Artikel: —Hilfe, Jungfernhäutchenfi mon-2906-hymen / sae / for

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Artikel: —Hilfe, Jungfernhäutchenfi mon-2906-hymen / sae / for
vom 06.07.2009
„Hilfe, Jungfernhäutchen“
Ein defektes Hymen gilt vor allem in muslimischen Familien als Makel – und Frauen sind bestrebt, es wiederherstellen zu lassen / Von Ulrike Baureithel
H
ilfe, Jungfernhäutchen!“ Aise hatte in einem der einschlägigen Foren mit diesem Aufruf die Internet-Gemeinde um Hilfe gebeten: Sie stehe kurz
vor der Heirat und suche dringend einen
Arzt, der das Zeichen ihrer Jungfräulichkeit wieder herstelle. Gründe nennt sie
nicht, nur dass es sehr dringend sei.
Es dauert dann noch eine Weile, bis der
Kontakt zustande kommt, denn die 19Jährige, die nur verrät, dass sie gerade eine Ausbildung zur Friseurin absolviert
hat, ist sehr zögerlich und will ausschließlich am Telefon darüber sprechen: „Ich
hatte einen Freund“, erzählt sie, „mit
dem ich gerne zusammengeblieben wäre.
Nur deshalb hab ich mich überhaupt darauf eingelassen . . .“
Ein paarmal hatte sie mit dem jungen
Mann geschlafen, dann ließ er Aise sitzen. Mittlerweile hat sie einen neuen türkischstämmigen Freund mit ernsten Heiratsabsichten – und ein Problem: „Seine
Eltern sind sehr streng, und ihm ist es
auch wichtig, dass seine künftige Frau
noch Jungfrau ist.“
Aise ist kein Einzelfall. Immer mehr
Mädchen und Frauen suchen im Internet
Unterstützung, wenn sie beabsichtigen,
ihre „Jungfräulichkeit“ rekonstruieren zu
lassen. Über das Netz wenden sie sich
aber auch verstärkt anonym an entsprechende Beratungsstellen: „Wir bekommen häufiger E-Mail-Anfragen“, sagt Sibylle Schreiber vom Berliner Büro des
Frauennetzwerkes Terre des Femmes,
und auch Christiane Tennhardt, Gynäkologin bei der Berliner Beratungsstelle „Balance“, registriert eine erhöhte Nachfrage. Gesicherte Zahlen gibt es nicht, aber
eine Tendenz nach oben.
Bei Jutta Pliefke von Pro Familia Berlin
wollen die meisten der Hilfesuchenden
zunächst nur wissen, ob ihr Hymen noch
intakt sei, andere aber kommen mit dem
klaren Wunsch, „das wieder heil zu machen“. „Das“ wieder heil zu machen bedeutet, das scheinbar körperliche Zeichen der Unschuld, das Jungfernhäutchen, operativ wiederherzustellen, im
medizinischen Fachjargon eine Hymenrekonstruktion.
„Wenn es nicht blutet in der Hochzeitsnacht“, sagt Aise, „dann weiß mein Mann
doch, dass ich schon mit einem anderen
zusammen war.“ Unberührtheit ist vor allem für Mädchen und Frauen mit muslimischem Hintergrund eine bedeutsame
Währung auf dem Heiratsmarkt. Und da
eine Hymenrekonstruktion, für die nicht
die gesetzliche Krankenversicherung aufkommt, als privatärztliche Leistung zwischen 130 und 2000 Euro kostet, tummeln sich auf diesem Terrain auch die Ge-
schäftemacher: In Berlin-Neukölln etwa,
so Pliefke, gebe es Ärzte, die das in großem Stil betrieben.
Die Vorstellung allerdings, dass der
Mann die Jungfrau „öffnet“ und „bereit
macht“ für die Fortpflanzung, ist keineswegs nur eine islamische Vorstellung. Gerade das Christentum hat das Blut der
„ersten Nacht“, wie die Kulturwissenschaftlerin Anke Bernau in ihrer aufschlussreichen Studie „Mythos Jungfrau“
nachzeichnet, als Beweis weiblicher Tugend kultiviert. Und ein Mythos ist das
Jungfernhäutchen allemal, denn es hält
gegen alle landläufigen Annahmen keineswegs, was es verspricht.
Jungfräulichkeit im medizinischen Sinne nachzuweisen, ist, das haben englische Gynäkologen bereits in den siebziger Jahren formuliert, „extrem schwierig“ und eigentlich unmöglich. Denn keineswegs bedeutet die ausbleibende Blutung, dass bereits Geschlechtsverkehr
stattgefunden hat. Die weiblichen Hymen
sind von sehr unterschiedlicher Beschaffenheit und manchmal so elastisch, dass
sie beim Sex gar nicht verletzt werden; oft
ist das Hymen aber auch aufgrund eines
anderen Ereignisses bereits gerissen, ohne dass das Mädchen es gemerkt hätte.
Die Existenz eines unbeschädigten Hymens sagt also so wenig über die Moral
der Trägerin aus wie das beschädigte.
haben es dann gemacht.“ Wird das Häutchen vorsichtig zusammengenäht, ist das
medizinische Risiko gering, auch wenn
die Ärztinnen unisono beklagen, dass es
keinerlei Qualitätssicherung gibt und medizinischer Pfusch auch Komplikationen
nach sich ziehen kann.
Eine Operation allerdings garantiert
noch lange nicht, dass es zum gewünschten Zeitpunkt auch blutet, zumal, wenn
der Eingriff schon längere Zeit zurückliegt. Sie rate deshalb, die Wiederherstellung erst kurz vor der Hochzeit zu machen. 30 Rekonstruktionen in vier Jahren
stehen in Tennhardts OP-Katalog, eine
von fünf ratsuchenden Frauen lässt sich
operieren: „Manchmal denke ich, was
mache ich da eigentlich, welches Bild unterstütze ich? Dann sage ich mir: Schadensbegrenzung. Eine absurde Situation.“
–
Oft wissen die Familien
Bescheid, wollen den Schein
nach außen aber wahren.
–
–
Die ausbleibende Blutung
bedeutet keineswegs, dass
bereits Geschlechtsverkehr
stattgefunden hat.
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Deshalb ist, wenn die Frauen sich überwinden und den Weg in eine Beratung finden, zunächst einmal Aufklärung angesagt. „Die meisten Frauen“, so Helga Seyler vom Hamburger Familienplanungszentrum, „haben keine Vorstellung davon, wie das Jungfernhäutchen aussieht
und wo es sich befindet“. Viele Gynäkologinnen arbeiten bei der Untersuchung
mit einem Spiegel, sodass die Frauen ihr
Hymen selbst sehen können. Anhand von
Schaubildern informieren die Ärztinnen
sie über die unterschiedliche Beschaffenheit und die Lage der Jungfernhäutchen
und versuchen, auf diese Weise den Zusammenhang von Jungfernhäutchen und
Virginität aufzulösen.
Die Motive, die Frauen eine Rekonstruktion ihres Jungfernhäutchens wünschen lässt, sind auch seltener religiöser
Art, denn viele der Betroffene leben einen westlichen Lebensstil. Nicht das
Schuldgefühl, etwas „Verbotenes“ getan
zu haben also, vielmehr Scham treibt sie
zum Handeln. Wie Aise wollen sie ihren
Partner nicht enttäuschen und ihre Familien nicht beschämen. „Wir fragen immer
nach, was passieren würde, wenn wir die
OP nicht machen“, erklärt Christiane
Tennhardt. „Dann kommt als Erstes, dass
sie das ihrer Mama oder ihrem Papa nicht
antun wollen. Die Mädchen fürchten, ihre Familien zu gefährden, wenn herauskomme, dass sie nicht mehr Jungfrau
sind.“
Die Doppelmoral, zu der sich die Hilfesuchenden genötigt sehen, teilen sie mit
ihren Familien, denn oft wissen diese
sogar Bescheid und sind bestrebt, den
Schein nach außen zu wahren. Es gebe
aber auch Fälle von sexuellem Miss-
brauch in der Familie, berichten die Beraterinnen, dann stehen die Mädchen und
jungen Frauen unter besonderem Druck
und fürchten Repressionen. Aise andererseits hat Angst, dass die Familie ihres
Freundes ihn zwingen könnte, sich von
ihr zurückzuziehen. „Wie weit die Bedrohung tatsächlich geht“, sagt Schreiber,
„ist schwer abschätzbar.“ Schreiber weiß
aber von suizidgefährdeten Mädchen, die
bei Terre des Femmes auf Hilfe hoffen.
Tennhardt hat ihre erste Hymenrekonstruktion Mitte der neunziger Jahre bei
Patientinnen aus der Kinder- und Jugendpsychiatrie vorgenommen: „Der Psychiater fragte uns, ob wir das nicht wieder
,hinbiegen‘ könnten. Eine Oberärztin aus
den USA zeigte mir, wie es geht und wir
Gynäkologin Helga Seyler, die selbst
keine Operationen durchführt, hat sich
einem Teil dieser Absurdität entzogen.
Anfangs hatte sie sich auf das Drängen eines Mädchens eingelassen, deren Hymen
zu beurteilen, wohl wissend, dass es dafür
keine medizinische Grundlage gibt. An
der unglaublich erleichterten Reaktion
war ihr erst klar geworden, welche Tragweite das für das Mädchen hatte: „Da ist
mir dann die Luft weggeblieben. Ich hatte
das Gefühl, ich spreche fast ein Urteil
über Leben und Tod. Da dachte ich, das
kann und darf ich nicht machen. Seither
führe ich lieber stundenlange Gespräche,
als ein Hymen zu begutachten . . .“
Dass auch die Frauenärzte und -ärztinnen oft genug überfordert sind, wenn es
um Hymen und Jungfräulichkeit geht, wäre ein Thema für die ärztliche Ausbildung. Und Jutta Pliefke meint, es müsste
noch viel mehr in den Schulen aufgeklärt
werden. Denn der Mythos „Jungfräulichkeit“ sei innerhalb der Gruppe der
Gleichaltriger ein Tabuthema.
Auch Aise hatte sich ja nicht getraut,
sich an ihre Schwestern oder Freundinnen zu wenden, sondern suchte lieber im
anonymen Netz Hilfe. Die meisten Userinnen rieten ihr, Hilfe bei ihrem Gynäkologen zu suchen – immerhin. Am Ende
hat sie sich doch gegen eine Operation
entschieden und für das Gespräch mit ihrem Freund. „Ich habe große Angst davor,
was dann passiert“, sagt sie. „Aber wenn
er zu mir hält, weiß ich wenigstens, dass
er der Richtige ist.“