische Schwankungsbreite des Kurses. Beispielsweise lagen die täglichen DaxRenditen in der Vergangenheit mit 90-prozentiger Wahrscheinlichkeit, also in neun von zehn Fällen, ungefähr zwischen -2 Prozent und +2 Prozent. Liegt der Dax also heute bei 5.000 Punkten, so müssten wir ein vernünftiges Intervall, in dem der Dax morgen mit 90 Prozent Wahrscheinlichkeit stehen wird, mit 4.900 bis 5.100 Punkten angeben. Wohlgemerkt: Dies ist die Intervallprognose für den Dax mit einem Zeitho102 „Vertrauen Sie niemandem ...“ rizont von nur einem Tag! Ein entsprechendes Intervall für den Dax in einer Woche würde deutlich breiter ausfallen. Wer glaubt, den Dax präziser vorhersagen zu können, überschätzt sich. Bedenken Sie stets, dass am Aktienmarkt nur ein Denken in Schwankungsbreiten sinnvoll ist. Führen Sie sich stets vor Augen, dass eine Aktie unerwartet fallen oder steigen kann, was sich durch ein ausreichend breites Intervall der Kursprognose ausdrücken lässt. Auflösung zu Abbildung 1: Die letzte der drei Zeitreihen zeigt den Dax, die beiden anderen wurden per Zufall generiert. Fußnoten 1 Bei diesem Beitrag handelt es sich um das zweite Kapitel in dem Buch von Martin Weber, Genial einfach investieren. Mehr müssen Sie nicht wissen – das aber unbedingt! Campus Verlag, Frankfurt a.M./New York, 2007, S. 26–44. Wiederabdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Campus Verlags. „Vertrauen Sie niemandem ...“ 103 Abbildung 15: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Trust I Abbildung 16: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Trust II Trust: A Concept Too Many* Timothy W. Guinnane Abstract Research on „trust“ now forms a prominent part of the research agenda in history and the social sciences. Although this research has generated useful insights, the idea of trust has been used so widely and loosely that it risks creating more confusion than clarity. This essay argues that to the extent that scholars have a clear idea of what trust actually means, the concept is, at least for economic questions, superfluous: the useful parts of the idea of trust are implicit in older notions of information and the ability to impose sanctions. I trust you in a transaction because of what I know about you, and because of what I can have done to you should you cheat me. This observation does not obviate what many scholars intend, which is to embed economic action within a framework that recognizes informal institutions and social ties. I illustrate the argument using three examples drawn from an area where trust has been seen as critical: credit for poor people. … I maintain that trust is irrelevant to commercial exchange and that reference to trust in this connection promotes confusion. Oliver Williamson1 „Trust“ now forms a central part of the research program in many social science, history, and related disciplines. Foundations have programs on trust, scholars meet for conferences on trust, and efforts to build trust now feature as part of policy proposals in rich and poor countries alike. Analytically, trust is closely related to the concept of social capital, and the two ideas play similar political roles. In some policy circles trust is viewed as a sort of magic bullet: governments can allegedly ameliorate social problems with little or no money if they can foster the development of trust. Some scholars have cast a more critical eye on this enterprise. Sheilagh Ogilvie (2004a) argues that early-modern guilds used social capital to enhance the well-being of their members at the expense of a vulnerable Trust: A Concept Too Many 105 group of outsiders: women. Ogilvie (2004b) argues that the trust embodied in guilds impeded the development of institutions that might have benefited all. Others have pursued a line of critique that doubts the efficacy of concepts such as trust and social capital. In this essay I argue Williamson’s point: whatever its usefulness in other contexts, „trust“ adds nothing to the analysis of commercial or more broadly economic problems. At best, talking about trust requires the introduction of new and redundant terminology; at worst it impedes understanding by replacing a clearly worked-out body of theory with something else. Orthodox economics, according to Williamson, already contains the notions implied by trust. This is not to say those notions are perfect or adequate, it is just to claim that the use of the term trust in commercial contexts is a best unnecessary re-labeling and at worst the willful introduction of confusion. Many approving discussions of trust use empirical materials, but thus far most doubting discussions focus on conceptual issues, relying on empirical examples mostly to illustrate a point. Here I use a concrete set of empirical situations to argue my point that trust adds nothing that is both useful and new. I use the example of credit for poor people in the 19th and early 20th centuries in three circumstances: Germany, Ireland, and the United States. Credit institutions and credit problems have figured heavily in many discussions of social capital and trust. This is only natural. Most clear-headed discussions of trust stress that the concept only makes sense when one party risks something (eg, Gambetta pp.218-219). I lend you money today, and I hope that you will repay in the future. The very words used to describe lending imply trust. The Latin root of „credit“, credere, means, among other things, to trust, while the German Gläubiger is literally one who trusts. Many transactions take place as X for Y, almost simultaneously. The seller receives payment in one hand while giving over the goods with the other. Credit, by its nature, cannot take place this way. The creditor gives over funds today, and in so doing places himself at risk that the funds will not come back. The first section below briefly reviews some conceptions of trust. This discussion cannot exhaust the voluminous literature. The aim is to focus the discussion and provide some frames of reference for comparing „trust“ as it is used in the (primarily sociology) literature. We then turn to a discussion of credit for poor people in general, why it has been viewed as an important social problem, and why this type of credit is more problematic than credit for, say, publicly-traded firms. I then consider three examples of institutional approaches to the problem. One of them is Germany’s very successful credit cooperatives, first formed in the mid 19th century. The second is the unsuccessful attempt to transplant those credit cooperatives to Ireland at the end of the 19th 106 Trust: A Concept Too Many century. The third example is the United States in the same period, where similar institutions were weak, and leading reform organizations promoted an entirely different approach to the problem. Credit for poor people forms an especially useful example because of the tie to modern micro-lending institutions, enterprises that use novel approaches to lend to poor people in developing countries (and less often, in wealthy countries). Scholars disagree over the extent to which these institutions work, and if so, why. The connections to the German credit cooperatives are indirect but clear, and the role of trust and social capital in small-scale credit permeates the scholarly literature.2 Conceptions of trust Our aim here is to focus the notion of trust enough to show that it is, for our purposes, fully achieved with ideas already current in economics and other social-science disciplines.3 We can usefully lean on Hardin’s very clear discussions. Hardin notes that „encapsulated interest“ accounts of trust, which include Williamson’s, are fundamentally different from discussions of trust in two other situations. First, trust is not an interesting concept in situations where the person I trust views my welfare as important to her own. (that is, where my utility is a highlyweighted argument in her utility function). In such situations treating her well cannot be distinguished from treating myself well. Second, some individuals always do the right thing because in their mind not doing so risks the wrath of God. Again, if this is the case then the individual behaves honorably simply out of fear for his own future, be that earthly or in the afterlife. Trust implies a three-part relationship involving at least two actors and one act: I trust specific individuals or specific institutions to do specific things. I might trust my friend with $100 but not $1.000; there are other people I would trust with more, and some I would not trust with anything. A claim that I would trust any individual with everything borders on absurd, as does the claim that I would trust everyone with any one thing. An assumption to this effect underlies much of the empirical work done in this area, however, and renders meaningless some of the claims about patterns of trust today. Mackey (2001), for example, makes much of the responses to the following Eurobarometer question: „I would like to ask you a question about how much trust you have in people from various countries. Please tell me whether you have a lot of trust, some trust, not very much trust, or no trust at all.“ No statistical analysis of this question can produce a useful result. Are the French being asked whether they trust the Germans not to invade, or to Trust: A Concept Too Many 107 be polite on the Autobahn? Which German are the French being asked to trust – Joschka Fischer, or some composite football lout?4 Much of the literature on trust that talks about declining trust in institutions misses this simple point. Consider the idea of trust in government. I trust my government with my tax money but not my son’s life, both because I care less about my money than about my son, and because the institutions that prevent government corruption appear to function better than those that prevent my government from starting wars. Asking someone whether she „trusts the government“ can only elicit a meaningless answer. Many discussions of trust confuse or conflate trust with trustworthiness. There is an important analytic difference. In our context what we really want to know is not whether the lender is a trusting person, but whether the borrower can be counted upon to repay. Most of what observers call problems of trust are actually problems in the trustworthiness of specific actors. Not trusting someone who is untrustworthy is not pathological, it is simply rational. Hardin gives the illuminating example of the medical professional. Many discussions presume that declining trust in doctors reflects some general and pernicious process in the society at large. Perhaps this is so. But perhaps doctors have simply become less trustworthy, or, more likely, they were never so trustworthy but now we know more about them. Trust as a moral or psychological problem Most of the accounts of trust to which I object share the feature of treating trust as a moral or psychological issue, and the lack of trust as a moral or psychological failing.5 This essay should not be read to deny any moral or psychological component to the issue, or to issues closelyrelated to the commercial sense of „trust.“ But we must avoid erring on the side of locating what is essentially an institutional failure within the heads of actors whose own views may well be irrelevant. Muldrew (1988)’s discussion of commercial transactions in early-modern England makes a powerful argument that the framing notions of commercial trust grew out of a more strictly moral vocabulary. His closely-reasoned and deeply-research work has few counterparts, unfortunately. Most5 empirical studies fail to distinguish between the lack of trust as a problem of what goes on inside people’s heads and a problem concerned with the institutional context within which one acts. Modern credit institutions lend millions of dollars to entities whose moral qualities are to them opaque; the lenders count on an institutional structure of information-gathering and legal enforcement to make even „immoral“ borrowers repay. 108 Trust: A Concept Too Many A simple example illustrates how empty the „trust as sentiment“ approach can be. Consider a large financial institution in the United States that can lend domestically or to firms in several different countries. We might observe that it simultaneously lends in situations where one might think trust was very high (eg, Germany) and very low (eg, Russia). Presumably the Russian loans have higher interest rates and might be structured differently. But the key issue is that the bank does not care about Russian personalities or whether Russia is a „high-trust“ society. The bank cares only that the loans can be structured and secured in such a fashion that it is likely to get its money back. The bank, that is, cares only about the specifics of institutions related to commercial loans. The sort of question Mackie (1991) analyzes might show that American banks are simultaneously lending in countries Americans find trustworthy and in countries whose people Americans trust very little. Trust as information and sanctions Suppose you and I have entered into a joint venture. We each made nonreversible investments in the project, and before it can pay off, we each have to make more investments. Along the way each of us has chances to act opportunistically („fink“) with respect to our venture. Opportunistic behavior here means that we take some action that is in our private interest but harms the eventual value of the venture. If one or both of us takes too many opportunistic actions, the venture will fail, and be worth nothing. As I have described it, trust is clearly central to the success of this venture. Yet I entered into this arrangement, which suggests I thought you would uphold your end. Why? Because I thought you would find it better, according to your own interest, to act honorably rather than opportunistically. This is adherence to Williamson’s dictum: psychological and cultural claims may not be irrelevant to commercial transactions, but rarely are they specific enough to tell us the answer to question of interest in our context. Invoking them at the outset tends to crowd out more useful lines of thought. Two simple notions get us very far: information and sanctions. How hard is it to learn that my partner did in fact fink on me? That is, how can I be sure we experienced a bad outcome because of his conduct, and not because of the weather or some other force beyond his control?6 Information is also related to sanctions. How can I punish you if you fink, which is to say deter you from finking in the first place? Is there a legal system capable of detecting and punishing bad conduct? Can I go Trust: A Concept Too Many 109 to some less formal authority – perhaps a village elder, or the leader of a kin group – and threaten a larger group for the conduct of its single member? This is one way to understand Ben-Porath (1980)’s observations about the importance of family connections in commerce, even in quite developed societies. Family members have multiple channels through which to collect information about one another, and can sanction each other effectively and cheaply in ways that might not affect the business connections directly, but which would be useful nonetheless. Perhaps my business partner does not care if I think badly of him, but does care if others think badly. That is, the most useful sanction might not be something I impose directly, or cause to be imposed directly (such as a court order), but my ability to damage his ability to carry on other commercial relationships that he values. Now take a step back. Both my partner and I know the situation in which we operate. That is, we both know the conditions under which our venture will succeed or fail, and we both know the institutional context in which we operate. We know what the court system is, whether there are nonlegal forms of sanctions, the state of the information environment, etc. I know (and he knows that I know …) what I can do if he finks. The fact that we have entered into such an agreement shows that we both think it will work. This understanding might just reflect the general environment. But it might reflect specific features that we have written into our agreement to make finking unattractive. If I find the potential punishments insufficient to deter my partner’s bad conduct, for example, I might demand in advance, as a condition of setting up the deal, additional guarantees. That is, I might ask him, as a condition of our venture, to increase the penalties he has to pay to me if he finks. I might not really want the penalties. I just want him to have the right incentives to act honorably. I might ask him, for example, to post a cash bond that he forfeits in case of bad behavior. This has the effect of raising the cost of bad behavior. Note that this analytical approach can also account for the role of reputation. Suppose I ask my partner to pledge a bond of $100.000 when the most he can gain from finking on me is $25.000. He has little reason to fink; forfeiting the bond costs him more than he can gain, in my example. Now forget the bond, but assume we live in a situation where I can easily communicate his dishonesty to many or all potential future business partners, and where he cannot do business without a partner. If he finks on me then he loses his reputation for correct conduct and cannot work in this line of business again. Forfeiting his reputation is like forfeiting the bond. This approach does not rule out all bad behavior, but does limit finking to two very clear situations. One is where the institution itself is insuffi- 110 Trust: A Concept Too Many cient, most likely because of new circumstances that make the old arrangements powerless to deter finking. This situation is implicit in many accounts where a traditional institution breaks down in the face of social changes that promote mobility or a more anonymous form of society. Another circumstance is simple bad luck. Suppose my partner has posted a $5.000 bond, and can only gain $1.000 through dishonest conduct. If he finks then I know it was beyond his control – given the parameters, it would never be in his interest to fink if he could avoid it. One uncomfortable implication of many game-theoretical models is that the principal must punish the agent for not performing correctly, even though the principal knows the agent only fails when failure is beyond the agent’s control.7 If the principal refrains from such punishment, then all other agents may stop performing. Note the implication of this for the „trust“ analysis. If some of the economic world is beyond the control of any actor, then we may observe „punishments“ even when the institutions deter bad conduct as much as they can. We should not equate the finding that there are some examples of finking with the claim that the institutions fail to generate honest conduct. Now consider these issues in the context of a credit transaction. Suppose Smith lends Jones $100 for a year at 5 percent interest. Smith risks the opportunity cost of his money. The question is not whether Smith trusts all potential borrowers or would trust Jones with his children, his house, or his life. Smith just needs to think that Jones will come up with $105 in a year. Thus the interesting questions here are mostly about Jones and the institutional environment in which the two work. What is the chance that Jones will have the money? What legal sanctions can be applied, and at what cost, should Jones refuse to repay? What reason does Jones have to fear Smith’s bad opinion, should the debt go unpaid? What sanctions can Smith and Jones agree to, prior to the loan, that give Jones the right incentives to repay the debt? All of this is implicit, and sometimes explicit, in the game theory and information economics that now dominates most related discussions in economics. Given my argument it is curious that some of the most famous uses of such theory are often labeled parts of the „trust“ literature when, as noted here, they have little in common with it. This is true, for example, of Avner Greif’s analysis of the „coalition“ formed by Maghribi traders in the Mediterranean region in the 10th–12th centuries (Greif 1989, 1994). The point of the coalition is to make information more available and sanctions more effective, thus encourage honest behavior. Greif actually explicitly denies an interpretation that would stress the moral qualities of those involved (1989, pp.862– 863). Trust: A Concept Too Many 111 Note what we have not assumed. Our hypothetical partners care about the institutional context in which they live. They may be atoms, as in all orthodox economic theory, but the social context still matters. And nothing in what we have said requires perfect information about each other or anything else.8 The problem of credit for poor people To see what „trust“ can or cannot tell us about credit for people, we explore three different settings in the second half of the 19th century and early 20th centuries. The first, Germany, is justly famous for an institutional solution to the problem of providing credit for the poor. Germany’s credit cooperatives thrived in that country and became the model for similar institutions in many other places. In the second, rural Ireland, reformers tried to transplant German credit cooperatives without success. Although based on the German model and supported by a variety of private and governmental organizations, Irish credit cooperatives stagnated after their inception in 1894. Third, we turn to the United States, where institutional attempts to provide credit to poor people have been based on different models and have never worked as well as advocates hoped. In each circumstance our purpose is to ask what trust can teach us about the success or failure of an institution that the economics of sanctions and information cannot. The idea that credit in particular, or financial services more generally, is a serious part of the problem of poverty goes back at least to the late 18th and early 19th centuries. At that time social reformers in Europe began to advocate specialized savings institutions for poor people. The twin motivations were to inculcate in the poor habits of thrift, which were thought to promote a more forward-looking, settled lifestyle, and to encourage poor people to build up savings as buffers against the irregular incomes and vicissitudes that were their lot. The larger motivation was to reduce the fiscal burden of poverty by helping the poor to help themselves. One outgrowth of this thinking was the savings-bank movement that started in many European countries in the early 19th century.9 By the mid-19th century reformers in several European countries had identified credit as a more serious and vexing issue. Today economists and others tend to stress poor people’s need for credit as a way to manage irregular incomes and shocks such as unemployment and illness. Most 19th-century advocates stressed instead productive loans, implicitly accepting the view that loans for consumption purposes were to be avoided. Low-cost credit, it was thought, would reduce the operating 112 Trust: A Concept Too Many costs of enterprises such as farm, small producers, and shops, and also allow working-class people to acquire their own independent means. Credit for poor people was and remains problematic because the information and sanctioning mechanisms used to support other loans do not work as well for loans to the poor. Most loans to poor people are relatively small, meaning that any fixed costs of investigation, monitoring, or enforcement are large relative to the loan. Poor people may also be problematic borrowers for other reasons, such as an unsettled lifestyle and irregular incomes. But the basic reason is that most poor people lack assets that are useful collateral to a lender. Collateral serves as an information device. Individuals who risk their own assets will not apply for a loan if they do not expect to be able to repay it, and once they have a loan, will take care to make payments. Collateral also serves as a way to enforce loan terms. If the borrower does not repay, then the lender can seize the collateral. Most lending institutions require collateral that the poor, by definition, lack. Pawnshops, which have long been reviled for their high interest rates, amount to an effort to lend on the basis of the only collateral that most poor people own: clothing, simple household articles, etc.10 Germany’s credit cooperatives The stress on credit issues was not confined to Germany, but Germany witnessed the first large-scale, institutional flowering of this concern.11 The credit cooperatives that thrive in Germany today owe their origins primarily to three groups in the 19th century. The mid-19th century was a period of rapid economic change in Germany. Occupational freedom and increasing intra-German and international competition meant new challenges for farmers, artisans and small trades people. Two of the first branches of German cooperatives owe their existence to efforts to deal with these challenges. Hermann Schulze-Delitzsch (1808–1883) founded several primarily urban cooperative associations during the 1840s and 1850s. Friedrich Raiffeisen (1818–1888) operated in rural areas, and was at first an imitator of Schulze-Delitzsch. He later broke with SchulzeDelitzsch over ideological and organizational issues. The number of Raiffeisen cooperatives at first grew rapidly, but was later eclipsed by cooperatives affiliated with a group formed by Wilhelm Haas in the 1870s. Both the Raiffeisen and Haas cooperatives were primarily rural. The several groups of credit cooperatives advocated differences in internal organization and practice. But in many respects Germany’s credit cooperatives were all similar, in part because they were organized under common incorporation rules. After 1889 all new cooperatives were Trust: A Concept Too Many 113 registered under a Reich law. Each had to have two management organs, an Aufsichtsrat and a Vorstand. Both organs were elected by the membership. The Vorstand made credit decisions and supervised the treasurer. The treasurer (Rechner or Rendant) was formally a bookkeeper but by virtue of his position often assumed a leading role in the organization. Most individual institutions held loans to members as their major asset. The nature of their liabilities constitutes one source of institutional variation. Rural cooperatives tended to have nominal member shares and at least at first funded their loan portfolios almost entirely from deposits. Depositors could be members, but many were not. Urban credit cooperatives tended to have larger member shares and were thus less reliant on external sources of finance. Cooperatives had the right to accept or reject new members. Similarly, the Vorstand could and did reject loan applications, or require better security or other changes in terms. Loan terms were a matter of discretion for each local institution. Rural cooperatives thought it was important to provide long-term credit, and usually did so, offering loans with durations of 10 years, 20 years, and even longer. Urban credit cooperatives were more concerned about liquidity and did not see their members as needing this kind of finance. Most urban cooperatives offered shorter loans, and in fact discounting bills of 30–60 days’ maturity was a common means of providing credit. Nearly all loans required some form of security. The most common form of security for rural credit cooperatives was at first simply a co-signer, although for larger loans it could be real property.12 The rural cooperatives especially amassed what seems like an astounding record of lending successfully to borrowers that other institutions had spurned. Default on individual loans was rare, and the failure of an entire credit cooperative was extremely rare. The credit they provided was as cheap as it was convenient: most credit cooperatives charged at most 1 percent more than the Reichsbank’s Lombard rate. Some charged fees in addition to interest, but these fees were always modest. For many of their borrowers, alternative sources of credit were either non-existent or limited to moneylenders and others who would demand much higher interest rates and shorter loan durations. This record has, not surprisingly caused some to invoke trust as an explanation. In fact, in a nice twist, Ute Frevert has interpreted my own writings on these cooperatives as a situation evincing trust.13 The fact that Germany’s credit cooperatives could make small loans that were secured by co-signers (who in most cases would not have been acceptable security to other lenders) invites this kind of interpretation. Rural credit 114 Trust: A Concept Too Many cooperatives saw it as important to deal only with people the managers and other members could know well. Some groups had formal rules that limited a single cooperative’s operations to a small district (such as a parish). Depositors, too, came mostly from the same area as the other members. This meant the institution was less well-diversified than it might want to be, but in return, it had another set of stakeholders who were both well-informed and interested in the institution’s future. Even in the absence of such a rule most members lived in or near a small village or perhaps a group of nearby villages. This ensured that actual and potential members knew each other well, and that all were easily cognizant of each other’s social and economic activities. This seems like precisely the environment that would evince high degrees of social capital.14 But is „trust“ the right way to think of the cooperatives’ success? Many of their practices suggest that the members did not trust each other. Consider the lending decision. The manuscript business records I have consulted suggest that the Vorstand considered all security with a jaundiced eye. Real property was sometimes judged to be too hard to sell to make useful security. More interestingly, proposed co-signers were sometimes rejected or deemed inadequate. An applicant might be instructed to keep one co-signer but get another one as well. Another example concerns the cooperatives’ internal management and recordkeeping. Far from a simple reliance on each other’s goodwill, the credit cooperatives demanded elaborate, formal internal controls. Just as in the very largest corporations of the day, the functions of the Aufsichtsrat and Vorstand were strictly separated, with the former acting as a sort of internal auditor for the latter, among other things. The most serious controls surround the activities of the treasurer. Most had some sort of financial bond, posted either by themselves or another member of the cooperative. They had to present summaries of their books at the monthly meetings of the Vorstand as well as to the Aufsichtsrat when it met, which was less often. None of this sounds like a situation in which everything worked fine because the good folk all shared the same values. In fact, it sounds like the sort of auditing and control systems that would make a large corporation proud – which was precisely what the cooperatives wanted. The external institutional controls were even more elaborate. In addition to the internal auditing and supervision, each credit cooperative had to undergo external audits. These had been a feature of some cooperative federations since the 1860s, but became mandatory with the 1889 law. Most cooperatives joined a special cooperative auditing association that hired and trained specialist auditors to inspect the cooperatives. These inspections were thorough and the reports sometimes harsh.15 Trust: A Concept Too Many 115 Pointing out these formal controls is not meant to deny that these institutions functioned differently from formal lenders, and were able to lend successfully in situations where other lenders could not. But the focus should be on the institutions, and how the institutions induced the behaviors that were needed for success. We could stand back and just say „trust,“ but this would teach us little about the cooperatives, the context, or how credit really works. Why did they work? My argument echoes a growing literature on the development of micro-lending in developing countries today. The credit cooperatives were not the same as most micro-lenders now. Today’s micro-lenders are usually not mutual organizations, as were the cooperatives, and modern micro-lenders usually offer different loan terms. The common theme, however, is that the cooperatives operated in environments where people (1) knew a great deal about each other and (2) could cheaply and easily impose sanctions on borrowers who might default on a loan or otherwise endanger the institution’s health. The information made it simple to determine who was a good risk (that is, who was a careful borrower) and to evaluate the quality of the cosigner(s), who were often the only security offered. The ability to rely on co-signers was especially important. Few loan applicants had assets suitable for a loan from a more formal financial institution, so being able to tell which borrower’s co-signer would ensure repayment was important to the cooperative’s ability to reach its clientele. The sanctions capability meant that borrowers thought carefully about taking a loan and were more cautious with its use. This saved the cooperative the expense of legal proceedings to enforce repayment. The cooperatives used this information and this capability to make low-cost loans to people who might otherwise be denied credit. Here we see precisely Williamson’s point: the cooperative members did not trust each other in the sense of feeling assured each would do the right thing just because they were good people. Far from it: they demanded explicit, written guarantees, formal bonds, and multiple controls as a condition of operating. Credit decisions were based on meaningful security (although, perhaps, security different from that usually acceptable to banks). This apparent paradox raises two questions in the context of the trust literature. First, would we characterize these credit cooperatives as operating in „high trust“ or „low trust“ environments? Their success might justify the former claim. But why then did they insist on all the institutional checks? Those checks could just as easily suggest a lack of „trust,“ if we followed much of the literature. But then it would be awkward to explain their lending patterns and success at difficult lending. We will return to this theme in the conclusion, but for now it is worth registering the sense that this apparent paradox reflects 116 Trust: A Concept Too Many a problem in the meaning of „trust“ as it is used – not in our understanding of the cooperatives. Second, do we learn anything by talking about „trust“ in the context of these loan contracts? Suppose Müller takes a loan from the cooperative, with Schmidt as his co-signer. The members of the cooperative Vorstand that made the credit decision have probably known Müller all their lives, and know his farm equally well. They can form judgements about his abilities as a farmer, and the likelihood of success for the project he wants to finance, based on that knowledge and their own knowledge of local conditions. They know just as much about Schmidt. Müller knows that if he defaults on his loan he will annoy Schmidt and likely be ejected from the cooperative, which would annoy the rest of his neighbors and be a bad public signal. Knowing all this, the cooperative makes the loans to people who it thinks will use the credit wisely and who will repay it, if for no other reason than out of fear for ruining their relationships with their neighbors. What more do we learn about the cooperative’s operations if we say the cooperative trusts Müller, or that Müller is „trustworthy“? Why not just say that the cooperative leaders know a great deal about Müller, and has structured the loan contract such that it is in Müller’s interest to repay? Raiffeisen’s cooperatives in Ireland We now turn to an environment in which the credit cooperatives did not work well, at least not at first.16 In 1894 Horace Plunkett’s Irish Agricultural Organization Society (IAOS) introduced German-style credit cooperatives into rural Ireland. They received a great deal of advice from German and other cooperative leaders. Some aspects of German cooperative practice could not be transplanted for legal reasons, but it is fair to say that on the whole, the IAOS credit cooperatives were accurate, even slavish, imitations of Raiffeisen’s rural credit cooperatives in Germany. Plunkett and his circle had high hopes for the credit cooperatives in Ireland, and their expectations did not seem unreasonable. The credit cooperatives in Germany thrived among an energetic and commercially-minded rural population who were not able to secure reasonable credit from banks and other financial institutions. Irish farmers complained bitterly about their treatment at the hands of Ireland’s banks, and seemed prepared to put less expensive credit to good use. Almost from the first there were signs of trouble. Most credit cooperatives had little trouble attracting members and borrowers, and the number of institutions grew at a healthy clip. But by other measures they were doing badly. Many rural German credit cooperatives gathered Trust: A Concept Too Many 117 significant excess deposits, and had to find some place to invest those deposits safely. The Irish cooperatives never did. The near absence of depositors harmed the Irish cooperatives in two ways. First, it meant that the Irish cooperatives were essentially re-lending money they had borrowed from a government agency, the Department of Agriculture and Technical Instruction (DATI). This degree of state involvement was unknown in Germany, and obviated, in least in the eyes of their critics, the cooperatives’ entire claim to being „self-help“ institutions.17 Perhaps more importantly, the inability to gather deposits showed that most rural Irish people thought their money was safer in other depository institutions. The specifics of management also suffered badly in Ireland. German auditors complained about sloppy bookkeeping or poor attendance at the annual meeting of members, but these were complaints about departures from a very high standard. Irish inspectors found that books were hardly kept at all in some cooperatives, and that annual meetings did not even take place. Why was the Irish experience so disappointing? My study of the Irish cooperatives was limited by lack of sources. Unlike the German case, I was unable to locate manuscript business records for individual cooperatives or for the IAOS itself. To some extent I was forced to rely on the IAOS’s own criticisms, or on those of outsiders such as the officials of DATI. But three problems are clear. First, rural Ireland had a number of depository institutions, including for-profit banks, savings banks, and the ubiquitous Post Office Savings Bank. The latter especially was convenient and perfectly safe. Every Post Office was in effect a banking office, and the Post Office Savings Bank’s assets consisted nearly entirely of British government debt. This was in contrast to much of rural Germany, where the nearest depository institution could be quite some distance. Raiffeisen and other cooperative leaders had to convince people that their deposits were safe in credit cooperatives, but these people had few alternatives. His Irish counterparts had a much harder case to make. As a result, the Irish institutions lacked a set of local stakeholders that were important in Germany. Second, the IAOS never developed the formal external auditing structures that the Germans had. The reasons for this are many, but in the end it meant that Irish cooperative leaders could not count on the training, inspection, and discipline that came from well-informed, hard-nosed outsiders. A third explanation for Irish credit cooperatives’ problems was favored by many contemporaries, and while harder to evaluate, it was clearly an issue. German cooperative leaders were perfectly willing to enforce loan terms, even when they knew that their actions meant damage to a recalcitrant borrower. Problems in the German cooperatives were rare, but their records contain instances of members ejected from the cooperative 118 Trust: A Concept Too Many for failure to repay, as well as threats of court action. Several sources claimed that Irish cooperatives were not, on average, willing to force recalcitrant borrowers to repay; that rural Irish people were too easygoing and sympathetic to their neighbors. The IAOS itself complained that the „natural kindliness“ of Irish people led them to a „mistaken kindness to unthrifty borrowers“. One former cooperative treasurer advocated enlarging the area of a credit cooperative’s operations on the grounds that a borrower’s immediate neighbors could never bring themselves to forcing a debtor to repay.18 This amounts to saying that the cooperatives could not enforce loan terms unless they gave up on the information advantages that made the entire institution work in the first place. At one level this lack of toughness is connected to the deposits question. Borrowers were not risking their neighbor’s savings, as in Germany. A faulty borrower was only risking the cooperative’s ability to repay a loan to a government he and his neighbors did not much like. The only real consequence was the possible failure of the cooperative, which would be the end of cheap credit.19 All of these issues were problems, and my own view is that the first, the competition from alternative depository institutions, is, if not the most important, then the easiest to overlook. None of them have anything to do with trust as the idea is used in the literature. The Post Office Savings Bank was simply another institution that got there first. The lack of external auditing institutions has more to do with the IAOS’s own failings, and perhaps the small size of the movement overall. The final observation, that Irish cooperatives could not work because rural Irish people were too kind-hearted, is worth a close look because it illustrates the vagueness of the idea of trust. There are several ways to understand this claim, and all of them presume that Irish people valued other aspects of their ties to one another more than the repayment of any given loan. What can „trust“ tell us about this behavior? There is some sense in which rural Irish people had less information on one another than did their German counterparts. Rural houses in Ireland tended to be spread about the countryside instead of arranged in nucleated settlements, which means people saw less of each other and had a less clear sense of who their neighbors were. But the salient difference seems to be the capacity to enforce loan terms. Suppose a cooperative lends to Murphy, with O’Brien as the co-signer. If Murphy thinks the cooperative leaders would be unwilling to take steps to force him to repay, then he will see the loan as a form of grant, and O’Brien will view his co-signatory role as a formal matter rather than anything that entails potential obligations on his part. The cooperative would probably not, as already suggested, be making such loans at all were it not for the DATI credit. But how do we interpret this situation in the light Trust: A Concept Too Many 119 of trust? In Germany cooperative members trusted each other to repay loans. In Ireland they trusted each other not to be too adamant about repaying loans. Trust in one circumstance led to a financial institution that worked, while in the other it led to nearly the same financial institution’s virtual failure. We learn nothing from labeling one or the other of these societies „high trust“ or „low trust“. And if we did so we would miss an essential lesson: the wrong kind of trust, as in the Irish case, can doom a valuable institution. What matters are the incentives to act in particular ways.20 Small-scale credit in the United States Our third example comes from a context where cooperative credit institutions did not work very well either.21 The situation was not so dramatic as in Ireland, but the credit union movement in the US, which was modeled indirectly on the German credit cooperatives, never grew to have anything like the relative importance of cooperatives in Germany. There are, again, reasons that do not bear directly on our subject. One is the long history of unit banking and general incorporation statutes for US banks. The US had many, many small banks, some of whose customers would be among the more prosperous credit cooperative members in Germany. The other reason has to do with competition between two foundations, the Twentieth Century Fund (which pushed credit unions) and the Russell Sage Foundation (which advocated an alternative approach detailed below). The few successful credit unions that were formed in the US in the early twentieth century shared a number of features that imply a restricted potential. They tended to be associated with a firm or an industry, instead of serving all those who lived in a locale, as was the case in Germany. In some cases this limitation reflected the requirements of enabling laws, but it also reflected deliberate choices within the movement. The credit unions were also over-represented among the employees of governments – local, state and federal. The literature gives several explanations for this fact, but perhaps the most important reason was that these people had a steady paycheck. The Russell Sage Foundation (RSF), which from its inception in 1907 was very interested in the issue of credit for poor people, at first pushed the idea of credit unions but then concluded they had only limited usefulness. The RSF thought that credit unions would never work for the urban poor and working classes who were most in need of reasonable loan terms. The Foundation thought it better to alter the legal environment to encourage the entry of for-profit lenders. To this end the RSF 120 Trust: A Concept Too Many pushed its Uniform Small Loan Law (USLL), succeeding in getting the law passed in about 2/3 of the 48 states by 1940, when the Foundation lost interest in the issue. Uniform laws were and remain a vehicle in the United States for achieving near-uniformity in legal codes across states. After some preliminary research in the first decade of the 20th century, the Foundation came to the view that credit conditions for poor people were unsatisfactory because the loans they sought were, by their very nature, expensive to make. Most states had usury laws that capped legal interest rates at levels much lower than those charged by lenders dealing with the poor, usually not more than 6 percent per annum. As a result, the only lenders operating in this market used a variety of stratagems to conceal the total cost of their credit from the law and sometimes from borrowers. Others operated outside the legal framework entirely. The USLL has several features, but all can be summarized in two phrases: transparency and the uncapping of interest rates. The law established a new class of lender, a so-called small-loan broker, who had the right to lend small amounts (less than $300 in most versions of the law) at rates that far exceeded most state usury limits. The RSF recommended a rate of 3.5 per cent per month. In return for this higher rate, the lender had to adhere to strict standards governing the simplicity of charges (no fees, that is), disclosure of terms, etc. The law was successful in that in every state that passed it, brokers quickly set up new small-loan businesses and issued thousands of loans. The law even led to the creation of extensive chain operations, some of which (like Household Finance) became large, publicly-traded companies. But the USLL embroiled the RSF in a range of disputes, most of which centered on its somewhat startling notion that the way to help poor people was to allow lenders to charge them more. Credit-union leaders were scathing in their criticism of the RSF on this point, and a wider public grew to know the Russell Sage Foundation as the „3 and one-half percent foundation“. Whatever the merits of the Foundation’s arguments, underlying its proposals was an intellectually coherent analysis of the relevant credit market prior to the enactment of the USLL. According to the RSF’s leading researcher, Rolf Nugent, providing small loans was an inherently expensive business. The USLL was motivated by the view that the only sensible way to proceed was to recognize the high costs inherent in the business, and relax the legal constraints that made it impossible to make small loans honestly and profitably. The RSF’s analysis bears careful consideration. Although it paid lip service to rural areas, most of its discussions pertain to urban areas of the Trust: A Concept Too Many 121 United States. In Nugent’s view, the central problem was the fluid, anonymous social context of these cities. People moved to and from the city, and changed jobs frequently. Lenders knew little about borrowers (most business was generated by advertisements placed in newspapers), and the sanctions a lender could apply to a borrower were weak or expensive. Some lenders restricted their business to „salary loans“, which means loans to men earning salaries. Employment could be verified, but beyond that lenders knew little about their customers. Most loans were secured only by the borrower’s future income, or by household property. This security might be very effective – many employers would fire someone for taking a loan from such lenders, so the mere threat to attach the borrower’s wages could be effective – but in any case it was typically expensive to collect. The entire idea of the USLL was to allow „honest capital“ to earn a return sufficient to bring sound business practices into the field. Too little is known about credit conditions for poor people in this period in US economic history to make firm statements about why the credit unions did so poorly, or whether the USLL was the right approach. But let us consider the Russell Sage Foundation’s analysis, which is clear enough from the various internal reports and memos we have been studying. In their view, lending was expensive because the social environment implied that lenders knew little about borrowers, and could not cheaply apply the sanctions that supported repayment in the rural German case. The Foundation’s pessimism about credit unions implied that it was not convinced urban Americans could form themselves into financial institutions that could have better information or better sanctioning mechanisms than for-profit lenders. If we wanted, we could claim that US cities had little social capital, or that lenders were operating in a „low-trust environment“. But this would (if we adopt the ways of the trust literature) be difficult to square with the overall success of the American economy in this period. More directly, this is precisely the society and period that features as the central success case in the entire trust parable: before Americans started to bowl alone, they lived in dense networks of civic associations that generated large amounts of social capital. There is an empirical literature on trust that thinks it has devised ways of measuring trust and characterizing societies in this way. But would such claims enhance our understanding of how credit markets worked, or why certain lending institutions were never very successful in the US? 122 Trust: A Concept Too Many Conclusions For the past ten years or so, scholars have discussed and applied the concepts of social capital and trust. Much of this literature is theoretical, trying to define and refine these concepts and decide when they are relevant. But much is empirical: the authors of these studies hold that labeling some societies or contexts „high trust“ or „low trust,“ or arguing that they had a great deal or very little social capital, is analytically useful. Williamson argues that in commercial contexts, trust is at best a new label for something that has long been understood. This practice is not always pernicious in itself. Many intellectual movements are, at least in part, a re-discovery of something older, and sometimes giving something a new name and trying to apply it to a broader range of social phenomena stimulates scholars to see connections that might otherwise be lost. Something like this has probably happened in the recent literatures on trust and social capital, and essays like Frevert (2003) make up in breadth much of what they might lack in analytical rigor. Before accepting this kind of logic, however, we must balance any gains against the two costs implicit in literatures built around buzzwords. Over-use of terms can amount to unintentional obfuscation, as the terminology implies connections that have never been demonstrated. And buzzwords can crowd out more specific research aimed at understanding the particulars of institutions or a society. We would better understand some institutions and societies if scholars pushed harder to appreciate the concrete details of life in the past, and worried less about fitting their research into trendy paradigms. This paper has argued that in the context of lending to poor people, and by extension in commercial matters more generally, the concept of trust is at best superfluous. There is no useful sense in which we can label something a „high trust“ situation, or someone a „trustworthy“ borrower. There are only social contexts in which lenders know and can cheaply acquire information on potential borrowers, and social contexts in which lenders have effective ways to enforce the repayment of loans. The mechanisms of information and enforcement may be as banal as credit registries and lawsuits, or as complex as kinship ties and the adjudication of disputes by village elders. Borrowers may repay because they fear the law or because they fear alienating the community in which they work, live, and worship. The trust literature would have it that credit registries and lawsuits are evidence of the lack of trust, while reliance on kinship ties or village elders is trust incarnate. But this illegitimate distinction just illustrates my point: the very term „trust“ has been hijacked to make warm noises about certain types of institutions and interactions, and has been robbed of much of its analytical value. Trust: A Concept Too Many 123 More worryingly, focus on „trust“ can obscure a crucial question raised in the Irish case: trust to do what? An institution that worked in one place was done-in by the rural Irishman’s well-placed confidence that his neighbors would not pressure him to repay loans. This attitude might promote some types of collective action, but it undermined the very basis of the credit cooperatives. Trying to figure out whether Ireland was a „high trust“ society would tell us nothing. Understanding the incentives built into the German credit cooperatives as they appeared in Ireland tells us a great deal. The importance of information and enforcement, which is the core of the useful notion of trust, has been recognized in economics for decades. Giving it another name, as Williamson argues, will not accomplish anything. References Banerjee, Abhijit, Timothy J. Besley, and Timothy W. Guinnane, 1994. „Thy Neighbor's Keeper: the Design of a Credit Cooperative with Theory and a Test.“ Quarterly Journal of Economics 109(2): 491–515. 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Coleman (1983). 2 For surveys on micro-lending, see Ghatak and Guinnane (1999) and Morduch (1999). 3 Although I do not follow him fully, I am much indebted to Hardin (2001, 2002) for my thinking on this issue. I am also very sympathetic to Coleman (1990)’s effort to construct a rational-choice interpretation of „trust“. 4 Mackie’s Table 8 also 1 relies on the illegitimate assignment of cardinal values to a question that does not have a natural metric. Fukuyama (1995) illustrates a different problem common in much of this literature: „trust“ in his view is inferred in any situation he finds admirable. 5 Ogilvie (2004b) calls this definition „trust as sentiment“, which might be a better term. 6 As later discussion makes clear, there are two complicating issues. One is that there are general forces, such as the weather, that are beyond either partner’s control. This fact does not pose a problem so long as the weather and its consequences for the venture are entirely observable. The second complication arises if the weather is not observable or if the weather’s impact on the venture cannot be determined. In this latter case, one party might blame the other for problems that are really due to the weather, while a guilty party might shirk his responsibility by blaming the weather. We return to this issue below. 7 This is a clear implication of my paper with Miller (Guinnane and Miller 1996), which is actually contract theory rather than game theory. In that model, the only circumstance in which a tenant would not pay his rent is where he has had bad luck and cannot pay. The landlord knows this is the only circumstance – that is, the landlord knows that all non-payment reflects bad luck rather than shirking – but the landlord still has to eject non-paying tenants to keep the incentives right. Put differently, in these models sometimes the principal has to punish people he knows are innocent to, as Voltaire said of Viscount Torrington’s hanging, „encourage the others“. 8 Our account is implicit in DasGupta (1988), which is a clear-headed application of the ideas of economics to the problem of trust. 9 Guinnane (2002a) discusses this issue in the German case. 10 There is little economic analysis of pawnshops in the 19th century, and not much more for these institutions today. See Guinnane (2002b) for some thoughts on pawnshops in our period. 11 This section summarizes material found in Guinnane (2001). 12 These lending practices created liquidity problems. The cooperative „Central banks“ were one institutional response to this problem (Guinnane 2004). 13 Frevert (2003) is a wide-ranging survey of the contexts in which trust might be relevant. She cites Guinnane (2001). Her paper is a stimulating and thought-provoking effort, but also illustrates the qualms that lie at the heart of the present essay: any concept that can be relevant to as many issues as she mentions cannot be of much use to understanding any of them. 126 Trust: A Concept Too Many 14 Put differently, German villages had all four of the features that are held to generate trust among network members: shared norms, swift information transmission, effective sanctioning, and efficient collective action in pursuit of the shared norms. See Ogilvie (2004b). 15 Guinnane (2003) details the cooperative’s management and auditing systems. The cooperatives never did find a perfect solution to one continuing problem, which was embezzlement by cooperative treasurers. 16 This section draws on Guinnane (1994). 17 State assistance to German credit cooperatives prior to World War I was not significant. The urban cooperatives complained that the Prussian Central Cooperative Bank, a state institution, was a significant source of state aid to rural credit cooperatives. This claim has also appeared in the scholarly literature. At best the claim is badly exaggerated (Guinnane 2004). 18 The IAOS’ remark is in their annual report for 1902, quoted in Guinnane (1994, p.56). The treasurer was testifying before a Parliamentary inquiry, quoted in Guinnane (1994, p.57). 19 Members in Irish credit cooperatives had unlimited liability, which was also the practice in most rural cooperatives in Germany. I cannot say what happened when DATI did not get its money back, but most cooperative members must have found it implausible that the government would seize their holdings to satisfying liabilities arising from cooperative membership. 20As Ogilvie (2004b) argues, social capital can be put to bad uses as well as good. One might say, in this case, that the Irish used their social capital to agree – effectively – not to pressure each other to repay loans. 21 This section is based on a project with Bruce Carruthers. The project is still in its early stages, and there is little extant work on this issue to date, so the discussion here is more tentative. For more detail on the matters raised here, see Carruthers and Guinnane (2003). 22 Or so Putnam (2000) says. Trust: A Concept Too Many 127 Abbildung 17: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Hochkonjunktur I Abbildung 18: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Hochkonjunktur II Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? Josef Zimmermann Deutschlands Bankensystem unterscheidet sich in wesentlichen Elementen nach wie vor deutlich von dem anderer Länder. Merkmale wie Universalbanken und die Parallelität von privaten, öffentlich-rechtlichen und genossenschaftlichen Banken sind historisch gewachsene Eigenheiten der deutschen Kreditwirtschaft. Die Hausbank als ein spezielles Modell langfristig angelegter Geschäftsbeziehungen zwischen Banken und Unternehmen ist ein weiteres Merkmal. Was macht eine Hausbank aus? Bietet eine Hausbankbeziehung Vorteile gegenüber der Abdeckung der Finanzbedarfe in Unternehmen mit jeweils neuer Lieferantenentscheidung im Bedarfsfall? Fallen die Antworten hierauf unterschiedlich aus, je nachdem, ob aus Sicht einer Bank oder aus Sicht eines Unternehmens argumentiert wird? Hat eine Hausbankbeziehung Auswirkungen auf den zentralen Bereich der Kredite? Das sind die Fragen, deren Erörterung das Hausbank-Modell transparent machen und in seiner komplexen Struktur verdeutlichen soll. Wichtige Erkenntnis daraus sollte sein, ob und unter welchen Bedingungen dieses Modell aktuell und künftig seine Existenzberechtigung hat, ja möglicherweise aufgrund besonderer Leistungsfähigkeit zu einem Hoffnungsträger in der Beziehung zwischen Banken und Unternehmen werden kann. In diesem Fall wäre die Hausbank dann durchaus bedenkenswert für Finanzmarktstrukturen anderer Länder. Was macht eine Hausbank aus? Als Hausbank wird ein Kreditinstitut dann angesehen, wenn ein Unternehmen mit diesem Institut in einer dauerhaften Geschäftsbeziehung seine Bankgeschäfte ausschließlich oder überwiegend abwickelt. Charakterisierende Elemente sind also Langfristigkeit und die Exklusivität im Leistungsaustausch. Damit werden zwei Dinge deutlich: Zum einen erfordert eine Hausbankbeziehung Zeit. Über die Wiederholung von Einzelgeschäften aufgrund positiver Erfahrungen entsteht und wächst Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 129 die Erwartung, auch künftig werde ein beide Seiten zufriedenstellender Leistungsaustausch zwischen den Geschäftspartnern gewährleistet. Andererseits muss das Kreditinstitut mit seinem Leistungsspektrum in der Lage sein, den jeweiligen finanzwirtschaftlichen Bedarf des Unternehmens vollständig oder weitgehend abzudecken. Damit erfordert die Fähigkeit zur Hausbank Universalbanken, wie sie sich gerade in Deutschland historisch entwickelt haben und anhaltend die Bankenszene prägen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die Hausbank ein vor allem deutsches Phänomen ist und in anderen Ländern – speziell in denen mit angloamerikanisch geprägten Finanzsystemen – in dieser Form kaum oder gar nicht angetroffen wird. Typisch in der Lieferbeziehung ist das Angebot und die Abnahme des ganzen Universalbanksortiments im Gegensatz zu transaktionsorientierten und produktbezogenen Geschäftsabschlüssen. Der Zeit beanspruchende Aufbau einer solch exklusiven Geschäftsverbindung führt nun zu einer Reihe von Wirkungen, die ihrerseits wiederum als wichtige Charakteristika einer Hausbank gelten: 1. Zwischen Hausbank und Unternehmen besteht ein besonderes Vertrauensverhältnis. Dieses gilt zunächst für die Beziehung der interagierenden Personen, zuvorderst der Finanzverantwortlichen auf Seiten der Unternehmen und der Firmenkundenbetreuer auf Seiten der Bank. Je nach Größe der Partnerorganisationen agieren allerdings auf beiden Seiten situationsbezogen oft eine Mehrzahl von Personen unterschiedlicher Hierarchieebenen und Fachkompetenzen. Auch für diese gilt es, die zum Aufbau von Vertrauensbeziehungen notwendigen Voraussetzungen zu erfüllen. Vertrauen setzt zum einen bestimmte Verhaltensweisen der handelnden Personen voraus. Als wechselseitig wichtig erwiesen sich hier • der angemessene Einsatz für die Belange der jeweils anderen Seite, • die wahrgenommene Fairness in der Nutzung besonderer Informationen und Machtpositionen, • die Verlässlichkeit und Zuverlässigkeit im Hinblick auf die Einhaltung von Absprachen und Zusagen, • eine offene, zeitgerechte und Transparenz schaffende Kommunikation, • die verlässliche Diskretion im Allgemeinen und in abgesprochenen Themen im Besonderen. Darüber hinaus muss sich Vertrauen in die Sachkompetenz des Partners aufbauen und immer wieder bestätigen. Neben den persönlichen Kennt130 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? nissen und Erfahrungen der direkt kommunizierenden Personen kommen hier zusätzlich die nachvollziehbare Leistungsfähigkeit von Bank und Kundenunternehmen als institutionelle Einheiten zur Geltung. Voraussetzung für einen gegenseitigen Vertrauensaufbau auf dieser Ebene ist das Zusammenpassen der Bedarfs- und Anspruchsniveaus auf beiden Seiten, geprägt vor allem durch Faktoren wie Unternehmensgröße, Organisationsstruktur und Marktradius (Internationalität, regionale Ausrichtung). Hier wird deutlich, dass Vertrauen, obwohl als solches zunächst ein personenbezogenes Konstrukt, auch auf die Wahrnehmung und Beziehung von und zu Organisationen übertragen wird. In Hausbankbeziehungen kommt dieser Ausprägung eine besondere Bedeutung zu, da die Faktoren Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit über die interagierenden Personen gerade in wichtigen Fragen repräsentativ beziehungsweise stellvertretend für die jeweiligen Organisationen eingebracht werden. In Geschäftsbeziehungen zwischen Banken und Unternehmen spielt das Kreditgeschäft regelmäßig eine herausragende Rolle. Die Klassifizierung als Hausbank postuliert zuvorderst eine stimmige Kreditbeziehung. Während wir bisher einzelne Einflussfaktoren des Vertrauens betrachtet haben, werden Kredit und Vertrauen oft als unmittelbar zusammenhängend, als quasi symbiotische Begriffe angesehen. So formuliert zum Beispiel L. Rothschilds Taschenbuch für Kaufleute bereits Mitte des 19. Jahrhunderts: „Als Kredit im subjektiven Sinne bezeichnet man das einer Person entgegengebrachte Vertrauen, dass sie ihre Verpflichtungen erfüllen wird.“ Dies entspricht dem Sinngehalt von „Credere“ als zugrunde liegendem Begriff im Sinne von „Glauben, Vertrauen schenken“. Im Kredit wird anderen Geld (oder eine Sache) überlassen, im Vertrauen, es wieder zurückzuerhalten. Verlässlichkeit als Element der Hausbankbeziehung erfordert nun gerade auch Verlässlichkeit im Kreditgeschäft, das heißt eine entsprechende Kredit- und Risikobereitschaft beziehungsweise eine adäquate Risikoeinschätzung von Kreditgeber und Kreditnehmer. Dass die Hausbank hier regelmäßig in einer im Vergleich zu anderen Banken speziellen Ausgangslage ist und andererseits mit besonderen Anforderungen und Erwartungen konfrontiert wird, wird noch im Einzelnen zu zeigen sein. 2. Zwischen Hausbank und Unternehmen besteht eine besondere Vertrautheit. Diese Vertrautheit ist das Ergebnis eines regelmäßigen und systematischen Informationsaustauschs mit der Folge, sowohl im Zeitablauf wie auch in der breiteren Durchdringung den Kenntnisstand über den Geschäftspartner auszuweiten, zu komplettieren und auf diese Weise ein hohes Maß an Transparenz für beide Seiten zu Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 131 schaffen. Fokussiert ist die Vertrautheit in den Personen der direkten Kommunikation, wo neben den institutionell erfassten Informationen ein zunehmendes informelles Wissen das gegenseitige Bild präzisiert und erweitert. 3. Die Geschäftsbeziehung zwischen Hausbank und Unternehmen umfasst ein besonderes Leistungsspektrum. Wie bereits angesprochen, liegt dem Hausbank-Modell die Lieferfähigkeit in grundsätzlich allen finanzwirtschaftlichen Leistungsbereichen zugrunde. Hausbank kann insofern nur eine Universalbank sein. Zugleich wird nur ein Kreditinstitut zur Hausbank werden, das in Größe und (oft damit einhergehender) Leistungsbreite den normalen Bedarf des Unternehmens abdecken kann. Dies muss nicht in allen Fällen aus eigener Kapazität möglich sein. Kooperationen zwischen Banken oder die Zusammenarbeit in Bankenverbünden ermöglichen die Deckung auch singulären und/oder außergewöhnlichen Bedarfs in professioneller Weise. Durch die Koordination externer Expertise über die Hausbank kommen deren Wirkungselemente auch in diesen Fällen im Wesentlichen zum Tragen. 4. Der Aufbau einer Hausbankbeziehung erfordert regionale Nähe. Trotz aller Kommunikationsmedien ist die regelmäßige persönliche Begegnung anhaltend eine wesentliche Voraussetzung für Vertrauen und Vertrautheit. Die zur Pflege der Verbindung erforderlichen Treffen kommen häufiger zustande, wenn der Wegeaufwand gering ist. Zugleich vergrößert eine gemeinsame gesellschaftliche Alltagsumgebung die Kontaktflächen der Gesprächspartner und unterstützt die informelle Kommunikation. Entwicklungsphasen des Hausbank-Modells Die seit Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Aktienbanken sind eine Antwort auf den zunehmenden Kapitalbedarf der Industrialisierung, zu deren Deckung sie im Gegensatz zu den bis dahin vorherrschenden Privatbankiers auch Kundeneinlagen aufnehmen konnten. Damit etablierten sich die Banken als Bindeglied zwischen Anlegern und Kapitalsuchenden. Das Leistungsspektrum dieser Aktienbanken umfasste in der Folge dann mit dem Einlagengeschäft und dem Kreditgeschäft sowie dem Emissionsgeschäft die Kernelemente einer Universalbank, die im Laufe der Zeit noch durch das Transaktionsgeschäft (im Wesentlichen Zahlungsverkehr) und das Handelsgeschäft ergänzt wurden. Mit dieser Leistungspalette war eine Aktienbank in der Lage, allen Finanzbedarf eines Unternehmens zu decken. Es entstanden intensive, 132 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? langfristig angelegte Hausbankbeziehungen (untermauert oft auch über wechselseitige Aufsichtsratsmandate) mit dem Ergebnis einer engen und klar strukturierten Verflechtung von Großbanken, Industrie und Handel. So erfolgreich diese Struktur für Großunternehmen bis zum Ersten Weltkrieg war, so vernachlässigte sie doch große Teile des in dieser Zeit ebenfalls an Bedeutung gewinnenden gewerblichen Mittelstands. Regional ausgerichtet boten sich hier für unterschiedliche Kundengruppen die ebenfalls im 19. Jahrhundert aufkommenden Sparkassen und Genossenschaftsbanken an. Auch sie hatten (abgesehen vom Emissionsgeschäft) die Grundstruktur von Universalbanken. Damit war auch für mittelständische Unternehmen der Weg zur Hausbankbeziehung offen und vorgezeichnet. Ausgehend von diesen Wurzeln sollte das Hausbank-Prinzip als Ausdruck einer umfassenden und langfristigen Verbindung zwischen Banken und Unternehmen bis heute ein charakteristisches Element des deutschen Bankensystems bleiben. Allerdings zeigten sich im Zeitverlauf deutliche „Wellenbewegungen“ in der gesamtwirtschaftlichen Bedeutung dieses Modells. Herrschte anfangs das Bewusstsein vor, eine Hausbank betreue ein Unternehmen von der Entstehung bis zur Auflösung als exklusiver Finanzpartner, so sorgten der aufkommende Wettbewerb unter den Banken und das zunehmende Selbstbewusstsein und Unabhängigkeitsstreben vor allem der größeren Industrieunternehmen schon vor dem Ersten Weltkrieg für eine Aufweichung der ursprünglich fest geordneten Beziehungsstrukturen. Ab Mitte der zwanziger Jahre traten zunehmend auch ausländische Banken im Wettbewerb um deutsche Großunternehmen auf, mit der Konsequenz von Konditionen- und Margenverfall, leichterer Kreditvergabe und unzureichender oder wenig konsequenter Kreditkontrolle. Während der Mittelstand nach wie vor auf feste Bankbeziehungen angewiesen war, nutzten Großfirmen diese Situation über Parallelbeziehungen zu Banken mit Vorteilsentscheidungen im einzelnen Geschäft und damit quasi der „Kündigung“ des Hausbank-Modells. Im Ergebnis lassen sich aus dieser Entwicklung die Wettbewerbsintensität zwischen Banken, das Ausmaß der im Finanzsektor insgesamt verfügbaren Liquidität und schließlich die (gerade auch finanzielle) Stärke der Unternehmen als wesentliche Einflussfaktoren für die Art der Kunde-Bank-Beziehung festhalten. Dies bestätigte sich nach dem Zweiten Weltkrieg, wo in einer ersten Phase von Kapitalknappheit, eher schwachen, weil im Aufbau befindlichen Unternehmen und einem auch qua Regulierung geringen Bankenwettbewerb das Hausbank-Modell eine Renaissance erlebte. In der Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 133 folgenden Entwicklung zeigte sich erneut, dass mit dem einsetzenden Wettbewerb unter Banken, einer zunehmenden Liquidität im Markt und erfolgreichen Unternehmen als Kunden die zuvor engen Hausbankbeziehungen zunehmend aufgeweicht wurden. Mit dem Fall des Habenzins-Abkommens 1967 entstand der Wettbewerb um Einlagen; die Kreditinstitute konkurrierten zunehmend um die reichliche Liquidität. Dadurch sinkende Margen machten die Kreditfinanzierung zusammen mit staatlichen Begünstigungen für Unternehmen immer attraktiver. Auch für weniger ertragreiche Investitionen fand sich bei Zögern der Hausbank problemlos ein anderer Financier. Dies wurde begünstigt durch die gegenseitige Durchdringung der ursprünglich relativ separiert betreuten Firmensegmente und damit der „Auflösung der Arbeitsteilung“ zwischen den privaten Filialbanken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken. Im Verbund mit ihren jeweiligen Landes- beziehungsweise Spitzeninstituten konnten auch kleinere Sparkassen und Genossenschaftsbanken anhaltend die beispielsweise mit Auslands- oder Kapitalmarktgeschäften erweiterte Leistungspalette einer Universalbank selbst größeren Unternehmen anbieten. Großbanken umwarben andererseits zunehmend den Mittelstand in allen Abstufungen. Das forcierte Auftreten ausländischer Banken bei größeren Firmen verschärfte den Wettbewerb, der aufgrund fehlender oder nur geringer Leistungsunterschiede in der Regel über Konditionen ausgetragen wurde. Mit dieser Entwicklung standen die überkommenen Hausbankbeziehungen zunehmend unter Druck. Das in der Preispolitik auf kalkulatorischen Ausgleich angelegte Geschäftsmodell der Hausbank sah sich mit Einzelangeboten konkurrierender Anbieter konfrontiert, die auf Dauer und in der Breite der Leistungspalette keine rentable Verbindung mehr erlaubten. Aufgrund geringer Eigenkapitalanforderungen konnten sich die Banken dieses Marktverhalten lange Zeit erlauben; im Kreditgeschäft verdiente bei genauerem Hinsehen allerdings kaum ein Institut mehr Geld. Dieses Problem wurde besonders offenkundig, als mit Einführung des Basel-II-Abkommens differenzierte und in der Summe strengere Anforderungen an das Eigenkapital der Banken bei der Kreditvergabe gesetzt wurden. Auf Unternehmensseite wurde die Zahl der Bankverbindungen mit dem Ziel ausgeweitet, für die verschiedenen Leistungen immer mehrere Anbieter ansprechen und dabei die Konditionen günstiger gestalten zu können. Die Banken definierten ihre Geschäftsbeziehungen zu Unternehmen über die Quoten am jeweiligen Leistungsbereich. Größere Unternehmen ersetzten den bilateralen Dialog mit ihren zahlreichen Banken durch Meetings, in denen möglichst alle Institute vertreten und gemeinsam über die Lage und Entwicklung des Unternehmens informiert werden sollten. Die Charakteristika einer Hausbankbeziehung 134 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? sind in diesem Modell nicht mehr erfüllt. Der Lieferbeitrag der Banken für ein Unternehmen wird ein rein rechnerischer und lässt sich allenfalls mit der Unterscheidung von Kernbanken und Nebenverbindungen klassifizieren. Das Hausbank-Modell aus Sicht einer Bank Universalbanken müssen ein nachhaltiges Interesse haben, Hausbank stabiler Unternehmen zu sein. Bei gut funktionierenden Beziehungen sind es vor allem zwei positive Wirkungen, die eine solche Position mit sich bringt: 1. Deutliche Vorteile im Wettbewerb mit anderen Banken. 2. Imagegewinn im Wirtschaftsumfeld und bedingt auch in der allgemeinen Öffentlichkeit durch die wahrgenommene Verbindung zu renommierten Firmen. Wettbewerbsvorteile beruhen zum einen auf einer besseren Informationsversorgung. Eine langfristige Geschäftsverbindung führt durch systematische Informationsaufnahme und Dokumentation im Laufe der Zeit zu einem quantitativ und qualitativ überlegenen Informationsstand. Bei den regelmäßig eingereichten Geschäftszahlen werden Vergleiche aussagefähiger und Beurteilungen fundierter. Entwicklungen im Zeitablauf ermöglichen Trend- und Wirkungsanalysen; unternehmerische Entscheidungen lassen sich längerfristig verfolgen und beurteilen. Die breite Leistungspalette als Hausbank mit ihren vielfältigen Anknüpfungsstellen in die Unternehmen hinein führt zu einem erweiterten Informationsstand über die Produktions- und Leistungsstruktur der Unternehmen. Beispielhaft sei hier der Kenntnisstand über Umfang und Erfahrung im Auslandsgeschäft genannt, der gerade auch über die tägliche Abwicklung von Auslandstransaktionen genährt wird. Aber auch die gemeinsame Erarbeitung von Förderanträgen bringt detaillierte Einblicke in die Forschungs- und Entwicklungsstrukturen und damit die Innovationskraft eines Unternehmens. Von wesentlicher Bedeutung ist das Zeit beanspruchende Kennenlernen der handelnden und kommunizierenden Personen auf Seiten der Geschäftspartner. Hausbanken mit einer stabilen Betreuungsstruktur erreichen in der Regel einen hohen personenbezogenen Informationsstand mit der Konsequenz von persönlicher Vertrautheit und Vertrauen. Dies sorgt für eine permanent leichtere Informationsbeschaffung als Basis für die Erhaltung des privilegierten Informationsniveaus. Der so etablierte Firmenkundenbetreuer einer Bank hat die Möglichkeit, seine Gesprächspartner beim Kunden jederzeit zu erreichen und so InformaDie Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 135 tionen zeitnah und vertieft zu erhalten. Über regelmäßige Besuche der Kunden eröffnet sich zugleich die Chance, tiefere Einblicke in die Unternehmensabläufe zu bekommen. Ein aufmerksamer Firmenkundenbetreuer kann auf diesem Wege gerade auch im Zeitverlauf ein mitunter wichtiges Bild über Produktionsabläufe und Mitarbeiterstimmungen bekommen. Auch der Besuch des Kunden auf Fachmessen liegt bei einer Hausbankverbindung nahe und vermittelt dann regelmäßig Eindrücke über Branchenzusammenhänge und Firmenpositionierungen. Neben diesen geschäftsbezogenen Kommunikationsanlässen sorgen aber gerade auch informelle Treffen und Austausche der Geschäftspartner für einen Auf- und Ausbau von Vertrautheit und Vertrauen. Die gegenseitige Wahrnehmung und Begegnung in anderen gesellschaftlichen (auch ehrenamtlichen) Funktionen und bei privaten Vorlieben, die aufgrund der gegebenen regionalen beziehungsweise lokalen Nähe möglich ist, erweitert das Personenbild maßgeblich. In der Folge dieser Kommunikationsstrukturen ist die Hausbank grundsätzlich die Primäradresse für finanzwirtschaftlich relevante Informationen eines Unternehmens. Der damit einhergehende Transparenz- und Zeitvorsprung bietet Handlungs- und speziell auch Beratungsmöglichkeiten vor allen anderen Konkurrenten. Neben der Informationsversorgung ist ein weiterer Vorteil im Wettbewerb die Chance der Hausbank auf eine breitere und differenziertere Leistungsstruktur in der Geschäftsverbindung mit einem Unternehmen. Ein professioneller Firmenkundenbetreuer sorgt für bedarfsgerechte Leistungs-, Beratungs- und Informationsangebote. Sein Engagement öffnet die Wege zu einem nachhaltigen Cross-Selling, das heißt der umfassenden Wahrnehmung der Leistungspalette der Bank durch den Kunden. Sein Know-how und seine Kundenkenntnis kann eine weiterführende Beratung an der jeweils richtigen Stelle ansetzen. Das Vertrauen in seine Person ermöglicht den Austausch sensibler Informationen und die Sicherheit der Diskretion. Diese umfassende Leistungsbeziehung ermöglicht es der Hausbank zugleich, in ihren Konditionen flexibler zu agieren und im Hinblick auf das Ziel einer dauerhaften Rentabilität der ganzen Kundenverbindung intertemporale und zwischengeschäftliche Ertragsverschiebungen im Sinne eines kalkulatorischen Ausgleichs einzusetzen. Ein entscheidender Wettbewerbsvorteil einer Hausbank ist aber vor allem auch ihre bessere Ausgangsbasis im Kreditgeschäft. Neben dem bereits dargestellten Informationsvorsprung bei gerade auch für Kredite relevanten Informationen sorgen Kreditgeschäfte im Verlauf einer längerfristigen Beziehung regelmäßig für einen bevorzugten Sicherheitenbestand. In der Zeit frei gewordene Teile sowie eine weniger aufwendige 136 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? aktuelle Bewertung schaffen regelmäßig Spielräume bei einer Neuvergabe von Krediten. So hat eine Hausbank als wesentlichen Vorteil die Möglichkeit, Kreditentscheidungen schneller, fundierter und mit angemessenen Auflagen zu treffen und damit auch in Krisenzeiten eines Unternehmens sicherer zu agieren. Letztlich sorgt auch ein Imagegewinn aus stabilen Hausbankbeziehungen mit imageträchtigen Unternehmensadressen für einen Wettbewerbsvorteil. Die (abgestimmte) Berufung auf derartige Referenzverbindungen ist regelmäßig ein nützliches Argument der Banken in der Werbung um Nichtkunden und im Ausbau von Nebenverbindungen. Den dargestellten Vorteilen einer Hausbank im Geschäft mit Unternehmen stehen allerdings auch einige besondere Risiken gegenüber. Eine im Zeitverlauf wachsende persönliche Nähe und Vertrautheit birgt die Gefahr einer Übergewichtung der subjektiven Wahrnehmung und der sogenannten „weichen“ Faktoren (z.B. Fähigkeiten und Persönlichkeit des Unternehmers) und einer Untergewichtung der objektiven, „harten“ Faktoren (z.B. Finanz- und Effizienzkennziffern). Wenn dann noch das Vertrauen gezielt missbraucht wird (z.B. hinsichtlich Richtigkeit, Relevanz und Vollständigkeit der gegebenen Informationen), schlägt dieser ursprüngliche Vorteil in ein gravierendes Problem um. Ein zentraler Aspekt mit dem Potential für Enttäuschungen sind andererseits die Erwartungen, die mit einer Hausbankbeziehung bei den Unternehmenskunden aufgebaut werden. Dies beginnt mit Erwartungen in den Leistungsumfang und in die Qualität der verschiedenen Leistungen eines als Hausbank in Frage kommenden Instituts. Hier haben speziell kleinere und regional agierende Universalbanken strukturelle Nachteile gegenüber internationalen Großbanken einerseits und Spezialbanken andererseits, die je nach Bedarfslage des Unternehmens aufgrund seiner eigenen Ausrichtung und Größe unterschiedlich bedeutsam werden. Ausgleichschancen werden hier regelmäßig durch Kooperationen, zum Beispiel innerhalb des Sparkassen- und Genossenschaftssektors, wahrgenommen. Gerade im Kreditgeschäft zeigt sich oft die Notwendigkeit, in einer syndizierenden Aufteilung des erforderlichen Gesamtvolumens Leistungen über mehrere Banken darzustellen. Hier gilt es für eine Hausbank, sich im Kreis der Syndizierungspartner führend zu positionieren. Erwartungen werden vor allem aber auch in das Verhalten der Hausbank aufgebaut. Während sich der Anspruch an die Verlässlichkeit von Aus- und Zusagen noch leichter überprüfen lässt, ist die Einschätzung von Fairness immer wieder subjektiv geprägt und erfordert auch Vorstellungen von den Handlungsspielräumen und -maßstäben des jeweiligen Partners. So ist beispielsweise die Erwartung einer fairen KondiDie Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 137 tionengestaltung von Seiten der Hausbank ein wesentlicher Anspruch des Unternehmenskunden, wobei hier in der Regel kein „besser-als“, sondern ein „nicht-schlechter-als“ gefordert wird. Dass eine Hausbank im Einzelgeschäft dabei durchaus besondere Spielräume hat, wurde bereits dargestellt. Schließlich richten sich Erwartungen von Unternehmen gerade auch auf das Kreditgeschäft mit ihrer Hausbank. Von ihr fordern sie in erster Linie, Kredit im erforderlichen Umfang, in der notwendigen Zeitdauer und zu akzeptablen Bedingungen erhalten zu können. Darüber hinaus setzen die Kreditnehmer regelmäßig auf Dauerhaftigkeit der Kreditbereitstellung, selbst wenn ihnen die zumindest jährlichen Prolongationsentscheidungen auf Seiten der Banken bewusst sind. Immer wieder wird die Diskussion über bestehende Kredite oder gar Kürzungsüberlegungen als Enttäuschung dieser Erwartungen und als Vertrauensbruch gewertet. Besonders hoch ist die Sensibilität in Krisenzeiten, wo an erster Stelle von den Hausbanken gefordert wird, bei Krediten stillzuhalten oder zusätzliche Kredite zu vergeben. Das wird für diese Institute dort problematisch, wo es nicht nur um eine Überbrückung von Liquiditätsengpässen mit berechtigter Aussicht auf späteren Ausgleich geht, sondern quasi eine „Nibelungentreue auf Gedeih und Verderb“ erwartet wird. Gerade hier wird deutlich, welche Risiken in der sich aufbauenden Erwartungsstruktur gegenüber einer Hausbank für diese liegen können und wie weit der Anspruch auf Loyalität und Verlässlichkeit reichen kann. Das Hausbank-Modell aus Sicht eines Unternehmens Bei der Frage der Vorteilhaftigkeit einer Hausbankverbindung soll nun die Sicht eines Unternehmens eingenommen und dessen Kundensituation im Einzelnen geprüft werden. Vor allem drei Argumente sprechen für Hausbankverbindungen: 1. Die geringeren Kosten der finanzwirtschaftlichen Bedarfsdeckung. 2. Die größere Bedeutung und damit Machtposition eines Unternehmens als Kunde für die Bank. 3. Die Berechtigung besonderer Erwartungen an eine Hausbank. Geringere Kosten entstehen zum einen bei der Informationsbereitstellung. Das bei der Hausbank vorhandene kulminierte Informationsniveau macht in diesen Beziehungen bei aktuellen Anlässen die Vergabe lediglich von neuen Informationen notwendig. Auf die Aufbereitung einer 138 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? Informationshistorie, wie sie regelmäßig für fallweise hinzutretende Banken erforderlich wird, kann hier verzichtet werden. Bereits die Aufnahme jeder neuen Kommunikationsrunde gestaltet sich einfacher. Die Ansprechpartner sind bekannt und gezielt erreichbar. Die gegenseitige Vertrautheit sorgt für niedrige Schwellen einer Gesprächsaufnahme. Die so in unkomplizierter Weise zunächst bilateral führbaren Gespräche und Verhandlungen erbringen schnell einen Maßstab für Machbarkeit, Bedingungen und Preise angefragter Leistungen, ein in der Diskussion mit anderen Anbietern nützlicher Bezugsrahmen. Der gegenseitige Kenntnisstand bei Hausbankverbindungen bietet darüber hinaus die Chance für passgenaue Problemlösungen in kürzest möglicher Zeit. Wichtig ist dabei oft, dass bestehende Sicherheiten und die Nutzung hier freier Teile regelmäßig für Kostenvorteile speziell im Kreditgeschäft sorgen. Das Gewicht als Kunde wirkt sich in einer Hausbankbeziehung auf die Verhandlungsmacht in konkreten Geschäftsverhandlungen aus. Dies beruht zum einen auf der Bedeutung als Abnehmer eines großen Teils der Leistungspalette der Hausbank. Die Bank will bei einem Neuabschluss die laufenden Geschäfte in den anderen Leistungskanälen nicht gefährden. Zum anderen kann ein Unternehmen mit Hinweis auf die Beziehungshistorie den in der Vergangenheit erbrachten Nutzen als Kunde ins Spiel bringen. Auch der höhere Kenntnisstand über die Entscheidungsstrukturen der Bank sowie die dort beteiligten Personen und deren Verhandlungsspielräume führen zu einer präziser einschätzbaren und damit gezielter einsetzbaren Verhandlungsposition eines Unternehmens gegenüber seiner Hausbank. Der Bezug auf die Kundenhistorie führt nach den dargestellten Vorteilen bei Kosten und Verhandlungsmacht zum dritten Argument für Hausbankbeziehungen. Wie bereits aus Sicht einer Bank bauen sich auch auf Seiten eines Kundenunternehmens im Laufe der Geschäftsverbindung zunehmende Erwartungen in das Verhalten des Bankpartners auf, die eine besondere Berechtigung haben. Die Erfahrung der Vergangenheit bei Art, Umfang und Qualität der Leistungen bilden den Anspruchsrahmen bei jedem neuen Geschäft. Die Fokussierung der Anforderungen an Schnelligkeit, Genauigkeit, geringe Fehlerquote, Beratungsumfang und -qualität sowie allgemeiner Informationsbereitstellung und Unterstützung auf die Hausbank spiegeln dabei regelmäßig auch die Erfahrung mit anderen Banken wider und ermöglichen so den Aufbau eines hohen Erwartungsdrucks in der Kernpartnerschaft. Das bestehende Vertrauen in die persönlichen Gesprächs- und Verhandlungspartner kommt hier mit der Erwartung von Fairness und Verlässlichkeit, aber auch einer uneingeschränkten Diskretion in verstärkender Weise zur Geltung. Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 139 Von herausragender Bedeutung sind zweifellos die Erwartungen im Kreditgeschäft. Gerade hier wird von Seiten der Kunden Verlässlichkeit erwartet im Sinne von dauerhafter und ausreichender Kreditbereitschaft. Wie bereits dargestellt, müssen Kredite im erforderlichen Umfang, in der notwendigen Zeitdauer und zu akzeptablen Bedingungen erhältlich sein. Oft wird dann eine in diesem Sinne funktionierende Kreditverbindung als Argument für die Wertschätzung des Unternehmens und seiner Aktivitäten auch in der Außenkommunikation genutzt. Dies geht mitunter so weit, dass eine positive Kreditentscheidung von Unternehmen oft als positive Wertung des zu finanzierenden Projekts und des Unternehmens insgesamt gesehen wird. Im Vertrauen in die Urteilskraft der Bank wird Krediterhältlichkeit damit zu einem Qualitätssiegel des Unternehmens. Eine Hausbank sollte aus Sicht des Kundenunternehmens auch dann noch mit Kredit bereitstehen, wenn andere Institute zögern. Diese Erwartung gründet sich auf die Summe der dargestellten Faktoren der im Zeitverlauf gewachsenen Hausbankverbindung, wie Informationsund Kenntnisstand, Sicherheiten, Geschäftshistorie und persönliche Beziehungen. Speziell in kritischeren Unternehmensphasen überlagert der hier bestehende existentiell begründete Erwartungsdruck alle anderen Geschäftsbereiche und dominiert entscheidend das Verhältnis zwischen Hausbank und Unternehmen. So berechtigt diese Erwartungen des Unternehmenskunden in einer langfristigen Hausbankbeziehung sind, so sehr werden an dieser Stelle auch die Risiken enttäuschter Erwartungen deutlich. Eine enge Bindung zur Nutzung der dargestellten Vorteile führt zu Abhängigkeiten. Bei fehlender paralleler Pflege von Alternativanbietern ist ein schneller Wechsel des Lieferanten von Bankleistungen selbst bei grundsätzlich bestehenden Möglichkeiten kaum oder nur mit Nachteilen möglich. Zum einen erfordert der Wechsel zu einer neuen Bank Zeit, die gerade bei anstehendem Finanzbedarf oft zum Engpassfaktor wird. Zum anderen entstehen Kosten durch einen erhöhen Informationsaufwand und gegebenenfalls Sicherheitenübertragungen. Generell sorgt der Verzicht auf in einer Hausbankverbindung aufgebaute Verhandlungsmacht für eine ungünstigere Ausgangsbasis bei der Suche nach Lieferalternativen. Fast programmiert ist die Enttäuschung von Erwartungen in einer Unternehmenskrise. Wird mit der Sicherung der finanziellen Basis bis in die Phase der Liquiditätskrise gewartet, dann sorgt der existentielle und zeitliche Druck für oft nicht erfüllbare Erwartungen, die sich zentral auf die vorrangig geforderte Hausbank fokussieren. Besonders schwierig wird es, wenn die Hausbank selbst in einer schwachen wirtschaftlichen Lage sein sollte. Dann sind deren Spielräume in 140 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? allen Lieferentscheidungen, vorrangig in der Bereitstellung von Kredit, der Flexibilität bei Konditionen und auch dem Angebot von Informations- und Beratungsleistungen, eingeengt. Die in einer solchen Hausbank ablaufenden internen Maßnahmen und Veränderungen sorgen zudem regelmäßig für Beeinträchtigungen oder Unterbrechungen in der Kontinuität bei den Beratungsstrukturen und damit für eine Reduzierung der aufgebauten Hausbank-Vorteile. Das Hausbank-Modell als Hoffnungsträger Die dargestellten Vorteile und Risiken von Hausbankbeziehungen sowohl aus Sicht einer Bank wie auch aus Sicht eines Unternehmenskunden machen deutlich, dass auf beiden Seiten Abwägungen vorzunehmen sind. Für beide Partner bietet eine solche Geschäftsverbindung Vorteile, die diese auf Bankenseite einer produktorientierten Absatzstrategie und auf Unternehmensseite einem fallweise festgelegten System von Lieferantenbanken überlegen machen. Voraussetzung ist allerdings, dass die bestehenden Risiken beherrschbar gemacht werden, das heißt, die Risiken müssen durch entsprechende Informationen transparent und kalkulierbar und durch angemessene Absprachen und Vertragsbedingungen tragbar gemacht werden. Die Ambivalenz von Vorteilen und Risiken ist Kern der Auseinandersetzung um das Hausbank-Modell, das in Krisenzeiten ob seiner mangelnden Tragfähigkeit im Kreditgeschäft oft heftig kritisiert wird, zugleich aber mit seinem regelmäßigen Wiedererstarken in Rekonvaleszenz- und Aufbauphasen seine Robustheit zum Vorteil der Geschäftspartner immer wieder unter Beweis stellt. Aus der vorliegenden Analyse lassen sich nun zwei Ansätze ableiten, die zur Beherrschbarkeit der Risiken und damit zur Nutzung der Vorteile des Hausbank-Modells führen: 1. Der Aufbau und die regelmäßige Bestätigung realistischer Erwartungen auf beiden Seiten (Erwartungsmanagement). 2. Die Vermeidung von Abhängigkeiten und starken Ungleichgewichten in der Partnerschaft (Machtmanagement). Im Brennpunkt der Erwartungen eines Unternehmens an seine Hausbank steht deren Kreditbereitschaft. Wie festgestellt sollte Kredit im erforderlichen Umfang, in der notwendigen Zeitdauer und zu akzeptablen Bedingungen erhältlich sein. Realistisch werden diese Erwartungen, wenn der Kreditnehmer ein klares Bild von den Kriterien und Parametern der Kreditentscheidungen bei den Banken allgemein und bei seiner Hausbank im Speziellen hat. An den so gesetzten Anforderungen ist die Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 141 eigene Situation zu spiegeln und in den Bewertungen wechselseitig abzustimmen. Diesem grundlegenden Anspruch lässt sich seit Einführung der bankinternen Ratingsysteme sehr viel präziser und umfassender Rechnung tragen als in der Vergangenheit. Hier werden die Informationen des Kreditnehmers durch die Bank systematisch zusammengestellt, bewertet und zu einem Krediturteil zusammengeführt. An dieser Stelle soll nicht in einer Auflistung auf die differenzierten Kataloge mit einer Vielzahl quantitativer und qualitativer Kriterien eingegangen werden. Auf einige Punkte mit besonderem Potential für Missverständnisse und Einschätzungsdifferenzen soll gleichwohl hingewiesen werden. So ist es wichtig, sich neben der bilanziellen Kapitalstruktur ergänzend Klarheit über bestehende Kapitalreserven zu verschaffen. Hierzu gehören mobilisierbare Reserven beim Eigenkapital wie auch freie Kreditlinien. Der Kreditnehmer sollte sich bewusst sein, dass der Kontokorrentkredit aus Sicht der Bank der variablen Inanspruchnahme dient. Feste Kreditsockel sollten laufzeitkongruent refinanziert werden. Regelmäßig zu Meinungsverschiedenheiten führt die Bewertung von Vermögensgütern. Sorgen bei den Sachanlagen die steuerlichen AfATabellen noch für eine auf beiden Seiten in der Regel akzeptierte Diskussionsbasis, so sind die Wertansätze bei den Warenbeständen und Forderungen oft von geringerer Konsequenz und vielfach von Hoffnungen geprägt. Banken machen entsprechende Erfahrungen dann im Verwertungsfall, wo meist nur geringe Quoten zu erzielen sind. Kreditnehmer sollten wahrnehmen und akzeptieren, dass dieses Worst-Case-Szenario regelmäßig den Hintergrund für die Bewertung von Sicherheiten auch bei gut laufenden Unternehmen im Normalgeschäft bilden muss. Wichtige Informationen ergeben sich im Übrigen aus der Transparentmachung substantieller sonstiger Verpflichtungen des Unternehmens, die nicht in der Bilanz erscheinen. Sich über latente Risiken aus abgegebenen Bürgschaften und Garantien sowie vertragliche Verpflichtungen aus Gewährleistungen, Produkthaftungen und Leistungsvereinbarungen im Klaren zu sein und diese systematisch zu verfolgen und zu begrenzen, muss ureigenstes Interesse eines Unternehmens sein. Hierbei sind gerade auch die organschaftlichen Verflechtungen innerhalb einer Unternehmensgruppe umfassend zu berücksichtigen. Hinzuweisen ist schließlich auf die Bedeutung einer Reihe von qualitativen Faktoren wie Branche und Positionierung des Unternehmens darin, Mitarbeitersituation und -struktur, vor allem aber auch Besetzung und Kontinuität in der Unternehmensführung. Hier ist eine Objek- 142 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? tivierung – wenn auch in unterschiedlichem Maße – immer wieder schwierig. Verbindliche Bewertungen mit der Chance auf intersubjektive Belastbarkeit und auf Vergleichbarkeit mit anderen Unternehmen erfordern neben nachvollziehbaren Informationen ein hohes Maß an gegenseitigem Verständnis und Fairness. Allerdings muss sich ein Kreditnehmer darüber im Klaren sein, dass auch dann, wenn diese Parameter nicht detailliert besprochen und bewertet werden, die Bank diese Beurteilungen intern nach eigenem bestehenden Wissen vornimmt und dabei naturgemäß eher vorsichtig vorgeht. Realistische Erwartungen der Kunden an die Kreditbereitschaft einer Bank setzen also die differenzierte Kenntnis deren Kreditentscheidungsund Kreditnehmer-Beurteilungssysteme voraus. Im Sinne dieses Eigeninteresses sind die gestellten Anforderungen der Banken auf Seiten der Unternehmen ernst zu nehmen, Begründungen für die Einschätzungen abzufordern und nachzuvollziehen, wo nötig, ergänzende Informationen bereitzustellen und schließlich eigene Einschätzungen einzubringen, aber auch zu überprüfen. Über einen solchen Dialog ist es möglich, Fehler zu korrigieren und Urteile zu schärfen, gegebenenfalls aber auch Veränderungsspielräume zu identifizieren und entsprechende Maßnahmen abzustimmen. Für die Verlässlichkeit empfiehlt sich eine schriftliche Protokollierung der Gespräche, für die Aktualität eine regelmäßige Überprüfung der Einschätzungen. Es ist offensichtlich, dass ein solcher Dialog aufwendig ist. Als Kosten der Finanzierung macht er sich aber bezahlt und ist dann am zweckmäßigsten grundlegend zu starten, wenn kein aktueller Finanzierungsdruck vorliegt. Bei später auftretendem Bedarf ist eine Bestätigung oder Aktualisierung dann immer wieder schnell und kostengünstig möglich. Vor dem aufgezeigten Hintergrund führen Aversionen gerade auch mittelständischer Unternehmer gegen einen solchen Aufwand regelmäßig zur Enttäuschung von Erwartungen. Allgemeine Aussagen wie „Wir brauchen das Vertrauen der Banken, dass wir unser Geschäft beherrschen“ oder „Wir würden gerne investieren, aber das notwendige Geld wird uns von der Bank nicht gegeben“ begründen keine Kreditbereitschaft von Banken. Ebenfalls offensichtlich ist, dass eine Hausbankbeziehung mit ihren charakteristischen Elementen deutliche Vorteile für solche Dialoge und damit für realistische Erwartungen an die Geschäftspartner bietet. Dies gilt gerade auch in einer Unternehmenskrise. In dieser Situation sind Hausbanken regelmäßig in einer Schicksalsgemeinschaft mit ihren Kunden. Insolvenzen zerstören Werte auf beiden Seiten. Geht es um die Überbrückung von Liquiditätsengpässen, kann dies vor allen anderen Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 143 von der Hausbank erwartet werden. Wird das Unternehmen andererseits als nicht überlebensfähig eingestuft und Kredit in dieser Situation abgelehnt, sollte eine Hausbank zumindest zweierlei leisten: 1. Eine klare Analyse und deren schnelle und offene Kommunikation. 2. Das Nachdenken über Bedingungen, wie es eventuell doch weitergehen könnte: „Wenn so nicht, wie dann?“ Dies kann gegebenenfalls auch harte Einschnitte wie Teilverkäufe und Diversifizierungen beinhalten. Letztlich wird es aber je nach Stadium der Krise immer wieder die Entscheidung auch einer Hausbank geben, nicht mehr weiter mit Kredit zur Verfügung zu stehen. Hier greift die Verantwortung der Banken für ihnen anvertrautes, fremdes Geld, die Kredit nur erlaubt im Vertrauen und in der Überzeugung, diesen wieder zurückzuerhalten. Bei klar absehbarer Wertevernichtung sind Erwartungen auf eine Krediterhältlichkeit nicht realistisch. Berechtigterweise erwarten dürfen Unternehmen von ihren Hausbanken allerdings einen anhaltend fairen Umgang mit der notwendigen Empathie. Zu Recht sind Stil, Offenheit und Klarheit der Kommunikation sowie Verlässlichkeit der Aussagen sensibel wahrgenommene Elemente einer derartigen Geschäftsverbindung. Erwartungen von Banken richten sich demgegenüber in besonderer Weise auf: a. Informationen von Seiten des Kundenunternehmens, b. dessen unternehmerische und finanzielle Führung sowie c. Abschluss- und Erfüllungstreue bei den Finanzgeschäften. Die Informationsvergabe des Kunden steht im Zentrum der Erwartungen einer Hausbank an eine derartige Geschäftsverbindung. Grundsätzlich ist die Bank an allen Informationen über das Kundenunternehmen interessiert. Wenn dann noch die üblichen Anforderungen wie zeitnah, vollständig, offen und zuverlässig und dabei für die Hausbank bevorzugt genannt werden, wird deutlich, dass ein solcher diffuser Generalanspruch eher „absicherungstechnisch“ motiviert ist, einem belastbaren Informationsmanagement und den darauf gerichteten Erwartungen aber nicht gerecht werden kann. Erfüllbarkeit erfordert Präzisierung. Ohne sich bis ins letzte Detail festlegen zu müssen, erscheinen hier zwei Unterscheidungen nützlich: 1. Regelmäßig anfallende und erwartbare Geschäftsinformationen versus fallweise auftretende, nicht erwartbare Neuigkeiten. 144 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 2. Im Unternehmen vorhandene, weil im Eigeninteresse erstellte Informationen versus für Banken wünschbare, aber speziell zu erstellende Auswertungen. Bei 1. kann von den Banken erwartet werden, dass sie den ersten Teil so genau wie möglich und in gegenseitiger Absprache definieren. Bei den zweitgenannten Informationen muss eine Hausbank dann wiederum verlässlich eine bevorzugte, zeitnahe und inhaltlich umfassende und korrekte Kommunikation erwarten dürfen. Bei 2. zeigt sich erneut, dass eine belastbare Bankbeziehung ein gewisses Maß an Know-how und Aufwand im Unternehmen mit sich bringt. Anspruch an die Hausbank ist allerdings, als zumutbar akzeptable Anforderungen zu stellen. Dabei spielt eine große Rolle, inwieweit spezielle Ausarbeitungen auch für das Unternehmen selbst in dessen Führung genutzt werden können oder nützlich sind. Generell verschafft die Rückmeldung über Inhalt und Bewertung gegebener Informationen eine breitere Akzeptanz bestehender Erwartungen der Bank. Ein sensibler Bereich im Dialog mit der Hausbank ist regelmäßig die Kommunikation über die unternehmerische und finanzielle Führung des Unternehmens. Gerade bei kleineren und inhabergeführten Betrieben ist dieses Thema immer wieder emotional geprägt. So notwendig die Zurückhaltung bei schnellen Ratschlägen im Kern-Know-how der Unternehmensleitung ist, so berechtigt ist oft die Hilfestellung in finanziellen Fragen. Nicht umsonst wird dann von der Hausbank und gut ausgebildeten Firmenbetreuern als einer quasi externen finanzwirtschaftlichen Stabsstelle des mittelständischen Unternehmers gesprochen. Dies übergeht aber mitunter dessen anhaltende Verantwortung, selbst für eine tragfähige Liquiditätssteuerung und auch Finanzplanung mit rechtzeitiger Deckung von Bedarf beziehungsweise dem Aufbau finanzieller Reserven zu sorgen. Hier nicht erst in der Liquiditätskrise zu reagieren, sondern vor der vorangehenden Ertragskrise und davor den strategischen Marktproblemen nicht die Augen zu verschließen und gegenzusteuern, ist wiederum ureigenste Fähigkeit einer guten Unternehmensführung. Dass dann in der Krise Kreditgeber den Mut und die Konsequenz zu auch harten Einschnitten und Änderungen erwarten, ist nur folgerichtig. Wenn schließlich Hausbanken eine bevorzugte Ansprache und Angebotsprüfung bei interessanten Neugeschäften erwarten, dann steht dem naturgemäß die Erwartung des Unternehmens gegenüber, im Wettbewerb der Banken hier bei Leistung und Preisen zumindest nicht schlechter gestellt zu werden. Leistungsabstriche oder höhere Preise verträgt eine Hausbankverbindung nur in begründbaren Ausnahmen. Anderer- Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 145 seits sollte eine etablierte Verbindung am ehesten auch die gegenseitigen Positionen glaubwürdig und nachvollziehbar machen und so zum Beispiel den Anspruch „Banken brauchen ein rentables Kreditgeschäft“ nicht zum vordergründigen Verhandlungsargument um Zinsen degradieren. Die breite Erörterung von Erwartungen auf beiden Seiten der Hausbankverbindung und die Betonung der Wichtigkeit, mit diesen Erwartungen offen und aktiv umzugehen, begründet sich letztlich in einer fokussierenden Feststellung: Vertrauen entsteht durch Glaubwürdigkeit, Glaubwürdigkeit durch Nichtenttäuschung von Erwartungen. Über den realistischen Umgang mit den wechselseitigen Erwartungen wird die wesentliche Grundlage für eine dauerhafte, positiv wirkende Hausbankverbindung gelegt und gepflegt: das gegenseitige Vertrauen. Ein zweites Element einer partnerschaftlichen Geschäftsbeziehung soll abschließend noch in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden: die Ausgewogenheit, die Balance in den gegenseitigen Abhängigkeiten. Abhängigkeiten beschneiden die unternehmerischen Handlungsspielräume; im Extrem dominieren sie wesentliche Entscheidungen. Sorge von Unternehmen ist vor allem die Abhängigkeit von der Kreditbereitschaft der Banken im Generellen und der Hausbank im Speziellen. Wirksames Vorgehen ist hier vor allem, die eigene Kreditfähigkeit und deren Spielräume und Einflussfaktoren zu kennen und im Sinne der Banken richtig einzuschätzen. Gerade in – branchenbedingt und noch mehr konjunkturbedingt – volatilen Märkten gibt eine (speziell im Branchenvergleich) hohe Eigenkapitalquote die Sicherheit der Unabhängigkeit. Bei den andererseits regelmäßig notwendigen und auch ökonomisch sinnvollen anteiligen Kreditfinanzierungen empfiehlt es sich für Unternehmen, sich Alternativen bei Kern-Kreditgebern aufzubauen. Hierzu gehört auch, auf die Verfügbarkeit und Fungibilität von Sicherheiten zu achten. Dieser Ansatz gilt aber auch für die anderen Leistungselemente der Banken wie das Transaktionsgeschäft, das Fremdwährungsgeschäft und das Einlagengeschäft. Leistungsalternativen sorgen hier für den notwendigen Wettbewerb mit der Konsequenz adäquater Leistungen und Preise. Mit diesen Überlegungen wird deutlich, dass die ausschließliche Ausrichtung auf eine einzige Bankverbindung auch bei einem guten Erwartungsmanagement für ein Unternehmen immer noch substantielle Risiken beinhaltet. Die Etablierung von Alternativen in Form von zwei gleichberechtigten Verbindungen reduziert diese Probleme. Bei überschaubar erhöhtem Aufwand lassen sich die charakteristischen Elemente einer 146 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? Hausbankbeziehung in offener Kommunikation der Partner auch auf zwei Banken übertragen und deren Vorteile vom Unternehmenskunden nutzen. Das so praktizierte Zwei-Banken-Modell erscheint im Sinne eines effizienten Machtmanagements das überlegene Hausbank-Modell aus Sicht eines Unternehmens. Es verträgt im Kreditgeschäft – wenn nötig – auch durchaus die Einbeziehung weiterer Banken in die Aufteilung und Deckung auftretenden Kreditbedarfs. Allerdings sollte in diesen Fällen die besondere Verantwortung der zwei Hausbanken herausgestellt und im Finanziererkreis berücksichtigt werden. Für eine Reduzierung von Abhängigkeit sorgt schließlich auch eine gewisse Balance in der Bedeutung eines Unternehmens als Kunde einer Bank. Ein zu geringes Gewicht sorgt für die Gefahr einer niedrigen Aufmerksamkeit im Eingehen auf Kundenwünsche und -bedarf. Ein zu hohes Gewicht führt zur Einschränkung der Unabhängigkeit der Bank bei neuen Entscheidungen aufgrund deren starken Wirkung auf das eigene Geschäft. Die Verlagerung ertragreicher Geschäfte durch den Kunden hinterlässt in diesem Fall besondere Spuren in der G+V der Bank. Speziell im Kreditgeschäft bedeutet dies aber nicht nur das potentielle Wegfallen künftiger Erträge, sondern in Unternehmenskrisen auch die Gefahr von einschneidenden Vermögensverlusten. Je größer die Bedeutung eines Kreditkunden für eine Bank ist, umso stärker steht diese dann unter einem Stillhalte- beziehungsweise Prolongationsdruck bis hin zur Abwägung, mit zusätzlichen Krediten ein bestehendes Engagement zu sichern oder zu retten. Die hier dargestellten Zusammenhänge spielen im Bewusstsein der Geschäftspartner in der Praxis eine große Rolle. Nicht umsonst wird von Unternehmen im Rahmen ihrer Finanzierung auch bei gut funktionierenden Beziehungen immer wieder die Unabhängigkeit von Banken als Ziel genannt. Bei Banken kommt in dem Begriff der Schicksalsgemeinschaft mit Kreditkunden das Eingeständnis der hier nur bedingt gegebenen Entscheidungsfreiheit zum Ausdruck. Mit dem Zwei-BankenModell verteilen sich die Lasten in einer am besten tragbaren Weise auf die Partner. Es erscheint unter Würdigung von Vorteilen und Risiken am ehesten belastbar und tragfähig und könnte somit durchaus die Qualität eines zukünftigen Hoffnungsträgers im Geschäft zwischen Banken und Unternehmen bieten. Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? 147 Literatur Ashauer, Günter: Entwicklung der Sparkassenorganisation ab 1924, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1983. Born, Karl Erich: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zum Ende der Weimarer Republik (1914–1933), in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1983. Eckert, Christian: L. Rothschilds Taschenbuch für Kaufleute, 55. Auflage, Leipzig 1912. Elsas, Ralf: Die Bedeutung der Hausbank, Wiesbaden 2001. Eschenbach, Sebastian: Wenn Kunden ihrer Bank vertrauen, Wien 1997. Fischer, Klaus: Hausbank-Beziehungen als Instrument der Bindung zwischen Banken und Unternehmen, Bonn 1990. Pohl, Manfred: Die Entwicklung des deutschen Bankwesens zwischen 1848 und 1870, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1982. Pohl, Manfred: Festigung und Ausdehnung des deutschen Bankwesens zwischen 1870 und 1914, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 2, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1982. Pohl, Manfred: Die Entwicklung des privaten Bankwesens nach 1945. Die Kreditgenossenschaften nach 1945, in: Deutsche Bankengeschichte, Band 3, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt am Main 1983. Segbers, Klaus: Die Geschäftsbeziehungen zwischen mittelständischen Unternehmen und ihrer Hausbank, Frankfurt 2007. Stegmann, Johannes: Funktionen der Hausbank bei der Unterstützung von Unternehmensgründungen, Lohmar/Köln 2006. Weber, Martin: Bankbetriebslehre, Berlin 2004. 148 Die Hausbank – Auslaufmodell oder Hoffnungsträger? Abbildung 19: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Banken I Abbildung 20: Angela Rohde, Kunstkreditkarte: Banken II Vertrauen in der Krise? Das ewige Karussell des Wertezerfalls Stefanie Unger „Eher schätzt man das Gute nicht, als bis man es verlor“, soll der Dichter Johann Gottfried Herder gesagt haben. Und er sollte recht behalten. Zumindest im öffentlichen Raum erklingen Klagen über das Fortschreiten des Werteverfalls, der, angeführt durch die „Abzockermentalität“ in den Chefetagen der Banken, die Gesellschaft beinahe in den Abgrund geführt hätte. Vor wenigen Jahren ging die Wirtschaft nur bergauf, mehr Risiko brachte mehr Gewinn. Nichts schien unmöglich. Und nun soll man sich zurückbesinnen auf eine Zeit, in der noch alles anders war, die freie Marktwirtschaft noch den Geboten der Rücksichtnahme und Angemessenheit folgte. Am besten sollte über staatliche Regularien gleich der Zwang zur Huldigung dieser Gebote zementiert werden, um eine nachhaltige Marktwirtschaft auf immer zu sichern. Kennen wir dieses Schauspiel nicht allzu gut, das Auf und Ab der Wirtschaft, der antizyklische und gleichsam iterative Schrei nach mehr oder weniger Staat? War zur Zeit der New Economy nicht ein ähnlicher Verlauf zu beobachten? Mit dem Unterschied, dass die aktuelle Krise – zumindest in Deutschland – noch stärker eingeschlagen hat. Das wissen die Experten. Doch wie konnte es nur so weit kommen? Diese Frage stellen sich nun alle. Wenn wir die Unternehmensleitbilder unterschiedlichster Unternehmen studieren, fällt eines auf: Alle behaupten, ähnliche Werte zu leben. Alle halten Werte hoch, die auf eine erfolgreiche Firma mit gepflegtem Umgang im Hinblick auf interne und externe Ansprechgruppen schließen lässt. Alle wollen sie nachhaltig sein – sozial, ökologisch und ökonomisch versteht sich. Doch nachhaltig ist vor allem eines – die Krise. Bereits die Ähnlichkeit der Unternehmensleitbilder – neben gewissen Branchenspezifika: Banken sind diskret, Technologiefirmen sind innovativ – sollte einen nachdenklich stimmen. Kann es sein, dass alle Firmen derart ähnliche Werte leben? Und werden die großgeschriebenen Werte in den Hochglanzbroschüren überhaupt gelebt, oder sind es doch nur Marketing-Slogans? Vertrauen in der Krise? 151 Wir alle kennen die Antwort. Die kommunizierten und gelebten Werte klaffen oft weit auseinander. Auch wenn die gelebten Werte für den Erfolg oder Misserfolg des Unternehmens ausschlaggebend sind, stehen sie oft nicht im Fokus der Chefetagen. Gelebte Werte tragen jedoch zur Steigerung der Reputation eines Unternehmens bei den verschiedenen Stakeholdern bei und treiben den Aktienwert in die Höhe. Kulturelle Werte schaffen ökonomischen Wert und vice versa. Dies scheint jungen Führungskräften verstärkt bewusst zu werden, wie eine Studie der Wertekommission kürzlich gezeigt hat. Werte seien aus ihrer Sicht kein „Soft Fact“ mehr, sondern ein hartes Kriterium zur Unternehmensbewertung. Dies lässt Hoffnung aufkommen. Hoffnung, dass Unternehmer und Manager wieder verstärkt die Unternehmenswerte in den Analysefokus nehmen und einen verstärkten Wertedialog über die Zukunft des Unternehmens führen. Denn dies ist gerade in Zeiten der Krise und des Umbruchs von zentraler Bedeutung. Wie Molière einst sagte: „Die Dinge haben nur den Wert, den man ihnen verleiht.“ Das gilt auch für die Werte selbst. Werte in der Krise oder Krise der Werte? Vor sechs Jahren habe ich die erste Auflage des Buches „Vertrauen ist gut“ veröffentlicht. Den Anstoß dafür hatte mein persönliches Erleben um den Enron-Skandal gegeben, in den mein damaliger Arbeitgeber Arthur Andersen hautnah involviert war. Die erste Auflage trug daher die Frage als Untertitel: „Braucht die Wirtschaft mehr Kontrolle?“ Mit dieser Frage begab ich mich auf eine Reise, um mit Deutschlands Führung über die Ursachen und potentielle Lösungsansätze zu sprechen. Antworten fand ich im Dialog mit den Führungskräften der Unternehmen darüber, wie sie ihren Alltag, ihr Umfeld und ihre täglichen Konflikte erleben und bewältigen. Dabei habe ich festgestellt, dass auch in den Führungsetagen ein großes Interesse an werteorientiertem und nicht allein wertorientiertem Unternehmertum besteht. Unabhängig von der Position in der Unternehmenshierarchie liegt es jedoch an jedem Einzelnen, einen Beitrag zu einer vertrauensvollen Unternehmenskultur zu leisten. Gerade in einer Zeit des Vertrauensverlustes muss man aber auch gemeinsam daran arbeiten, dieses wiederherzustellen. Dabei sind Führungskräfte besonders gefragt, da sie sowohl im Positiven als auch im Negativen eine Vorbildfunktion haben. Mit dem Leitsatz „Menschen bewegen“ habe ich gemeinsam mit Persönlichkeiten aus der Wirtschaft die Initiative „Wertedialog“ ins Leben gerufen, in der es darum geht, Diskussionen über Werte anzustoßen, werteorientiertes Handeln zu fördern und in Unternehmen zu veran152 Vertrauen in der Krise? kern. Wenn die Menschen an der Unternehmensspitze ihrer Vorbildfunktion gerecht werden und das vorleben, was sie von ihren Mitarbeitern erwarten, dann – davon bin ich überzeugt – können werteorientierte Unternehmen entstehen, die langfristig auch eine höhere Wertschöpfung erzielen. In den vergangenen sechs Jahren hat sich in der Welt vieles verändert, nicht nur in der Weltwirtschaft, sondern auch in der Gesellschaft und in der politischen Landschaft. Die Finanzkrise hat gezeigt, dass kurzfristiges Streben nach Profit die globale Wirtschaft an den Rande eines Abgrunds führt und wir intelligentere und wirksamere Mechanismen der Regulierung benötigen. Der Staat sollte die Unternehmen dabei unterstützen, Anreize so zu setzen, dass Vergütung und Verantwortung in der Unternehmenswelt zusammengeführt werden. Leistung sollte honoriert werden, aber Honorar und Verantwortung für das unternehmerische Risiko müssen zusammen auf der Unternehmerseite liegen. In der gesellschaftlichen Entwicklung ist es vor allem das Internet und der Boom des Social Networking, das den Menschen neue Perspektiven in der Bildung und im Austausch bietet. Früher einem kleinen Kreis vorbehaltene Harvard-Vorlesungen sind schon heute für jedermann kostenlos zugänglich. Lernen bedeutet in Zukunft mehr Eigenverantwortung. Gleichzeitig kann man über den Großteil der arbeitenden Bevölkerung, insbesondere über selbständig Tätige, Informationen im Internet finden. In Zukunft werden diejenigen Menschen unternehmerisch erfolgreich sein, die als Freunde und zuverlässige Partner gelten. Hier bieten die Möglichkeiten des Internet eine neue Form der gesellschaftlichen Selbstkontrolle. Die weltweite Resonanz auf die Wahlen in den USA hat gezeigt, dass Menschen sich Veränderung wünschen und dass sie dabei Vorbilder und Leader brauchen. Menschen sind bereit, für eine gute Sache zu kämpfen. Letztlich sind es auch die vielen Veränderungen in Deutschlands Chefetagen, die großen Einfluss auf die Entwicklung unseres Landes haben. In der aktuellen Wirtschaftskrise sind verschiedene Unternehmenstypen mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Börsennotierte Unternehmen sehen sich zum Teil einer Kehrtwende des bewährten Modells der Privatisierung ausgesetzt. Angeschlagene Unternehmen wurden verstaatlicht oder können nur mit Staatsgarantien überleben. Die Privatunternehmen und insbesondere die traditionsreichen deutschen Familienunternehmen gehorchen seit jeher eigenen Gesetzen und sind weniger stark an das Prinzip des Shareholder Value gebunden. Sie verfolgen eine langfristige, wachstumsorientierte Strategie, haben sich im Einklang mit ihrem Umfeld über lange Zeit etwas erarbeitet und nehmen in der deutschen Wirtschaft eine Vorbildfunktion ein. Eine Vertrauen in der Krise? 153 Sorge der Privatunternehmen ist die durch die Finanzkrise ausgelöste Kreditklemme, die manche Privatunternehmen in die Insolvenz geführt hat. Die Global Players müssen sich dem mit der Globalisierung einhergehenden Wettbewerbsdruck stellen. Die Frage, die ich an den Anfang der ersten Auflage meines Buches gestellt habe: „Braucht die Wirtschaft mehr Kontrolle?“, kann ich heute mit einem klaren „Ja“ beantworten. Die fehlende Kontrolle sehe ich jedoch nicht auf Seiten des Staates. Letztlich sind wir es selbst, die in unserem Umfeld Verantwortung übernehmen und auch mal ungefragt die Initiative ergreifen können oder mal nicht weggucken, wenn etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Ich glaube, wir als Gesellschaft, jeder Einzelne, kann unser Land und unsere Wirtschaft voranbringen, jeder auf seine Art. Erleben wir eine Krise der Werte oder erleben wir Werte in der Krise? Leben wir Werte in der Krise! 154 Vertrauen in der Krise? Abbildung 21: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Marken I Abbildung 22: Iris Stephan, Kunstkreditkarte: Marken II Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens Markenführung als ethisches Prinzip – oder: Warum Vertrauen verpflichtet Frank Merkel Das Mittelalter scheint bis zum heutigen Tag tief in uns nachzuwirken: Haben wir doch ein gehöriges Misstrauen allzu lauten Anpreisungen gegenüber. Wir vermuten sehr schnell, dass uns clevere Verkäufer übers Ohr hauen wollen, und sehnen uns nach dem ehrbaren Kaufmann, dem wir fast blindlings vertrauen können. Der Jahrmarktsverkäufer, der nicht nur lautstark ist, sondern auch Preise wie auf dem Basar gestaltet, wirkt bis zum heutigen Tag in uns nach – und hat über Generationen die Erde verbrannt. Der ehrbare – am besten noch hanseatische – Kaufmann hingegen ist das Urbild für Unaufdringlichkeit, Zuverlässigkeit und Qualität, für die der gute Name bürgt. Jahrmärkte gibt es immer noch – und ihnen haftet weiterhin der Geruch des Unseriösen an. Aber wie steht es mit den ehrbaren Kaufleuten? Sind sie industriell wegrationalisiert worden? Folgt man den hartgesottenen Konsumkritikern, sollte man alle kommerziellen Angebote möglichst misstrauisch betrachten und lieber das Geld für „weiße Ware“ ausgeben, ohne optische Verführung und mit nichts anderem auf der Verpackung und dem Angebot als der reinen Funktionsbezeichnung. Aber nehmen wir doch einfach mal an, dass menschliche Wesen nicht nur funktionieren, sondern Freude am Leben haben wollen. Akzeptieren wir, dass es nicht nur den Homo sapiens und den Homo oeconomicus, sondern auch den Homo ludens gibt. Dass wir also einen schwer berechenbaren Mix aus Verstand, Berechnung und Spielerischem darstellen, uns aber gleichzeitig die Transparenz fehlt, um bei einem unüberschaubaren Angebot mit sicherem Gefühl zu wissen, was eine gute Entscheidung ist. Was wir herbeisehnen, ist Orientierung. Wie wäre es dann, wenn der sogenannte ehrbare Kaufmann sich in dem ganzheitlichen Konzept des Markenartikels wiederfindet? Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens 157 „Markierung“ – eine jahrtausendealte Idee Die Idee des markierten Produktes, das für Qualität steht und dem Kunden ein beruhigendes Gefühl vermittelt, gab es schon im alten Rom – bei Dachziegeln. Die Zunftzeichen des Mittelalters standen für handwerkliche Exzellenz, und die gekreuzten Schwerter des Meißner Porzellans bürgen seit 1731 für allerbeste Porzellanqualität. Wir können also bis hierher einmal festhalten: Hinter Markierungen durch Signets steht weit mehr als eine optische Kennzeichnung. Es geht um materielle und immaterielle Werte, um Versprechen, die eingelöst werden müssen. Geschieht dies nicht, folgt die Enttäuschung auf dem Fuße. Oder es entsteht Misstrauen, das nicht mehr schwindet. Wer bereit ist, ein Angebot – gleichgültig ob Ware oder Dienstleistung – kenntlich zu machen, gibt ein Bekenntnis ab. Er versteckt sich nicht in der Anonymität, sondern ist identifizierbar und damit kritisierbar. Oder ignorierbar. Homogene Massenprodukte waren die ersten der modernen Wirtschaftswelt, die sich an die Öffentlichkeit als Marken wandten – Beispiele hierfür sind Persil, Erdal, Nivea. Ihr Versprechen war eine gleichbleibende Qualität, Korrektheit im Angebot – und Preiswürdigkeit. Sie wurden bereits von unseren Urgroßeltern gekauft und werden es wohl auch schaffen, die nächsten Generationen zu überzeugen. Im Jahr 1939 veröffentlichte Hans Domizlaff sein Buch „Die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens“. Es kann mit Fug und Recht als erstes Standardwerk zur systematischen Entwicklung von Marken verstanden werden und gilt heute immer noch als höchst relevant. Domizlaff gibt keine pure Gebrauchsanweisung, sondern vermittelt die Philosophie, die hinter jeder echten Marke steht. Natürlich kann man sich daran reiben, wenn Domizlaff von massenpsychologischen Grundsätzen schreibt. Und nicht jedem mag es behagen, wenn er martialisch von „Kampfmethoden“ spricht. Letztendlich können seine Gedanken aber auch bei der Stiftung Warentest Gnade finden, plädiert er doch in seinen Grundsätzen für eine konsequente Qualitätspolitik, ein faires Preis-Leistungsverhältnis, einen seriösen Umgang mit Versprechungen und eine hohe Stilsicherheit in jeder Form der Kommunikation. Domizlaff selbst verurteilte in höchstem Maße hard selling – wie es vom marktschreierischen Jahrmarktsverkäufer praktiziert wird. Oder von allen, bei denen es „20 Prozent Rabatt auf alles, außer Tiernahrung“ gibt. 158 Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens Manches Unternehmen, das sich heute selbst hochtrabend als Marke bezeichnet, verstößt gegen die Prinzipien der Markentechnik auf Schritt und Tritt. Im Folgenden soll erläutert werden, warum der Gedanke der Marke eine höchst ethische Angelegenheit ist und warum wir uns als Kunden über jedes Unternehmen freuen sollten, das sich dem Gedanken der Markenführung konsequent verschreibt. Ohne bedingungsloses Qualitätsverständnis keine Marke Der ehrbare hanseatische Kaufmann bürgte mit seinem Namen und stand persönlich für alles ein, was nicht korrekt war: Dies schuf Vertrauen und Loyalität. Die weltweiten Produkt- und Dienstleistungsangebote lassen sich nur noch schwer mit einer einzelnen Kaufmannspersönlichkeit in Verbindung bringen. Daher sind es inzwischen Unternehmen, die als Garanten für ihr Angebot stehen. Meistens mit Kunstnamen ausgestattet, die aber konsequent mit einer Qualitätsphilosophie aufgeladen wurden. Beispiele hierfür sind Caterpillar, die dafür sorgen, dass bei einem technischen Problem ihrer hochkomplexen Maschinen innerhalb von 24 Stunden jedes Ersatzteil an jedem Ort der Erde ist. Oder IBM, die sich immer noch ihrem Gründer Thomas Watson Jr. verpflichtet fühlen, der seine Qualitätsphilosophie in ein einziges Wort packte: „Think“. Nicht umsonst ist IBM, laut Interbrand, seit Jahren eine der wertvollsten Marken der Welt und hat alle Stürme bestens überstanden. Der gerne kolportierte Satz „You never get fired by choosing IBM“ drückt aus, was es bedeutet, in den Köpfen von Menschen – auch wenn es um MillionenInvestments geht – Vertrauen aufzubauen. Aber es gibt sie auch noch, die Unternehmerpersönlichkeiten, die mit ihrem guten Namen bürgen: Seien es die Herren Hipp, Stiehl, Miele; oder Traditionsunternehmen wie Bosch, die auf eine Gründerpersönlichkeit zurückzuführen sind, deren Credo „das Billigste, was du verlieren kannst, ist Geld, das Teuerste ist dein Name“ heute noch in diesem global agierenden Unternehmen gelebt wird. Qualität hat viele Facetten. Und sie muss immer aus dem Blickwinkel des Kunden gesehen werden. Wenn Mon Chéri im Sommer seine Produkte aus den Regalen räumt, dann ganz einfach deshalb, weil ab einer bestimmten Temperatur die Konsistenz des Produktes nicht mehr den hohen Erwartungen des Verbrauchers entspricht. Wenn Hilti eine Bohrmaschine auf den Markt bringt, erwartet der Handwerker, dass sie sich durch alles wie durch Butter bohrt. Und wenn Nivea ein neues Produkt Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens 159 anbietet, erwartet der Konsument vor allem eins: dass es pflegt. Und zwar zu einem extrem fairen Preis. Was allerdings Daimler dazu bewogen hat, den Satz „das Beste oder nichts“ des alten Gründers auszugraben und in den Mittelpunkt seiner aktuellen Kampagne zu stellen, bleibt ein Rätsel. Versprechen müssen eingelöst werden, und wie ein Massenhersteller diesen Satz konsequent mit Leben füllen will, darf abgewartet werden. Damit kommen wir zu einer wichtigen Facette der echten, vertrauenswürdigen Marke – sie verspricht nie mehr, als sie halten kann. Vertrauen entsteht nur, wenn Erwartung und Erlebtes übereinstimmen. Selbstbewusstsein ist sicher ein wichtiges Merkmal einer starken Marke, denn der Kunde möchte sich, wenn auch nur symbolisch, anlehnen können. Überheblichkeit ist etwas, was keine Marke auf Dauer unbeschadet überstehen wird. Auch wenn sie eine lange Tradition wie das Haus Mercedes-Benz hat. Marken sind Persönlichkeiten und haben Charakter Im Konzept der modernen Markenführung hat sich der Gedanke durchgesetzt, dass Marken wie Persönlichkeiten zu verstehen und zu behandeln sind. Sie haben klar erkennbare äußere Merkmale, anhand derer man sie identifizieren kann. In der Übertragung auf Produkte können das Designmerkmale sein wie die BMW-Niere, die seit Jahrzehnten das Gesicht der gesamten Fahrzeugfamilie prägt. Oder es ist das gesamte Design an sich. So wie Apple es geschafft hat, mit einer schnörkellosen, puristischen Produktgestaltung Kultstatus zu erreichen. Und zwar weltweit. Steve Jobs, der Gründer von Apple, hat es aber nicht bei Äußerlichkeiten bewenden lassen. Er hat Apple als wichtigstes Charaktermerkmal „Einfachheit“ mitgegeben. Vom ersten Apple Macintosh bis zum aktuellsten i-Pad ist jedes Produkt ohne zentimeterdicke Gebrauchsanleitungen benutzbar. Diese Philosophie der Einfachheit wurde bei Apple konsequent auf Software und Dienstleistungen übertragen. Ob mit iTunes Musik, Spiele, Videos geladen werden oder mit den Apps das Leben in tausendfacher Form einfacher wird: Apple bleibt sich konsequent treu und ist damit ebenfalls eine der wertvollsten Marken der Welt geworden. Kritiker bemängeln bereits die Dominanz von Apple und das monopolhafte Gehabe. Unter gesellschaftspolitischen Aspekten mögen sie recht haben. Aus dem Blickwinkel der Markenführung bestätigen sie die erreichte Vision der Monopolstellung in der Psyche des Verbrauchers. Wie weit das führt, kann man im Berufsleben ausprobieren, wenn man 160 Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens einem Art-Direktor den Apple Computer wegnehmen und durch einen PC ersetzen möchte. Auch wenn in beiden Rechnern ein Intel-Chip steckt und die Software vergleichbar ist – das Gefühl ist ein anderes. Im Extremfall würde man die Kündigung eines hochgeschätzten Mitarbeiters riskieren. So wie beim Menschen seine Grundanlagen in den Genen stecken und die Umwelt im Verlauf der Jahre die Gesamtpersönlichkeit formt und beeinflusst, so haben auch starke Marken einen genetischen Code, der sie prägt. Er entstand nicht im luftleeren Raum, sondern durch Herkunft, Wurzeln, Überzeugungen. Miele wollte der Hausfrau das Leben leichter machen und durch Zuverlässigkeit und robuste Qualität überzeugen. So entstanden die besten Waschmaschinen, Trockner, Herde der Welt. Gleichzeitig verschloss man sich nicht technologischen Entwicklungen und integrierte sinnvoll und zuverlässig Elektronik in die Funktionen – wiederum mit dem Ziel, das Leben einfacher zu machen. Je komplexer aber die Technik wurde, desto größer wurde das Risiko von Störungen und Pannen. Ganz im Sinne des Basischarakters wurde ein zuverlässiger und schneller Kundendienst aufgebaut, der Pannen umgehend behebt. Das Ergebnis dieser wertegeprägten Marke ist ein über Generationen treuer Kundenstamm – weltweit. Vertrauen wurde geschaffen und nie enttäuscht. Das Negativbeispiel für eine Markenerosion durch Zerstörung von Vertrauen ist die Armaturenmarke Grohe. Nachdem die Inhaber sie an eine Venture-Capital-Gesellschaft verkauft hatten und dieser Prozess mehrmals wiederholt wurde, landete Grohe letztendlich bei einem chinesischen Eigentümer, den zwar das Logo interessierte, nicht aber die inhaltliche Substanz. Qualitätsmängel, Lieferengpässe mit Frustrationen bei den Handwerkern waren die Folge. Ein beispielloser Niedergang und Wertverlust der Marke waren das Ergebnis. „Nobody is perfect“ – auch eine noch so starke Marke, die geprägt ist von Werten und positiven Charaktereigenschaften. Pannen können immer passieren. Die entscheidende Frage ist, wie man damit umgeht. Eine starke Marke hat einen emotionalen Kredit beim Kunden. Er lässt sich schlagartig abheben oder im vertretbaren Maße beanspruchen. Als Mercedes-Benz bei der Einführung der A-Klasse mit dem Elchtest ein massives Sicherheitsproblem hatte, verstieß die Marke gegen einen Wert, der im genetischen Code festgelegt ist. Die umgehende Reaktion mit einem Auslieferungsstopp und dem mehrkostenfreien Einbau eines Stabilisierungssystems begrenzte den Imageschaden und brachte wieder das Vertrauen in sie zurück. Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens 161 Anders ist das Verhalten von BP im Zusammenhang mit der Umweltkatastrophe am Golf von Mexiko, verursacht durch das Sinken der Ölplattform Deepwater Horizon, zu sehen. Nachdem das Unternehmen sich jahrelang ein grünes Mäntelchen umgehängt, aber bei Sicherheitsstandards geschludert hat, darf man getrost von einem Totalschaden der Marke sprechen. Hier werden keine noch so aufwendigen Imagekampagnen helfen, um das zerstörte Vertrauen wieder herzustellen. Insbesondere in den USA dürfte die Marke BP als verbrannt gelten. Ausgelöst wurde das Desaster von einer Führung, die Marke als Imagefaktor ohne Substanz betrachtete. Starke Marken schreien nicht – und sind ihren Preis wert Was macht den Unterschied zwischen Reklame und Markenkommunikation aus? Richtig: Erstere ist die Nachfolgerin des Marktschreiers – laut, aufdringlich, unsympathisch. Dass sie trotzdem Gehör findet, liegt an Menschen, denen das, was eine echte Marke ausmacht, nicht so wichtig ist. Anders würden sich nicht die Erfolge mancher „Billigmarken“ erklären lassen, deren Versprechen nicht Substanz, sondern schnelle Bedürfnisbefriedigung ist. Starke Marken sind eher leise, unterhaltsam, stellen einen konkreten Nutzen in den Mittelpunkt, gewinnen durch Überzeugung, ein Lächeln, verführen auf sanfte Art. Wirtschaftlich schwierige Zeiten scheinen eher die Marktschreier zu begünstigen, die ihren Kunden vor allem das Wort „billig“ ins Ohr brüllen. Sie finden sich zuhauf in Rundfunkwerbung oder grellbunten Prospekten der Handelsketten. Hierin werden auch häufig vermeintliche Markenartikel verramscht. An dieser Stelle sei noch ein weiteres wichtiges Kennzeichen einer soliden Marke aufgeführt: der verlässliche Preis. Legionen von Marken sind durch falsche Preispolitik zerstört worden. Wer mit zweistelligen Rabatten für seine Produkte und Dienstleistungen wirbt, signalisiert Unseriosität der Kalkulation. Und schafft damit sicher kein Vertrauen. Marken, die sich durch Überkapazitäten selbst in Drucksituationen begeben, rauben sich die Grundlage für Nachhaltigkeit, ohne die keine echte Marke langfristig existieren kann. Bewundernswert ist, was Aldi als Handelsmarke weltweit geschafft hat: Nahezu ausschließlich durch Eigenmarken wurde bei allen Bevölkerungsschichten eine Akzeptanz sowohl für Massenprodukte wie Waschmittel und Grundnahrungsmittel als auch für Luxusprodukte wie Champagner oder High-Tech-Produkte wie PCs erzielt. 162 Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens Das Geheimnis? Eine durch und durch auf Qualität bedachte Einkaufspolitik, die strengste Maßstäbe an die Lieferanten anlegt. Harte, aber faire Einkaufskonditionen, die eine Qualitätsproduktion zulassen, Verzicht auf Unübersichtlichkeit mit 100 Varianten und eine schlichte, aber effiziente Kommunikation. Der Aldi-Kunde betritt das Geschäft mit dem Vertrauen, dass alles, was ihm geboten wird, streng auf seine Qualität getestet wird. So übernimmt die Dachmarke Aldi quasi die Verantwortung für das gesamte Sortiment und entlastet den Kunden in seiner Entscheidung. Rabattschlachten sucht man bei Aldi vergebens – man ist immer preiswert. Ein weiteres Positivbeispiel für eine gelungene, vertrauenswürdige Handelsmarke ist Manufactum. Gestartet als Versender mit überschaubarem Angebot, hat sich das Sortiment inzwischen immer mehr erweitert und wird mittlerweile in großen Städten auch in eigenen Läden angeboten. Manufactum setzt nicht auf High-Tech und Abgehobenheit, sondern auf Bodenständigkeit und Solidität. Man sucht extrem qualitätsorientierte Lieferanten im Premiumbereich aus und bietet die Produkte auf eine ästhetisch ansprechende, leise Art und Weise an. Dabei überzeugt man mehr und mehr Kunden – die selbst als Botschafter fungieren und im Bekanntenkreis weiterempfehlen. Das untrügliche Kennzeichen einer starken Marke. Härteste Wettbewerbe, verursacht durch Überkapazitäten, beschädigten in den vergangenen Jahren massiv das Ansehen von Marken im Automobilbereich. Wurde früher maximal noch die Fußmatte spendiert, werden heute selbst im gehobenen Bereich zweistellige Rabatte gewährt. Im Jahr 2009 – auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise – war die Automobilwerbung die lauteste. Dem Urvertrauen in die Markenführung hat das sicher nicht geholfen, selbst wenn BMW, Mercedes, Audi und Co immer noch über beträchtliche Markenwerte verfügen. Es bleibt abzuwarten, wer bei der nächsten Krise als Gewinner hervorgeht. Starke Marken achten auf Glaubwürdigkeit in jeder Form Seit einigen Jahren wird eine neue Sau durchs Dorf getrieben: kurz „CSR“, lang „Corporate Social Responsibility“. Es gibt kein Unternehmen, das sich nicht in irgendeiner Form mit diesem Thema beschäftigt. Da werden Kinderspielplätze eingeweiht, in Afrika ein Brunnen gebohrt, man trinkt Bier zum Schutz des Regenwaldes, die Berliner Symphoniker werden gesponsert. Und alles wird medienwirksam vermarktet. Als Grundhaltung ist häufig nichts davon im Unternehmen wirklich verankert. Sondern es geht um Kosmetik, damit man nach außen gut aussieht. Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens 163 Anders, wenn gesellschaftliche Verantwortung, nachhaltige Produktion, soziales Engagement wirklich zum genetischen Code eines Unternehmens gehören. Wie bei der Firma Hipp, bei denen ökologischer Anbau für ihre Produkte ein Muss ist. Oder wie bei der weltweiten Kette „Body-Shop“, die erstmals Kosmetikprodukte anbot, die gänzlich ohne Tierversuche hergestellt sind und nur aus natürlichen Inhaltsstoffen bestehen. Die inzwischen verstorbene Gründerin Anita Roddick vertrat die Ansicht, „dass Firmen, die nicht moralisch, sondern nur aus Profitgier handeln, dem Geschäft schaden“. Anita Roddick publizierte Kampagnen gegen Gewalt und Kinderarbeit, Unterdrückung und Menschenrechtsverletzung. Beeindruckend, dass eine solche Haltung nicht bei einer kleinen, verträumten Boutique endete, sondern mittlerweile in einem höchst erfolgreichen Konzern mit 2.000 Läden in 54 Ländern. Ihr Leitsatz sollte allen Pseudo-CSR’lern ins Stammbuch geschrieben werden: „Unternehmen haben die Kraft, Gutes zu tun“. Wie Millionen in den Sand gesetzt werden, wenn Pseudo-CSR betrieben wird, hat eindrucksvoll der Energiekonzern RWE bewiesen. Mit einem sehr emotionalen TV-Spot zum Thema grüne Energie, ausgestrahlt zur besten Sendezeit, wollte man Umweltverantwortung demonstrieren. Greenpeace griff diesen Spot auf und verbreitete ihn über YouTube. Allerdings in einer modifizierten Desaster-Version. Die Glaubwürdigkeit von RWE wurde damit bei sehr relevanten Zielgruppen deutlich gestört. Ein Übriges zu dem nicht konsistenten Markenbild trägt der Verhandlungspoker um die Laufzeitverlängerung von Kernkraftwerken bei. Fazit: Marken sind die größte Verpflichtung, die Unternehmen eingehen können Gelegentlich trifft man auf recht naive Vorstellungen zum Thema Markenführung. Motto: Man nehme ein Logo, ein bisschen clevere Werbung, und dann wird das Ganze schon erfolgreich werden. Dem ist mitnichten so. Kurzfristig mag das klappen – so wie der Marktschreier auch immer wieder kurzfristigen Erfolg hatte. Wer aber ein langfristiges Geschäft betreiben möchte und sich dem Markengedanken wirklich verschreibt, hat eine lebenslange Aufgabe vor sich. Täglich muss er sich fragen: Tue ich alles, damit meine Glaubwürdigkeit gewahrt wird? So wie der ehrbare hanseatische Kaufmann in allem darauf bedacht war, seinen Ruf nicht zu beschädigen. Marken sind in einer unübersichtlich gewordenen Angebotsvielfalt auf allen Märkten eine Hilfe. Sie sind wertvoll für Konsumenten, genauso 164 Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens wie für industrielle Entscheider. Sie reduzieren das Risiko, begrenzen den Suchaufwand und verschaffen ein gutes Gefühl. Man schenkt ihnen gerne Vertrauen und bleibt ihnen treu – wenn sie diese Treue rechtfertigen und alles tun, damit Erwartungen immer erfüllt werden. Insofern sind echte Marken die kundenfreundlichste Erfindung, die es gibt. Markenbildung und die Gewinnung des öffentlichen Vertrauens 165 Abbildung 23: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Interventionen I Abbildung 24: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Interventionen II Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? Konstantin Adamopoulos, Iria Budisantoso und Christoph Sextroh „Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser“, oder direkter nach Lenin: „Vertraue, aber prüfe nach“ – das fällt mir zunächst ein, wenn es um einen Text gehen soll zum Thema „Kredit und Vertrauen“. Mir persönlich sind meine privaten Kredite unangenehm – für andere können Kredite ein lukratives Abwägen bedeuten, das ganz einfach zum geschäftlichen Alltag gehört. Vertrauen hingegen gehört zu einer eigenen Kategorie. Vertrauen legt einen Teil der Kräfte in andere Hände. Wenn ich das Begriffspaar „Kredit und Vertrauen“ auf mich wirken lasse, fasziniert mich nicht nur die Auflösung der Gegensätzlichkeit von Messbarem und Unmessbarem. Vielmehr fordert mich die Frage nach „Kredit und Vertrauen“ heraus, über Glaubenssätze nachzudenken, wie zum Beispiel über: „Kredit geht nur mit Sicherheiten“, oder „Vertrauen in andere zu bemühen, zeigt doch nur, nicht vollständig vorbereitet zu sein“. Ich möchte überprüfen, ob solche Gedanken mich in der Realität überhaupt noch weiterbringen. In den folgenden Überlegungen geht es mir um die Arbeit zwischen Kunst und Wirtschaft. Diese Bereiche werden meist als getrennt verstanden. Meine These versucht, Kunst und Wirtschaft als Bilder einzuführen, zur wechselseitigen Korrektur. Korrektur im Wahrnehmen des Andersartigen bedeutet für mich eine Chance auf Entwicklung. Die jeweiligen Eigenarten sind dabei zu respektieren, das Thema Vertrauen ist hierfür essentiell. Wie kann ich mehr, eventuell auch widerstreitende Dimensionen meiner Persönlichkeit bergen, um auch die Komplexitäten der Welt um mich umfassender deuten zu können? Im Loslassen des vermeintlich Eigenen, im vorläufigen Verabschieden des immer schon Gewussten – was könnte Vertrauen anderes sein – öffnen sich die Schleusen zur Selbstreflexion wie zur Innovation. Seit 2005 lerne ich als Kurator des „Bronnbacher Stipendium(s)“ des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI Stipendiaten und Stipendiatinnen kennen, denen es ähnlich geht. Zwei zitiere ich hier exemplarisch, um dem Begriff des Vertrauens in der Bronnbacher Praxis Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 167 näher zu kommen. Zwei weitere kommen im zweiten Teil des Beitrags ausführlich zu Wort. Gunnar Ullrich, Unternehmensberater, Uni-Mannheim-Alumnus des 4. Bronnbacher Jahrgangs: „Durch das Stipendium hat sich meine Offenheit gegenüber neuen – und manchmal auch sehr ungewöhnlichen – Dingen weiterentwickelt. Ich habe gelernt, dass es unerlässlich ist, sich vollständig auf etwas einzulassen und Neues komplett an mich heranzulassen. Das Jahr hat mir geholfen, kreative Prozesse – auch innerhalb einer Gruppe – besser zu verstehen.“ Oliver G. Spalt, Assistant Professor of Finance, Uni-Mannheim-Alumnus des 3. Bronnbacher Jahrgangs: „Das Bronnbacher Stipendium bietet den Stipendiaten die Möglichkeit, sich in der Beschäftigung mit kreativen Prozessen ganzheitlich weiterzuentwickeln, und fördert so die individuelle Positionierung und Verortung. Eine eigene Position, das Sich-Einlassen auf Neues sowie die Fähigkeit, das Neue zu reflektieren und in den eigenen Wirkbereich produktiv zu übersetzen, sind nicht zuletzt für kommende Führungskräfte und Unternehmer essentiell.“ Gunnar und Oliver verbinden kreative Prozesse mit spielerischer Selbstbewusstheit und Unmittelbarkeit der Erlebnisse: Vertrauen und Selbstvertrauen sind hier also wichtige Parameter. Meine (persönliche) Haltung Erlauben Sie mir, dies zunächst zu sagen, quasi als den Versuch einer vertrauensbildenden Maßnahme: Ich möchte wachsen. Meine Umstände nutze ich, um mehr Anknüpfungspunkte zu erreichen – für mich, für meine Gemeinschaft, für meine Umstände. Das bedeutet auch, mich einzulassen, mich auf unsicherem Terrain zu bewegen, in gewissem Sinn auch, mich zu verändern. Dazu möchte ich mich in Zusammenhänge stellen, also meine Entwicklung nicht selbstgenügsam an mich binden, sondern meine Erfahrungen von mir lösen, durch andere und möglichst auch als „Leistung“ für andere. Kredit fordert Intuition Kredit zu gewähren ist ein besonderes Geschäft. Schon Heraklit sagte: „Wenn das Unerwartete nicht erwartet wird, wird man es nicht entdecken, da es dann unaufspürbar ist und unzugänglich bleibt“ (Fragment B18 nach Clemens Alexandrinus). 168 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? Vieles in unserer Alltagswelt erscheint geregelt über Ziele und Wege, diese zu erreichen. In diesen benennbaren Zielen und Wegen steckt, dass wir sie kennen und alternativlos wissen, dass wir das so wollen. Das wiegt uns sicher. Sicherheit erfordert erfahrungsbezogene Regeln, die für Ungewöhnliches kaum gelten können. Da, wo Sicherheit feststellbar ist, besteht die Gefahr, die Offenheit und Neugierde auf Neues zu verlieren. Das Alte darf ja nicht zur Vermeidungsstrategie für Neuerungen verkommen. Gelegentlich wird von Bauchgefühl gesprochen, wenn es um große Entscheidungen geht, die die Zukunft und das Überleben betreffen. Daher möchte ich ergänzend eine andere als die gängige Definition versuchen: Zukunftsorientierter Kredit fordert Intuition. Wie reflektiert bin ich in meiner Intuition? Da, wo ich zunächst nur Ungewissheit erkenne, kann Neues auf mich warten. Im Ungewissen stecken vielleicht Potentiale. Wie spüre ich die Signale? Und wenn: Will ich mich wirksam für Neues engagieren? Dann würde ich ein Risiko eingehen. So funktionieren Alleinstellungsmerkmale. Habe ich den Mut dazu? Wie traue ich mich, diese ungewöhnliche Geschichte ernst zu nehmen, und wie erzähle ich anderen davon? Wie ich höre, kommt es immer mehr auf neue Erzählungen für kommende Hausausforderungen an. Die alten Geschichten, wie Ruhm und Ehre zu erreichen sind, ziehen kaum noch. Mir erscheint ein Kredit wie ein Auftrag zum Wandel. In der Vereinbarung eines Kredits treffen sich grundsätzlich unterschiedliche Bedürfnisse. Die Kreditvergabe fordert daher meine Glaubenssätze als Kreditgeber heraus – nicht erst seit der Finanzkrise. Halte ich die vorgezeichnete Entwicklung für plausibel? Will ich diese überhaupt fördern? Passt dieser Entwurf zu meinen Werten? Wie weit muss ich dafür von meinen bisherigen Gewissheiten lassen? Jede Kreditverhandlung kennt dieses Dilemma. Bin ich hier der Richtige für dieses Vorhaben? Gleichzeitig liegt es in meiner Hand als Kreditgeber, Verantwortung zu übernehmen. Will ich dieses Unsichere und Verdeckte mit einem Kredit fördern? Wie investiere ich sinnvoll in dessen Zukunft? Und nun auch noch spirituell: Kann ich mich und mein eigenes Tun mit meinem Investment neu überprüfen? Würde ich also mit meinem Kredit tatsächlich auch in meine eigene Zukunft investieren? Dann wäre ich schon mit dem Kredit selbst verändert. Die Idee, dass mit einem Kredit finanzieller Gewinn zu machen sei, wandelt sich, als ginge es um das „Andere“, um das „Fremde, nicht um das schon Bekannte an mir. Das wäre eine Perspektive auf Innovation, denn Innovation ist doch nicht das, was ich vorher schon weiß. Für Vertrauen brauche ich ein Menschenbild, Imagination. Hier ist die These nun, dass Vertrauen im Zutrauen mich und mein Tun bilde. Im Folgenden möchte ich Vertrauen als künstlerische Intervention vorstellen. Dazu eine persönliche Geschichte. Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 169 Vertrauen als Intervention – Fallbeispiel „7000 Eichen“ von Joseph Beuys Seit 1982 wächst ein Kunstwerk stetig weiter. Es ist ein Zeichen für Generationen. Es ist auch eine Geschichte von harten Kreditverhandlungen zur Finanzierung und vor allem von Vertrauensvorschüssen auf Machbarkeit. 1982 war ich mit meinen Motorradfreunden zum ersten Mal auf der documenta in Kassel. Wir interessierten uns für die neue Malerei, von der es einiges zu sehen gab. Wir fühlten uns selbst wie die „Jungen Wilden“. Doch vor der Kunsthalle Fridericianum, dem Hauptgebäude der documenta 7, lagen unendlich viele Basaltsteine, ein aufgetürmtes Feld von natürlichen Stelen. In meiner Erinnerung waren sie je circa 40 Zentimeter im Durchmesser und wahrscheinlich mehr als 1,5 Meter lang. An der unteren Seite dieses Steinfeldes sah ich Beuys, den Künstler mit dem Hut, von dem ich schon gehört hatte. Ich traute mich nicht, zu ihm zu hinzugehen. Er stand da bei einem lächerlich kleinen Baumpflänzling, lächerlich klein, angesichts der schieren materiellen Steinmasse direkt daneben. Für mich war klar: Dieses kleine Bäumchen würde nicht überleben können, angesichts dieser unendlich toten Masse. Die erste Basaltstele hatten sie, aufrecht wie eine Grabsäule, neben diesen relativen Winzling in die Erde eingegraben. Wie ich mich erinnere, wirkte der Stein übergroß neben dem einzelnen Bäumchen. Das Ziel sei, wie ich damals hörte, in einer Verdopplung des Kasseler Baumbestandes auch die restlichen Basaltstelen in den fünf Jahren bis zur kommenden documenta 8, 1987, in ähnlichen Pflanzaktionen im Stadtgebiet Kassel aufzustellen. Dieses Vorhaben erschien mir unglaublich, erschütternd, naiv. Ohne die Teilnahme Hunderter Menschen war so ein ungeheuerliches Ansinnen nicht zu schaffen. „Das geht doch nicht. Das klappt nie. Zu teuer. Da macht keiner mit.“ Meine Art von Realismus wurde spontan löchrig. Ich wollte keine Sekunde daran glauben, obwohl ich seither auch nicht mehr davon weggekommen bin. Sicher kennen Sie selbst auch solche fast beklemmenden Phänomene. Ich ertappte mich in meinem eigenen Sicherheitsdenken, das diese Idee nur würde ausbremsen, unmöglich machen können. 1987 wurde dann der letzte der 7.000 Bäume neben den ersten Baum gepflanzt, mit seinem Stein. Der Kassler Friedrichsplatz war damit wieder leer – nicht leerer denn je, einfach anders seither, für mich, als ob es unter bestimmten Umständen ein Materie-Zeitloch geben könne. 170 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? Klassisch-künstlerisch lässt sich zu dieser Kunstaktion sicher einiges sagen. Allein die doppelte Proportionalverschiebung der Skulptur „7.000 Eichen“ als Ganzes betrachtet, ist beachtlich: Erst lagen die 7.000 Steinstelen in Form eines übermächtigen Keils auf dem Platz. Die gestreckte Hackenform erkannte ich, wegen der Gesamtgröße der ruhenden Skulptur, erst später in Gesprächen mit dem Künstler Johannes Stüttgen und dann auch auf Fotos. An der Spitze stand der erste aufgerichtete Basaltpfahl mit seinem Baumfrischling. Über die fünf Jahre wandelte sich die erste Skulptur in eine zweite, die die erste vergessen machte. In der Verdopplung des damaligen städtischen Baumbestandes entfaltet sich seit 1987 die zweite Skulptur im Stadtgebiet Kassel an dezentralen Orten. Altenheime, die Hochschule, Privatleute, Stadtteilinitiativen, die Städtische Kommune Kassel nahmen teil und nahmen Anteil an dieser zweiten Skulptur. Genau diese Bäume, aus diesem Zusammenhang sollten vor ihre Häuser, an ihre Straße, auf ihren Platz. Unter dem Motto „Stadtverwaldung statt Stadtverwaltung“ erlebten die Kasseler zunehmend, um was es ging – es geht bei Kunst um mitgestaltende Souveränität. Mittlerweile sacken die Steine immer tiefer in die Erde ein. Die anfängliche materielle Übermacht der Stelen gegenüber den Jungbäumen ist nicht mehr glaubhaft. Nun bringen in Kassel an 7.000 Orten in der Stadt über zwanzigjährige Bäume zusätzlich ihren Nutzen. Am Fuß ihres Stammes scheinen sie eine Art kleiner werdenden Rammstein als Zeichen mit sich zu führen. Das Kunstwerk hat sich in seiner Wirksamkeit eingelöst. „7.000 Eichen“ funktioniert damit heute als zitierbare Referenz für kunst- und gesellschaftshistorische Initiative. Eine weitere Proportionalverschiebung findet seither in mir statt. Dabei geht es mir um Vertrauen in die Kraft der Kunst. Diese Kraft der Kunst besteht meiner Erfahrung nach aus Vertrauen in Menschlichkeit und aus Skepsis in (wohlbegründete) Systeme. Was mich daran anzieht, fand ich auch bei Robert Musil und seinem „Der Mann ohne Eigenschaften“: „Wenn man gut durch geöffnete Türen kommen will, muss man die Tatsache achten, dass sie einen festen Rahmen haben: dieser Grundsatz, nach dem der alte Professor immer gelebt hatte, ist einfach eine Forderung des Wirklichkeitssinns. Wenn es aber Wirklichkeitssinn gibt, und niemand wird bezweifeln, dass er seine Daseinsberechtigung hat, dann muss es auch etwas geben, das man Möglichkeitssinn nennen kann.“ Musil spricht im Weiteren vom konditionalen Denken in öffnenden Alternativen und unterstreicht die schöpferische Anlage dieser Haltung. Er betont allerdings auch, wie Menschen, die so leben – „Möglichkeitsmenschen“ nennt sie Musil – marginalisiert werden als „Phantasten, Träumer, Schwächlinge und Besserwisser oder Krittler ...“ Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 171 In der Annäherung an die Frage nach Kredit und Vertrauen helfen mir also Vorgängerkategorien. Was bieten mir das „Wissen“ und das „Verstehen“? Wissen – Nichtwissen Skepsis bedeutet Prüfung und kritische Untersuchung. Wir können nicht wissen. So werden schon die Erkenntnisse der alten Griechen übermittelt. Die skeptische Distanz bewahrt uns zu begehren, was doch nur strebsame Unwissenheit in unsicherer Erkenntnis bleiben kann. Diese wirklichkeitskritischen Befragungen wurden in der neueren Zeit in der Zusammenführung von sinnlichen Wahrnehmungen und Bewusstseinsinhalten immer wieder bestätigt. Aktuell kann das Aufgeben des Wissensdogmas auch wieder verbunden sein mit dem Attribut der schon von den „Alten“ gesuchten Seelenruhe (Andreas Urs Sommer). Wird damit die Praxis der Kreditvergabe noch mehr zur Spekulation und der persönliche Akt des Vertrauens zum kläglichen Versuch der spirituellen Rückbesinnung (Religion) auf das „Eigentliche“ umdefiniert? Hilft hier meine kurze Besinnung auf den Begriff des Verstehens weiter? Verstehen – Nichtverstehen – Übersetzen Beim Verstehen wie auch bei seinem Gegenüber, dem Nichtverstehen, geht es um Gewissheiten wie Kontrolle und Sicherheit. Stecken wir damit gleich wieder fest in der Kreditkrise der Wirtschaft und in der Vertrauenskrise der Politik? Umgekehrt verlangt es uns geradezu übermenschliches Vertrauen ab, am Neuen gerade das Unerklärliche zu schätzen. Die Kunst fordert uns auf, mit etwas Vertrauen im Ungesicherten den schieren Reichtum zu erleben – im Rätsel, im Geheimnis, im Verborgenen, im Unbekannten. Stefan Weidner macht das Phänomen des „sich assoziativ im Verborgenen bewegen zu können“ exemplarisch fest an der Kunst des Übersetzens: „Ich halte es für einen totalitären Charakterzug unserer Zeit, dass wir das Nichtverstehen nicht ertragen, dass wir ihm gegenüber keine Toleranz aufbringen, dass wir es übertünchen, verschleiern, ja ausrotten, wo wir nur können. Dass wir – und da sind die Übersetzer noch die harmlosesten – aus dem Verstanden-werden-Wollen, Verstanden-werden-Müssen die Ideologie unserer Zeit gemacht haben, deren krasseste Auswirkung der Raubbau an allem ist, was im medialen Diskurs eventuell schwierig und nicht allgemeinverständlich daherkommt.“ Erklärungen überfordern uns. Wir wollen alles einfach und verständlich, postuliert der Islamforscher und Übersetzer Stefan Weidner. „Und wenn wir das oft 172 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? genug tun, wenn uns ständig alles als bereits Verstandenes vorgeführt wird, werden wir naturgemäß unleidlich gegenüber allem Unverstandenen, sei es ein Wort in einem alten Text, sei es eine Frau, die eine Kleidung trägt (zu wenig oder zu viel, es nimmt sich nichts!), die uns befremdet.“ Weidner verführt mich in seinem Artikel, im Unerklärlichen nach dem Quellartigen zu horchen. Ich fühle mich durch ihn aufgefordert, das Fremde nicht als entstellt darzustellen, sondern als wundersamen Reichtum: „... Genau das ist es, was mich mit dem Verstehenwollen und Übersetzen am Ende versöhnt: Es hat diese bohrende Eigenlogik, es ist nie zufrieden, es findet selbst im verstanden Geglaubten immer noch Unverstandenes, im Übersetzten immer noch Unübersetztes. Die übersetzerische Kritik ist daher das Urbild aller Kritik. Sie verfällt nicht so leicht in den Glauben, etwas richtig verstanden zu haben, und sieht an Texten – und der Welt – vor allem das Unverstandene und Unsagbare, das Geheimnis. Es ist ein Geheimnis, das die Übersetzer wahren, indem sie es immerfort aufs Neue enthüllen.“1 Die Intervention durch Vertrauen zielt darauf, in ihrem Dazwischengehen in die unüberbietbare Vielfältigkeit hineinzugreifen. Es geht also auch hier um Entscheidungen zu mehr Zutrauen in der Kommunikation. Wie selbstregulierend bin ich in zugegebenermaßen störungsanfälligen Umständen? Kann ich mir da selbst vertrauen? Ernüchterung Die leidenschaftliche Erfahrung meiner vergangenen 30 Lebensjahre zeigt mir: Das Anliegen, Künstler mit anderen Menschen, beispielsweise Menschen aus der Wirtschaft, zusammenzubringen, funktioniert eher selten. Selbst Kulturmenschen scheuen einen wirksamen und tatsächlichen Kontakt mit Künstlern. Beide Seiten spüren das schon im Vorfeld: Jede/r kann seine Angelegenheiten besser für sich plausibel tun und erleben. Zusammen passiert zunächst gar nicht so viel. Schnell langweilen sich die „Partner“ miteinander. Inspiration oder Motivation, geistige Kraftquellen, scheinen sich bei dieser Art Treffen sogar zu verflüchtigen. Man kennt sich selbst schon zu gut. Man hat Vorstellungen und Erwartungen. Das soll reichen. Ein Austausch darüber kommt eher selten zustande. Das Neue als Korrektur Es braucht eine Hebamme, ein drittes Element. Es braucht etwas, das die beiden in ihrer jeweiligen Eigenständigkeit liebt und zulassend abwarVertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 173 ten kann. Es braucht etwas Staunen, sonst funkt es nicht. Das geht nicht ohne Erschütterungen und nicht ohne Hinwendung. Welche Haltung führt zu einem aufmerksamen Herzen, das den beiden einiges zumutet. Die mögliche Interaktion der beiden soll keine fade Ablenkung werden. Ich möchte damit sagen, dass es etwas braucht, das sich anfühlt, als ob es außenstehend wäre, und das gleichzeitig nicht locker lässt. Diese Haltung müsste sich das Zusammenkommen der zunächst durch Vorurteile zementierten Gegensätzlichkeit wirtschaftlicher Berechnung und künstlerischer Intuition als Transit ehrlich wünschen. Es braucht etwas, das keine frontale Furcht vor der Begegnung der beiden menschlichen Gewissheiten hat, sondern etwas, das dieses Erfahrungsfeld schon mit sich trägt, vielleicht zunächst nur für die Kraft von übergreifenden Momentaufnahmen. Denn es geht um die jeweiligen schöpferischen Eigenarten. Wie wird ein Zusammenkommen produktiv? Meiner Erfahrung nach entzünden sich die beiden Perspektiven der Kunst und der Wirtschaft an Fragen, die sie zulassen, explizit und auch implizit. Es geht darum, sich aneinander zu überprüfen, oder es geht um nichts. Damit beide Partner sie selbst sein können, braucht es diese Art von dritter Instanz. Das erst macht das Zusammenkommen effektiv wirksam. Der Künstler Till Velten konkretisiert: „Es braucht vor allem unermessliches menschliches Vertrauen.“ Kredit und Vertrauen im Bronnbacher Stipendium – eine Betrachtung von Iria Budisantoso und Christoph Sextroh Das Wort „Kredit“ ist abgeleitet vom lateinischen credere, „glauben“, und creditum, „das auf Treu und Glauben Anvertraute“. Damit ist zumeist die Gebrauchsüberlassung von Geld oder vertretbaren Sachen auf Zeit gemeint. Daneben gibt es aber auch Sprachwendungen wie beispielsweise „bei jemandem Kredit haben“ oder auch „etwas gut haben“ im Sinne von Vertrauen genießen, dass man zahlungsfähig und damit kreditwürdig sei, womit eine wirtschaftliche Wertschätzung und die Geschäftsehre ausgedrückt werden. Bereits aus diesen Erläuterungen wird deutlich, welch wichtige Rolle Vertrauen bei Kreditnehmen und Kreditgeben spielt. Vertrauen begegnet uns auch im Bronnbacher Stipendium. Wir Stipendiaten genießen einen Vertrauensvorschuss von Seiten des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft, unseres Kurators Konstantin Adamopolous und auch immer von Seiten der Künstler, denen wir begegnen. 174 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? Alle gerade genannten Personen sind auf gewisse Weise Kreditgeber in der Hoffnung und im Vertrauen darauf, dass über die Erfahrungen und Inhalte des Bronnbacher Stipendiums etwas gesät wird, das sich in der Zukunft entfalten und über unser Engagement den Bereichen Kunst, Kultur und Gesellschaft zurückgegeben wird. An dieser Stelle möchten wir Stipendiaten des 6. Jahrgangs gerne näher auf das Bronnbacher Stipendium eingehen und folgende Fragen beantworten: Was ist die Bronnbacher Idee? Und welche Rolle spielt Vertrauen darin? Verflechtungen der Sphären Kunst, Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft Auf den ersten Blick bietet das Bronnbacher Stipendium die Möglichkeit, Kunstschaffende kennenzulernen und darüber einen Zugang zu Kunst und Kultur zu erhalten oder diesen zu erweitern. „Kulturelle Kompetenz für künftige Führungskräfte“ lautet so auch das Motto des Stipendiums. Im Rahmen des Stipendiums nähern sich die Stipendiaten dabei auch den komplexen Interdependenzen zwischen den Sphären Kunst, Kultur, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Ein gutes Beispiel ist unser Besuch im Oktober 2009 beim Künstler Merlin Bauer in Köln und die Auseinandersetzung mit seinem Kampf um die Erhaltung des Kölner Opern- und Schauspielhauses, wo sich uns diese existierenden Spannungen und Wechselwirkungen innerhalb der gesellschaftlichen Wirkungssphären von Kunst bis Gesellschaft sehr klar gezeigt haben. Das „Mehr“ des Bronnbacher Stipendiums Das Bronnbacher Stipendium ist jedoch viel mehr als „nur“ das Kennenlernen und Erfahren von Kunst. Der Zugang zu den genannten Sphären geht über das reine Faktenwissen weit hinaus. Doch was genau ist dieses „Mehr“? Bereits am Beispiel unserer Begegnung mit Merlin Bauer lassen sich zwei Schlagwörter zu diesem „Mehr“ beschreiben: Perspektive und Engagement. Wir haben nicht nur gelernt, uns mit Perspektiven auseinanderzusetzen – was alleine schon ein immens wichtiger Effekt ist –, sondern wir haben gelernt, Perspektiven und Standpunkte zu erkennen. Dies klingt zunächst so selbstverständlich. Wenn man sich jedoch einmal bewusst in seinem Umfeld und Zeitgeschehen umsieht, dann wird schnell klar, wie schwierig und gleichzeitig wichtig dieses Erkennen ist. Darüber hinaus haben wir erlebt, mit welchem Feuer und mit welchem Aktionismus viele Künstler eine Idee formen und für diese eintreten. Dieses tiefe und offene Engagement für eine bestimmte Sache ist nicht nur beeindruckend, sondern auch etwas, von dem wir für unseren Alltag nur lernen können. Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 175 Risiko und Vertrauen Tatsächlich bietet das Stipendium eine einzigartige Möglichkeit, sich für Neues zu öffnen, sich darauf einzulassen, es zu erfahren – und dies alles in einem relativ geschützten Raum. Einem Raum, in dem jeder nur ein sehr geringes persönliches Risiko eingeht. Wo in unserem Alltag, im Studium oder im Berufsleben können wir uns öffnen und Neues geschehen lassen, ohne dabei ein Risiko einzugehen – sei es ein Risiko, zu viel von sich preiszugeben, oder ein geschäftliches Risiko. Dieser geschützte Raum kann nur durch Vertrauen entstehen. Vertrauen, das die Stipendiaten bei jeder Bronnbacher Veranstaltung sich selbst, gegenseitig, aber auch ihrem „Kurator Konstantin“ und jedem einzelnen Künstler entgegenbringen. Vertrauen, das uns im Verlauf des Stipendienjahres umgekehrt auch immer wieder von Seiten Konstantins und der Künstler begegnet. Vertrauen, das unbezahlbare Erfahrungen ermöglicht. Der Versuch, diese Erfahrungen weiter zu konkretisieren, führt im Speziellen zu den Begriffen Wahrnehmung, Diskussionskultur, Verantwortung, Persönlichkeit und Bewusstsein. Im Folgenden möchten wir näher auf diese Inhalte eingehen, die wir im vertrauensvollen Rahmen des Bronnbacher Stipendiums erleben und weiterentwickeln durften. Wahrnehmungsänderung Der bereits genannte Begriff der Perspektive ist schon stark verknüpft mit dem Begriff der Wahrnehmung. Wir haben Kunst erleben dürfen an Orten, welche uns im Alltag nicht als Kunst aufgefallen wären. Dinge, die wir als selbstverständlich hingenommen haben, wurden auf einmal aus einer ganz anderen Sicht beleuchtet. Alte Wahrnehmungen wurden verschoben, hin- und hergerückt, und neue Wahrnehmungen kamen hinzu. In diesen Prozessen spielte gerade unser Kurator Konstantin eine bedeutende Rolle. Er half uns, aus unseren vertrauten Wahrnehmungsmustern auszubrechen, und sorgte dafür, dass wir uns immer wieder selbst hinterfragten. Mit jedem Wochenende wurde unsere Wahrnehmung so immer wieder auseinandergebrochen, neu zusammengesetzt und hat sich auf diese Weise stetig weiterentwickelt. Begleitet wurde dieser individuelle Prozess eines jeden Stipendiaten von Verwirrung, Verwunderung, Unverständnis und ganz besonders von einer stetigen inneren Unruhe – jedoch im positiven Sinn. Diese Unruhe ist ein Kernelement des Stipendiums, völlig individuell und daher schlussendlich leider nicht vollkommen zu erfassen, zu begreifen oder eben auch zu erklären. Wenn man aber mit einem Bronnbacher spricht und einem dabei eine Neugier oder gar ein Brodeln und Lodern auffällt, dann ist dies sicherlich diese positive Unruhe, von der wir hier sprechen. 176 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? Diskussionskultur Diese innere Unruhe beziehungsweise der innere Konflikt führt so auch zu einem regen Austausch untereinander und zu vielfältigen Diskussionen in der Gruppe. Altes, Bekanntes, Vertrautes wird einem bei jeder Begegnung in gewisser Weise weggenommen – entfremdet durch Perspektivverschiebungen. Der Kontakt mit den Künstlern hilft zwar, sich dem „Entfremdeten“ immer wieder anzunähern, allerdings bleibt das Verständnis zunächst in einer Form des Zwischenstadiums: Es gibt kein schnelles Zurück zur alten Perspektive, doch auch das Neue fühlt sich noch nicht ganz erreicht an. Trotz oder eben gerade wegen dieser Spannung zwischen vertraut und verändert ergeben sich aufreibende Fragen, denen man sich in der Gruppe versucht, immer weiter und mit den verschiedensten Ansätzen zu nähern. Verantwortung Über die Konfrontation mit dem „anderen“ und dem Rütteln an unseren bisherigen Weltbildern fordert das Stipendium von jedem sich selbst zu hinterfragen und dabei insbesondere auch Verantwortung für sich und sein Handeln zu übernehmen. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Person und dem eigenen Handeln wurde vielen von uns vielleicht am Malerei-Wochenende mit Carsten Fock am deutlichsten vergegenwärtigt. Jeder Pinselstrich hatte eine Auswirkung auf das Endergebnis. Dies mag wieder zunächst so einfach klingen. Wenn man jedoch versucht, sich in die Situation der Schaffenden zu versetzen, dann wird schnell klar, warum jeder einzelne Pinselstrich eine potentielle Krise beinhaltet. Und es wird auch deutlich, warum es so viel Überwindung und Mut kostet, aktiv zu gestalten und dabei zu wissen, dass das eigene Handeln in einer direkten Verbindung mit der möglichen Konsequenz des Scheiterns steht. Eine Folge, für die jeder Einzelne seine Verantwortung zu tragen hat. Verantwortung ist damit ein weiterer Kernbaustein des Bronnbacher Stipendiums. Ein Baustein, der uns bei vielen Wochenenden begegnete, sei es die Persönlichkeit eines Thomas Hirschhorn, der sich mit politischer Kunst engagiert, oder auch nur die organisatorischen Fragen des „Wohin“, „Wann“ und „Wem werden wir begegnen“? an den einzelnen Wochenenden. Bewusstsein Das Bronnbacher Stipendium regt an, nicht alles als gegeben und selbstverständlich hinzunehmen, sondern stattdessen die Dinge kritisch zu hinterfragen sowie Perspektiven zu wechseln, zu diskutieren und zu reflektieren. In den Begegnungen des Stipendiums haben wir aber auch erfahren, wie wir die entstehenden Reibungen und die Unruhe in uns Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 177 positiv in die Entwicklung neuer Visionen und Lösungsmöglichkeiten umsetzen und in unser Handeln einfließen lassen können. Es erweitert somit in gewissem Maße unser Bewusstsein. Das Bronnbacher Stipendium hat uns bewegt – nicht nur, dass wir physisch an verschiedenen Orten waren, um Kunst zu sehen und uns damit zu beschäftigen –, sondern es hat auch etwas in uns bewegt. Es sind einzigartige und unnachahmliche Erfahrungen, die in einem Jahr Bronnbacher Stipendium auf einen warten. All diese sind nun unsere persönlichen Schätze, mit denen wir in die Berufswelt gehen, um dort Dinge aktiv und bewusst zu gestalten und uns zu engagieren, immer in dem Bewusstsein, dies für unsere Umwelt, für die nächste Generation, vor allem aber auch für uns und unsere Visionen zu tun. Die Bedeutung des Bronnbacher Stipendiums Was können wir also zusammenfassend über das Bronnbacher Stipendium nach einem Jahr Bronnbacher sagen? Es ist die wahrscheinlich wichtigste Initiative des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft. Warum aber sollte nun dieses Stipendium so wichtig sein? Um mit den Worten der Wissenschaft zu sprechen: Studien haben gezeigt, dass die größten Lerneffekte für Führungskräfte nur zu einem geringen Teil aus formalem Unterricht bestehen. Stattdessen sind es vor allem Erfahrungen, harte Anstrengungen verbunden mit der Erfahrung des Scheiterns und Mentoren, die Führungskräfte prägen. Genau diese Punkte vereint das Bronnbacher Stipendium: Es bietet jedem einzelnen Stipendiaten ganz besondere und wertvolle Erfahrungen, in denen jeder mit viel Mut und Anstrengungen immer wieder den eigenen Standpunkt und die persönliche Haltung hinterfragt. So beinhaltet das Stipendium eben auch Erlebnisse des Scheiterns. Erlebnisse, die vielleicht erst durch die geschützte Atmosphäre des Stipendiums möglich werden und an denen jeder Einzelne wachsen kann. Diese Atmosphäre ist es, die das Bronnbacher Stipendium so einzigartig und förderungswürdig macht. Diese Atmosphäre, die durch ein hohes Maß an Vertrauen geprägt ist, um sich auf unbekanntes Terrain zu begeben, um Neuem zu begegnen, sich anderen Perspektiven zu öffnen und sich anderen Haltungen zu nähern. Die Bronnbacher Idee und Vertrauen Zum Abschluss möchten wir noch einmal unsere Anfangsfrage aufgreifen: Was ist die eigentliche Idee des Bronnbacher Stipendiums? In der Konfrontation mit dem Unbekannten hat sich jeder von uns selbst besser kennengelernt, hat jeder von uns die Welt besser kennengelernt. Es hat in jedem von uns eine Unruhe geschaffen, die darauf wartet, in der 178 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? Zukunft freigesetzt zu werden. Eine Energiequelle, welche die meisten Stipendiaten vor dem Stipendium vielleicht gar nicht erahnen konnten. Und so lässt die wahre Idee des Stipendiums – sofern sie sich überhaupt in wenige Worte fassen lässt – annähernd zusammenfassen als die Suche und die Konfrontation mit dem Neuen, mit dem vermeintlich Unbekannten, um dabei die eigene Denkstruktur aufzubrechen, sich selbst neu zu erfahren und das Unbekannte zu Bekanntem und die Konfrontation zu neuen Perspektiven zu machen. Den vertrauensvollen Rahmen, der diesen Prozess ermöglicht, verdanken wir unseren „Kreditgebern“. Allen Förderern möchten wir für ihren Vertrauensvorschuss danken. Auch danken wir Frau Prof. Dr. Kehnel für Ihre Einladung zur Zusammenarbeit im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Kredit und Vertrauen“, worüber wir uns sehr gefreut haben. Wir hoffen, dass das Projekt „Wirtschaft und Kultur im Gespräch“ als Forum für grenzüberschreitende Gespräche aus den Bereichen Wirtschaft und Kultur und das Bronnbacher Stipendium auch in Zukunft viele weitere Gelegenheiten zur Kooperation finden werden. Fußnoten 1 Stefan Weidner, „ÜBERSETZUNG – Vom Lesen heiliger Bücher“, Rheinischer Merkur, 18.2.2010, http://www.rheinischer-merkur.de/index.php?id=40312. Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? 179 Anmerkung des Künstlers Thomas Hirschhorn auf einem Evaluierungsbogen nach seiner Beteiligung als Referent eines Bronnbacher Workshops Mit Merlin Bauer („Liebe deine Stadt“) auf den Spuren urbaner Interventionen Bronnbacher Stipendiatinnen bei einem Work- Der Choreograf Georg Reischl mit Bronnbachershop mit dem Maler Carsten Fock Innen im Ludwigforum Aachen Harun Farocki während seines Filmworkshops mit den BronnbacherInnen an der Universität Mannheim Filmausschnitt beim Farocki-Filmwochenende 180 Vertrauen als Intervention – funktioniert so Innovation? Abbildung 25: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Vertragliches I Abbildung 26: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Vertragliches II Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? Über Vertragstreue und Vertragsbindung* Marc-Philippe Weller Einführung: Die drei Elemente der Vertragstreue „Pacta sunt servanda: without this principle which grounds respect for the pledged word, the contract would never have become the abstract universal that is the pride of modern jurists.“ (Alain Supiot, Homo Juridicus (2007), S. 86). Das Prinzip der Vertragstreue – auch pacta sunt servanda genannt – gilt heutzutage als so selbstverständlich, dass manche meinen, „seine Begründung ruhig der Rechtsphilosophie überlassen zu können“1. In der Tat wurden in der deutschen Jurisprudenz monografisch bislang nur – wenn auch wesentliche – Teilaspekte der Vertragstreue beleuchtet.2 Dagegen fehlt eine der Vertragstreue als solche gewidmete Untersuchung. Dementsprechend findet sich in der Literatur die Einschätzung, „dass trotz mehrerer Vorarbeiten die für die Privatrechtsordnung wohl wichtigste Fragestellung nach Grund und Reichweite der Vertragstreue eine weitere umfängliche Monographie verdient hat“3. Diese scheint umso mehr angezeigt, als die Schuldrechtsmodernisierung 2001 den Grundsatz der Vertragstreue aufgewertet hat, wie insbesondere zwei der ihr zugrunde liegenden Leitprinzipien – der Primat der Erfüllung und das Recht zur zweiten Andienung – erhellen. Vor diesem Hintergrund geht das Hauptziel der Arbeit dahin, den dogmatischen Bedeutungsgehalt der Vertragstreue im heutigen Bürgerlichen Recht zu ermitteln. Eine Ende des 19. Jahrhunderts anzutreffende Auffassung, dass Verträge in allen Kulturen gehalten werden müssen, hilft hier nicht weiter: „So alt als die Unterscheidung von Recht und Schlecht ist der Glaube, dass Verträge gehalten werden sollen. In allen Cultursprachen ward ‚solch teure Wahrheit verfochten‘ und in anderen nur darum nicht, weil auch nicht bestritten.“4 Dass die Vertragstreue gilt, sagt nämlich noch nichts darüber aus, was mit ihr gemeint ist, wie sie ausgestaltet ist und welche konkreten Wirkungen von ihr ausgehen. In der Rechtspraxis muss die Vertragstreue häufig als ein Passepartout herhalten, das in den verschiedensten Argumentationszusammenhängen eingesetzt wird. Die Rechtswissenschaft Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 183 hat insoweit noch keine ordnenden Leitlinien herausgearbeitet. Sie begnügt sich vielmehr mit dem Befund, der Grundsatz pacta sunt servanda erscheine in seiner „Herkunft und Standortbestimmung letztlich nicht ganz fassbar“5. Dabei sind Standortbestimmung, Konturierung und Konkretisierung der Vertragstreue und damit zugleich ihre Einbettung im Privatrechtssystem immer dann von Relevanz, wenn der Vertragstreue-Begriff im wissenschaftlichen oder rechtspraktischen Diskurs ins Feld geführt wird – was häufig geschieht. Hinzu kommt die rechtspolitische Bedeutung des Vertragstreuegehaltes. Letzterer spielt beispielsweise bei der Ausgestaltung des auf EU-Ebene in Vorbereitung befindlichen Gemeinsamen Referenzrahmens für das Vertragsrecht (= Common Frame of Reference, CFR) oder für ein etwaiges zukünftiges EU-Zivilgesetzbuch eine Rolle. (…) Insgesamt lassen sich drei Elemente isolieren, die dem Begriff der Vertragstreue zugeschrieben werden: (1.) Die Vertragsbindung, (2.) der Grundsatz der Naturalerfüllung, (3.) die Leistungstreue. (…) Die Vertragsbindung Die erste Kernbedeutung der Vertragstreue liegt in der Vertragsbindung. Exemplarisch für dieses Verständnis sei Bydlinski angeführt, der die „Vertragstreue“ „im Sinne einer in der Wurzel ethischen Bindung an das gegebene Wort“ beziehungsweise als „ethische Bindung an das Versprechen“6 begreift. Die Vertragsbindung hält beide Parteien am Vertrag fest, und zwar ungeachtet dessen, ob der Vertrag beiden Seiten eine Leistungspflicht auferlegt (gegenseitiger Vertrag) oder nur einer Partei eine Leistungspflicht aufbürdet (einseitiger Vertrag).7 Die Vertragsbindung ist mithin die ohne rechtlichen Grund nicht unilateral lösbare Unterwerfung einer Partei unter alle einem Vertrag entspringenden Rechtsgebote. Rechtsvergleichend betrachtet ist sie – anders als das Prinzip der durchsetzbaren Naturalerfüllung – weitgehend unumstritten. In Art. II.-1:103 Draft Common Frame of Reference ist sie ausdrücklich kodifiziert („A valid contract is binding on the parties“), ebenso in Art. 1.3 UnidroitPrinciples sowie in Art. 1434 Civil Code Québec, in Art. 1134 Abs. 1 des französischen Code Civil („Les conventions légalement formées tiennent lieu de loi à ceux qui les ont faites“) und nicht zuletzt in Art. 8 Contract Law of the People’s Republic of China. Im modernen islamischen Recht gilt das Prinzip der Vertragsbindung ebenfalls, soweit dem Vertragsinhalt keine Regeln der sharia entgegenstehen.8 So lautet beispielsweise Art. 147 des ägyptischen Zivilgesetzbuches in der französischen Übersetzung: „Le contrat fait la loi des parties.“ 184 Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? Legitimation der Vertragsbindung Die Vertragsbindung erweist sich für die Institution des obligatorischen Vertrages als unabdingbar. Sie bezieht ihre Legitimation nicht nur aus rechtsethischen Erwägungen, sondern auch aus der den verpflichtenden Schuldvertrag kennzeichnenden Zukunftsdimension sowie den Prinzipien der Rechtssicherheit (Vertrauensschutz) und der Vertragsgerechtigkeit. Im Einzelnen: 1. Zukunftsdimension des Vertrages Charakteristikum des verpflichtenden Schuldvertrages ist dessen räumliche und zeitliche Unabhängigkeit von der späteren Vertragserfüllung. Lorenz bezeichnet den Schuldvertrag treffend als „Zukunftsregelung“9. Dabei kommt in einem vom Trennungs- und Abstraktionsprinzip geprägten Rechtssystem selbst dem sofortigen Güteraustausch insofern ein Zukunftsbezug zu, als das Verpflichtungsgeschäft gedanklich noch einer hiervon zu unterscheidenden (mangelfreien) Erfüllung bedarf. Die „geniale Leistung bei der Erfindung der Obligation“10 liegt darin, sich vom sofortigen Güteraustausch Zug um Zug und damit vom aktuellen Güterbestand, der denknotwendig endlich sein muss, zu lösen und Güterverteilungen aufzuschieben. Der Vertrag bietet damit die Möglichkeit, über Vermögenstransfers, die erst später stattfinden sollen, schon heute zu entscheiden. Indem über Güterbewegungen in der Zukunft disponiert wird, wird selbst Individuen, deren aktueller Güterbestand null beträgt, ermöglicht, mit dem Verteilungsmodell des Schuldrechts zu arbeiten, weil sie sich zu zukünftiger (zu beschaffender) Leistung verpflichten können. Hinzu kommt, dass Verträge als Willensschöpfungen anders als die ihnen zugrunde liegenden realen Leistungen beliebig generierbar und reproduzierbar sind. Die Zukunftsdimension des Vertrages macht eine Bindung der Parteien an den Vertragsschluss erforderlich. Gäbe es diese nicht, wäre die den Individuen eröffnete Kompetenz, qua Vertrag Vermögensdispositionen für die Zukunft festzulegen, eine wirkungslose und damit sinnentleerte Befugnis. Vermutlich wäre die Privatrechtsordnung ohne die Vertragsbindung in einem System des sofortigen Leistungsaustausches durch Bar- beziehungsweise Handgeschäfte verhaftet geblieben. Eine Vertragserklärung könnte nämlich kein Funktionsäquivalent für die reale, sofortige Leistungserbringung bilden. In den Worten v. Jherings: „Das Versprechen ist die Entbindung des Vertrages von den Fesseln der Gegenwart. (…) Damit aber das Wort die Leistung vertrete, muss die Sicherheit bestehen, dass Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 185 es seiner Zeit gegen die Leistung eingetauscht (…) werde. (…) Die Garantie dieser Erfüllung beruht auf dem Zwange. (…) Der juristische Ausdruck für diese Wirksamkeit des Versprechens ist die bindende Kraft der Verträge.“11 Nach alledem erweist sich die Bindungswirkung für die Zukunftsdimension des Vertrages als unabdingbar. 2. Rechtssicherheit Die Vertragsbindung verwirklicht ferner eine „idée directrice“ des Rechts,12 die Rechtssicherheit. Im Einzelnen: Vertrauensschutz Die Vertragsbindung stellt sicher, dass jeder Vertragspartner für sein vertragliches Versprechen einsteht und bildet hierdurch den rechtlichen Nährboden für das Vertrauen der Vertragspartner in das jeweils vom anderen gegebene Wort. Dieses Vertrauen – dies zeigen nicht zuletzt die ökonomischen Lehren vom Vertrauensspiel und der Rationalitätenfalle („Gefangenendilemma“) – darf jedoch nicht auf einer bloßen vagen Hoffnung beruhen, wenn es bei der statistischen Mehrheit von Rechtsgeschäften, also gleichsam typisiert, vorliegen soll. Vielmehr muss das Vertrauen auf einem rechtlichen Tatbestand aufbauen können, der das in ihn gesetzte Vertrauen schützt. Der Tatbestand, in den die Parteien Vertrauen investieren, ist der Vertragsschluss. Die an diesen von der Rechtsordnung geknüpfte Bindungswirkung sorgt dafür, dass das Vertrauen der Vertragsparteien in die Beständigkeit der Einigung grundsätzlich nicht enttäuscht wird. Ohne den Vertragsbindungsbefehl der Rechtsordnung würde sich ein Vertrauen in den Vertragsschluss gar nicht erst bilden. Bei den Geschäften, die mit einer Vorleistung oder Leistungsvorbereitung verbunden sind, hätte das (mangels Schutzes) fehlende Vertrauen typischerweise zur Folge, dass der Sachleistungsschuldner auf einer Vorkasse oder anderen kostspieligen Sicherungsmaßnahmen bestünde. Eindrücklich formuliert v. Jhering: „Wäre das Versprechen nicht bindend, so würde das Darlehn im Geschäftsverkehr so gut wie beseitigt sein, nur dem Freund würde man dann noch Geld leihen; Dienstvertrag und Miethe wären von der Liste der Verträge gestrichen, denn wer würde thöricht genug sein, seine Dienste zu leisten oder dem Andern den Gebrauch seiner Sache einzuräumen, wenn er nicht sicher wäre, dass er den Lohn und Miethzins erhielte? Wer thöricht genug, letzteren im voraus zu entrichten, wenn er gewärtigen müsste, dass die versprochene Gegenleistung ausbliebe? Nur Kauf und Tausch würden noch möglich sein in der äußerst beengenden Form der Erfüllung Zug um Zug.“ 186 Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? Basis für Freiheitsverwirklichung Die Vertragsbindung bildet zum anderen die Basis für die Freiheitsverwirklichung des Individuums, weil sie ihm die für seine Zukunftsplanung notwendige Zuverlässigkeit vermittelt. Das Bundesverfassungsgericht führt hierzu aus: „Freiheit meint vor allem die Möglichkeit, das eigene Leben nach eigenen Entwürfen zu gestalten. Eine wesentliche Bedingung hierfür ist, dass die Umstände und Faktoren, die die Gestaltungsmöglichkeiten solcher Entwürfe und ihren Vollzug nachhaltig beeinflussen können, (…) möglichst zuverlässig eingeschätzt werden können.“14 Erst die Vertragsbindung erlaubt einem Individuum die für seine Persönlichkeitsentfaltung unabdingbare Möglichkeit der eigenständigen Planung im beruflichen und persönlichen Bereich, indem sie seinen Erwartungen in Bezug auf das vom Vertragspartner versprochene Verhalten eine unverrückbare Grundlage gibt. Mit der Vertragsbindung entspricht das Vertragsrecht somit der dem Recht generell zugewiesenen Aufgabe, welche nach Schelsky primär darin besteht, „die Zukunft festzulegen. Es [= das Recht] ist die Planungsmacht schlechthin, die dem Menschen zur Gestaltung seiner sozialen Beziehungen zur Verfügung steht.“15 Vertragsbindung bedingt also Zuverlässigkeit der Planung und damit Rechtssicherheit, und zwar zunächst für das kontrahierende Individuum selbst. Verkehrssicherheit Das Recht hat als Sozialtechnik die Funktion, eine verlässliche Basis für die Einrichtung des Menschen in der Gesellschaft zu bilden und Erwartungen der anderen Verkehrsteilnehmer zu sichern.16 Dies geschieht, indem für menschliches Verhalten Rechtsgesetzlichkeiten in Form von Wenn-Dann-Relationen festlegt werden, welche Orientierung schaffen und Konsequenzen aus einem bestimmten Verhalten „mit Sicherheit“ erwartbar machen. Die Erwartbarkeit ist freilich nur gewährleistet, wenn die Rechtsgesetzlichkeiten beständig und verbindlich sind. Im Hinblick auf rechtsgeschäftliche Beziehungen müssen insbesondere die Bedürfnisse des Rechtsverkehrs nach Klarheit, Planungs- und Tauschsicherheit bedient werden. Damit ist die Verkehrssicherheit angesprochen, die spezifisch zivilrechtliche Ausprägung der Rechtssicherheit. Den Anforderungen der Verkehrssicherheit wird das Vertragsrecht nur gerecht, wenn es eine Rechtsgesetzlichkeit dergestalt aufstellt, wonach jeder Vertragsschluss eine Bindungswirkung nach sich zieht. Erst hierdurch kann ein übersteigertes Misstrauen des Rechtsverkehrs, das dessen Funktionsfähigkeit beeinträchtigen würde, vermieden und die Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 187 Grundlage für das Vertrauen in das Wort der Vertragsparteien geschaffen werden. 3. Vertragsgerechtigkeit Mit der Rechtssicherheit ist der Bogen zur Vertragsgerechtigkeit, einem zentralen Anliegen jeder Privatrechtsordnung, als einem weiteren Grund für die Vertragsbindung geschlagen. Der Gedanke der Vertragsgerechtigkeit basiert auf dem die Privatautonomie kennzeichnenden Umstand, dass das Privatrecht – dem Prinzip formal-abstrakter Gleichheit entsprechend – alle Rechtssubjekte grundsätzlich als frei und gleichwertig betrachtet. Freiheit und Gleichwertigkeit machen es möglich, dass sich die Selbstbestimmung im vertraglichen Einigungsprozess auf den gerechten Interessenausgleich hin entfalten kann.17 Jede Partei nimmt bei den Vertragsverhandlungen ihre Interessen wahr, oder stellt sie in freier Selbstbestimmung hintenan. Dabei muss man zwar nicht so weit gehen und mit der „Richtigkeitstheorie“ Schmidt-Rimplers allein schon aufgrund des verfahrensmäßigen Zusammenwirkens der Parteien beim Vertragsschluss18 eine Gewähr für die Richtigkeit des Vertrages im Sinne einer material gerechten Ordnung der Einzelinteressen sehen. Den auf Basis von Gleichwertigkeit und Selbstbestimmung ausgehandelten Verträgen wohnt mit Blick auf den darin geregelten Interessenwiderstreit aber doch eine „ausgleichende Gerechtigkeit“19, eine „immanente Vertragsgerechtigkeit“20 oder zumindest eine „Richtigkeitschance“21 inne. Von einer so verstandenen Vertragsgerechtigkeit kann man ausgehen, wenn beide Vertragsparteien entweder tatsächlich in freier Selbstbestimmung kontrahiert haben oder zumindest die reale Möglichkeit hatten, ihre berechtigten Interessen im Vertrag zur Geltung zu bringen. Letzteres setzt wiederum voraus, dass die Rechtsordnung ein gewisses „Gleichgewicht der Kräfte“ gewährleistet, da nur so ein fairer Machtausgleich möglich ist, ohne den ein „gerechter“ Interessenausgleich nicht gelingen kann.22 Anders gewendet: Vertragsgerechtigkeit ist nur denkbar, wenn auf keiner der beiden Seiten ein „Raum verdünnter Freiheit“23 vorliegt. Der Vertrag ist gerecht beziehungsweise „,richtig‘, weil und soweit er von der beiderseitigen Selbstbestimmung der Vertragschließenden getragen ist.“24 Sieht man im Vertragsschluss einen im Regelfall gerechten Interessenausgleich, müssen sich die Parteien dann aber auch darauf verlassen können, dass Verhandlungsergebnisse – mithin die im Vertrag in ein Gegenseitigkeits- beziehungsweise funktionelles Äquivalenzverhältnis gesetzten Leistungen – nicht durch spätere Interessenänderungen einseitig in Frage gestellt werden können. Die ausgehandelte Risikovertei188 Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? lung muss fixiert, die verhandelte Vertragsgerechtigkeit über den Moment des Vertragsschlusses hinaus aufrechterhalten werden. Gäbe man einem Vertragspartner demgegenüber die Möglichkeit, den Vertrag nachträglich einseitig aufzuknüpfen, würde man die zum Zeitpunkt des Vertragsschlusses gegebene Gleichwertigkeit und Risikoverteilung zu Lasten einer Seite modifizieren und damit der Vertragsgerechtigkeit ihre Grundlage entziehen.25 Dem „Prinzip dezentralisierter Risikoverteilung“26, wonach die Risiken im Moment des Vertragsschlusses unter dem Gesichtspunkt individueller Zurechenbarkeit und Beherrschbarkeit den Parteien zugeordnet werden, würde der Boden entzogen. Die Rechtsordnung hat also, wenn sie dem Institut des Vertrages gerecht werden will, die im Vertragsschlussmoment gegebene Vertragsgerechtigkeit für die Zukunft zu konservieren. Das Mittel, um die Äquivalenz der vertraglichen Leistungen gegen nachträglichen Sinnes- und Interessenwandel zu immunisieren, ist die Vertragsbindung. Prägnant beschrieben wird dieser Zusammenhang von v. Jhering: „Die Anerkennung der bindenden Kraft der Verträge (…) heißt nichts als Sicherung des ursprünglichen Zweckes gegen den nachtheiligen Einfluss einer späteren Interessen-Verschiebung oder veränderter Interessen-Beurtheilung in der Person des anderen Theils oder: rechtliche Einflusslosigkeit der Interessenänderung.“ Diese Feststellungen haben bis heute Gültigkeit: Die Vertragsbindung, so der BGH, stelle „eine wesentliche Grundlage für ein funktionierendes, die Äquivalenz gegenseitiger Leistungen sicherndes Vertragsrechtssystem“ dar. Inhalt der Vertragsbindung Als Inhalt der Vertragsbindung lassen sich zwei Facetten unterscheiden: der Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit und die Rechtsgebotsunterwerfung der Parteien. Bei letzterer kann man weiter danach differenzieren, ob der Schuldner oder der Gläubiger den vertraglichen Rechtsgeboten unterworfen wird. 1. Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit Indem die Parteien ihr beiderseitiges Verhältnis durch den Vertragsschluss und den daran anknüpfenden Vertragsbindungsbefehl der Rechtsordnung (§§ 311 Abs. 1 i.V.m. 241 Abs. 1 BGB) auf ein verbindliches Fundament in Form der lex contractus stellen, kann sich keine Vertragspartei ohne rechtlich anerkannten Grund unilateral vom Vertrag lösen, insbesondere nicht durch willkürliche einseitige Erklärung. Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 189 Anders gewendet: Jede Lösung vom wirksam zustande gekommenen Vertrag bedarf einer besonderen, vom Gesetzgeber anerkannten Rechtfertigung. Störungen, die aus der eigenen Sphäre des Risikoträgers stammen, eröffnen prinzipiell keine Möglichkeit des Abgehens von der Vertragsbindung. Denn „Bindung“ beinhaltet „Unverbrüchlichkeit, Unumstößlichkeit dessen, was gesagt wurde“29. Dies gilt auch und gerade für den Fall, dass eine Partei das Eingehen des Vertrages nachträglich bereut. In ihrer Konsequenz meint die Vertragsbindung demnach „die schärfste Ablehnung promissorischer Lügen wie auch jedes egoistischen Nützlichkeitsstandpunktes“30. 2. Bindungswirkung durch Rechtsgebote Von einer Bindungswirkung des Vertrages kann nur die Rede sein, wenn der Vertrag für beide Parteien in irgendeiner Form mit einer Verpflichtung einhergeht. Würde eine Partei nur begünstigt, könnte man im Hinblick auf diese nicht von einer Bindung sprechen. Selbst der „einseitige Vertrag“, welcher nur der einen Partei eine Leistungspflicht auferlegt, ist für die andere Partei bindend. Dies deshalb, weil sich die Bindungswirkung nicht nur in einer Leistungspflicht äußern kann. Vielmehr sind alle einem Vertrag entspringenden Rechtsgebote geeignet, die Bindungswirkung zu begründen. Zu diesen Rechtsgeboten gehören primäre und sekundäre Leistungspflichten (und zwar sowohl Sachleistungs- als auch Geldleistungspflichten), Rücksichtspflichten (§ 241 Abs. 2 BGB) und Obliegenheiten. Zwei Aspekte sollen dabei besonders gewürdigt werden: Gläubigerbegünstigende Seite der Vertragsbindung Das prominenteste Rechtsgebot, das einem Vertrag entspringt, ist die Naturalerfüllungspflicht des Sachleistungschuldners, welcher der Naturalerfüllungsanspruch des Gläubigers gegenübersteht. Anknüpfend an den Vertragsschluss besteht bei verpflichtenden Schuldverträgen die von der lex lata vorgesehene Regelfolge darin, dass der Sachleistungsschuldner zur Naturalerfüllung und der Geldleistungsschuldner zur Zahlung verpflichtet wird, §§ 311 Abs. 1, 241 Abs. 1 BGB. Die Naturalerfüllungspflicht ist zwar keine conditio sine qua non für das Vorliegen der Vertragsbindung (vgl. § 311a Abs. 1 BGB), geht aber typischerweise mit dieser einher. Dementsprechend erblickt der Rechtsverkehr auch einen gleichsam natürlichen Zusammenhang zwischen der vertraglichen Bindungswirkung und der Naturalerfüllungspflicht. Erst durch den Zwang zur Erfüllung, so Repgen, verwirkliche sich die Vertragsbindung. 190 Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? Schuldnerbegünstigende Seite der Vertragsbindung Die Vertragsbindung tritt unabhängig davon ein, ob der Vertrag einer Partei eine Leistungs- oder eine Gegenleistungspflicht auferlegt. Somit ist auch der Sachleistungsgläubiger gerade in seiner Funktion als Gläubiger der Leistung (und nicht nur als Schuldner der Gegenleistung) an den Vertrag gebunden. Hiervon profitiert der Schuldner, der den Vertrag durchführen möchte. Dem Grundsatz der nicht einseitigen Lösbarkeit entsprechend kann der Gläubiger vom Vertrag erst abrücken, wenn zu seinen Gunsten der Tatbestand eines Vertragslösungsrechts gegeben ist. Mit Henssler: Allein der Hinweis des Gläubigers, „er habe es sich anders überlegt, rechtfertigt keine Durchbrechung des auch insoweit [d.h. für den Gläubiger] gültigen Gebotes der Vertragstreue“32. Die Bindung des Sachleistungsgläubigers kann sich in erzwingbaren Abnahmepflichten (§§ 433 Abs. 2, 640 BGB) oder schadenersatzbewehrten Rücksichtspflichten, insbesondere Leistungstreuepflichten (§ 241 Abs. 2 BGB), äußern. Im Hinblick auf die Leistungsannahme manifestiert sich für den Gläubiger die Last der Bindung nach herrschender Meinung ferner in einer Leistungsannahmeobliegenheit, nach hier vertretener Ansicht sogar in einer Leistungsannahmepflicht. Ende der Vertragsbindung In zeitlicher Hinsicht besteht die Vertragsbindung grundsätzlich so lange, bis alle vertraglichen Haupt- und Nebenleistungspflichten erfüllt (§ 362 BGB) und darüber hinaus etwaige nachwirkende Rücksichtspflichten erloschen sind. Von diesem Grundsatz gibt es drei Ausnahmen, welche zu einem früheren Ende der Bindungswirkung führen: 1. Zum einen können die Parteien die Bindungswirkung durch entsprechende Bestimmungen im Vertrag selbst einschränken, indem sie etwa Voraussetzungen für ein vertragliches Rücktrittsrecht (§ 346 Abs. 1 1. Alt. BGB) vereinbaren. 2. Zum anderen können die Parteien den Vertrag nachträglich durch einen neuen Vertrag aufheben oder ändern. Aufhebungs- beziehungsweise Modifikationsvoraussetzung ist das beiderseitige Einvernehmen. 3. Schließlich normiert die Rechtsordnung in besonderen Tatbeständen, wann ein Abgehen vom Vertrag gerechtfertigt ist. Beispielhaft zu nennen sind die rechtsvernichtenden Einwendungen, insbesondere die Rücktrittsgründe in §§ 323, 326 Abs. 5 BGB. Diesen Vertragslösungsgründen ist ihr Ausnahmecharakter gemeinsam. Jener kommt darin zum Ausdruck, dass die Berechtigung zur Vertragslösung nicht Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 191 jederzeit und nicht im freien Belieben einer Partei, sondern nur bei Vorliegen fest umrissener Tatbestandsvoraussetzungen erwächst, in denen die Rechtsordnung die Interessen an der Vertragslösung höher bewertet als die Vertragstreue. Dabei gestatten die Vertragslösungsgründe einer Partei regelmäßig dann kein Abgehen vom Vertrag, wenn ihr lediglich die eigene Leistungserbringung ohne Rücksicht auf eine Störung der Gegenleistung lästig wird. Zusammenfassung 1. Die Vertragsbindung lässt sich definieren als die ohne rechtlichen Grund nicht einseitig lösbare Unterwerfung einer Partei unter alle einem Vertrag entspringenden Rechtsgebote (primäre und sekundäre Leistungspflichten, Rücksichtspflichten, Obliegenheiten). 2. Die Vertragsbindung hält jede Partei nicht nur in ihrer Rolle als Schuldnerin, sondern auch in ihrer Funktion als Gläubigerin am Vertrag fest. Den Parteien ist damit eine einseitige Revidierung des Vertragsschlusses grundsätzlich verwehrt; sie haben kein „Reuerecht“. 3. Die Vertragsbindung bezieht ihre Legitimation aus der dem verpflichtenden Schuldvertrag immanenten Zukunftsdimension, aus der Rechtssicherheit sowie aus der Vertragsgerechtigkeit. Ohne die Bindungswirkung bildeten die Vertragserklärungen der Parteien kein Funktionsäquivalent für die reale, sofortige Leistungsbewirkung. Die Vertragsbindung macht es möglich, Vereinbarungen über einen zukünftigen Leistungsaustausch zu treffen, welcher die Grundlage moderner Marktwirtschaften bildet. Fußnoten * Überarbeiteter Zweitabdruck aus Weller, Marc-Philippe, Die Vertragstreue – Vertragsbindung, Naturalerfüllungsgrundsatz, Leistungstreue, Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2009 (Schriftenreihe: Ius Privatum Nr. 142). Im Folgenden werden die Einführung (S. 1 f.) und das 7. Kapitel zur „Vertragsbindung“ (S. 274 ff.) auszugsweise wiedergegeben. Fußnoten und Überschriften wurden gekürzt bzw. abgeändert. 1 So Steinwenter, Artur, Die Vertragstreue im bürgerlichen Recht, in: JurBl 72 (1950), S. 173 ff. 2 Vgl. z.B. Teubner, Gunther, Gegenseitige Vertragsuntreue, Tübingen 1975. 3 Roth, Herbert, Rezension: Mankowski, Beseitigungsrechte, in: JZ 14 (2004), S. 725. 4 Hofmann, Franz, Die Entstehungsgründe der Obligationen, insbesondere der Vertrag, Wien 1874. 192 Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 5 So Stern, Klaus, Zur Grundlegung einer Lehre des öffentlich-rechtlichen Vertrages, in: VerwArch 49 (1958), S. 106–157. 6 Bydlinski, Franz, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäftes, Wien u.a. 1967. 7 Flume, Werner, Allg. Teil des Bürgerlichen Rechts, Zweiter Band – Das Rechtsgeschäft, Berlin u.a. 1979. 8 Krüger, Hilmar, Law of Contract in Arab States, in: Studi Magrebini, Volume II, Napoli 2004, S. 217 ff. 9 Lorenz, Stephan, Der Schutz vor dem unerwünschten Vertrag, München 1997. 10 Schmidt, Jürgen, Einleitung zu §§ 241 ff., Rn. 122, in: Julius v. Staudinger (Begr.), Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Berlin 1995, S. 1–198. 11 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883. 12 Arnauld, Andreas v., Rechtssicherheit, Tübingen 2006. 13 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883. 14 BVerfG, Urt. v. 20.4.1982, 2 BvL 26/81, NJW 1982, 2425. 15 Schelsky, Helmut, Systemfunktionaler, anthropologischer und personfunktionaler Ansatz der Rechtssoziologie, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 1, Bielefeld 1970, S. 37–89. 16 Luhmann, Niklas, Rechtssoziologie, Reinbek 1972. 17 Canaris, Claus-Wilhelm, Wandlungen des Schuldvertragsrechts – Tendenzen zu seiner „Materialisierung“, in: AcP 200 (2000), S. 273–364; ders., Äquivalenzvermutung und Äquivalenzwahrung im Leistungsstörungsrecht des BGB, in: FS Wiedemann, München 2002, S. 3–33: Vertragsgerechtigkeit mit „primär ‚prozeduralem‘ Charakter“, verwirklicht durch ein „faires“ Vertragsschlussverfahren und „nur ergänzend durch die Festlegung bestimmter inhaltlicher Wertungen.“ 18 Schmidt-Rimpler, Walter, Grundfragen einer Erneuerung des Vertragsrechts, in: AcP 147 (1941), S. 130–197: „Der Vertrag ist ein Mechanismus, um ohne hoheitliche Gestaltung in begrenztem Rahmen eine richtige Regelung auch gegen unrichtigen Willen herbeizuführen, weil immer der durch die Ungünstigkeit Betroffene zustimmen muß.“ 19 Larenz, Karl, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, München 1963. 20 Bydlinski, Franz, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäftes, Wien u.a. 1967. 21 Wolf, Manfred, Rechtsgeschäftliche Entscheidungsfreiheit und vertraglicher Interessenausgleich, Tübingen 1970: „Das Institut des Vertrages schafft wohl die besten Voraussetzungen dafür, dass die Parteien durch ihr Aushandeln in Ausübung in Selbstbestimmung den gerechten Interessenausgleich finden.“ 22 Drexl, Josef, Die wirtschaftliche Selbstbestimmung des Verbrauchers, Tübingen 1998. 23 Raiser, Ludwig, Vertragsfunktion und Vertragsfreiheit, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, Karlsruhe 1960, S. 101–134. Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? 193 24 Flume, Werner, Rechtsgeschäft und Privatautonomie, in: Festschrift zum hundertjährigen Bestehen des Deutschen Juristentages 1860–1960, Karlsruhe 1960, S. 135–238. 25 Larenz, Karl, Geschäftsgrundlage und Vertragserfüllung, München 1963. 26 Siehe Dauner-Lieb, Barbara, Verbraucherschutz durch Ausbildung eines Sonderprivatrechts für Verbraucher, Berlin 1983. 27 Jhering, Rudolph von, Der Zweck im Recht, Band I, Leipzig 1877 und 1883. 28 BGH, Urt. v. 21.12.1983, VIII ZR 195/82, BGHZ 89, 206, 211. 29 Larenz, Karl, Richtiges Recht – Grundzüge einer Rechtsethik, München 1979. 30 Steinwenter, Artur, Die Vertragstreue im bürgerlichen Recht, in: JurBl 72 (1950), S. 173 ff. 31 Repgen, Tilman, Vertragstreue und Erfüllungszwang in der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, Paderborn 1994. 32 Henssler, Martin, Risiko als Vertragsgegenstand, Tübingen 1994. 194 Vertrauen ist gut, Vertrag ist besser? Abbildung 27: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Neugier I Abbildung 28: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Neugier II Vertrauen statt Wissen Qualität im Wissenschaftsjournalismus1 Matthias Kohring Der Begriff Qualität meint, dass bestimmte Erwartungen an den Wissenschaftsjournalismus von diesem erfüllt werden. Die Frage ist bloß, welche das eigentlich sind. Wer formuliert diese Erwartungen, und wie werden sie begründet? Viele sagen, das kläre sich dadurch, dass wir es dabei mit Wissenschaftsberichterstattung zu tun haben, und da sei ja bekannt, worum es geht. Also könne man dann aus dieser Warte über die Qualitätsfrage entscheiden. Das klingt plausibel – sofern wirklich geklärt ist, wozu Wissenschaftsjournalismus eigentlich da ist. Gerade über diese Frage der Funktion des Wissenschaftsjournalismus scheint aber noch einige Unklarheit zu herrschen, oder besser: eine nur vermeintliche Klarheit, vor allem bei Wissenschaftlern, aber auch bei Journalisten. Das hängt damit zusammen, dass in Deutschland die Vorstellung tief verwurzelt ist, Wissenschaftsjournalisten hätten damit zu tun, wissenschaftliche Erkenntnisse in die Öffentlichkeit zu „transportieren“ und solchermaßen in Zeiten knapper Finanzen für die notwendige – angeblich gefährdete – Akzeptanz „der“ Wissenschaft zu sorgen. Auch heute noch hört man aus dem Wissenschaftsbereich die larmoyante Klage über eine sogenannte Laien-Bevölkerung, die einfach nicht versteht und einsieht. In solchen Reden findet sich der Wissenschaftsjournalist dann unversehens zusammen mit dem Wissenschaftler oder dessen Öffentlichkeitsarbeiter „im gleichen Boot“ oder „am gleichen Tisch“ wieder, um von hier den Nutzen „des“ wissenschaftlichen und technologischen „Fortschritts“ und den kulturellen Wert „der“ Wissenschaft zu propagieren. Diese Vorstellung prägt die Diskussion über den Wissenschaftsjournalismus schon seit dessen Anfängen. Sie hat allerdings noch nie dazu getaugt, die real existierende Wissenschaftsberichterstattung adäquat zu beschreiben. Insofern ist diese normative Vorstellung vom Wissenschaftsjournalismus, zuallererst als Vermittler wissenschaftlichen Wissens an die breite Öffentlichkeit zu fungieren, ein interessantes Beispiel für die kontrafaktische Kraft von Normen, die als Erklärungen dienen sollen, und für die beharrliche Resistenz der Diskutanten, aus gesellschaftlichen Veränderungen und empirischen Erkenntnissen etwas Vertrauen statt Wissen 197 dazuzulernen. Dem entspricht das Konzept eines öffentlichen Wissenschaftsverständnisses oder Public Understanding of Science, das die Akzeptanz von Wissenschaft anscheinend immer noch durch die Vermittlung wissenschaftlichen Wissens an eine angeblich unzureichend aufgeklärte Bevölkerung sicherstellen will. Dass diese Vorstellung viel zu schlicht ist, um der heutigen Komplexität des Verhältnisses von Wissenschaft und Gesellschaft gerecht zu werden, mag man noch dahingehen lassen. Kritisch wird es allerdings, wenn diese Diagnose mit der Aufgabenbestimmung des Wissenschaftsjournalismus gekoppelt wird, dergestalt, dass dieser es nun richten soll, sozusagen kraft seiner medialen Möglichkeiten. Das Akzeptanz- und Kommunikationsproblem der Wissenschaft wird damit kurzerhand zum Kommunikationsproblem des Wissenschaftsjournalismus erklärt, der sich nun stellvertretend daran abarbeiten darf. Dieser Diskurs nimmt – teilweise durchaus auch infolge der großen Förderprogramme zur Wissenschaftskommunikation – bis heute einen nicht unerheblichen Einfluss auf die Qualitätsvorstellungen zum Wissenschaftsjournalismus. Ich halte diese Vorstellung vom Wissenschaftsjournalismus als Wissensvermittler allerdings – um es gelinde auszudrücken – für stark verkürzt. Ich bin nicht der Ansicht, dass sie als oberste Leitlinie taugt, um Qualitätsmaßstäbe für den Wissenschaftsjournalismus zu formulieren. Warum ist Vertrauen ein besseres Konzept als Qualität? Was heißt nun also „Qualität des Wissenschaftsjournalismus“? Es ist scheinbar banal zu sagen, dass Qualität notwendig ist. Sofern man sich nicht damit begnügt zu sagen, dass es gut ist, dass etwas gut ist – wofür ist dann Qualität im Wissenschaftsjournalismus eigentlich notwendig? Und reicht es aus zu sagen, dass journalistische Texte eine bestimmte Qualität aufweisen? Ist es nicht viel wichtiger, dass sie als Qualität wahrgenommen wird? Die traditionelle Qualitätsforschung gewinnt ihre Kriterien vor allem aus dem Medienrecht, das sich mit der Interpretation der öffentlichen Aufgabe der Medien beschäftigt. Diese Kriterien heißen dann zum Beispiel Relevanz, Richtigkeit, Transparenz, Sachlichkeit, Ausgewogenheit, Vielfalt und Verständlichkeit. Diese Begriffe sind natürlich nicht unsinnig, es ist bloß die Frage, worauf sie sich beziehen. Auch wissenschaftliche Publikationen sollten relevant, richtig, transparent, sachlich und verständlich sein, und in der Regel auch ausgewogen und vielfältig, was den Stand der Forschung angeht. Was unterscheidet also die journalistische Qualität von der wissenschaftlichen Qualität? 198 Vertrauen statt Wissen Wenn Qualität attestiert wird, ist damit genau genommen gemeint, dass bestimmte Erwartungen erfüllt wurden. Aber welche Erwartungen? Und wessen Erwartungen? Der Begriff Erwartung verweist darauf, dass es hierbei um eine dynamische Beziehung geht zwischen einem Akteur, der etwas erwartet, und einem Akteur, der diese Erwartung erfüllt. Diese Akteursbeziehung kann nicht willkürlich konstruiert werden. Ich kann nicht von einem Schuhmacher Brötchen verlangen und darüber enttäuscht sein, dass er sie nicht im Regal liegen hat. Woher weiß ich dann also, was ich vom Wissenschaftsjournalismus verlangen kann? Der Qualitätsbegriff scheint mir vor allem nicht in der Lage zu sein, diese, sagen wir „Beziehungsdynamik“ zu berücksichtigen. Daher möchte ich diesen Begriff durch ein aussagekräftigeres Konzept ersetzen, und zwar durch das Konzept der Vertrauenswürdigkeit. Auch Vertrauen misst sich an der Erfüllung bestimmter Erwartungen. Der Begriff des Vertrauens ist aber weitaus anschlussfähiger, wenn es um das Nachdenken über die Lebensbedingungen in unserer modernen Gesellschaft geht. Während Qualität bloß meint, dass etwas gut gemacht wird, kann man mit der Theorie des Vertrauens darauf kommen, was denn überhaupt gut gemacht werden muss. Der Begriff des Vertrauens erlaubt es mir zudem – in Einheit mit einer Theorie des Journalismus –, das Problem des Vertrauens in den Wissenschaftsjournalismus mit der ebenso vorhandenen Problematik des Vertrauens in die Wissenschaft selbst zu verknüpfen. Vertrauen in andere wird da notwendig, wo das eigene Wissen unvollständig ist und man auch nicht über die finanziellen und zeitlichen Ressourcen verfügt, um andere gesellschaftliche Bereiche selbst zu überblicken oder sogar zu kontrollieren. Das wird mich dann, um dies schon einmal anzudeuten, zu der etwas unvertrauten Schlussfolgerung führen, dass Wissenschaftsjournalismus primär kein Wissensvermittler, sondern ein Vertrauensvermittler ist (was übrigens auch Misstrauen einschließt, das ja ebenfalls sinnvoll sein kann). Da aber Vertrauen dazu dient, fehlendes Wissen über einen komplexen Handlungsbereich zu kompensieren, hat ausgerechnet die Qualität desjenigen Journalismus, der sich mit dem vielleicht wichtigsten Wissensproduzenten in unserer Gesellschaft beschäftigt, gar nicht allzu viel mit Wissensvermittlung im traditionellen Sinn zu tun. Was ist die Funktion von Vertrauen? Der Begriff des Vertrauens ist seit den neunziger Jahren in aller Munde. Das hat etwas zu tun mit den großen gesellschaftlichen Umbrüchen wie zum Beispiel dem Wegfall des Ost-West-Konflikts, der ja auch eine Vertrauen statt Wissen 199 bestimmte Weltsicht und damit Sicherheit garantierte. Wenn Stabilität und Kontinuität verlorengehen, entsteht aber Unsicherheit, und mit dieser die Frage, wie so etwas wie gesellschaftliche Ordnung hergestellt und abgesichert werden kann. In einer Gesellschaft wie der unsrigen gibt es hierfür keine herausragende Instanz mehr (wie es früher z. B. die Religion war), die eine solche Einheit für alle stiften könnte. Eine solche multiperspektivische oder pluralistische Gesellschaft ist stattdessen gerade dadurch geprägt, dass verschiedene Realitäts- und Problemsichten und Werthaltungen existieren und miteinander konkurrieren. Diese sind für Außenstehende überwiegend undurchschaubar: Jeder ist zwar Experte für einen bestimmten, kleinen Bereich, aber Laie für den großen Rest. Nach welchen allgemeinen Prinzipien und konkreten Gründen und Interessen die Akteure außerhalb meines eigenen Bereichs handeln, kann ich allenfalls vermuten – wissen tue ich es nicht. Mein Handeln in einer solchen pluralistischen Gesellschaft wird für mich so zu einem prinzipiellen Risiko, da sein Erfolg immer abhängig ist vom „Mithandeln“ meiner sozialen Umwelt. Mit dem prinzipiellen Risiko meine ich vor allem die arbeitsteilige Übernahme von Handlungen, die für einen selbst wichtig sind, durch andere: So fahre ich mit dem Taxi zum Bahnhof, um noch pünktlich zu einem Kongress anreisen zu können (aber woher weiß ich, dass der Fahrer den Weg rechtzeitig findet?). Ich überreiche mein Geld zwecks Vermehrung einer Bank (aber woher weiß ich, dass deren Experten nicht selbst vom Markt überrascht werden?). Ich lese einen Bericht zum radargestützten Sicherheitssystem der neuen S-Klasse (aber woher weiß ich, dass der Journalist sauber gearbeitet hat?). Kein einziger sozialer Akteur wäre auf der Basis nur seines Wissens und nur seiner Fähigkeiten in der Lage, sich in auch nur einigermaßen komplexen Handlungszusammenhängen zu bewegen. Er muss sein Handeln daher mit dem Handeln anderer sozialer Akteure verknüpfen und abstimmen. Auf der einen Seite wird so sein Handlungsradius enorm erweitert. Auf der anderen Seite entsteht das Problem, wie er mit dem Risiko umgeht, dass andere Akteure nicht seinen spezifischen Erwartungen gemäß handeln könnten, also als Taxi-Fahrer den rechten Weg finden, als Banker die Marktentwicklung überschauen oder als Journalist alle wichtigen Informationsquellen kennen und sie auch nutzen. Es ist diese riskante Situation, in der Vertrauen in andere seine Bedeutung gewinnt. Vertrauen ist ein Mechanismus, um trotz ungewisser beziehungsweise riskanter Zukunft handeln zu können. Man verlässt sich auf andere und gründet sein jetziges Handeln auf dieses Vertrauen, obwohl zu diesem Zeitpunkt nicht gewiss ist, dass diese anderen tatsächlich gemäß meinen Erwartungen handeln. Diese Vertrauenserwartun- 200 Vertrauen statt Wissen gen an andere sind in zumindest rudimentärer Weise untereinander ausgehandelt, das heißt, der Vertrauensadressat weiß zum Ersten, dass ich ihm vertraue, und er akzeptiert zum Zweiten die Erwartung an ihn. Andernfalls (wie im Falle der Brötchen beim Schuhmacher) handelt es sich um bloße Hoffnung, mit der man sich auch lächerlich machen kann. Eine Vertrauenshandlung ist weder kalkuliert, noch ist sie rechtlich sanktionierbar. Das macht sie riskanter als zum Beispiel ein Handeln, das nur auf die eigenen Fähigkeiten baut, oder als ein Handeln mittels Verträgen. Nur Vertrauensbeziehungen ermöglichen aber die Vielfalt unserer Gesellschaft. Wenn ich vertraue, überlasse ich mich also einem anderen, obwohl das Risiko, dass er mich enttäuscht, weiterhin besteht. Ich tue dies, weil ich selbst nicht über genügend Wissen oder über die Fertigkeiten verfüge, um ein bestimmtes Problem allein anzugehen. Mit Vertrauen überbrücke ich mein Defizit. Dabei wird ein ganz besonderes Charakteristikum von Vertrauen sichtbar: Ich kann nicht beurteilen, ob der andere Akteur, dem ich vertraue, mein Problem lösen kann, da mein Problem ja gerade darin besteht, nicht über dieses Beurteilungswissen zu verfügen. Wann ist ein anderer Akteur für mich vertrauenswürdig? Er ist dann vertrauenswürdig, wenn er – auch als Rollen-Inhaber wie zum Beispiel als Redakteur – sich an die untereinander ausgehandelten Vertrauenserwartungen hält. Wenn dieser andere Akteur sich dadurch als vertrauenswürdig erweist, dass er bestimmte Erwartungen an seine Berufsrolle erfüllt, könnte man genauso auch sagen, dass seine Arbeit Qualität „hat“. Ob jemand vertrauenswürdig ist, erweist sich aber erst im Nachhinein und nur durch Erfahrung. Vertrauen kompensiert die eigene Unsicherheit, oder anders ausgedrückt: Vertrauen ersetzt fehlendes Wissen. Man kann Vertrauen folglich nicht durch Wissensvermittlung erzeugen, im Gegenteil: Je mehr Wissen jemand über ein gesellschaftliches Thema erhält, desto komplexer und damit unsicherer erscheinen ihm seine Entscheidungsgrundlagen, und umso mehr Vertrauen benötigt er. Es ist typisch für unsere moderne Gesellschaft, dass ihre Komplexität nicht nur mehr Handlungsmöglichkeiten bietet, sondern zugleich dem Individuum immer mehr den Überblick und den Einblick verwehrt. Statt Wissen brauche ich daher andere Handlungsorientierungen, sofern es nicht um meinen eigenen Spezialbereich geht. Die Vertrauenswürdigkeit des anderen ist eine solche Orientierung. Sie beruht aber nicht auf dem Nachvollzug des Wissens, das von anderen Akteuren erzeugt wurde, sondern sie gründet auf dem mehr oder weniger symbolischen Wissen über diese Akteure. Symbolisch heißt, dass dieses Wis- Vertrauen statt Wissen 201 sen über Akteure zum Stellvertreter für das tatsächliche Wissen dieser Akteure wird, auf das es mir ja eigentlich ankommt. Wer sich einem Zahnarzt schon beim ersten Besuch für eine Wurzelbehandlung überlässt, hat nicht das geringste sachspezifische Wissen, um diese Handlung zu legitimieren. Sein Vertrauen gründet sich auf saubere Kittel, Diplome an der Wand, ein freundliches Wort und auf die Beobachtung, dass da ja auch noch andere Patienten sind, die entspannt in der Zeitschrift blättern – streng genommen eine jämmerliche Informationsbasis. Die Alternative wäre allerdings zeitraubend: ein Studium der Zahnmedizin. Nach dem ersten Besuch kommt dann die eigene Erfahrung als Kriterium hinzu, nach dem Motto: Was einmal klappte, muss doch beim nächsten Mal auch gutgehen (das Ganze ist natürlich auch im Negativen denkbar). Ich glaube übrigens, dass sich das Verhältnis von Wissenschaft und sogenannter Laien-Bevölkerung nicht groß von diesem Szenario unterscheidet. Wovon die Vertrauenswürdigkeit abhängt, ist von Profession zu Profession unterschiedlich. Man kann also nicht einfach nur nach „der“ Vertrauenswürdigkeit fragen, ohne sich zu überlegen, worauf sich das Vertrauen eigentlich bezieht. Vertrauen in den Schuhmacher, Vertrauen in den Bäcker, Vertrauen in den Zahnarzt oder aber Vertrauen in den Wissenschaftsjournalisten – jedes Mal ist etwas völlig anderes gemeint. Aus dieser Argumentation ergibt sich, dass die Qualität des Wissenschaftsjournalismus davon abhängt, ob er die spezifischen Vertrauenserwartungen erfüllen kann, die an ihn gerichtet werden. Welche spezifischen Erwartungen dies sind und wessen Erwartungen dies sind, das kann man aus der Funktion ableiten, die Journalismus für die Gesellschaft erfüllt. Worauf bezieht sich Vertrauen in Journalismus? Vertrauen in Journalismus bezieht sich auf die angemessene Erfüllung der Funktion, die Journalismus für die gesamte Gesellschaft innehat. Was ist aber nun diese „eigentümliche“ Perspektive des Journalismus, die anscheinend so bedeutend für seine Publika ist? Um dies zu erläutern, muss man sich wie beim Vertrauen noch einmal die pluralistische Struktur unserer modernen Gesellschaft vor Augen führen. Die arbeitsteilige Organisation der Gesellschaft hat dazu geführt, dass die einzelnen Handlungsbereiche oder Systeme miteinander konkurrierende Sachlogiken und Fachsprachen ausgebildet haben: Was in der Wissenschaft wahr ist, bringt in der Politik vielleicht zu wenig Stimmen, was moralisch verwerflich ist, bringt für sich genommen die Wirtschaft nicht dazu, davon abzulassen. Hinzu kommt, dass die einzelnen Systeme zwar in einer Hinsicht sehr spezialisiert sind (man denke nur an die Wissenschaft), aber gerade deshalb in allem anderen umso abhän202 Vertrauen statt Wissen giger von ihrer Umwelt. Dies gilt sowohl für negative als auch für positive „Störungen“ der eigenen Handlungen: Neue Erkenntnisse der Wissenschaft können der Wirtschaft zur Entwicklung eines lukrativen Produkts verhelfen (Beispiel Krebsforschung), genauso aber auch die Wirtschaftlichkeit bestimmter Güter gefährden (Beispiel Kanzerogenität von Asbest). Man kann mit vielen weiteren Beispielen belegen, dass unsere Gesellschaft durch komplexe gegenseitige Abhängigkeits- und Beeinflussungsverhältnisse charakterisiert ist. Kein Akteur bleibt unberührt von dem, was andere tun. Zumindest kann er nicht davon ausgehen – was für ihn eine prinzipielle Unsicherheit bedeutet. In solch einer Situation ist jeder Akteur, ob Person oder Organisation, genötigt, Erwartungen über seine gesellschaftliche Umwelt auszubilden, auf deren Grundlage er dann sein spezifisches Handeln planen kann. Ohne die Ausbildung dieser Erwartungen würde zum Beispiel eine Organisation immer wieder überrascht werden von dem, was aus ihrer Umwelt auf sie einströmt. Unter diesen Bedingungen muss jeder gesellschaftliche Akteur also folgendes Problem lösen: Wie kann er Erwartungen ausbilden, die ihm eine Orientierung in einer pluralistischen Gesellschaft ermöglichen, das heißt in einer Gesellschaft, die von konkurrierenden und durchaus auch inkompatiblen Perspektiven und Interessen geprägt ist? Kurz gefasst: Wie kann er sich rechtzeitig darauf einstellen, was andere tun? Genau diese Orientierungsfunktion übernimmt der Journalismus. Journalismus informiert stets über solche Ereignisse, die über den Bereich hinaus, in dem sie passiert sind, Bedeutung erlangen könnten. Über ein Ereignis wird also nicht schon deshalb berichtet, weil es in einem bestimmten gesellschaftlichen System wie zum Beispiel der Wissenschaft oder der Politik stattfindet, sondern weil es in mindestens einem zusätzlichen System, idealerweise (aus journalistischer Sicht zumindest) in möglichst vielen, Resonanz auslösen, also Erwartungshaltungen verändern könnte. Wenn Journalismus also zum Beispiel ein Ereignis beobachtet, das er dem Rechtssystem zurechnet (z. B. das Kruzifix-Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1995 zur Anbringung von Kreuzen in bayerischen Schulräumen), wird er es jeweils aus der Perspektive anderer ihm bekannter Akteure auf seine Neuigkeit und seine Relevanz hin prüfen. Er wird dann feststellen, dass dieses Urteil im System Religion sowohl einen hohen Neuigkeitswert besitzt, als auch relativ stabile Erwartungen über die gesellschaftliche Stellung der großen Kirchen in Frage stellt, also für diese Akteure hochrelevant ist. Journalismus wird zudem aus seiner Kenntnis politischer Kommunikation die Vermutung ableiten, dass zumindest Teilbereiche der Politik (die christlichen Parteien, vor allem die CSU) höchstwahrscheinlich auf diese höchstrichterlichen Irritationen reagieren werden. Er wird also dieses Ereignis als journaVertrauen statt Wissen 203 listisches Thema kommunizieren. Nach den gleichen Kriterien wird er auf die Reaktionen achten, sowohl auf die im eigenen System (z. B. Leserbriefe, Anrufe) als auch auf die aus Politik und Religion sowie natürlich aus dem Rechtssystem, das durch die teilweise scharfen Angriffe auf seine Autonomie ebenfalls erheblich tangiert wurde. Man kann diese Funktionsbeschreibung für Journalismus auch anders formulieren: Journalismus liefert seinen Lesern, Hörern und Zuschauern Informationen, damit diese über ihre Vertrauensverhältnisse zu anderen Akteuren in der Gesellschaft entscheiden können. Ein Bericht über verdeckte Geldzuwendungen an einen Politiker? – Das Vertrauen in die betreffende Partei, schlimmstenfalls sogar in die Politik, sinkt. Ein Artikel über ein neues wirksames Medikament gegen AIDS? – Das Vertrauen in die Leistungsfähigkeit der medizinischen Wissenschaft steigt. Mit Informationen dieser Art, die natürlich in der Regel viel weniger spektakulär sind, trägt Journalismus dazu bei, dass sich seine Publika einen Eindruck von der Vertrauenswürdigkeit gesellschaftlicher Akteure machen können, auf die sie sich tagaus tagein verlassen. Das kann auch – Stichwort „Gammelfleisch“ – bedeuten, dass Journalismus den Anstoß zum Vertrauensentzug gibt. Entscheidend ist hierbei, dass der Journalismus diese Selektionsentscheidungen autonom durchführt, das heißt nicht nach der Maßgabe anderer gesellschaftlicher Perspektiven. Journalismus hat seine eigene Perspektive. Die Funktion des Journalismus erlaubt damit nicht, die Berichterstattung auf die Erwartungen nur eines Systems auszurichten, weil dies den Erwartungen anderer Gesellschaftsbereiche zuwiderlaufen könnte. Würde Journalismus seine eigene Perspektive zugunsten einer anderen aufgeben, müsste man von Korruption sprechen. Die Relevanz journalistischer Themen bemisst sich allein nach journalistischen Relevanzkriterien, und das heißt mit Bezug auf die Erwartungen des orientierungsbedürftigen Publikums. Anders ausgedrückt: Die Funktion des Journalismus ergibt sich allein aus seiner Beziehung zu seinem Publikum. Das macht es wiederum – warum sollte es hier anders sein? – prinzipiell riskant, sich auf Journalismus zu verlassen. Aber gerade deshalb reden wir ja über seine Vertrauenswürdigkeit respektive Qualität – weil sie potentiell immer auch gefährdet ist. Von hier aus ist es nun nur noch ein kleiner Schritt zur Vertrauenswürdigkeit beziehungsweise zur Qualität des Wissenschaftsjournalismus. Was bedeutet Vertrauen in Wissenschaftsjournalismus? Wissenschaftsjournalismus ist „auch nur“ Journalismus. Das heißt, er unterscheidet sich in seiner grundsätzlichen Funktion nicht von ande- 204 Vertrauen statt Wissen ren Bereichen des Journalismus. Dies wurde ja lange anders gesehen. Für die Funktion des Wissenschaftsjournalismus heißt das zum einen: Wissenschaftsjournalismus informiert über solche Ereignisse in der Wissenschaft, die über diesen Bereich hinaus Bedeutung erlangen könnten. Beispiel: eine neue Krebstherapie. Das heißt zum anderen aber auch: Wissenschaftsjournalismus informiert über solche Ereignisse in der Gesellschaft, die für die Wissenschaft Bedeutung erlangen könnten. Beispiele: ein Gesetz zu Studiengebühren; eine neue Esoterikwelle. Tatsächlich liegt der Schwerpunkt wohl auf dem ersten Aspekt, dass nämlich die Folgen der Wissenschaft für die Gesellschaft thematisiert werden. Es wäre zu diskutieren, ob das für das Publikum nicht von Nachteil ist, da es so vielleicht zu wenig über den Einfluss der Gesellschaft auf die Wissenschaft erfährt. Das Risiko besteht hier im Bild einer quasi-autarken Wissenschaft, so als habe man sich diese isoliert von mannigfaltigen gesellschaftlichen Einflüssen vorzustellen. Ich beschränke mich im Folgenden auf den ersten Aspekt, die Beobachtung der Wissenschaft für die Gesellschaft. Diese Beobachtung führt Wissenschaftsjournalismus nach seinen Kriterien durch, und das heißt vor allem: eng an den Erwartungen seiner Publika orientiert. Entscheidend ist: Er führt sie nicht nach den Relevanzkriterien der Wissenschaft durch. Gerade dies wurde aber oft als Qualitätsnachweis erachtet. Wissenschaftsjournalismus nach journalistischen Kriterien erzeugt gewiss auch ein „public understanding of science“, aber eben auf seine Weise. Nur so kann die Öffentlichkeit sich ein Bild über ihr Vertrauensverhältnis zur Wissenschaft machen. Diese kann natürlich selbst per Öffentlichkeitsarbeit dazu beitragen. Sie sollte sich dabei aber nicht zu sehr an den ihr fremden Erfolgskriterien öffentlicher Aufmerksamkeit ausrichten. Ich hatte beim Beispiel vom Vertrauen in den Zahnarzt gesagt, dass die Alternative zum Vertrauen ein Studium der Zahnmedizin wäre. Das stimmt natürlich nicht ganz, denn es gibt noch eine weitere Option: Man kann auch andere fragen, die schon Erfahrungen mit diesem Zahnarzt gesammelt haben. Nun hat man nicht für jedes Thema, erst recht nicht für die größeren gesellschaftlichen Probleme, eigene Kontaktleute und auch gar nicht die Zeit, ständig nach solchen Ausschau zu halten. In diesem Fall wird man sich an solchen Informanten orientieren, die sich das Über-die-Bedeutung-von-Ereignissen-für-andere-Reden zur Profession gemacht haben – also Journalisten. Von diesen kann man dann Vertrauensinformationen erhalten, das heißt solche Informationen, mit deren Hilfe man beurteilen kann, ob man sich bestimmten gesellschaftlichen Akteuren anvertrauen kann, und wie weit man hierbei gehen sollte. Vertrauen statt Wissen 205 Meine These ist, dass auch der Wissenschaftsjournalismus in erster Linie ein solcher Vertrauensinformant oder Vertrauensvermittler ist. Er liefert seinen Lesern Informationen, die diese benötigen, um über ihr Vertrauensverhältnis zur Wissenschaft entscheiden zu können. Das hat nichts mit Akzeptanz zu tun, wie man im ersten Moment denken könnte. Es geht in einem viel umfassenderen Sinne darum, wie ich mich als Bürger zu den Professionen verhalte, die zwar Einfluss auf mein Leben ausüben, dabei aber so spezialisiert sind, dass ich nicht in der Lage bin, das alles selbst nachzuhalten. Die Wissenschaft ist einer dieser spezialisierten Bereiche, dessen Produkte sowohl positive als auch negative Folgen für mich haben können. Hierbei muss man natürlich berücksichtigen, dass es ja eher selten um Wissenschaft „an sich“ geht, sondern immer um Wissenschaft im Kontext: Wissenschaft im Kontext von Technologie, Wissenschaft im Kontext von Ökonomie, Wissenschaft im Kontext von Politik und so weiter. Das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft ist daher besser zu konzipieren als eine Vielzahl sozialer Beziehungen zwischen den wissenschaftlichen Akteuren und der Öffentlichkeit. Vor diesem Hintergrund rückt die Qualität dieser Beziehungen in Form gegenseitiger Vertrauensverhältnisse in den Mittelpunkt. Die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft erweist sich natürlich auch in der Nützlichkeit ihres Wissens. Aber auch diese Wissensvermittlung findet nach den Bedürfnissen potentieller Publika statt: Die Komplexität wissenschaftlicher Argumentationen wird hierbei in einfache Ist-Aussagen transformiert und gleichzeitig mit dem Relevanzkontext des Laien-Anwenders verknüpft: Eine neue Technologie hilft Heizenergie sparen, ein bestimmtes Medikament ist riskant für eine bestimmte Patientengruppe und so weiter und so fort. Darüber hinaus kann Wissenschaftsjournalismus natürlich zusätzlich auch komplexes Wissen an seine Publika vermitteln. Der Umfang dieser Publika ist aber eher beschränkt, weil die Anforderungen an Auffassungsaufgabe und Engagement doch recht voraussetzungsreich sind. Dies ist wohl auch mit ein Grund, warum es der Wissenschaftsjournalismus immer so schwer hatte, als eigenes Ressort zu reüssieren: Für eine vornehmlich an der Wissenschaft orientierte Wissensvermittlung ist das potentielle Publikum einfach zu klein. Leisten konnten sich dies zum Beispiel nur Zeitungen, die eine Leserschaft mit sehr hoher Bildung hatten. Es gibt daneben auch Formen der Wissenschaftskommunikation, in denen es tatsächlich um die Wissenschaftsvermittlung an sich zu gehen scheint oder wo die Vermittlung von Wissen doch stark im Vordergrund steht. Hier scheinen mir die Grenzen zu Wissenschaftskommunikation als Bildung (im Sinne von Schule und Hochschule) und zu Wissenschaftskommunikation als Unterhaltung fließend zu sein. Ich bin mir 206 Vertrauen statt Wissen zum Beispiel nicht schlüssig, wo ich die sogenannten Wissensmagazine verorten soll. Zu diskutieren wäre, ob wir es in den Medien nicht generell mit Tendenzen einer Re-Mythifizierung von Wissenschaft zu tun haben, bei der – übrigens ähnlich wie bei den beliebten Quiz-Sendungen – Wissenschaft als Garant von Sicherheit im Vordergrund steht. Zumindest im aktuellen Journalismus geht es aber vor allem um Informationen, mit deren Hilfe über die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft entschieden werden kann und mit deren Hilfe man das eigene Handeln auf die Konsequenzen wissenschaftlicher Handlungen einstellen kann. Das wissenschaftliche Wissen selbst ist hierfür viel zu komplex und kann nur in seiner Nützlichkeit für außerwissenschaftliche Zusammenhänge beurteilt werden, wiewohl man sich ja gern die Illusion erhalten würde zu wissen, worum es geht. Statt um den Nachvollzug des Wissens von Wissenschaftlern geht es für den Leser, Hörer und Zuschauer aber erst einmal darum, Wissen über diese Akteure zur Verfügung gestellt zu bekommen. Dieses dient ihm dazu, über den Grad ihrer Vertrauenswürdigkeit zu entscheiden. Dieses Vertrauen hilft ihm wiederum, das eigene nicht vorhandene Wissen über einen überaus komplexen gesellschaftlichen Handlungsbereich wie die Wissenschaft zu kompensieren. Erst dann ist man so weit, deren Wissen auch für sich zu nutzen. So hat ausgerechnet die Qualität desjenigen Journalismus, der sich mit dem vielleicht wichtigsten Wissensproduzenten in unserer Gesellschaft beschäftigt, gar nicht allzu viel mit Wissensvermittlung im traditionellen Sinn zu tun. Qualität im Wissenschaftsjournalismus bedeutet vielmehr, den gesellschaftlichen Akteuren ein unabhängiges Bild der Wissenschaft zu vermitteln, um ihnen so eine informierte Vertrauensbeziehung zu ermöglichen. Qualität im Wissenschaftsjournalismus bedeutet zugleich, der Wissenschaft ein unabhängiges Bild der Gesellschaft „da draußen“ zu vermitteln, damit sich auch Wissenschaftler über die gegenseitigen Vertrauensbeziehungen informieren können. Qualität im Wissenschaftsjournalismus meint also eine doppelte Vertrauensvermittlung – zwischen Wissenschaft und Gesellschaft und zwischen Gesellschaft und Wissenschaft. Dem liegt die Erkenntnis zugrunde, dass diese Beziehung stets riskant ist. Vertrauensvermittlung schließt damit immer auch ein, die Berechtigung des Vertrauens kritisch zu hinterfragen und bestimmten Entwicklungen auch mit Misstrauen begegnen zu können. Es dürfte klar sein, dass dies nur ein Wissenschaftsjournalismus leisten kann, der von allen normativen Bindungen an Konzepte der Wissenschaftsvermittlung befreit ist. Qualität im Wissenschaftsjournalismus bedeutet daher zuallererst auch Autonomie des Wissenschaftsjournalismus von wissenschaftlichen Relevanzkriterien. Vertrauen statt Wissen 207 Die Bedeutung des Wissenschaftsjournalismus liegt so betrachtet viel weniger in der Vermittlung von wissenschaftlichem Wissen als in der Vermittlung von Vertrauensinformationen über die Wissensproduzenten. Wenn Wissenschaftsjournalismus also vor allem damit beschäftigt ist, sein Publikum über die Vertrauenswürdigkeit der Wissenschaft zu orientieren, dann erweist sich seine Vertrauenswürdigkeit respektive Qualität eben darin, dass er diese Orientierung seinen Rezipienten auch tatsächlich ermöglicht, oder genauer: dass sie glauben, dass er sie ihnen ermöglicht. Zum Richter über die Qualität des Wissenschaftsjournalismus wird damit die Meinung des Laien-Publikums. Ein Wissenschaftler mag damit seine Probleme haben, für einen Journalisten ist dies die alltägliche Sorge um sein Publikum. Ich hatte zu Anfang von der notwendigen Zielvorgabe für die Diskussion um die Qualität des Wissenschaftsjournalismus gesprochen. Meine These ist, dass die Qualität des Wissenschaftsjournalismus nicht primär an der Zielvorgabe der Wissensvermittlung von der Wissenschaft in die Gesellschaft zu messen ist, sondern an der Zielvorgabe der Vertrauensvermittlung zwischen Gesellschaft und Wissenschaft. Dies schließt natürlich die Vermittlung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit ein, da es ja gerade Ziel der Wissenschaft ist, der Gesellschaft ein geprüftes Orientierungs- und Prognosewissen und ein Deutungswissen für gesellschaftliche Ereignisse und Vorgänge anzubieten. Diese Vermittlung von Erkenntnissen findet aber mit Bezug auf die Bedürfnisse des Publikums statt, und das unterscheidet sie deutlich von den alten Konzepten einer hierarchischen Wissenschaftskommunikation. Es geht nicht um das wissenschaftliche Wissen an sich, sondern es geht um das wissenschaftliche Wissen im jeweiligen Lebenszusammenhang seiner nicht wissenschaftlichen Nutzer. Hierüber weiß man für den Fall des Wissenschaftsjournalismus so gut wie gar nichts. Wenn man sich entsprechende Umfragen ansieht, zum Beispiel die Eurobarometer der EU-Kommission, wird dort Schulbuchwissen abgefragt, nach dem Motto: „Haben Tomaten Gene?“ oder „Dreht sich die Erde um die Sonne oder die Sonne um die Erde?“. Im Vordergrund steht die Frage nach der Akzeptanz der Wissenschaft. Diese kann aber bei aller Hochachtung für die Wissenschaft nicht als Gradmesser für die Qualität des Wissenschaftsjournalismus fungieren. Die Qualität des Wissenschaftsjournalismus bemisst sich vielmehr daran, inwiefern er seinem Publikum eine von der Perspektive der Wissenschaft unabhängige Orientierung über das Verhältnis von Gesellschaft und Wissenschaft ermöglicht. 208 Vertrauen statt Wissen Fußnoten 1 Wiederabdruck von Matthias Kohring, Vertrauen statt Wissen – Qualität im Wissenschaftsjournalismus. In: Kienzlen, Grit/Lublinski, Jan/Stollorz, Volker (Hg.) (2007): Fakt, Fiktion, Fälschung. Trends im Wissenschaftsjournalismus. Konstanz: UVK, S. 25–38. Vertrauen statt Wissen 209 Abbildung 29: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Sicherheiten I Abbildung 30: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Sicherheiten II Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive Jana Janssen, Christine Schoel und Dagmar Stahlberg Der Wunsch nach Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis. In Zeiten von Terrorismus, Umweltkatastrophen und Weltwirtschaftskrisen ist unsere Welt häufig geprägt von Unsicherheit, Verwirrung und Angst. Aber auch schon der verwehrte Gruß eines Kollegen kann verunsichern, weil man nicht weiß, ob man bewusst ignoriert wurde, oder ob der Kollege einfach in Gedanken war. Unsicherheit kann in diesem Sinne verstanden werden als Zweifel darüber, wie man sich selbst oder die Welt, in der man lebt, einschätzen und bewerten soll.1 Wird man mit Unsicherheit konfrontiert, entsteht ein starker Wunsch danach, Dinge wieder als kontrollierbar zu erleben und die unangenehmen Gefühle von Unsicherheit zu reduzieren.2 Unsere eigenen Arbeiten im Bereich der Sozialpsychologie beschäftigen sich mit zwei Kernstrategien, um Gefühle von Unsicherheit zu reduzieren: sich einer vertrauenswürdigen Gruppe anzuschließen oder sich in die Obhut einer starken (autoritären) Führungsperson zu begeben. In diesem Beitrag stellen wir einige unserer Forschungsbefunde zu beiden Strategien vor.3 Sich einer vertrauenswürdigen Gruppe anschließen 1. Vertrauen in andere Menschen reduziert Unsicherheit Wenn Menschen unsicher sind, wenden sie sich häufig Gruppen zu.4 Sich mit einer Gruppe zu identifizieren schafft soziale Identität, die helfen kann, die eigene Unsicherheit zu reduzieren. Man fühlt sich einer sozialen Gruppe zugehörig und misst dieser Mitgliedschaft einen bestimmten emotionalen, meist positiven Wert bei. Deutlich wird die Relevanz der sozialen Identität, wenn man Personen bittet, sich selbst zu beschreiben. Neben Persönlichkeitseigenschaften werden dann häufig Gruppenzugehörigkeiten genannt, wie zum Beispiel „ich bin weiblich“, „ich spiele im Fußballverein“, oder „ich lebe in einer Partnerschaft“. Soziale Identität vermittelt uns ein Gefühl davon, wer wir sind, welche Werte wir vertreten, wie wir fühlen und Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 211 wie wir denken sollten.5 Dieses Wissen kann unsere Unsicherheit über uns selbst verringern. Sich mit einer sozialen Gruppe zu identifizieren hat aber nicht nur positive Konsequenzen. So birgt die Interaktion und Kooperation mit anderen Personen oder Gruppen auch das Risiko, ausgenutzt zu werden. Man läuft Gefahr, dass man selbst mehr investiert als der Interaktionspartner beziehungsweise dass der Interaktionspartner mehr nimmt, als er gibt. Im Extremfall kann solch eine Ungleichverteilung von Investitionen bedeuten, ausgebeutet zu werden. Auch steigt, wenn man sich mit einer Gruppe identifiziert und sich ihr anzuschließen versucht, das Risiko, zurückgewiesen oder ausgeschlossen zu werden. Das Bedürfnis nach sozialer Identität wird dadurch möglicherweise verletzt und die eigene Unsicherheit kann sogar steigen anstatt zu sinken. Menschen sind also mit einem „fundamentalen sozialen Dilemma“6 konfrontiert: Sie müssen entscheiden, ob sie mit einer Gruppe interagieren, sich ihr anschließen oder nicht. Auf der einen Seite lockt die soziale Identität durch die Gruppenzugehörigkeit, die Unsicherheit reduzieren kann. Andererseits erhöhen sich die oben beschriebenen Risiken der Ausbeutung und erlebten Ausgrenzung. Eine Möglichkeit, dieses Dilemma zu lösen, ist Informationen über die Gruppe einzuholen. Zentral ist dabei die Frage, ob eine Gruppe (oder eine Person dieser Gruppe) vertrauenswürdig ist.7 Vertrauensrelevante Informationen dienen als Signal dafür, ob man mit der Gruppe interagieren sollte oder nicht. Die Risiken von Ausbeutung und Ausgrenzung sind bei vertrauenswürdigen Gruppen sehr viel geringer als bei Gruppen, denen man nicht vertrauen kann. Ist eine Gruppe vertrauenswürdig, kann man sich darauf verlassen, von der Gruppe gerecht und wohlwollend behandelt zu werden. Damit sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass man ausgebeutet oder ausgeschlossen wird. Gleichzeitig steigt die Wahrscheinlichkeit, dass die Gruppenzugehörigkeit die Entwicklung einer positiven sozialen Identität ermöglicht und dadurch Unsicherheit reduziert. Umgekehrt bleiben Personen auf der sicheren Seite, wenn sie einer Gruppe, die nicht vertrauenswürdig erscheint, fernbleiben. In diesem Sinne sollte selbst die Information, dass einer Gruppe zu misstrauen ist, Sicherheit erhöhen, zumindest dann, wenn eine Person frei entscheiden kann, ob sie Mitglied dieser Gruppe werden oder mit ihr interagieren möchte. Ob die Identifikation mit einer Gruppe tatsächlich Sicherheit vermittelt, hängt also entscheidend davon ab, ob man der Gruppe vertrauen kann oder nicht. Informationen über die Vertrauenswürdigkeit einer Gruppe (oder Personen dieser Gruppe) sind daher entscheidend, und zwar besonders für Personen, die ihrer selbst unsicher sind bezie212 Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive hungsweise sich in Situationen befinden, die von Unsicherheit geprägt sind. Insbesondere für diese Personengruppe können vertrauensrelevante Informationen bewirken, dass Kontrolle und Sicherheit zurückerlangt werden. Diese Annahmen haben wir in einer Reihe von Studien untersucht. Die Studien in diesem und dem nächsten Abschnitt wurden überwiegend im organisationalen Kontext durchgeführt, da Unsicherheit hier oft von hoher Relevanz ist. Unternehmen können hierbei als soziale Gruppen angesehen werden, und Bewerberbende als Individuen, die sich der Gruppe der Organisation anschließen wollen. Betrachten wir zunächst die naheliegende Annahme, dass die Information, eine Gruppe sei vertrauenswürdig, beim Kontakt mit ihr tatsächlich zu höherer Sicherheit führt. In einer ersten Studie mit Bewerbern bei einem großen deutschen Unternehmen konnten wir zeigen, dass Bewerber, die das Unternehmen als vertrauenswürdig einschätzten, während des Auswahlprozesses von weniger Unsicherheit berichteten als Bewerber, die dem Unternehmen nicht gleichermaßen vertrauten. Zum Bespiel waren sich Personen, die das Unternehmen als vertrauenswürdiger einschätzten, sicherer darüber, wie sie das Unternehmen bei einer Einstellung in Zukunft behandeln würde. Dieser Zusammenhang zeigte sich insbesondere dann, wenn die Personen zuerst nach Vertrauenswürdigkeit und anschließend nach ihrer Sicherheit/Unsicherheit befragt wurden, also wenn Überlegungen zur Vertrauenswürdigkeit besonders verfügbar waren. Diese Ergebnisse bestätigten sich ferner an einer Gruppe von Studierenden, die an einem simulierten Auswahlverfahren teilnahmen. Sie erhielten zufällig entweder die Information, dass andere Bewerber dieses Unternehmen als vertrauenswürdig eingeschätzt hätten, oder aber keine entsprechenden Informationen. Die erste Gruppe erwartete, sich in dem anstehenden Auswahlverfahren viel sicherer zu fühlen als die Gruppe ohne Vertrauensinformation. Wie erwartet, zeigte sich also in beiden Studien, dass Bewerber die Interaktion mit einer Organisation, die grundsätzlich als vertrauenswürdig eingeschätzt oder beschrieben wurde, als weniger Unsicherheit erzeugend beurteilten. Kann aber allein das Wissen um die Vertrauenswürdigkeit einer Gruppe/Organisation, unabhängig davon, ob dieses Urteil positiv oder negativ ausfällt, Unsicherheit reduzieren? Wie schon ausgeführt, sollte Misstrauen signalisieren, dass man mit der Gruppe besser nicht interagieren sollte, da man mit solch einer Interaktion riskieren würde, ausgebeutet oder ausgeschlossen zu werden. Dieses Wissen schützt vor möglichen negativen Konsequenzen, die potentiell die eigene Identität bedrohen und Unsicherheit erhöhen können. Um diese Annahme zu Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 213 prüfen, nahmen Studierende an einem sogenannten Trustgame8 teil. Im Trustgame spielen zwei Personen (A und B) miteinander. Im ersten Schritt bekommt Person A einen bestimmten Geldbetrag (z.B. 10 Euro) und darf frei wählen, wie viel sie davon an Person B schicken will. Im zweiten Schritt entscheidet dann B, wie viel von dem erhaltenen Geld sie an A zurückschicken möchte. Um das Interesse an einer solchen finanziellen Transaktion zwischen A und B für beide interessant zu machen, wird dabei der Betrag, den A im ersten Schritt überweist, mit einem bestimmten Faktor multipliziert (z.B. mit vier; B würde in diesem Fall also 40 Euro bekommen, was für sie den Anreiz erhöhen sollte, tatsächlich etwas von dem Geld an A zurückzuschicken). Der Betrag, den A im ersten Schritt an B schickt, zeigt nun an, wie sehr Person A Person B vertraut (also erwartet, fair behandelt, d.h. am Gewinn von B gerecht beteiligt zu werden). Das Trustgame in dieser Studie war ein fiktives Spiel, bei dem sich die Teilnehmenden vorstellen sollten, sie seien in der Position von A. Nachdem die Regeln des Spiels erklärt wurden, sollten die Teilnehmenden je nach Untersuchungsbedingung entweder aufschreiben, warum man dem Empfänger in dem Spiel vertrauen sollte (Vertrauensbedingung), warum man dem Empfänger misstrauen sollte (Misstrauensbedingung) oder was einem allgemein zu dem Spiel einfalle (neutrale Bedingung). Anschließend gaben alle Teilnehmenden an, wie unsicher sie sich während des Spiels fühlen würden und wie unsicher sie in Bezug auf den Empfänger wären. Es zeigte sich, dass Personen in der Vertrauensbedingung weniger unsicher waren als Personen in der neutralen Bedingung. Interessanterweise gaben aber auch Personen in der Misstrauensbedingung an, weniger unsicher zu sein als Personen in der neutralen Bedingung. Das bedeutet also, dass Unsicherheit nicht nur durch Informationen über die Vertrauenswürdigkeit reduziert wird, sondern dass auch Misstrauen eine wichtige Information in sozialen Beziehungen darstellt, durch die Unsicherheit verringert werden kann – zumindest dann, wenn die handelnde Person sich frei entscheiden kann, etwas in eine soziale Beziehung zu investieren oder nicht. 2. Unsicherheit erhöht die Sensibilität für vertrauensrelevante Informationen Basierend auf dem Befund, dass vertrauensrelevante Informationen Unsicherheit verringern, kann man annehmen, dass solche Informationen für unsichere Personen (bzw. in unsicheren Situationen) wichtiger sind als für sichere Personen (bzw. als in sicheren Situationen). Wenn Personen sich unsicher fühlen, sollten sie besonders motiviert sein, ihre Unsicherheit zu reduzieren. Da Informationen über die Vertrauens214 Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive würdigkeit von anderen – wie oben gezeigt – eine Möglichkeit zur Unsicherheitsreduktion darstellen, sollten Personen unter Unsicherheit verstärkt auf vertrauensrelevante Informationen achten und auf diese Informationen stärker reagieren. Mit anderen Worten nehmen wir an, dass Unsicherheit Personen für vertrauensrelevante Informationen sensibilisiert. Im Gegensatz dazu sollten Personen, die sich sicher fühlen, weniger motiviert sein, Unsicherheit zu reduzieren, da dies für sie weniger wichtig oder nicht notwendig ist. Unter Bedingungen von Sicherheit sollten Personen daher weniger auf vertrauensrelevante Informationen reagieren. Auch diese Annahmen wurden in mehreren Feldstudien mit Bewerbern, die sich in einem realen Bewerbungsverfahren für eine Position in einem großen deutschen Unternehmen befanden, sowie einem kontrollierten Laborexperiment getestet. In den Online-Studien im Feld wurden Bewerber dazu befragt, wie sehr sie dem Unternehmen, für das sie sich beworben hatten, vertrauten und wie attraktiv sie das Unternehmen als potentiellen zukünftigen Arbeitgeber bewerteten. Außerdem gaben sie je nach Studie an, wie unsicher sie sich während des Auswahlverfahrens des Unternehmens gefühlt hatten, wie sehr sie sich im Allgemeinen mit anderen Personen vergleichen (ein Indikator für persönliche Unsicherheit) und wie unsicher sie sich generell fühlen (emotionale Unsicherheit). In allen Studien zeigte sich ein positiver Zusammenhang zwischen dem Vertrauen, das die Bewerber dem Unternehmen entgegenbrachten, und der Attraktivität des Unternehmens als möglichem Arbeitgeber: Je vertrauenswürdiger das Unternehmen eingeschätzt wurde, desto eher wollten die Personen dort auch arbeiten. Die Unsicherheit der Teilnehmenden spielte bei diesem Zusammenhang allerdings eine entscheidende Rolle. Fühlten sich die Bewerbenden unsicher, so war der positive Zusammenhang zwischen Vertrauen und der eingeschätzten Attraktivität des Unternehmens sehr viel stärker ausgeprägt, als wenn sie sich sicher fühlten. Mit anderen Worten reagierten unsichere im Vergleich zu sicheren Personen positiver auf hohe und negativer auf geringe Vertrauenswürdigkeit. Unsicherheit sensibilisiert Personen also für vertrauensrelevante Informationen. In einem Laborexperiment wurde anschließend überprüft, ob sich die gefundenen Effekte auch unter kontrollierten experimentellen Bedingungen zeigen lassen. Studierende wurden zufällig in verschiedene Versuchsbedingungen aufgeteilt. Je nach Gruppe sollten sie aufschreiben, welche Gefühle und welche körperlichen Reaktionen Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit bei ihnen hervorrufen. Damit wurde variiert, ob sich die Teilnehmenden während der Studie sicher oder unsicher fühlten. Anschließend sollten sie sich in die Situation eines Bewerbers versetzen. Sie lasen einen Text, in dem das Unternehmen, bei dem sie Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 215 sich bewarben, entweder als vertrauenswürdig oder nicht vertrauenswürdig dargestellt wurde. Am Ende gaben die Teilnehmenden dann an, wie gern sie bei dem Unternehmen arbeiten wollten. Wie in den oben beschriebenen Studien zeigte sich auch hier, dass der positive Zusammenhang zwischen der Vertrauenswürdigkeit und der Attraktivität des Unternehmens stärker war für Personen, die sich unsicher fühlten, als für diejenigen, die sich sicher fühlten. Unsichere Personen zogen also die vertrauensrelevante Information stärker für die Beurteilung des Unternehmens als möglichen Arbeitgeber heran als sichere Personen. Insgesamt lässt sich festhalten, dass Unsicherheit die Sensitivität für vertrauensrelevante Informationen erhöht. Nun könnte man annehmen, dass dies nicht spezifisch für vertrauensrelevante Informationen ist, sondern dass Personen unter Unsicherheit auf jegliche Art entscheidungsrelevanter Informationen stärker reagieren. Allerdings zeigte sich in weiteren Studien, dass unsichere Personen auf andere entscheidungsrelevante Informationen nicht sensibler reagierten als sichere Personen (z.B. auf Angaben zur Entfernung zwischen Wohnort und Arbeitsplatz). Unsicherheit scheint also die Sensibilität ganz spezifisch für solche Informationen zu erhöhen, die über die Qualität sozialer (Austausch-)Beziehungen Auskunft geben. Damit kommt Informationen über die Vertrauenswürdigkeit einer Person oder Gruppe eine besondere Rolle zu. Man könnte sagen, dass Unsicherheit als eine Art Katalysator agiert, der die positiven Reaktionen auf Vertrauen und die negativen Reaktionen auf Misstrauen verstärkt. Unter Unsicherheit ist es also besonders wichtig, Vertrauen zu etablieren beziehungsweise zu stärken, da mögliche negative Konsequenzen von mangelndem Vertrauen unter solchen Umständen besonders gravierend sind. Die vorherigen Abschnitte haben sich mit der Frage beschäftigt, wie Vertrauen in eine Gruppe oder vertrauensrelevante Informationen über eine Gruppe (hier: ein Unternehmen) die Unsicherheit von Individuen (hier: z.B. Bewerbende) reduzieren kann. Es ging also um die Beziehung zwischen einer Person und einer sozialen Gruppe. Aber auch innerhalb einer bestehenden Gruppe spielen Unsicherheit und Vertrauen eine zentrale Rolle. Der folgende Abschnitt beschäftigt sich mit Strukturen und Beziehungen innerhalb von Gruppen und mit der Frage, welche Art von Führung Personen unter Unsicherheit bevorzugen oder für erfolgreich halten.9 216 Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive Sich einer autoritären Führungsperson unterordnen 1. Unsicherheit und die Bewertung demokratischer und autoritärer Führung Gruppen sind geprägt durch eine innere Struktur, die mehr oder weniger hierarchisch ist. In den meisten Gruppen gibt es jedoch eine oder mehrere Personen, die die Führung in Bezug auf die Gruppenziele übernehmen. Wie geführt wird und wer in welchem Ausmaß zu Entscheidungen beiträgt, hängt jedoch vom jeweiligen Führungsstil ab. In der Führungsforschung werden häufig zwei verschiedene Arten der Führung unterschieden: demokratische und autoritäre Führung.10 Demokratische Führungspersonen ermutigen ihre Gruppenmitglieder, eigene Ideen einzubringen, und lassen dadurch einen hohen Grad an Initiative zu. Sie berücksichtigen die Meinungen der Gruppenmitglieder bei wichtigen Entscheidungen, setzen Vorschläge der Gruppe um und geben den Gruppenmitgliedern die Möglichkeit, Probleme nach eigenem Ermessen zu lösen. Autoritäre Führungspersonen hingegen geben genau vor, was getan und wie es getan werden soll. Sie weisen den Gruppenmitgliedern ihre Aufgaben zu und bestehen auf die Einhaltung von Regeln und Vorschriften. Ihre Entscheidungen treffen sie, ohne die Gruppe zu konsultieren. Eine Analyse von 30 experimentellen Studien zu demokratischer und autoritärer Führung ergab fünf Dimensionen, die zwischen den beiden Führungsstilen differenzieren: Partizipation, Motivation, Struktur, Kontrolle und Entscheidungsgewalt.11 Während demokratische Führung durch hohe Partizipation und Motivation auf Seiten der Gruppenmitglieder und niedrige Struktur, Kontrolle und Entscheidungsgewalt auf Seiten der Führungsperson gekennzeichnet ist, zeichnet sich autoritäre Führung durch ein genau gegenteiliges Muster aus. Struktur, Kontrolle und Entscheidungsgewalt liegen bei der Führungsperson, und Partizipation und Motivation der Gruppenmitglieder fallen gering aus. Heutzutage scheinen die Vorteile demokratischer Führung in vielen Gesellschaften außer Frage zu stehen, denn die Wahrscheinlichkeit, dass einzelne Führungspersonen bei komplexen Fragestellungen über die notwendigen motivationalen, informativen und kognitiven Voraussetzungen verfügen, um allein die richtigen Entscheidungen zu treffen, ist gering. Der Vorteil, Informationen von anderen einzuholen und diese auch in die Entscheidung mit einzubeziehen, ist deshalb naheliegend. Dennoch kann das Phänomen autoritärer Führung weiterhin in vielen politischen und ökonomischen Kontexten beobachtet werden. Während in sicheren Zeiten demokratische Führung in den meisten Fällen klar befürwortet wird, scheinen Menschen gerade in bedrohlichen und unsicheren Zeiten (wie zum Beispiel nach den Terroranschlägen des 11. SepUnsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 217 tembers 2001) bereit zu sein, Einschränkungen ihrer Mitsprache widerspruchslos hinzunehmen.12 In unserer eigenen Forschung beschäftigen wir uns mit der Frage, warum Menschen, die eigentlich demokratische Grundüberzeugungen und Werte haben, unter Unsicherheit dazu neigen, autoritäre Führung für erfolgreich zu halten. Dabei stützen wir uns auf bisherige Forschungsergebnisse, die auf einen Zusammenhang zwischen äußeren Bedrohungen und autoritären Einstellungen und Verhaltensweisen hinweisen. So waren die amerikanischen Präsidentschaftswahlen in Jahren von Krisen und ökonomischen Bedrohungen mehr durch die wahrgenommene Stärke und Macht der Kandidaten beeinflusst als in weniger bedrohlichen Zeiten.13 Und auch heute, in Zeiten der aktuellen Finanzkrise, wird der Ruf nach einer starken Führung wieder laut. Während äußere Bedrohungen jedoch ganz unterschiedlicher Natur sein können und beim Einzelnen ganz verschiedene Reaktionen hervorrufen, fokussieren wir in unseren Arbeiten auf die subjektiv empfundene Unsicherheit und ihre Auswirkung auf die Bewertung von demokratischer und autoritärer Führung. Bereits Kant hat sich mit der Frage auseinandergesetzt, warum sich Menschen freiwillig einer illegitimen Kontrolle unterwerfen und einen Zustand der Abhängigkeit gegenüber einem Zustand individueller Autonomie bevorzugen.14 Doch obwohl es sich dabei um eine alte Frage handelt, sind die zugrunde liegenden psychologischen Prozesse dieses Phänomens noch nicht zufriedenstellend geklärt. Oesterreich15 postuliert in seinen Arbeiten, dass eine mögliche Reaktion auf bedrohliche Situationen die Suche nach und Hinwendung zu Sicherheit und Schutz bietenden Autoritäten ist. Er nimmt an, dass diese Flucht in die Sicherheit eine basale menschliche Reaktion ist, die früh im Kindesalter erworben wird. So bieten Eltern und andere Verantwortliche in bedrohlichen Situationen Sicherheit, und die Flucht in ihren Schutz ist eine unausweichliche und notwendige Reaktion. Während ihrer Sozialisation erlernen Individuen dann Bewältigungsstrategien, um diese „autoritäre Reaktion“ zu überwinden und selbst ihre Unsicherheit zu reduzieren. In Situationen, in denen Bedrohungen jedoch emotional überfordern und eigene Bewältigungsbemühungen scheitern, kann es auch bei Erwachsenen vorkommen, dass sie sich in den Schutz von Personen begeben, von denen sie annehmen, dass sie die Macht und Stärke haben, mit der Bedrohung umzugehen und dadurch Gefühle von Unsicherheit und Angst reduzieren können. Wir gehen davon aus, dass es bestimmte Persönlichkeitseigenschaften gibt, die das Risiko erhöhen, sich von bedrohenden Situationen überfordert zu fühlen und eine autoritäre Reaktion bei empfundener Unsi- 218 Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive cherheit zu zeigen. Menschen mit einem niedrigen und täglich schwankenden Selbstwert haben ein negatives Selbstbild, zweifeln an ihren Fähigkeiten und trauen sich selbst wenig zu. Ihnen fehlt es an Selbstvertrauen und deshalb suchen sie in unsicheren Situationen nach anderen, auf die sie vertrauen können. Bei Entscheidungen versuchen sie ihren eigenen Anteil zu minimieren und die Verantwortung an andere abzugeben. Dabei ist vor allem die Überzeugung wichtig, dass diese anderen die empfundene Unsicherheit erfolgreich reduzieren können. Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwert hingegen haben ein positives Selbstbild und glauben an ihre eigenen Fähigkeiten. In unsicheren Situationen vertrauen sie deshalb mehr auf sich selbst als auf andere. Ihr Ziel ist es, ihren eigenen Anteil bei Entscheidungen zu maximieren und diese dadurch aktiv beeinflussen zu können. Während die Entscheidungsgewalt bei autoritärer Führung hauptsächlich bei der Führungsperson liegt, lässt ein demokratischer Führungsstil den Einfluss der Gruppenmitglieder zu.10 In unseren Forschungsarbeiten9 haben wir deshalb die folgende These untersucht: Wenn Menschen sich sicher fühlen, bevorzugen sie unabhängig von ihrem Selbstwert demokratische gegenüber autoritärer Führung. Unter Unsicherheit trauen sich Personen mit einem niedrigen und schwankenden Selbstwert jedoch selbst nicht zu, die Unsicherheit aufzulösen, und wollen deshalb die Verantwortung an andere abgeben, die für sie die Entscheidungen treffen. Entsprechend nimmt ihre Präferenz für demokratische Führung zugunsten autoritärer Führung unter Unsicherheit ab. Im Folgenden bezeichnen wir dies als autoritäre Reaktion. Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwert hingegen vertrauen in unsicheren Situationen auf sich selbst und wollen deshalb ihren Beitrag zur Unsicherheitsreduktion maximieren. Entsprechend steigt ihre Präferenz für demokratische Führung in unsicheren gegenüber sicheren Situationen. Im Folgenden bezeichnen wir dies als demokratische Reaktion. Bezüglich dieser Hypothesen machen wir zwei Zusatzannahmen. Zum einen halten wir es für wichtig, zwischen Werturteilen (angenehm – unangenehm) und Erfolgsurteilen (erfolgreich – erfolglos) zu unterscheiden. Wir gehen nicht davon aus, dass autoritäre Führung von Personen mit einem niedrigen und instabilen Selbstwert unter Unsicherheit als angenehmer beurteilt wird. Wer mag schon eine autoritäre Führungsperson? Wir nehmen aber an, dass sich der zugeschriebene Erfolg autoritärer Führung erhöhen sollte. Entsprechend haben wir in unseren Studien sowohl Wert- als auch Erfolgsbeurteilungen erfasst. Zum anderen gehen wir davon aus, dass offen ausgesprochene Urteile über autoritäre Führung durch soziale Erwünschtheit beeinflusst werden. Wer gibt schon offen zu, dass er/sie autoritäre Führung für erfolgUnsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 219 reich hält? In unseren Studien haben wir deshalb neben direkten, expliziten Fragebogenmaßen auch indirekte, implizite Maße erfasst. Implizite Maße sind Verfahren, mit denen Einstellungen gemessen werden können, über die sich die Versuchsteilnehmenden entweder selbst nicht bewusst sind oder über die sie keine offene Auskunft geben wollen. Im konkreten Fall haben wir einen „Impliziten Assoziationstest“ verwendet.16 Dabei handelt es sich um ein Verfahren am Computer, das die Reaktionszeiten der Versuchsteilnehmenden bei einer Zuordnungsaufgabe erfasst. Verschiedene Wörter wie zum Beispiel teamfähig oder dominant oder Gelingen oder Versagen müssen so schnell und akkurat wie möglich den Kategorien demokratisch oder autoritär beziehungsweise Erfolg oder Misserfolg per Tastendruck zugeordnet werden. Die Reaktionszeiten bei dieser Aufgabe geben Auskunft darüber, wie stark für eine Person demokratische oder autoritäre Führung mit Erfolg beziehungsweise Misserfolg verbunden ist. Um unsere Hypothesen zu testen, haben wir eine Reihe von Studien durchgeführt, bei denen Unsicherheit experimentell induziert wurde. Die Probanden und Probandinnen wurden aufgefordert, sich möglichst intensiv in eine Situation zu versetzen, in der sie sich ihrer selbst sicher oder unsicher waren. Im Anschluss wurden sie aufgefordert, ihre Gefühle und körperlichen Reaktionen in dieser Situation zu beschreiben. Wie oben bereits beschrieben, sollte dies Gefühle der Sicherheit beziehungsweise Unsicherheit hervorrufen. Danach erfassten wir die expliziten und impliziten Einstellungen gegenüber demokratischer und autoritärer Führung und den Selbstwert der Teilnehmenden. Die Ergebnisse stützen unsere Hypothesen: Während Personen mit einem hohen und stabilen Selbstwert demokratische Führung unter Unsicherheit noch stärker befürworteten als unter Sicherheit, nahm bei Personen mit niedrigem und instabilem Selbstwert die Präferenz für demokratische Führung zugunsten autoritärer Führung ab. Diese demokratischen und autoritären Reaktionen waren spezifisch für den zugeschriebenen Erfolg und zeigten sich wie erwartet nur auf den impliziten Maßen. Unsere Forschungsergebnisse deuten daraufhin, dass in unsicheren und bedrohlichen Zeiten vor allem Personen mit einem niedrigen und instabilen Selbstwert dazu neigen anstatt auf sich selbst eher auf andere zu vertrauen und die Verantwortung abzugeben. 2. Vermeidung der autoritären Reaktion durch Vertrauen in die eigenen Führungskompetenzen Im vorherigen Abschnitt ging es um die Frage, unter welchen Bedingungen Personen autoritäre Führung für erfolgreich halten. Dabei stand die Sicht der Geführten im Vordergrund. Führung ist jedoch immer ein zweiseitiger Prozess: Auf der einen Seite stehen die Personen, die geführt 220 Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive werden, auf der anderen Seite die Person, die führt. Wir haben uns deshalb gefragt, wie Personen in einer Führungsposition auf Unsicherheit reagieren.9 Um dieser Frage nachzugehen, haben wir wie in den vorhergehenden Studien Personen zunächst gebeten, sich in eine sichere beziehungsweise unsichere Situation hineinzuversetzen. Im Anschluss haben wir wieder die impliziten und expliziten Einstellungen zu demokratischer und autoritärer Führung gemessen. Neu war dieses Mal jedoch die Perspektive, die die Probanden bei der Bewertung einnehmen sollten. So forderten wir eine Hälfte der Teilnehmenden auf, sich bei der Bewertung der Führungsstile vorzustellen, einer anderen Person gegenüber in einer Führungsposition zu sein. Die andere Hälfte der Befragten stellte sich eine andere Person vor, die ihnen gegenüber in einer Führungsposition war. So war es möglich zu untersuchen, ob sich die Reaktionen auf Unsicherheit in Abhängigkeit davon unterschieden, ob man selbst in der Führungs- oder der geführten Position war. Die Ergebnisse zeigten, dass allein diese verschiedenen Perspektiven deutliche Unterschiede hervorriefen. Personen in der geführten Position zeigten wie in den oben beschriebenen Studien eine demokratische oder autoritäre Reaktion auf Unsicherheit, je nachdem, ob sie einen hohen und stabilen oder einen niedrigen und instabilen Selbstwert hatten. Personen, die sich in die Führungsposition hineinversetzten, wiesen hingegen keine veränderten Einstellungen unter Unsicherheit auf. Sie befürworteten demokratische Führung in gleichem Ausmaß unter Sicherheit wie unter Unsicherheit. In einer Führungsposition zu sein, bedeutet Macht und Einfluss zu haben. Deshalb lässt sich dieser Befund mit Ergebnissen aus der Machtforschung erklären. Diese zeigt, dass allein das Empfinden von Macht Selbstvertrauen und ein Gefühl von Unabhängigkeit vermitteln kann. Personen, die Macht haben, verlassen sich deshalb eher auf ihre Grundeinstellungen und werden dabei weniger von der jeweiligen Situation beeinflusst. Übertragen auf unser Experiment heißt das: Personen, die sich vorstellten, in einer Führungsposition zu sein, hatten dadurch das Gefühl, mehr Macht zu haben, und ließen sich in der Folge nicht von empfundener Unsicherheit bei der Bewertung der Führungsstile beeinflussen. Sie hielten stattdessen an ihren standarddemokratischen Überzeugungen fest. Führungspersonen scheinen sich also weniger von unsicheren Situationen in ihren Führungsstilpräferenzen beeinflussen zu lassen als geführte Personen. Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 221 Fazit In diesem Beitrag ging es darum, die Reaktionen auf Unsicherheit und die Rolle von Vertrauen in diesem Zusammenhang aus sozialpsychologischer Perspektive zu beleuchten. Wir haben zwei mögliche Strategien im Umgang mit Unsicherheit vorgestellt: sich einer Gruppe anzuschließen oder auf eine starke (autoritäre) Führungsperson zu vertrauen. Beide Strategien haben ihre Vorteile, bergen aber auch Gefahren. Sich einer Gruppe anzuschließen kann sich positiv auf die eigene Identität auswirken und einem dadurch die Sicherheit zurückgeben, die unter Unsicherheit bedroht wird. Gleichzeitig besteht aber auch die Gefahr, dass man von der Gruppe zurückgewiesen oder ausgenutzt wird. Es ist deshalb wichtig und sinnvoll, zunächst Informationen darüber einzuholen, wie vertrauenswürdig eine Gruppe ist. Tatsächlich zeigen unsere Studien, dass Informationen über die Vertrauenswürdigkeit einer Gruppe Unsicherheit reduzieren können. Ein interessanter Aspekt in diesem Zusammenhang ist, dass auch Informationen darüber, dass andere nicht vertrauenswürdig sind, Unsicherheit verringern kann. Es ist scheinbar nicht nur wichtig zu wissen, dass man jemandem vertrauen kann, sondern auch, ob man jemandem vertrauen kann. Da vertrauensrelevante Informationen Unsicherheit reduzieren können und sie daher unter Unsicherheit besonders wichtig sind, ist anzunehmen, dass unsichere Personen sensibler für solche Informationen sind und besonders stark darauf reagieren. Diese Überlegungen werden in unseren Studien bestätigt: In unsicheren Situationen haben Menschen eine höhere Sensibilität für vertrauensrelevante Informationen als in sicheren Situationen. Die zweite diskutierte Strategie, mit Unsicherheit umzugehen, besteht darin, auf eine starke (autoritäre) Führungsperson zu vertrauen und die Verantwortung für Entscheidungen abzugeben. Sie erscheint vor allem dann erfolgversprechend, wenn man wenig Selbstvertrauen hat und nicht daran glaubt, die empfundene Unsicherheit selbst auflösen zu können. Man möchte dann den eigenen Einfluss minimieren und flüchtet sich in die Sicherheit der Autorität. Ob dies zielführend ist, hängt allerdings davon ab, ob die Führungsperson die notwendigen Voraussetzungen hat, um die richtigen Entscheidungen zu treffen. In komplexen Situationen verfügen Einzelne jedoch oft nicht über alle relevanten Informationen und die Fähigkeiten, fundierte Entscheidungen zu treffen. Daher würde es in der Regel einer optimalen Entscheidungsfindung dienen, wenn sich Personen in der Rolle der Führungsposition – wie in unseren Studien gezeigt – weniger von der Situation beeinflussen lassen und auch unter Unsicherheit einen demokratischen Führungsstil befürworten. 222 Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive Fußnoten 1 Van den Bos, Kees/Lind, Allan, The social psychology of fairness and the regulation of personal uncertainty, in: Handbook of the uncertain self, hg. v. Robert M. Arkin/Kathryn C. Oleson/Patrick J. Carrol, New York 2010, S. 122–141. 2 Hogg, Michael A., Uncertainty-identity theory, in: Advances in Experimental Social Psychology 39 (2007) S. 69–126. 3 Janssen, Jana/Müller, Patrick/Van den Bos, Kees/Stahlberg, Dagmar, Uncertainty increases sensitivity to trust, Manuscript under review, 2010. 4 Hogg, Michael A., Uncertainty-identity theory, in: Advances in Experimental Social Psychology 39 (2007) S. 69–126. 5 Tajfel, Henri, Cognitive aspects of prejudice, in: Journal of Social Issues 25 (1969) S. 79–97. 6 Lind, Alan, Fairness heuristic theory: Justice judgments as pivotal cognitions in organizational relations, in: Advances in Organizational Justice, hg. v. Jerald Greenberg und Russell Cropanzano, Stanford 2001, S. 56–88. 7 Lind, Alan, Fairness heuristic theory: Justice judgments as pivotal cognitions in organizational relations, in: Advances in Organizational Justice, hg. v. Jerald Greenberg und Russell Cropanzano, Stanford 2001, S. 56–88. 8 Berg, Joyce/Dickhaut, John/McCabe, Kevin, Trust, reciprocity, and social history, in: Economic Behavior 10 (1995), S. 122–142. 9 Schoel, Christiane/Bluemke, Matthias/Mueller, Patrick/Stahlberg, Dagmar, Leadership success in the eye of an uncertain self, Manuscript under review, 2010. 10 Bass, Bernard M., Bass & Stogdill’s handbook of leadership: Theory, research, and managerial applications. (3rd ed.), New York 1990. 11 Neuberger, Oswald, Experimentelle Untersuchung von Führungsstilen, in: Gruppendynamik 3 (1972) S. 192–219. 12 Sullivan, John L./Hendriks, Henriët, Public support for civil liberties pre- and post-9/11, in: Annual Review of Law and Social Science 5 (2009), S. 375–391. 13 McCann, Stewart J. H., Threatening times, „strong“ presidential popular vote winners, and the victory margin, 1824–1964, in: Journal of Personality and Social Psychology 73 (1997) S. 160–170. 14 Kant, Imanuel, What is enlightenment?, in: Introduction to contemporary civilization in the west (2nd ed.), hg. v. Peter Gay, New York 1954/1784, S. 1071–1076. 15 Oesterreich, Detlef, Flucht in die Sicherheit. Zur Theorie des Autoritarismus and der Autoritären Reaktion. Opladen 1996. 16 Greenwald, Anthony G./McGhee, Debbie E./Schwartz, Jordan L. K., Measuring individual differences in implicit cognition: The implicit association test, in: Journal of Personality and Social Psychology 74 (1998) S. 1464–1480. Unsicherheit und Vertrauen: Eine sozialpsychologische Perspektive 223 Abbildung 31: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Präferenzen I Abbildung 32: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Präferenzen II Vertrauen und soziale Präferenzen: Die Sicht der experimentellen Wirtschaftsforschung Klaus M. Schmidt Der historisch einmalige Wohlstand, den viele Industriegesellschaften heute erreicht haben, beruht auf einem sehr komplexen System der Arbeitsteilung, in dem die Aktivitäten der Beteiligten durch zahlreiche explizite Verträge und durch mindestens ebenso viele vertrauensbasierte Absprachen und Versprechungen koordiniert werden. Dieses System kann nur funktionieren, wenn die Beteiligten damit rechnen können, nicht ständig betrogen und ausgebeutet zu werden. Als die Menschen noch als Jäger und Sammler lebten, wurden Vertrauen und Kooperation durch wiederholte Interaktion und soziale Kontrolle in kleinen Gruppen gewährleistet. Heute stehen wir in vielfältigen Tauschbeziehungen und Interaktionen mit zahlreichen anderen Menschen, die wir häufig nie zuvor gesehen haben und nie wieder sehen werden. Ein wichtiger Schutz gegen Betrug und Ausbeutung sind Verträge, die von den Gerichten durchgesetzt werden. Wenn ein vollständiger Vertrag ohne große Kosten geschrieben werden kann, ist der Vertrag tatsächlich besser als Vertrauen. Aber viele Beziehungen lassen sich nur teilweise oder gar nicht vertraglich regeln. Wie kann unter diesen Bedingungen Kooperation und Vertrauen funktionieren? Die traditionelle ökonomische Theorie kann diese Frage nicht beantworten. Sie beruht auf dem Menschenbild des Homo oeconomicus, eines vollständig rationalen Wesens, das ständig bestrebt ist, seinen eigenen, materiellen Nutzen durch optimale Wahl seiner Entscheidungsvariablen zu maximieren. Der Homo oeconomicus würde Vertrauen nicht honorieren, sondern immer nur auf den eigenen Vorteil bedacht sein. In den letzten beiden Jahrzehnten ist das Vertrauen in die Nützlichkeit dieses Paradigmas jedoch stark erschüttert worden, und seit einigen Jahren gibt es erste Versuche, neue Modelle zu entwickeln, die von einem realistischeren Menschenbild ausgehen. Dazu gehören die Modelle der „intentionsbasierten Reziprozität“ (Rabin, 1993; Dufwenberg und Kirchsteiger, 2004) und der „Ungleichheitsaversion“ (Fehr und Schmidt, 1993; Bolton und Ockenfels, 2000), die annehmen, dass viele Menschen nicht nur eigennützige, sondern auch soziale Präferenzen haben.1 Vertrauen und soziale Präferenzen 225 Es scheint offensichtlich zu sein, dass der Homo oeconomicus eine Karikatur wirklicher Menschen ist. Wir alle wissen, dass viele unserer Entscheidungen nur beschränkt rational sind, dass wir uns oft von Emotionen leiten lassen und dass nicht alle Menschen nur eigennützig handeln. Dennoch hat sich dieses Konstrukt für lange Zeit als außerordentlich nützlich erwiesen. Das gilt insbesondere für die Analyse von Wettbewerbsmärkten, die bis in die siebziger Jahre im Mittelpunkt des Forschungsinteresses der Wirtschaftswissenschaften standen. Zahlreiche empirische und experimentelle Studien belegen, dass die „neoklassischen“ Marktmodelle, die alle auf dem Homo oeconomicus aufbauen, das tatsächliche Marktgeschehen recht gut beschreiben und verlässliche Vorhersagen für das Marktergebnis liefern (siehe z.B. Vernon Smith, 1962). Darum fiel es den Ökonomen leicht, Zweifel am Homo oeconomicus mit dem Argument beiseitezuschieben, dass einzelne Menschen sich zwar manchmal anders verhalten, als es die Theorie vorhersagt, dass diese „Fehler“ aber unsystematisch sind und sich im Aggregat wechselseitig ausgleichen, so dass die Modelle das Verhalten im Durchschnitt sehr gut vorhersagen. Wenn Wirtschaftssubjekte systematisch vom optimalen Verhalten des Homo oeconomicus abweichen würden, dann könnten sie langfristig auf dem Markt nicht bestehen, weil sie von anderen, effizienteren und erfolgreicheren Wirtschaftssubjekten verdrängt würden. Zwei Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre haben das Vertrauen in das Modell des Homo oeconomicus jedoch erschüttert. Da ist zum einen der Siegeszug der Spieltheorie, die es erlaubt, ökonomische Situationen, in denen wenige Wirtschaftssubjekte strategisch miteinander interagieren, zu analysieren. Dadurch wurde es den Ökonomen möglich, nicht nur Wettbewerbsmärkte, sondern auch alle anderen Formen ökonomischen Verhaltens zu analysieren, sei es in Oligopolmärkten, in bilateralen Verhandlungssituationen, in innerbetrieblichen Entscheidungssituationen, in Situationen mit asymmetrischer Information etc. Allerdings wurde bald deutlich, dass die Spieltheorie, die auch auf dem Menschenbild des Homo oeconomicus basiert, in bestimmten Situationen systematische Fehlprognosen liefert. Diese Erkenntnis geht vor allem auf die zweite Entwicklung zurück, die experimentelle Wirtschaftsforschung, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Vorhersagen der Wirtschaftstheorie unter kontrollierten und reproduzierbaren Bedingungen empirisch zu überprüfen. Eine wichtige Erkenntnis der experimentellen Wirtschaftsforschung ist, dass das Verhalten vieler Menschen bei der Interaktion in kleinen Gruppen durch soziale Präferenzen geprägt ist. Sie interessieren sich nicht nur für das eigene materielle Einkommen, sondern auch dafür, was die anderen Mitglieder ihrer Referenzgruppe bekommen. Ihr Ver- 226 Vertrauen und soziale Präferenzen halten ist durch „Fairness“ und „Reziprozität“ geprägt, und sie sind bereit, freundliches, vertrauensvolles oder kooperatives Verhalten ihrer Gegenspieler zu belohnen und unfreundliches, misstrauisches oder unkooperatives Verhalten zu bestrafen, auch wenn das für sie selbst mit Kosten verbunden ist. Die experimentelle Wirtschaftsforschung zeigt aber auch, dass dieses Verhalten unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Für manche Menschen spielen soziale Präferenzen eine sehr wichtige Rolle, während es für andere eher unwichtig zu sein scheint. Dieser Aufsatz gibt einen kurzen Überblick über einige der wichtigsten Experimente zu sozialen Präferenzen, die zeigen, wie vertrauensbasierte Kooperation funktionieren kann. Das Ultimatum-Spiel Das wohl bekannteste Experiment zu fairem Verhalten ist das sogenannte „Ultimatum-Spiel“, das von Güth et.al. (1982) in die Literatur eingeführt wurde und seitdem in unzähligen Varianten getestet wurde. Das Ultimatum-Spiel ist eine stilisierte Verhandlungssituation, in der zwei Spieler einen festen Geldbetrag von zum Beispiel 10 Euro untereinander aufteilen müssen. In der ersten Stufe des Spiels darf Spieler A einen Aufteilungsvorschlag machen. In der zweiten Stufe muss Spieler B entscheiden, ob er diesen Vorschlag annimmt oder ablehnt. Wenn B annimmt, wird die vorgeschlagene Aufteilung verwirklicht, wenn er ablehnt, bekommen beide Spieler nichts. Dieses Spiel lässt sich leicht experimentell implementieren. Im Experiment werden die Versuchspersonen zufällig auf die Rollen von Spieler A und Spieler B verteilt und müssen ihre Entscheidungen anonym fällen, ohne ihren Gegenspieler jemals zu Gesicht zu bekommen. Die Spieltheorie liefert eine eindeutige Vorhersage, was in diesem Spiel passieren wird: Spieler B wird jede Aufteilung, die ihm mehr als null Cent anbietet, annehmen, denn selbst ein sehr kleiner Betrag ist besser als gar nichts. Spieler A wird dieses Verhalten voraussehen und darum einen Aufteilungsvorschlag machen, der ihm selbst fast alles (9,99 Euro) und Spieler B fast nichts (0,01 Euro) anbietet. Die Ergebnisse der Experimente sehen jedoch völlig anders aus. Fast 40 Prozent aller Versuchspersonen in der Rolle von Spieler A bieten ihrem Gegenspieler die 50:50-Aufteilung an. Nur ein Drittel überlässt der Gegenseite weniger als vier Euro und nur etwa 10 Prozent der Versuchspersonen bieten ihrem Gegenüber weniger als zwei Euro. Wenn dennoch niedrige Angebote gemacht werden, so werden sie von Spieler B häufig abgelehnt, wobei die Wahrscheinlichkeit der Ablehnung steigt, je niedriger das Angebot ist. Vertrauen und soziale Präferenzen 227 Überraschend ist vor allem, dass so viele positive Angebote abgelehnt werden, obwohl Spieler B dadurch ja eigenes Geld wegwirft. Das widerspricht eindeutig dem Homo oeconomicus. Weniger eindeutig zu interpretieren sind die großzügigen Angebote der Spieler A. Nicht nur ein „fairer“ Spieler A wird der Gegenseite die Hälfte des Kuchens anbieten, auch ein eigennütziger Spieler A könnte das tun, wenn er befürchtet, dass ein niedrigeres Angebot von Spieler B abgelehnt wird. Wenn man wissen will, welche Spieler A „fair“ und welche „eigennützig“ sind, muss man Spieler B die Möglichkeit nehmen, das Angebot abzulehnen. In diesem sogenannten „Diktator-Spiel“ kann Spieler A allein entscheiden, wie der Betrag aufgeteilt werden soll. Tatsächlich gibt es jetzt signifikant weniger großzügige Angebote, aber noch immer schlägt fast ein Viertel der Versuchspersonen die 50:50-Aufteilung vor. Die Ergebnisse des Ultimatum-Spiels sind bemerkenswert robust. Es gibt nur geringfügige Verhaltensunterschiede zwischen männlichen und weiblichen Versuchspersonen, zwischen Studenten und Nicht-Studenten, zwischen Amerikanern, Japanern und Israelis. Auch die Größe des aufzuteilenden Kuchens scheint kaum eine Rolle zu spielen. In Indonesien wurde das Ultimatum-Spiel mit Beträgen gespielt, die etwa drei Monatseinkommen der Versuchspersonen entsprachen, ohne dass sich an den Ergebnissen viel geändert hätte. Sie verändern sich auch nicht, wenn die Versuchspersonen das Spiel mehrfach (aber gegen jedes Mal wechselnde Gegenspieler) spielen oder wenn man Spieler B explizit darauf hinweist, dass er Geld verschenkt, wenn er ein positives Angebot ablehnt (siehe Camerer, 2003, für einen Überblick über diese Literatur). All das deutet darauf hin, dass die Versuchspersonen keinen Fehler machen, sondern sehr genau wissen, was sie tun. Offenbar wollen viele Versuchspersonen in der Rolle von Spieler B „unfaire“ Aufteilungsangebote der Spieler in Rolle A dadurch bestrafen, dass sie den Anteil von Spieler A vernichten, selbst wenn ihr eigener Anteil dadurch ebenfalls vernichtet wird. Einige Versuchspersonen in der Rolle von Spieler A sind offenbar freiwillig bereit, den Geldbetrag mit einem Fremden zu teilen. Völlig eigennützige Individuen würden das nie tun. In jüngster Zeit haben Anthropologen in Zusammenarbeit mit Psychologen und Ökonomen das Ultimatum-Spiel-Experiment bei 15 verschiedenen Naturvölkern durchgeführt (Henrich et. al., 2001). Während das Verhalten in fast allen entwickelten Industriestaaten nahezu identisch ist, zeigen sich hier deutliche Unterschiede, wenn auch bei keinem der Naturvölker der Homo oeconomicus gefunden wurde. Versuchspersonen aus dem Machiguenga-Stamm im Amazonasbecken machen deutlich niedrigere Angebote (im Durchschnitt nur 26 Prozent des aufzuteilenden Geldbetrages im Vergleich zu 45 Prozent in Industriestaaten), und niedrige Angebote werden nur selten abgelehnt. Dagegen schlagen 228 Vertrauen und soziale Präferenzen fast alle Mitglieder des Lamelara-Volkes in Indonesien die Gleichaufteilung vor. Die Lebensumstände dieser Naturvölker deuten an, dass die Bedeutung von Fairness kulturell bedingt ist. Die Machiguenga leben als Sammler und Fischer fast völlig autark in kleinen Familienverbänden. Auf der Ebene des Stammes gibt es praktisch keinen Handel und keine gemeinsame Produktion. Die Lamelara sind dagegen Walfänger, die mit mehreren großen Kanus mit jeweils bis zu zwölf Mann Besatzung gemeinsam auf die Jagd gehen. Für sie ist enge Kooperation und absolute Verlässlichkeit aller Stammesmitglieder überlebenswichtig. Das könnte erklären, warum sich bei den Lamelara „kooperatives“ und „faires“ Verhalten durchgesetzt hat, während dieses Verhalten bei den Machiguenga kaum Vorteile bietet und sehr viel weniger verbreitet ist. Fairness-Normen scheinen selbst im Tierreich eine gewisse Rolle zu spielen. Brosnan und de Waal (2003) haben in Experimenten mit KapuzinerAffen gezeigt, dass Vertreter dieser Spezies „unfaire“ Futterangebote ablehnen. Allerdings ist dieser Effekt nur für weibliche Kapuziner-Affen signifikant. „ … Alle …?!“ Vertrauen und soziale Präferenzen 229 Soziale Dilemma-Spiele Fairness und Reziprozität können eine wichtige Rolle spielen, wenn es darum geht, soziale Dilemma-Situationen zu überwinden. Solche Situationen liegen vor, wenn es für eine Gruppe von Individuen optimal ist, dass jeder einen Beitrag zu einem gemeinsamen Gruppenprojekt leistet, wenn aber jeder Einzelne einen Anreiz hat, selbst nichts beizutragen und sich als Trittbrettfahrer zu verhalten. Ein einfaches Beispiel ist das sogenannte „Öffentliches-Gut-Spiel“. Vier Spieler müssen gleichzeitig entscheiden, wie viel sie zu einem öffentlichen Gut beitragen. Wenn ein Spieler einen Euro beiträgt, steigt der Nutzen jedes Spielers um 50 Cent. Diese Investition bringt der Gruppe als Ganzes also einen Ertrag von 4 x 0,5 Euro = 2 Euro. Der einzelne Investor macht jedoch ein Verlustgeschäft, weil er selbst nur 50 Cent bekommt, aber einen Euro zahlen muss. Also würde der Homo oeconomicus nichts zu dem öffentlichen Gut beitragen, auch wenn es für die Gruppe als Ganzes effizient wäre, wenn alle möglichst viel beitragen würden. Wenn die Spieler nicht nur eigennützig sind, sondern auch durch Fairness und Reziprozität motiviert werden, ist das Ergebnis nicht eindeutig. Wenn alle anderen zu dem öffentlichen Gut beitragen, ist es für einen fairen Spieler optimal, ebenfalls beizutragen, weil er darunter leiden würde, wenn er als Trittbrettfahrer auf Kosten der anderen einen Vorteil für sich selbst herausschlagen würde. Wenn also alle Individuen fair sind, ist es ein Gleichgewicht, das alle zu dem öffentlichen Gut beitragen. Es ist aber auch ein Gleichgewicht, wenn niemand zu dem öffentlichen Gut beiträgt, denn wenn alle anderen nichts tun, will auch ein fairer Spieler nicht der „Dumme“ sein, der als Einziger seinen Beitrag leistet. Etwas komplizierter wird es, wenn nicht alle Versuchspersonen fair sind, sondern einige sich eigennützig verhalten. Dann ist zu erwarten, dass das kooperative Gleichgewicht auf Dauer nicht aufrechterhalten werden kann. Auch wenn die fairen Spieler in den ersten Perioden zu dem öffentlichen Gut beitragen, werden sie ihre Beiträge zurückfahren, wenn sie sehen, dass sich andere auf ihre Kosten als Trittbrettfahrer verhalten. Langfristig wird sich also das ineffiziente Gleichgewicht, in dem niemand zum öffentlichen Gut beiträgt, durchsetzen. In der Tat wird diese Prognose von zahlreichen Experimenten, in denen Versuchspersonen wiederholt zu einem öffentlichen Gut beitragen müssen, bestätigt. In den ersten Runden des Experiments wird im Durchschnitt etwa die Hälfte des maximal möglichen Betrages in das öffentliche Gut investiert. Hinter diesem Durchschnitt verbergen sich aber einige Spieler, die sehr viel, und andere, die gar nichts beitragen. Im Zeitlauf reduzieren die kooperativen Spieler ihren Beitrag und nach zehn Runden ist der durchschnittliche Beitrag minimal. 230 Vertrauen und soziale Präferenzen Dieses Verhalten ändert sich dramatisch, wenn man den Versuchspersonen die Möglichkeit gibt, nach jeder Runde ihre Mitspieler zu bestrafen. Die Bestrafung ist jedoch kostspielig und verringert nicht nur die Auszahlung des Spielers, der bestraft wird, sondern auch die des Bestrafenden. Also würde eine rationale und eigennützige Versuchsperson niemals bestrafen, weil für sie nur Kosten entstehen, die mit keinem unmittelbaren Gewinn verbunden sind. Viele Versuchspersonen sind dennoch bereit, das Trittbrettfahren ihrer Mitspieler zu bestrafen (siehe Fehr und Gächter, 2000). Die potentiellen Trittbrettfahrer antizipieren das und tragen darum ihren fairen Anteil zum öffentlichen Gut bei. Wenn es Bestrafungsmöglichkeiten gibt, genügen einige wenige reziproke Spieler, um die eigennützigen Spieler zu disziplinieren und kooperatives Verhalten durchzusetzen (siehe Fehr und Schmidt, 1999). Vertrauensspiele Die Bereitschaft zu vertrauen und Vertrauen zu honorieren wird in einem klassischen Experiment von Berg, Dickhaut und McCabe (1995) untersucht. Sie betrachten die folgende experimentelle Situation mit zwei Versuchspersonen, die jeweils eine Anfangsausstattung von zehn Euro bekommen. Person 1 kann entscheiden, welchen Betrag X sie an Person 2 abgeben will. Der abgegebene Betrag wird vom Versuchsleiter verdreifacht, so dass bei der zweiten Person 3X Euro ankommen. Nun muss Person 2 entscheiden, welchen Betrag sie an Person 1 zurückgibt. Dieses „Trust Game“ beschreibt eine Situation, in der es effizient ist, wenn Person 1 Person 2 vertraut und ihr möglichst viel Geld abgibt, in der sich dieses Vertrauen aber nur dann lohnt, wenn sich Person 2 als vertrauenswürdig erweist und wieder etwas zurückgibt. Im Experiment ist das Verhalten breit gestreut. Einige Versuchspersonen in der Rolle von Person 2 behalten alles Geld für sich, andere teilen den Effizienzgewinn fair auf und geben doppelt so viel zurück, wie sie bekommen haben. Im Durchschnitt wird ungefähr so viel zurückgegeben, wie von Person 1 geschickt wurde. Im Erwartungswert sollte Person 1 also fast indifferent sein, ob sie vertraut oder nicht. Bohnet et al. (2009) haben aber gezeigt, dass einige Versuchspersonen in der Rolle von Person 1 nicht allein auf den Wert ihrer erwarteten Auszahlung schauen, sondern selbst dann nicht vertrauen, wenn sich Vertrauen im Erwartungswert lohnen würde. Diese Versuchspersonen scheinen zusätzlich darunter zu leiden, dass sie mit einer bestimmten Wahrscheinlichkeit von anderen ausgebeutet werden. Um diese Ausbeutung auszuschließen, sind sie nicht bereit zu vertrauen. Diese Versuchsper- Vertrauen und soziale Präferenzen 231 sonen schneiden in Experimenten schlechter ab als Versuchspersonen, die bereit sind, das Vertrauensrisiko einzugehen. Die Bereitschaft zu vertrauen steigt mit dem Einkommen, mit dem Bildungsgrad und ganz allgemein mit dem „Lebenserfolg“ eines Menschen. Es ist also nicht nur so, dass Vertrauen die Voraussetzung zur Schaffung von Wohlstand ist. Wohlstand ist auch eine Voraussetzung für Vertrauen. „ … oder keiner !? Arbeitsverträge Arbeitsverträge sind typischerweise hochgradig unvollständig. Sie regeln den zu zahlenden Lohn, die Arbeitszeit und die Art der Tätigkeit des Arbeitnehmers, aber sie können unmöglich festlegen, was genau der Arbeitnehmer in welcher Situation zu tun hat. Darum kann ein Arbeitsverhältnis nur dann funktionieren, wenn der Arbeitnehmer bereit ist, sich auch über die im Vertrag festgelegten Pflichten hinaus für sein Unternehmen zu engagieren und nicht bloßen „Dienst nach Vorschrift“ zu leisten. Eine gängige Praxis, mit der Unternehmen versuchen, dieses 232 Vertrauen und soziale Präferenzen Engagement zu motivieren, ist, dass sie übertarifliche, das heißt freiwillige Leistungen zahlen. Damit appellieren sie an die Reziprozität ihrer Arbeitnehmer und hoffen, dass diese sich durch einen besseren Arbeitseinsatz revanchieren. Nur so ist zu erklären, warum viele Unternehmen auf der einen Seite über zu hohe Löhne klagen, auf der anderen Seite aber freiwillig übertarifliche Leistungen zahlen. Die Unternehmen würden zwar gerne alle gemeinsam die Löhne senken (durch einen moderaten Tarifabschluss), jedes einzelne Unternehmen befürchtet aber, dass eine Lohnsenkung in der eigenen Firma die Mitarbeiter demotivieren und ihre Produktivität so stark reduzieren würde, dass sich die Lohnsenkung letztlich nicht auszahlt. Diese Situation ist von Fehr, Kirchsteiger und Riedl (1993) experimentell untersucht worden. In ihrem „Gift Exchange Experiment“ kann ein Arbeitgeber einem Arbeitnehmer nur einen fixen Lohn anbieten. Danach muss der Arbeitnehmer entscheiden, welche Arbeitsleistung er wählt. Eine höhere Arbeitsleistung verursacht Kosten für den Arbeitnehmer, erhöht aber den Gewinn des Arbeitgebers. Ein eigennütziger Arbeitnehmer sollte immer die niedrigste Arbeitsleistung wählen. Darum sollte der Arbeitgeber auch nie einen höheren Lohn zahlen als unbedingt nötig. Im Experiment zeigt sich aber, dass viele Arbeitnehmer bereit sind, sich für einen höheren Lohn mit einer freiwillig höheren Arbeitsleistung zu bedanken. Die Arbeitgeber sehen dieses Verhalten voraus und zahlen zum Teil sehr großzügige Löhne. Fehr, Klein und Schmidt (2007) zeigen, dass die Effizienz der Beziehung erheblich verbessert werden kann, wenn der Arbeitgeber den Arbeitnehmer für einen hohen Arbeitseinsatz mit einer freiwilligen Bonuszahlung honoriert. Auch diese Bonuszahlung basiert auf dem Vertrauen der Arbeitnehmer, dass die Arbeitgeber den Bonus tatsächlich zahlen werden. Obwohl viele Arbeitgeber den Bonus nicht zahlen, gibt es insgesamt doch genug vertrauenswürdige Arbeitgeber, so dass die meisten Arbeitnehmer bereit sind, eine hohe Arbeitsleistung zu erbringen. Vertrauensbeziehungen funktionieren sehr viel besser, wenn die Versuchspersonen eine „Reputation“ aufbauen können. Das gilt insbesondere, wenn die Parteien über viele Perioden hinweg interagieren. Brown, Falk und Fehr (2004, 2008) haben gezeigt, dass hier fast vollständige Kooperation erreicht werden kann. Aber selbst wenn die Parteien nur einmal miteinander interagieren, reicht schon ein imperfektes Signal über vergangenes Verhalten, das von zukünftigen Partnern beobachtet werden kann, um Vertrauen zu stützen und Kooperation zu ermöglichen. Ein gutes Beispiel ist der Kauf eines gebrauchten Artikels bei Ebay. In der Regel kommen hier Käufer und Verkäufer nur einmal zusammen. Der Käufer muss darauf vertrauen, dass die vom Verkäufer beschriebene Vertrauen und soziale Präferenzen 233 Qualität des Artikels den Tatsachen entspricht und dass der Artikel nach Bezahlen der Ware auch tatsächlich geliefert wird. Wenn der Käufer nichts über den Verkäufer wüsste, würde er sich wohl kaum auf dieses Risiko einlassen. Wenn der Verkäufer von anderen Käufern aber positiv bewertet wurde und sich eine gute Reputation aufgebaut hat, sind viele Käufer bereit, sich auf diese Vertrauensbeziehung einzulassen. Einen ähnlichen Effekt gibt es auf dem Arbeitsmarkt. Bartling, Fehr und Schmidt (2010) betrachten ein Experiment, in dem der Arbeitgeber erfährt, welche Arbeitsleistung der Arbeitnehmer in seinen letzten drei Beschäftigungsverhältnissen erbracht hat. Viele Arbeitgeber konditionieren ihre Lohnangebote auf die Reputation des Arbeitnehmers und zahlen Arbeitnehmern, die in der Vergangenheit hohe Arbeitsleistungen erbracht haben, deutlich höhere Löhne, als Arbeitnehmern, die in der Vergangenheit wenig gearbeitet haben. Viele Arbeitnehmer antizipieren das und wählen eine hohe Arbeitsleistung – aber nur, wenn ihnen auch ein hoher Lohn geboten wird. Allerdings beobachten Bartling et al., dass sich nicht alle Versuchspersonen so verhalten. Etwa 20 Prozent der Arbeitgeber sind nicht bereit zu vertrauen und zahlen immer nur niedrige Löhne, egal wie gut die Reputation ihres Arbeitnehmers ist. Ebenso gibt es etwa 20 Prozent der Arbeitnehmer, die immer die niedrigste Arbeitsleistung wählen und nicht begreifen, dass es sich langfristig lohnt, in eine gute Reputation zu investieren und eine hohe Arbeitsleistung zu honorieren. Mit diesem engstirnig eigennützigen Verhalten schaden sich die Versuchspersonen selbst. Bartling et al. zeigen, dass die Einführung von Wettbewerb auf diesem experimentellen Arbeitsmarkt zwischen den Arbeitgebern um die besten Arbeitnehmer und zwischen den Arbeitnehmern um die bestbezahlten Jobs das suboptimale Verhalten verschwinden lässt. Jetzt lernen die Arbeitnehmer schnell, dass sie immer nur die am schlechtesten bezahlten Jobs bekommen, wenn sie keine gute Reputation haben, und die Arbeitgeber lernen, dass sie hohe Löhne zahlen müssen, wenn sie gute Arbeitnehmer bekommen wollen. Hier führt also der Wettbewerb nicht dazu, dass Vertrauen verdrängt wird. Im Gegenteil, Wettbewerb wirkt wie ein Katalysator, der Vertrauensbeziehungen stärkt. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser? In der öffentlichen Diskussion ist die Forderung nach mehr Kontrolle und expliziten Leistungsanreizen für Top-Manager und Banker, aber auch für Lehrer und Professoren sehr populär. Es ist unstrittig, dass Menschen auf explizite Anreize reagieren. Eine wichtige Frage ist jedoch, wie 234 Vertrauen und soziale Präferenzen diese expliziten Anreize mit den indirekten Leistungsanreizen durch Vertrauen und Reziprozität interagieren. Zahlreiche Studien weisen darauf hin, dass es hier zu einem Crowding-out kommen kann. Kontrolle kann dazu führen, intrinsische Motivation zu verdrängen. Falk und Kosfeld (2006), die das experimentell gezeigt haben, bezeichnen diesen Effekt als die „versteckten Kosten“ der Kontrolle. Auch eine direkte Entlohnung nach bestimmten Erfolgskennziffern (seien es Aktienkurse, Lehrevaluationen oder Forschungsrankings) führt dazu, dass sich die Mitarbeiter ganz auf die Erreichung dieser Erfolgskennziffern konzentrieren und alles, was durch diese Kennziffern nicht gemessen wird, aus dem Blickfeld verlieren. Wenn die Entlohnung dagegen indirekte Leistungsanreize bietet (z.B. durch Beförderung, Berufungszulagen oder freiwillige Bonuszahlungen) haben die Mitarbeiter stärker das Wohl der Organisation oder des Unternehmens insgesamt im Auge (siehe Fehr und Schmidt, 2004). Darum ist es nicht offensichtlich, dass Kontrolle und explizite Leistungsanreize immer besser sind. Beziehungen, die auf Vertrauen und Reziprozität basieren, können sehr effizient sein, insbesondere dann, wenn eine Reputation für vertrauenswürdiges Verhalten über den Markt oder in langfristigen Beziehungen honoriert wird. Literatur Bartling, Björn; Fehr, Ernst; Schmidt, Klaus M. (2010): Screening, Reputation, and Job Design: The Origin of Good Jobs. Universities of Munich and Zurich. (mimeo). Berg, Joyce; Dickhaut, John; McCabe, Kevin (1995): Trust, Reciprocity, and Social History. In: Games and Economic Behavior, Jg. 10, H. 1, S. 122–142. Bohnet, Iris; Greig, Fiona; Herrmann, Benedikt; Zeckhauser, Richard (2008): Betrayal Aversion: Evidence from Brazil, China, Oman, Switzerland, Turkey, and the United States. In: American Economic Review, Jg. 98, H. 1, S. 294–310. Online verfügbar unter http://www.aeaweb.org/articles.php?doi=10.1257/aer.98.1.294. Bolton, Gary E.; Ockenfels, Axel (Mar., 2000): ERC: A Theory of Equity, Reciprocity, and Competition. In: The American Economic Review, Jg. 90, H. 1, S. 166–193. Brosnan, Sarah. und Frans de Waal (2003). Monkeys Reject Unequal Pay, Nature, Vol. 425, 297?299. Brown, Martin; Falk, Armin; Fehr, Ernst (2004): Relational Contracts and the Nature of Market Interactions. In: Econometrica, Jg. 72, H. 3, S. 747–780. Online verfügbar unter http://dx.doi.org/10.1111/j.1468-0262.2004.00511.x. Brown, Martin; Falk, Armin; Fehr, Ernst (2008): Competition and Relational Contracts: The Role of Unemployment as a Disciplinary Device. University of Zurich. (mimeo). Online verfügbar unter http://ssrn.com/paper=1135921. Camerer, Colin (2003): Behavioral Game Theory. Experiments in Strategic Interaction. Princeton, N.J.: Princeton University Press. Vertrauen und soziale Präferenzen 235 Dufwenberg, Martin; Kirchsteiger, Georg (2004): A Theory of Sequential Reciprocity. In: Games and Economic Behavior, Jg. 47, H. 2, S. 268–298. Falk, Armin; Kosfeld, Michael (2006): The Hidden Costs of Control. In: The American Economic Review, Jg. 96, H. 5, S. 1611–1630. Fehr, Ernst; Gaechter, Simon (2000): Cooperation and Punishment in Public Goods Experiments. In: The American Economic Review, Jg. 90, H. 4, S. 980–994. Fehr, Ernst; Kirchsteiger, Georg; Riedl, Arno (1993): Does Fairness Prevent Market Clearing? 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Henrich, Joseph; Boyd, Robert; Bowles, Samuel; Camerer, Colin; Fehr, Ernst; Gintis, Herbert; McElreath, Richard (2001): In Search of Homo Economicus: Behavioral Experiments in 15 Small-Scale Societies. In: The American Economic Review, Jg. 91, H. 2, S. 73–78. Rabin, Matthew (1993): Incorporating Fairness into Game Theory and Economics. In: The American Economic Review, Jg. 83, H. 5, S. 1281–1302. Smith, Vernon L. (1962): An Experimental Study of Competitive Market Behavior. In: The Journal of Political Economy, Jg. 70, H. 2, S. 111–137. Fußnoten 1 Einen Überblick über diese Literatur bieten Fehr und Schmidt (2006). 236 Vertrauen und soziale Präferenzen Abbildung 33: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Invisible hand I Abbildung 34: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Invisible hand II „Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“ Jochen Hörisch „Der Weise“ – dieses Wort klingt heute fast so unzeitgemäß wie das Wort „Muße“. Umso auffallender ist es, wenn es denn doch noch einmal öffentlich verwendet wird. Und das ist einmal jährlich der Fall. Das Ritual ist bekannt und TV-tauglich: fünf offenbar unironisch sogenannte „Wirtschaftsweise“, die den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung bilden, legen der Bundesregierung jährlich ihren Bericht vor, der stets eine Analyse der ökonomischen Lage mit einer Prognose der volkswirtschaftlichen Entwicklung verbindet. Mit Ruhm bekleckert haben sich die Wirtschaftsweisen nicht. Denn in ihren Gutachten kam das Szenario der internationalen Banken- und Finanzkrise schlicht nicht vor, die in den vergangenen Jahren ihre destruktive Dynamik entfaltete. Dabei hätte hier ein weises Gutachten, das etwa eine rigidere Bankenaufsicht, ein Verbot von Leerverkäufen, ein weitsichtiges Bonussystem für Manager oder eine stärkere Regulierung des Derivatehandels empfohlen hätte, Wirtschaftswunder wirken und Finanzbeben-Unheil abwenden können. Wirtschaftsweise, die darauf bestehen, dass Mindestlöhne von sieben Euro pro Stunde kontraproduktiv und Hartz-IV-Sätze zu hoch sind, müssen sich die Frage gefallen lassen, ob ihr Gutachten das Geld der Steuerzahler wert ist. Diese Frage ist auch deshalb geboten, weil es gleich mehrere bemerkenswert präzise Einschätzungen der Verwerfungen auf den internationalen Finanzmärkten gegeben hat. Sie stammen nicht etwa von ideologisch verbohrten Kapitalismus-Hassern, sondern aus der Feder politisch unverdächtiger Köpfe. Altbundeskanzler Helmut Schmidt hat regelmäßig auf das Krisenpotential hingewiesen, das ein im neoliberalen Geist entfesselter Finanzmarkt in sich birgt. Ein linker Anwandlungen unverdächtiger Wirtschaftsprofessor namens Max Otte publizierte 2006 sein Buch Der Crash kommt – Die neue Weltwirtschaftskrise und wie Sie sich darauf vorbereiten. Der Mann macht keine Ansprüche auf die Anrede „Weiser“ geltend, obwohl er mit seiner Einschätzung um Klassen besser war als die fünf Weisen zusammen. Er lehrt an einer Fachhochschule in Worms, die in den Ranking-Listen der besten Wirtschaftshochschulen nicht einmal auf den letzten Plätzen vorkam (Nebenfrage: Könnte es „Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“ 239 sein, dass die Universitätsrankings nicht verlässlicher sind als die Ratingagenturen in der Finanzbranche, die vielen Pleitebanken die Bonitäts-Bestnote AAA verliehen haben und für ihre inkompetenten Fehleinschätzungen bestens honoriert wurden?). George Soros, der weiß, wovon er spricht und schreibt, weil er über Jahrzehnte mit Hedgefonds-Spekulationen auf den internationalen Finanzmärkten ein Milliardenvermögen gemacht hat und weil er sich angesichts der Irrationalität dieser Märkte seit Jahren weise aus dieser Branche verabschiedet hat, veröffentlichte sein brillantes, wenn auch drucktechnisch billig gemachtes Buch The new paradigm for financial markets (Das Ende der Finanzmärkte – und deren Zukunft. Die heutige Finanzkrise und was sie bedeutet. München 2008) just in time. Vorausgegangen war ein Buch, das man prophetisch nennen könnte, wenn es nicht im Ton heiliger Nüchternheit verfasst wäre: The bubble of American supremacy (Die Vorherrschaft der USA – eine Seifenblase. München 2004). In diesen Büchern erfährt man, was eine verplauderte, geradezu provokant oberflächliche bis läppische Filmhäppchen-DVD mit Markus Koch nur verspricht: Einblicke in die Logik von Backstage Wall Street (München 2008). Leute wie Helmut Schmidt und George Soros sind nicht ganz unbekannt. Dass ihre nüchternen Warnrufe dennoch bei sogenannten Wirtschaftsweisen kein Gehör fanden und finden, ist erklärungsbedürftig. Eine Erklärung ist trivial, aber gewiss nicht falsch: Blamagen tun weh. Wenn sich gar Köpfe systematisch blamieren, die als Weise gelten, so fällt ihnen das Eingeständnis, peinliche Fehleinschätzungen geliefert zu haben, umso schwerer. Zumal dann, wenn (und dieser Erklärungsansatz ist jenseits aller Trivialitäten) kaum mehr übersehbar ist, dass weite Teile gerade der marktliberalen Wirtschaftswissenschaften weniger mit Wissenschaft als, wie Soros darlegt, mit fundamentalistischer Glaubensbereitschaft zu tun haben. Soros argumentiert komplex und handfest zugleich. Wirtschaftswissenschaftler, die seine Thesen ernst nehmen, „müssen einen Statusverlust akzeptieren“. Denn sie können ihre doch so rechenintensive Wissenschaft nicht mehr am Paradigma der Naturwissenschaften orientieren. Warum? Weil sich Finanzmärkte, die enorme Auswirkungen auf die Realökonomie haben, „reflexiv“ verhalten – soll heißen: die Beobachtungen, die Banken, Ratingagenturen, Finanzinvestoren, Fonds-Manager etc. machen, um dann über Käufe und Verkäufe zu entscheiden, sind eben nicht nur Beobachtungen, sondern zugleich Aktionen, die das Beobachtete (etwa Preise, Trends und Risiken) verändern, und die ihrerseits beobachtet werden können. So kommt es zu nicht taxierbaren Rückkoppelungseffekten und Erwartungserwartungen, die extrem risikolastig sind. Mit marktfundamentalistischem Glauben an Gleichgewichtszustände ist diese Einsicht in chaosanfällige Reflexivität nicht zu vereinbaren. 240 „Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“ Wer in den Kreisen „marktfundamentalistischer“ Neoliberaler den Verdacht äußert, die invisible hand des Marktes könne unsichtbar sein und so heißen, weil es sie (anders als etwa Preisabsprachen in der Zementindustrie und Millionenabfindungen für gescheiterte Manager) nicht gibt, wird so sehr als Ketzer gelten wie vor Jahrhunderten ein Theologe, der an der Existenz des unsichtbaren Gottes zweifelte. Viele Wirtschaftswissenschaftler stehen so fassungslos vor dem Beben der Finanzund Bankenkrise wie Theologen im Jahr 1755 vor dem Erdbeben von Lissabon: Wie kann ein gütiger und allmächtiger Gott dies Unheil zulassen, lautete damals die berühmte Theodizee-Frage. Wie kann der alles so herrlich regelnde freie Markt (und kein zweiter Markt war so dereguliert wie der internationale Finanzmarkt) dieses Beben, diesen Tsunami, diesen Abgrund (seltsam regelmäßig werden naturalistische Metaphern für das Chaos auf den Finanzmärkten bemüht) zulassen, lautet heute die Frage der Neoliberalen, die alle, nur nie und nimmer sich selbst mit dem Ideologieverdacht konfrontieren. Kurzum: Nicht „nur“ die Wirtschafts- und Finanzsphäre selbst, auch die Wirtschafts- und Finanzwissenschaften beben und kollabieren. Zur Diskussion und eben auch zur Disposition stehen ihre allerheiligsten Konzepte – die invisible hand des freien Marktes, der Homo oeconomicus und das Rational-choice-Modell. Dieses dreieinige Konzept läuft auf die immer gleiche Annahme hinaus: dass sich die Güter- und Finanzmärkte ebenso wie die auf ihre eigenen Vorteile bedachten Marktteilnehmer rational verhalten und deshalb Gleichgewichtszustände zwischen Angebot und Nachfrage herstellen. Dass dies nicht der Fall ist, dass es vielmehr im heißen Kern des Kapitalismus faszinierend irrational zugehe, ist die Leitthese der im Merve-Verlag erschienenen und verlagstypisch munter und anregend, aber auch erratisch argumentierenden Studie von Ralph und Stephan Heidenreich, die den pointierten Titel Mehr Geld trägt. Der Kapitalismus, so lautet ihre plausible Vermutung, konnte nur in christlichen Kulturkontexten entstehen, weil das Christentum „eine extrem zukunftsgetriebene Religion“ ist. Kapitalismus und Christentum verbindet ihre Fokussierung auf Schuld(en) und Erlös(ung), wie schon Walter Benjamins großartige, aber von den Merve-Autoren ignorierte Skizze Kapitalismus als Religion darlegte. Am Anfang war die (Erb-) Schuld, am Anfang sind die Schulden, die mit Zins und Zinseszins zurückgezahlt werden müssen, wenn denn Prosperität herrschen soll. Geld heckendes Geld, sich über Zinszahlungen vermehrendes Schuldgeld, also der Imperativ „Mehr Geld!“ regiert die kapitalistische Welt, die Kapital als eine unbegreifbare, unendliche, göttliche Größe anbetet. Wer das glaubt, muss ab und an dran glauben; wer so auf Mehr-GeldErlöse aus ist, wird in tiefe Glaubens- und Kreditkrisen geraten müssen und seine Erlösungsbedürftigkeit erfahren. Lieber Gott, wenn es dich „Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“ 241 gibt, rette meine arme Seele, wenn ich eine habe, betete ein aufgeklärter Spötter im 18. Jahrhundert. Ähnlich dürften heute die Stoßgebete von Bankern klingen: Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe. Nicht erratisch, sondern ebenso gelehrt wie elegant kommt eine faszinierende Studie des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Fritz Breithaupt daher. Sie trägt den erst einmal rätselhaften Titel Der Ich-Effekt des Geldes – Zur Geschichte einer Legitimationsfigur (Frankfurt 2000) und analysiert, warum und wie das Medium Geld von so vielen neuzeitlichen Philosophen wie Locke und Rousseau, Weber und Benjamin, Schumpeter und Simmel, Chamisso und Gutzkow, Heine und Freytag, Keller und Musil (um nur sie zu nennen) bedacht und bedichtet wurde – was übrigens die heutige geldvergessene Philosophie und Literaturwissenschaft immer noch weitgehend ignorieren. Die Studie bietet für wenig Geld viele überraschende Einsichten in die Wirkungsweise des Geldes. Ihre Leitthese ist im Titel angedeutet: Die neuzeitliche Konjunktur des Ich- (des Subjekt-, des Selbstbewusstseinsund des Genie-) Begriffs ist an die Superkonjunktur des Leitmediums Geld gekoppelt. Beide, das Ich wie das Geld, stehen in einer erst latent, dann offen nachmetaphysischen Epoche vor dem Problem, ihr Versprechen, ihr Kapital, ihre Möglichkeiten zu entdecken und zugleich decken zu müssen. Dies aber können sie nur im Verbund – in Breithaupts Worten: „Die Schwäche des zu beglaubigenden Geldes soll im Ich gestärkt werden, und die Fragwürdigkeit des Ich soll durch die Realexistenz des Geldes ausgeglichen werden.“ Rhetorische Pointen wie die von Heinrich Heine über die Weisheit einer Münze: „So ein alter Louisdor hat mehr Verstand als ein Mensch, und weiß am besten, ob es Krieg oder Frieden gibt“ oder apodiktische Sätze wie der von Robert Musil: „Geld ist geordnete Ichsucht“ werden vor dem Hintergrund von Breithaupts Überlegungen neu lesbar. Seine Untersuchung vergisst dabei nie, dass auch die neuzeitliche Liebesaffäre zwischen Geld und Ich ihre Krisengeschichte hat. So gibt es etwa um 1900 eine Konjunktur der Trennung und Scheidung zwischen beiden; Liebe, Ehre, hohe Werte, Sinn, all das also, worauf Subjekte besonders stolz sind, kann man nicht kaufen, lautet eine Standardeinsicht, die sich viele in den prosperierenden Zeiten um die vorletzte Jahrhundertwende leisten können. Sie verkennen damit, dass sich Ich und Geld in der kapitalistischen Neuzeit wechselseitig kreditieren. Beide sind dynamischliquide, aber eben auch von Liquidierung, nämlich von Achtungs-, Beglaubigungs- und Kreditverlust bedrohte Institutionen. Was nicht aus-, sondern häufig einschließt, dass sich Ich und Geld häufig wechselseitig verachten. Wer Breithaupts Studie liest, wird zum Beispiel mit 242 „Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“ Chamissos Schlemihl-Novelle oder Goethes Faust II nicht nur begreifen, dass, sondern auch, wie Geld die Welt und ihre systematisch desorientierten Bewohner regiert: indem es Subjekte formiert. Zu den größten Problemen einer über sich selbst aufgeklärten neuen Wirtschafts- und Finanztheorie dürfte es gehören, Geld als ein Medium zu verstehen, das sehr viel mehr ist als „nur“ ein Steuerungsmedium der Realwirtschaft. Den wirklichen Problemen der zahllosen überschuldeten Hausbesitzer, die nun in den USA bebenden Banken ihre Hausschlüssel übergeben, wendet sich George Soros zu. In Zeiten, da Spott über Gutmenschen im Feuilleton wie in der Finanzsphäre branchenüblich ist, hilft die Stiftung des denkenden Philanthropen erst einmal den Leuten, die sonst ein Dach über dem Kopf verlieren würden – und damit auch dem Finanzmarkt, der nach Exzessen der Glaubensbereitschaft transzendental obdachlos geworden ist. „Invisible hand, wenn es dich gibt, rette meinen Kredit, wenn ich noch einen habe“ 243 Abbildung 35: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Kunst Abbildung 36: Ulrich Dohmen, Kunstkreditkarte: Kredit Die Kunstkreditkarte Iris Stephan, Angela Rohde, Ulrich Dohmen und Peer Boehm die kunstkreditkarte ist ein kunstwerk im bekannten standardformat von 8,5 mal 5,5 zentimetern mit abgerundeten ecken. vertreten sind collagen und malerei und ätzungen und zeichnungen und …. alle sind ausschließlich einzigartige originale, keine kopien, keine computerausdrucke. jedes dieser aufwendig gearbeiteten unikate ist handsigniert, nummeriert und wird mit einem persönlichen zertifikat in einer schmuckdose angeboten. der preis einer kunstkreditkarte beträgt 78 euro und macht die kunst für jeden interessierten erschwinglich. das kunstwerk kann gerahmt, an sicherem ort in der dose verwahrt, in der tasche getragen, gesammelt, den geliebten, kindern, eltern oder auch geschäftskunden geschenkt, mit anderen getauscht, weiterverschenkt oder verkauft werden. die kunstkreditkarte berechtigt den kaufenden, ein jahr lang zu einem garantierten rabatt von zehn prozent in den ateliers der beteiligten künstler einzukaufen. bei erwerb der karte erhält der kaufende ein zertifikat, dass ihm die gültigkeit seiner karte bescheinigt. dieses muss bei einem besuch und einem eventuellen kauf im atelier vorgelegt werden. somit ist die kunstkreditkarte keine kreditkarte im eigentlichen sinne und auch keine paybackkarte, erst recht keine telefonkarte, und schon gar nicht eine krankenkassenkarte, natürlich auch keine ec-karte, auch keine mitgliedskarte, ebenfalls keine treuekarte, streng genommen auch keine rabattmarkenkarte – wenngleich die funktion hier in die irre führen kann – ist keine codekarte, auch keine art neuer führerschein für kunst, auch keine blutgruppenkarte, natürlich auch keine künstlerausweiskarte, auch berechtigt diese karte nicht zur teilnahme an irgendeinem miles-and-more-programm irgendeiner fluggesellschaft, mit dieser karte kann man keine videos billiger ausleihen, keinen saunaplatz im thermalbad reservieren und eine kurkarte will und kann sie auch nicht sein. sie ist schlicht und ergreifend eine kunstkreditkarte, die den kaufenden beim kauf einer arbeit im atelier berechtigt, schamlos garantierte zehn prozent rabatt herauszuhandeln. die kunstkreditkarte weitere informationen zu den künstlern und ihren arbeiten finden sie unter www.kunstkreditkarte.de. Die Kunstkreditkarte 245 Abbildung 37: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Autor I Abbildung 38: Peer Boehm, Kunstkreditkarte: Autor II Die Autoren Konstantin Adamopoulos, studierter Philosoph, Kunsthistoriker und zertifizierter Coach, verantwortet seit Mai 2005 als Kurator das Bronnbacher Stipendium des Kulturkreises der deutschen Wirtschaft im BDI an der Universität Mannheim. Regelmäßig übernimmt er Lehraufträge. Als Kunstjournalist, Ausstellungsmacher und Projektleiter entwickelt er Symposien. Peer Boehm studierte Kunstgeschichte, Archäologie und Germanistik in Köln. Seit 1994 arbeitet er als freischaffender Künstler in Köln. Peer Boehms Arbeiten waren seitdem in zahlreichen Einzel- und Gruppenausstellungen im In- und Ausland zu sehen. Iria Budisantoso studierte Diplom-Anglistik mit wirtschaftswissenschaftlicher Qualifikation an der Universität Mannheim sowie an der University of Massachusetts at Boston und Harvard University in Cambridge/ USA. Von August 2009 bis Juli 2010 war sie Stipendiatin des 6. Jahrgangs des Bronnbacher Stipendiums an der Universität Mannheim. Ulrich Dohmen studierte Malerei und Graphik in Köln und Berlin. Er ist seit 1990 freischaffender Künstler. Seine Werke befinden sich in privaten und öffentlichen Sammlungen. Markus Glaser, Prof. Dr., studierte Betriebswirtschaftslehre und Volkswirtschaftslehre an der Universität des Saarlandes in Saarbrücken. Nach Promotion und Habilitation in Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim wechselte er an die Universität Konstanz. Dort hat er den Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Corporate Finance, inne. Timothy Guinnane, Prof. Dr., studierte Wirtschaftswissenschaften in Haverford, USA. Nach der Promotion 1988 an der Stanford University lehrte er an der University of Pennsylvania, in Princeton und in Yale. Seit 1999 hat er den Lehrstuhl für Wirtschaft und Wirtschaftsgeschichte an der Yale University inne, seit 2006 ist Timothy Guinnane „Philip Golden Bartlett Professor of Economic History“ in Yale. Die Autoren 247 Jochen Hörisch, Prof. Dr., studierte Germanistik, Philosophie und Geschichte in Düsseldorf, Paris und Heidelberg. Nach der Promotion lehrte er von 1976 bis 1988 an der Universität Düsseldorf. Seit 1988 ist er Ordinarius für Neuere Germanistik und Medienanalyse an der Universität Mannheim und hielt Gastprofessuren unter anderem in den USA, Argentinien, Frankreich und Österreich. Jochen Hörisch hat eine Vielzahl von Büchern zu kultur- und medienanalytischen Themen veröffentlicht. Stefan Hornbostel, Dr. Prof., studierte Soziologie an der Georg-August-Universität Göttingen und war dann wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Kassel und Köln und Jena. Er promovierte an der Freien Universität Berlin (1995), arbeitete als Referent am CHE und als Professor am Institut für Soziologie der Universität Dortmund. Seit 2005 ist er Professor am Institut für Sozialwissenschaften der Humboldt Universität zu Berlin, und zugleich Direktor des Instituts für Forschungsinformation und Qualitätssicherung (iFQ) Bonn. Otmar Issing, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., lehrte das Fach Volkswirtschaft in Erlangen-Nürnberg und Bamberg. 2008 wurde er von Bundeskanzlerin Merkel zum Vorsitzenden der Expertengruppe für eine neue Finanzarchitektur bestellt. Als Mitglied des Direktoriums der Europäischen Zentralbank war er von 1998 bis 2006 für die Generaldirektionen Volkswirtschaft und Volkswirtschaftliche Forschung zuständig. Zuvor war er Mitglied des Direktoriums und des Zentralbankrates der Deutschen Bundesbank und Mitglied des Sachverständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung. Neben Beiträgen für wissenschaftliche Zeitschriften und Sammelbände veröffentlichte er unter anderem die zwei Lehrbücher „Einführung in die Geldtheorie“ und „Einführung in die Geldpolitik“ sowie das Buch „Der Euro – Geburt, Erfolg, Zukunft“, engl. Ausgabe „The Birth of the Euro“. Jana Janssen, Dipl.-Psych., studierte Psychologie an der Universität Mannheim und der Portland State University. Seit 2007 promoviert sie im Bereich Sozialpsychologie an der Universität Mannheim. Zu ihren Forschungsinteressen zählen der Umgang mit Unsicherheit, organisationales Vertrauen sowie soziale Gerechtigkeit. Jürgen Kaube studierte Philosophie, Germanistik, Kunstgeschichte und Wirtschaftswissenschaften an der FU Berlin. Er war Assistent am Lehrstuhl für Allgemeine Soziologie und soziologische Theorie der Universität Bielefeld, bevor er 1999 in die Redaktion der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ eintrat, deren Ressort „Geisteswissenschaften“ er heute leitet. Er ist Mitglied des Hochschulrats der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Lehrbeauftragter für Soziologie an der Universität Luzern. 248 Die Autoren Annette Kehnel, Prof. Dr., studierte Biologie und Geschichte in Freiburg, Oxford und München. Sie promovierte mit einer Studie zur Geschichte des Klosters Clonmacnoise in Irland am Trinity College Dublin und arbeitete dann in verschiedenen Funktionen an der TU Dresden im Sonderforschungsbereich „Institutionalität und Geschichtlichkeit“. Seit 2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim mit einem Interessensschwerpunkt in der Kultur- und Wirtschaftsgeschichte. Das nachhaltig erfolgreiche Zusammenspiel von Kultur und Wirtschaft hat sie am Beispiel der Organisations- und Wirtschaftsprinzipien mittelalterlicher Klöster und Orden erforscht. Alfred Kieser, Prof. Dr. Dr. h.c., hatte bis zu seiner Emeritierung 2010 über dreißig Jahre den Lehrstuhl für Allgemeine Betriebswirtschaftslehre und Organisation der Universität Mannheim inne. Er studierte Betriebswirtschaftslehre und Soziologie an den Universitäten Würzburg, Köln, Pittsburgh/USA. Er ist ordentliches Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Ehrendoktor der Fakultät für Betriebswirtschaft der Ludwig-Maximilians-Universität, München. Er hat Bücher und zahlreiche Aufsätze zu Organisationstheorie, Organisationsgestaltung, Lernen der Organisation und Geschichte der Organisation veröffentlicht. Matthias Kohring, Prof. Dr., studierte Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, Germanistik und Politikwissenschaft in Münster. Auf die Promotion 1997 in Münster folgte die Habilitation 2004 in Jena. Von 2006 bis 2010 hatte Matthias Kohring eine Professur für Kommunikationswissenschaft an der Universität Münster, seit 2010 den Lehrstuhl für Medien- und Kommunikationswissenschaft an der Universität Mannheim inne. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Öffentliche Kommunikation, das Vertrauen in Medien und die Wissenschaftskommunikation. Frank Merkel studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mannheim und schloss als Dipl.-Kaufmann ab. Parallel zum Studium gründete er 1973 die Werbeagentur WOB. Seit der Umwandlung in eine AG ist er Vorstand der wob AG. Zwischen 1990 und 2000 war er im Vorstand des Gesamtverbands Kommunikationsagenturen (GWA) zuständig für das Ressort „Führungsnachwuchs und Qualifizierung“. 2000 wurde er von der Universität Mannheim zum Ehrensenator ernannt. Seit 2006 ist er Vorstandsmitglied des Absolventennetzwerks (AbsolventUM) der Universität Mannheim und seit 2008 auch deren Präsident. Seit 2008 ist er Sprecher des Forums der BtoB-Agenturen innerhalb des Gesamtverbandes Kommunikationsagenturen (GWA) und auch Mitglied im Vorstand des GWA (Vizepräsident). Die Autoren 249 Peter Raue, Prof. Dr., studierte an der Freien Universität Berlin Rechtswissenschaften, Theaterwissenschaften und Philosophie. Im Jahre 1970 promovierte er mit dem Thema „Literarischer Jugendschutz“ an der Freien Universität Berlin. Seit 1971 ist Peter Raue in Berlin als Rechtsanwalt, seit 1975 als Notar tätig. Bis zum 30.4.2010 war er Seniorpartner der internationalen Sozietät Hogan & Hartson Raue mit dem Stammsitz in Washington D.C.. 2010 gründete er mit seinen langjährigen Partnern die Sozietät RAUE LLP. Peter Raue ist Honorarprofessor an der Freien Universität Berlin für Urheber-, Persönlichkeits- und Presserecht. Angela Rohde arbeitet seit 1994 als freischaffende Künstlerin. Sie ist Autodidakatin, Mitglied des Bundesverbandes Bildender Künstlerinnen und Künstler (BBK) und stellt ihre Werke in zahlreichen Ausstellungen im Inund Ausland aus. 1998 gründete sie gemeinsam mit Lie Sarvan „IKARUS – Lyrik und Malerei" und veröffentlichte den Gedichtband „Sommerblut“. Neben weiteren Mitgliedschaften und Kunstprojekten gründete sie 2006 zusammen mit Peer Böhm, Iris Stephan und Ulrich Dohmen „die kunstkreditkarte - was schönes für unterwegs“. Klaus M. Schmidt, Prof. Dr., studierte Politikwissenschaft und Volkswirtschaftslehre in Marbung und Hamburg. Nach der Promotion 1987 bis 1991 an der Universität Bonn und der London School of Economics ging er für ein Jahr als Visiting Professor ans Massachusetts Institute for Technology. Seit 1995 ist er Ordinarius für Wirtschaftstheorie an der LudwigMaximilians-Univerisität in München. Weitere Gastprofessuren führten ihn nach Stanford, Yale und Berkeley. Klaus Schmidt hat eine Vielzahl von Aufsätzen in international führenden Fachzeitschriften zur Spielund Vertragstheorie, zur Verhaltensökonomie und zur Experimentellen Wirtschaftsforschung veröffentlicht. Er ist Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Economic Advisory Group on Competition Policy der Europäischen Kommission. Christiane Schoel, Dr., studierte Psychologie in Freiburg und Mannheim. 2009 promovierte sie an der Universität Mannheim, wo sie derzeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin tätig ist. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen unter anderem Führung, Spracheinstellungen und Risikoverhalten. Christoph Sextroh studierte Betriebswirtschaftslehre an der Universität Duisburg-Essen und an der Norwegian School of Economics and Business Administration in Bergen/Norwegen. Seit 2008 ist er Doktorand am Center for Doctoral Studies in Business (CDSB) der Graduate School of Economic and Social Sciences (GESS) an der Universität Mannheim und zudem seit Frühjahr 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für ABWL, insb. Accounting & Capital Markets von Prof. Dr. Holger 250 Die Autoren Daske. Von August 2009 bis Juli 2010 war er Stipendiat des 6. Jahrgangs des Bronnbacher Stipendiums an der Universität Mannheim. Dagmar Stahlberg, Prof. Dr., studierte Psychologie, Anthropologie und Geologie an der Universität Kiel. Nach der Promotion 1988 lehrte sie an der Universität Kiel und der New School of Social Research in New York. Gleich nach ihrer Habilitation in Kiel folgte sie 1995 einem Ruf auf eine C3-Professur an der Justus-Liebig Universität in Gießen. Seit 1996 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls Sozialpsychologie an der Universität Mannheim. Dagmar Stahlberg hat eine Vielzahl von nationalen und internationalen Veröffentlichungen zu den Themen Selbstkonzept, Urteilsverzerrungen und -Biases, Effekte von Stereotypen sowie Sprache und Personenwahrnehmung vorgelegt. Iris Stephan studierte Bildhauerei und Malerei an der Alanus Hochschule der bildenden Künste, Bonn. 2005 gründete sie den Kunstraum K5 in Köln und wurde 2007 in der GEDOK/Köln aufgenommen. Sie lebt und arbeitet als freischaffende Künstlerin in Köln. Rupert Graf Strachwitz, Dr. phil., studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Kunstgeschichte an der Colgate University (USA), in München und Münster. Nach langjähriger ehren- und hauptamtlicher praktischer sowie beratender Tätigkeit im und für den gemeinnützigen Bereich leitet er seit 1998 das Maecenata Institut für Philanthropie und Zivilgesellschaft an der Humboldt Universität zu Berlin. Er war u. a. von 1999 bis 2002 Mitglied der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags zur Zukunft des bürgerschaftlichen Engagements. Er hat vielfach zu Themen der Zivilgesellschaft, des Stiftungswesens u. Ä. publiziert. Stefanie D. Unger, B.Sc., studierte Marketing Management an der California Polytechnic University Pomona. Nach Stationen als Senior Consultant bei Arthur Andersen und später bei Ernst & Young machte sie sich als Unternehmensberaterin selbständig und begleitet seitdem Vorstände und Aufsichtsräte in Führungsfragen, im Bereich Change Management, Strategie und Corporate Governance. Stefanie Unger ist Herausgeberin des Buches „Vertrauen ist gut. Werte in der Krise oder Krise der Werte?“. Als Referentin hält Stefanie Unger auf internationalen Business-Konferenzen Vorträge über wirtschaftliche und politische Entwicklungen von Europa bis Latein- und Nordamerika. Martin Weber, Prof. Dr. Dr. h.c., studierte Mathematik, Informatik und Betriebswirtschaftslehre an der Universität Mainz und an der RWTH Aachen. Nach der Habilitation in Betriebswirtschaftslehre war er Professor in Köln, Kiel und bis heute an der Universität Mannheim. Dort hat er den Lehrstuhl für Finanzwirtschaft, insb. Bankbetriebslehre, inne. Die Autoren 251 Marc-Philippe Weller, Prof. Dr., studierte Rechtswissenschaft in Heidelberg und Montpellier. Nach der Promotion 2004 an der Universität Heidelberg folgte 2008 die Habilitation an der Universität zu Köln mit einer Schrift zum Thema „Die Vertragstreue“. Seit 2008 ist Marc-Philippe Weller Inhaber des Lehrstuhls für Bürgerliches Recht, Internationales Unternehmensrecht und Europäisches Wirtschaftsrecht an der Universität Mannheim. Er hat eine Vielzahl von Veröffentlichungen verfasst, insbesondere zum Vertragsrecht und Gesellschaftsrecht, jeweils mit internationalen Bezügen. Frank Ziegele, Prof. Dr., studierte Wirtschaftswissenschaften an der Universität Hohenheim und promovierte 1996 an der Ruhr-Universität Bochum mit einer Dissertation zum Thema „Hochschule und Finanzautonomie“. Nach Lehraufträgen in Osnabrück, Bremen, Oldenburg, Krems und Speyer wurde er 2004 Professor für Hochschul- und Wissenschaftsmanagement an der Fachhochschule Osnabrück. Schon seit 1996 engagierte sich Frank Ziegele beim CHE (Centrum für Hochschulentwicklung) und bei CHE Consult als Referent und seit 2007 als Geschäftsführer. Er ist zudem Mitherausgeber der Zeitschrift „Wissenschaftsmanagement“ und hat zahlreiche Beiträge und Bücher zur Entwicklung und Finanzierung von Hochschulen publiziert. Josef Zimmermann, Dr., absolvierte eine Banklehre und studierte danach Betriebswirtschaftslehre in Mannheim mit anschließender Promotion über das Kreditgeschäft mit mittelständischen Unternehmen. Ab 1980 war Josef Zimmermann bei der Deutschen Bank angestellt, zuletzt zehn Jahre Mitglied der Geschäftsleitung Deutschland für das Firmenkundengeschäft mit Sitz in Mannheim. Seit 2007 ist er Vorsitzender der Freunde der Universität Mannheim. 252 Die Autoren